9,99 €
Aktueller denn je – der Klassiker der politischen Literatur. Ralph Giordanos erschütternde Studie untersucht die Folgen der moralischen Katastrophe, die ein Ausbleiben des Bekenntnisses zur Kollektivschuld bedeutete. Er schildert eindrücklich, wie das Versagen der deutschen Gesellschaft nach dem Holocaust die politische Kultur der Bundesrepublik geprägt hat. Und er weist nach, wie »der große Frieden mit den Tätern« zu einem Fundament der Staatsgründung wurde. In ihrem Nachwort beschreibt die Schriftstellerin Lena Gorelik die Aktualität dieses Buchs in einer Zeit, in der rechtsextreme Gedanken und Taten eine beängstigende Normalisierung erfahren.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 583
Veröffentlichungsjahr: 2015
Ralph Giordano
oderVon der Last, Deutscher zu sein
Buch lesen
Titelseite
Über Ralph Giordano
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Ralph Giordano wurde 1923 in Hamburg geboren. Nach der Befreiung am 4. Mai 1945 durch britische Truppen arbeitete er als Journalist und Publizist, als Fernsehdokumentarist und Schriftsteller. Er ist Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Die Bertinis« (1982), »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein« (1987), »Ostpreußen ade« (1994), »Deutschlandreise« (1998), »Sizilien, Sizilien! Eine Heimkehr« (2002) und »Erinnerungen eines Davongekommenen« (2007). Zuletzt erschien sein Buch »Mein Leben ist so sündhaft lang: Ein Tagebuch« (2010). Er starb am 10. Dezember 2014 in Köln.
zur Kurzübersicht
Mit dem Begriff der zweiten Schuld bringt Ralph Giordano das Versagen der deutschen Gesellschaft nach dem Holocaust auf den Punkt. Er untersucht, was mit den Verfolgern geschah, und beklagt die Scheinheiligkeit wie Unvollständigkeit der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Sie gründet auf einer Amnestie für Naziverbrecher, die wieder in die Nachkriegsgesellschaft eingegliedert wurden. Diese zweite Schuld hat die politische Kultur Deutschlands wesentlich mitgeprägt; Giordano nennt das den »großen Frieden mit den Tätern«. Da zugleich ein Bekenntnis zur Kollektivschuld ausblieb, konnte auch in der Erinnerungskultur kein zuverlässiges Fundament entstehen. Und in dieser Verweigerung, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen, liegt ein großes moralisches Versagen. Doch wurde das Buch zugleich in der Hoffnung geschrieben, damit sich nicht wiederholt, was schon einmal in Verfolgung und Krieg mündete.
KiWi-NEWSLETTER
jetzt abonnieren
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KGBahnhofsvorplatz 150667 Köln
© 2000, 2015, 2020, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Barbara Thoben, Köln
Covermotiv: © Bildarchiv Pisarek/akg-images
ISBN978-3-462-30938-6
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen der Inhalte kommen. Jede unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Alle im Text enthaltenen externen Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Widmung
Motto
Vorwort zur Neuausgabe (2000)
Die zweite Schuld?
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
»Die anderen haben auch Verbrechen begangen«
Absage an das Deutsche Reich 1871–1945
Vom Widerstand und seinen Widersachern
Das Fundament: der große Frieden mit den Tätern
Von der Entnazifizierung bis Globke
Die Hunderteinunddreißiger
Hans Globke – oder von der These »… um Schlimmeres zu verhüten«
NS-Prozesse, erste und zweite Welle
Die Suche nach den Schlupfwinkeln
Lokführer der Todestransporte – Das RSHA-Fiasko – Verteidiger und Zeugen
Bundesjustiz – NS-Justiz: die untilgbare Schmach
Der unsterbliche Konservatismus
Wehrmacht und Krieg – die heiligen Kühe
Der perverse Antikommunismus
Der verordnete Antifaschismus
Heil! Heil! Heil!
FJS und die Zwangsdemokraten
Kollektivschuld? Kollektivunschuld? Kollektivscham?
Apropos »Charta der deutschen Heimatvertriebenen«
Gegenradikalismus plus Terrorismus – die Hauptgefahr
Vom Versuch, einen Schlussstrich zu ziehen
Der sinnlose Totentempel
Das falsche Museum
Ist Auschwitz vergleichbar?
Von der Last, Deutscher zu sein
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
Nachwort
Briefe an den Autor
Literatur
Personenverzeichnis
Den schuldlos beladenen Söhnen, Töchtern, Enkelinnen und Enkeln
»Ich weiß, daß ich eine der deutschesten Bestien bin, ich weiß nur zu gut, daß mir das Deutsche das ist, was dem Fische das Wasser ist, daß ich aus diesem Lebenselement nicht heraus kann, und daß ich – um das Fischgleichniß beyzubehalten – zum Stockfisch vertrocknen muß, wenn ich – um das wäßrige Gleichniß beyzubehalten – aus dem Wasser des deutschthümlichen herausspringe. Ich liebe sogar im Grunde das Deutsche mehr als alles auf der Welt, ich habe meine Lust und Freude dran, und meine Brust ist ein Archiv deutschen Gefühls.«
– Heinrich Heine –
Das Buch »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein«, 1987 herausgekommen, hat dreizehn Jahre später nichts von seiner Aktualität eingebüßt, im Gegenteil. Überall zwischen Rhein und Oder flammen mit bestürzender Kontinuität Warnzeichen auf, dass Rassismus und Antisemitismus nach wie vor wirksam sind, brachial auftreten und sich unter Ausnutzung moderner Kommunikationstechnik immer effektiver organisieren. Und das mit Emblemen, die keinen Zweifel daran lassen, welche Ziehväter hier Pate stehen. Ergänzt und zusätzlich belastet wird die Szene noch durch das Erbe des zweiten Gewaltregimes, das in diesem Jahrhundert auf deutschem Boden untergegangen ist, mit politischen und sozialen Verwerfungen, deren Ausmaß und Dauerhaftigkeit niemand in der Euphorie der Wiedervereinigung erwartet hatte.
Und dennoch gibt es heute einen gravierenden Unterschied zu der Zeit der Erstausgabe, eine Differenz, die nicht hoch genug veranschlagt werden kann, nämlich die ganz andere Dimension des öffentlichen Bewusstseins für die Problematik der zweiten Schuld, also der Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler nach 1945 beziehungsweise 1949, samt ihren Folgen bis in unsere Gegenwart.
Das hat sich nur noch einmal bestätigt durch die flächendeckende Debatte um Daniel Jonah Goldhagens Buch »Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust« und das alle Erwartungen der Veranstalter weit übertreffende Interesse der Öffentlichkeit an der Ausstellung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941–44«.
Ohne Indifferenz und Gegenkraft unterschätzen zu wollen – zu keiner Zeit hat es in Deutschland regere Anteilnahme an der Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Hypothek gegeben als heute, gegen Ende dieses fürchterlichsten und erstaunlichsten Jahrhunderts der Menschheitsgeschichte.
Erst heute dringen Einzelheiten dessen, was ich »die zweite Schuld« genannt habe, in den Sichtkreis einer breiteren Öffentlichkeit, namentlich jüngerer Menschen – wird von ihnen fassungslos zur Kenntnis genommen, dass die nahezu kollektive Entstrafung selbst höchstrangiger NS-Täter mit nationalem Konsens der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft irreparable Fakten geschaffen hat.
Ohne in den Verdacht der Unbescheidenheit geraten zu wollen, darf doch wohl gesagt werden, dass das Buch »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein« dabei Pionierarbeit geleistet und seinen Teil zu dem neuen Bewusstseinsstand beigetragen hat. Das Kapitel »Wehrmacht und Krieg – die heiligen Kühe«, die Skandale der »Renazifizierung statt Entnazifizierung«, die »untilgbare Schmach Bundesjustiz – NS-Justiz«, das »Schamzentrum: die Liebe zum ›Führer‹« oder die »verbliebene Sehnsucht nach dem starken Mann« – vorweggenommen wurden schon damals manche Themen, die in öffentlichen Debatten wie in forschungswissenschaftlichen Arbeiten seither stetig an Gewicht gewonnen haben.
Dabei sind Begriffe geprägt worden, quasi Codewörter mit dem intellektuellen »copyright« des Autors, die inzwischen Eingang in die Alltagssprache der politischen Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus gefunden haben. So etwa »der große Frieden mit den Tätern«, »der Verlust der humanen Orientierung«, »der verordnete Antifaschismus«, »der Zwangsdemokrat«, vor allem aber das Wort von der »zweiten Schuld« selbst.
Seine Wirkung war so stark, dass eine Art Gegenliteratur entstand, darunter die von Manfred Kittel direkt als Anti-Giordano-Buch konzipierte »Legende von der ›Zweiten Schuld‹«. Das Charakteristische an diesem Buch, wie auch an allen anderen mir vor Augen gekommenen Reaktionen mit direktem Bezug auf die »Zweite Schuld«, bestand darin, dass die konkreten Fakten meines Buches, sein Inhalt und seine Analysen, notorisch ausgeblendet blieben. Eine nachhaltige Wirkung hat diese Kampagne vonseiten der »neuen Rechten« dann auch nicht gehabt. Vielmehr gab es gewisse Parallelen zum sogenannten »Historikerstreit« Mitte der Achtzigerjahre, deren konservativ-revisionistische Auslöser einen Gegengeist beschworen, der schließlich die Oberhand behielt.
In diesem Fall sind die Verneiner einer »zweiten Schuld« zur Zielscheibe fundierter Untersuchungen renommierter Politikwissenschaftler und Zeithistoriker geworden, die die eingespielten Rituale der Verdrängung unwiderlegbar dokumentiert haben. Darin wird die »zweite Schuld« umfassend bestätigt als ein öffentliches Bewusstsein, das die Verbrechen des Nationalsozialismus an eine kleine Gruppe von »Nazis« delegierte, »dem Volk« in seiner Gesamtheit aber die Rolle politisch Verführter zuerkannte, die letztlich auch Opfer gewesen seien – die Machtperiode des Nationalsozialismus wurde verfälscht in einen Betriebsunfall der nationalen Geschichte, seine Herrscher extraterrestrische Dämonen, die von irgendwoher aus dem All zufällig auf Deutschland herabgeregnet waren.
Diese ahistorische Zweiteilung »Hie die Nazis – hie die Deutschen« entspricht genau der Befindlichkeit der unter schwerem, aber uneingestandenem Schulddruck stehenden Bevölkerungsmehrheit der Nachkriegszeit – mentaler Status und Humus der »zweiten Schuld«.
Ursache und Ergebnis des »großen Friedens mit den Tätern« war der fast unbegrenzte Wille nach Anklageverschonung oder Amnestie Zehntausender von NS-Tätern zum Zwecke der Selbstexkulpierung von Millionen Mitläufern – das unfreiwillige Eingeständnis gesamtgesellschaftlicher Verstrickung in den Nationalsozialismus. Bezeichnenderweise hat niemand heftiger gegen die These von der Kollektivschuld gewettert als das »nationale Kollektiv ehemaliger Hitleranhänger« (Margarete und Alexander Mitscherlich).
Es hat auf das Buch Hunderte und Aberhunderte von Rezensionen gegeben, eine immense Aufmerksamkeit aller Medien; es war, als sei in ein Wespennest gestochen worden. Dabei habe ich Widerspruch und Zuspruch nicht ohne Genugtuung registriert – beides kam aus der richtigen Ecke.
Doch die Zustimmung zu dem Buch überwog bei Weitem. Sie war elementar und dauert eigentlich, wie sich für den Autor immer wieder erweist, bis heute an.
Dabei kam der Erfolg angesichts des allen Erfahrungen nach höchst unpopulären Themas völlig überraschend und darf als überwältigend bezeichnet werden: »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein« behauptete sich fast ein halbes Jahr auf der Bestsellerliste des »Spiegels« und auf anderen Foren deutschen Leserinteresses. Dazu kam eine Flut von Briefen, die quantitativ alle mir bisher bekannten Dimensionen sprengte: weit über tausend – ihres erschreckenden Grundtenors wegen hielt sich jedoch die Freude darüber in Grenzen.
Denn nun blätterte sich Zeile um Zeile auf, was die systematische, streng durchgehaltene Verdrängung, das Schweigen der Eltern und Großeltern über die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und die eigene Rolle darin, in der nachgewachsenen Generation angerichtet hatte. Die über Monate hin abgelieferte Post war eine Lektüre erschütternder Auseinandersetzungen, familiärer Konflikte, verzweifelter Zusammenstöße, ja persönlicher Tragödien – sehr selten begleitet von Bekenntnis, Ausgleich und Versöhnung durch Ehrlichkeit.
In den Medien fortwährend mit den Verbrechen der Nazizeit konfrontiert, stießen Söhne und Töchter zu Hause meist auf blanke Verweigerung, mussten nach über vierzig Jahren noch Enkel und Enkelinnen erkennen, dass Eltern und Großeltern um der Aufrechterhaltung eines falschen Selbstbildnisses willen den eigenen Kindern und Kindeskindern die politische und historische Klarsicht verstellt hatten. Generationen, die de jure, de facto, politisch und historisch, einfach schon von ihrem Lebensalter her, nur völlig schuldlos sein konnten, wurde so die Bürde unaufgearbeiteter Vergangenheit zugeschoben und die Kronzeugenschaft gerade von denen verweigert, die ihnen am nahesten standen, und so das Rüstzeug im Kampf gegen Neonazismus und Wiederholungsverfahren versagt.
In den Briefen kam aber auch zum Ausdruck, dass ein Teil der Nachkriegsgeneration sich politisch selbstständig gemacht hatte und dass der Ursprung der 68er-Revolte unschwer hier in diesem Generationskonflikt zu erkennen war – als Empörung gegen die in ihren Lebenslügen total verkrustete »Wir sind wieder wer«-Verdrängergesellschaft der Adenauer-Ära, als vehemente Auflehnung gegen die inzwischen voll entfaltete »zweite Schuld«. Aus diesen bewegenden Bekundungen ist damals eine typische Auswahl von etwa hundert Briefen getroffen und 1990 in dem Bändchen »Wie kann diese Generation eigentlich noch atmen? Briefe zu dem Buch ›Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein‹« veröffentlicht worden.
Um den direkten Bezug zwischen dem Buch und seiner Wirkung herzustellen, werden nun einige dieser Briefe am Ende dieser Ausgabe übernommen.
Änderungen gegenüber dem Original wurden nur an zwei Stellen nötig, und zwar beide bedingt durch den 9. November 1989 und seine Folgen. So konnte, erstens, der Schluss des Kapitels »Absage an das Deutsche Reich 1871–1945. Zur Geschichte des Verlustes der humanen Orientierung« gestrichen werden, weil darin ausgegangen worden war von meiner inzwischen geschichtskorrigierten Fehleinschätzung einer bleibenden deutschen Teilung (ein Irrtum, den sich der Autor bis zur Wende wohl mit dem Rest der Welt geteilt haben dürfte und dessen unwiderrufliche Aufhebung er seither mit anhaltender Zustimmung begrüßt).
Die zweite Änderung ergab sich durch die notwendig gewordene Aktualisierung des Kapitels »Der verordnete Antifaschismus. Ein Wort zum Thema ›NS-Erbe und DDR‹«. 1987, noch während der Ära des real existierenden SED-Sozialismus beschrieben, war er durch die veränderten Machtverhältnisse zu einem historischen Anachronismus geworden, ohne dass deshalb die geschichtliche Bedeutung des von oben »verordneten Antifaschismus« und seine bereits sichtbar gewordenen Folgeschäden unerwähnt bleiben dürften.
Deshalb wird hier nun jene Neufassung des besagten Kapitels gedruckt, die schon in die Lizenzausgabe meines Buches beim Ostberliner »Verlag Volk und Welt« von 1990 eingebracht worden war.
Schließlich noch eine Anmerkung.
Wer die Widmung der Originalausgabe – »Den schuldlos beladenen Söhnen, Töchtern und Enkeln« – mit der jetzigen vergleicht, wird feststellen, dass es sich um eine ergänzte Fassung handelt – sind darin nun doch auch die »Enkelinnen« einbegriffen.
Mit dem Eingeständnis, dass ich traurigerweise von Leserinnen auf das Versäumnis aufmerksam gemacht werden musste, danke ich dem Verlag für die Neuausgabe auch deshalb, weil bei dieser angenehmen Gelegenheit die Unterlassung, wenn auch zu spät, doch noch korrigiert werden konnte.
Köln, im Juli 2000
Ralph Giordano
Zur Einführung
Hamburg, Oktober 1945.
Auf der Grindelallee, wenige Schritte vor mir, geht ein hochgewachsener Mann mittleren Alters in Begleitung zweier Frauen, denen er plötzlich gestikulierend laut zuruft: »Die Juden, die Juden sind an allem schuld!« Das allerdings bereut er schon in der nächsten Sekunde, denn ich schieße ihm von hinten mit meinen Schultern im Hechtsprung gegen die Kniekehlen, was ihn zu Boden wirft, und bearbeite den Kerl, der mindestens doppelt so viel wiegt wie ich, so lange mit Fäusten, Zähnen und Nägeln, bis er ohne Rücksicht auf seine Begleiterinnen mit langen Sätzen das Weite sucht – eigentlich, ohne sich wirklich gewehrt zu haben.
Es war ein epochales Ereignis für mich, die Geburtsstunde der Idee zu diesem Buch.
Bis zum September 1945 noch hätte es in Deutschland kein Antisemit gewagt, sich öffentlich so laut zu bekennen, wie es hier soeben geschehen war. Das »nationale Kollektiv der Hitleranhänger« (Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch »Die Unfähigkeit zu trauern«) hatte sich nämlich im Mai jenes Jahres, als Hitlerdeutschland kapitulierte, mit dem Schrei »Wir sind nie Nazis gewesen!« in Luft aufgelöst. Die kollektive Lüge quer durch die ganze Nation war so überwältigend offenbar, so unübertrefflich schäbig, so grauenhaft einhellig, dass sich dieser Eindruck sogar den vergesslichsten Naturen für immer eingeprägt hätte. Für eine kurze Weile wollten die damaligen Deutschen aus lauter Hitlergegnern bestehen – aus Angst. Die Logik des schlechten Gewissens konnte gar nicht anders, als die eigene enthumanisierte Mentalität auf den siegreichen Gegner zu projizieren: Auge um Auge, Zahn um Zahn?
Für mich liegen die moralisch niederschmetterndsten Erfahrungen mit meiner deutschen Umgebung nicht in der Zeit bis zur Befreiung, sondern in den Monaten unmittelbar danach, angesichts solcher Unwahrhaftigkeit, Feigheit und Heuchelei. Die Generationen der Söhne, Töchter und Enkel sollten wissen, wie sie sich damals aufgeführt haben, all diese ehemaligen Anhänger, Befürworter, Großsprecher, Nutznießer und Mitläufer des Dritten Reiches – es hat in der Geschichte der Menschheit kein Beispiel so widerwärtiger Selbstcharakteristik gegeben wie dieses vom Frühling bis in den Herbstbeginn 1945.
Dann jedoch hatten die mit dem Nationalsozialismus eng verbundenen Massen, die unter schwerer Vergeltungsfurcht standen, herausgefunden, dass ihre alttestamentarischen Racheängste vor allem in ihrer Fantasie bestanden. Das gilt ganz gewiss für die drei westlichen Besatzungszonen, das spätere Territorium der Bundesrepublik Deutschland, das von Engländern, Amerikanern und Franzosen okkupiert war. Womit nicht gesagt sein soll, dass bei allem Entsetzlichen, was in ihrer Zone geschehen ist, die östliche Besatzungsmacht etwa nach dem Vorbild der deutschen Eindringlinge in die Sowjetunion von 1941 bis 1944 das Motto »Auge um Auge, Zahn um Zahn« angewandt hätte – wehe, wenn es so gewesen wäre!
In jenem Oktober 1945 war es so weit. Die Reaktion auf den ungerechtfertigten Vergeltungsschock machte sich wütend Luft! Zwar, der Hamburger Antisemit hatte sich durch den Zufall meiner Nachbarschaft verschätzt, die Regel jedoch wird mein Verhalten auf ein offenes Nazibekenntnis gewiss nicht gewesen sein. Es war ein schlimmes Signal, da auf der Grindelallee: Wohl war Hitler militärisch, nicht aber ideologisch geschlagen.
Die zweite Schuld hatte sich vorgestellt.
Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945. Sie hat die politische Kultur der Bundesrepublik Deutschland bis auf den heutigen Tag wesentlich mitgeprägt, eine Hypothek, an der noch lange zu tragen sein wird.
Denn es handelt sich nicht um einen bloß rhetorischen Prozess, nicht um einen Ablauf im stillen Kämmerlein. Die zweite Schuld hat sich vielmehr tief eingefressen in den Gesellschaftskörper der zweiten deutschen Demokratie. Kern ist das, was in diesem Buch der »große Frieden mit den Tätern« genannt wird – ihre kalte Amnestierung durch Bundesgesetze und durch die nahezu restlose soziale, politische und wirtschaftliche Eingliederung während der ersten zehn Jahre der neuen Staatsgeschichte. Das zweite Codewort, gleichsam der rote Faden von der ersten bis zur letzten Seite, ist der »Verlust der humanen Orientierung«, ein tief aus der Geschichte des Deutschen Reiches bis hinein in unsere Gegenwart wirkendes Defizit. Beide Codewörter – der große Frieden mit den Tätern und der Verlust der humanen Orientierung – korrespondieren miteinander und bilden meine Betrachtungsgrundlage.
Hauptschauplatz ist die Bundesrepublik Deutschland, obwohl sich bestimmte Abläufe der zweiten Schuld auch auf die Deutsche Demokratische Republik übertragen ließen. Davon wird in einem Kapitel die Rede sein.
Hauptthema ist die historische Fehlentscheidung einer Mehrheit der heute älteren und alten Generationen, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der eigenen Rolle in ihr nicht ehrlich auseinanderzusetzen, belastende Erinnerungen abzuwerfen und sich aus einem kompromittierenden Abschnitt selbst erlebter und mitgestalteter Nationalgeschichte herauszustehlen. Dies in Mittäterschaft einer Vielzahl bundesdeutscher Politiker aller Parteien, die um der Wählerstimmen willen dem nationalen Kollektiv der Hitleranhänger bei Verdrängung und Verleugnung weit entgegengekommen sind und damit ihren Anteil zur zweiten Schuld beigetragen haben.
Gleich eingangs also entschiedener Gebrauch eines hierzulande so verpönten Reizwortes wie Schuld. Das ist gegen das feingesponnene Netz der Nachsicht, das die Verdränger – und die auf ihre Stimmen erpichten Politiker – über nunmehr fast vierzig Jahre gewoben haben, und passt deshalb nicht in den ungeschriebenen bundesdeutschen Politknigge. Der Leser soll daran früh erkennen, wie wenig Rücksicht auf solche schlechten Gewohnheiten genommen wird.
Wenn der Einwurf käme, hier werde also angeklagt, so widerspräche ich nicht. Das täte ich erst, wenn behauptet würde, ich erhöbe Anklage. Denn die wohnt dem Thema selbst ganz natürlich inne, geht es doch nicht etwa um moralische Kategorien allein, sondern auch um einen blutig-realen Hintergrund von nie da gewesenen Dimensionen – um Auschwitz und um alles, was dieser Name symbolisiert und materialisiert. Jeder persönliche Zusatz wäre nicht nur überflüssig, er wäre auch vermessen. Der Einzelne kann dem Urteil der Geschichte nichts mehr hinzufügen, es ist gefällt.
Bei uns hat sich eingebürgert, jede Thematisierung von Schuld in Zusammenhang mit der Nazizeit als Selbstanmaßung, als politisches Pharisäertum zu verdächtigen. Hinter dieser bezeichnenden Allergie gegen Anklage steckt die Absicht, publizistische Bearbeitungen der Schuldfrage überhaupt zu verunglimpfen. Die Schuldangst, die das öffentliche Bewusstsein der bundesdeutschen Gesellschaft so lange panisch bestimmt hat und, wenn auch abgeschwächt, heute noch bestimmt, hat damit ein sehr erfolgreiches Abschreckungsrezept gefunden. Umso wichtiger, dem Widerstand zu leisten und zu fragen: Wann werden die Generationen der Eltern und Großeltern endlich aufhören, die eigenen Söhne, Töchter, Enkelinnen und Enkel mit ihren Rechtfertigungszwängen zu belasten? Erst wenn auch das biologische Ende dieser Generationen gekommen ist? Das kann noch gut zwanzig Jahre dauern. Es ist den schuldlos beladenen Nachkommen jedoch schon genug an historischer, politischer und moralischer Klarsicht verstellt worden.
Anklage – Selbstanmaßung – Pharisäertum? Ich will nichts als mein Lichtmolekül in jene Finsternis tragen, in die die hartnäckige Verdrängungsleistung der heute Alten und Älteren ihr eigen Fleisch und Blut gestürzt hat. Es lohnt nicht mehr, den noch lebenden Rest der Jasager und Versager anzuklagen. Schuldbehandlung als Schuldaufklärung – das ist der Tenor dieses Buches. Es gibt dankbarere Beschäftigungen, wichtigere kaum.
Von der Last, Deutscher zu sein.
Wenngleich Unbelehrbarkeit, Verdrängung und Verleugnung bald weniger primitive Ausdrucksformen fanden als in jenem Oktober 1945 dort auf der Hamburger Grindelallee und sich verdeckter, taktischer gaben – die zweite Schuld setzte unmittelbar nach der ersten ein. Heute, mit der riesigen Erfahrung von vier Jahrzehnten, kann gesagt werden, dass die hartnäckige Verweigerung aus Angst vor Selbstentblößung eine Mehrheit der alten und älteren Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg weit stärker motiviert hat als das Wohl ihrer Kinder. Natürlich ist sie nicht bereit, ihre historische Fehlentscheidung mit dieser Konsequenz zu koppeln, aber, unabhängig von der subjektiven Bewusstlosigkeit gegenüber den Folgen der Verweigerung, war dies ihr objektives Resultat.
Zu diesem Zweck haben sich die Eltern und Großeltern mit erstaunlicher Ausdauer vors Gesicht gehalten, was hier die »Maske« genannt werden soll. Sichtbar wurde dahinter nur der Teil, den der Selbstschutz zu lüften gestattete, und das war wenig genug. Der andere, größere Teil wurde seit 1945 vor Kindern und Kindeskindern fintenreich – und oft genug wohl auch qualvoll – verdeckt gehalten. Die Maske ist inzwischen von Millionen und Abermillionen ihrer Träger mit ins Grab genommen worden.
Unter Hitler lag das Antlitz offen zutage, spiegelte sich in ihm, was damals von einer Mehrheit wirklich gedacht und gefühlt wurde. Gibt es doch überaus eindrucksvolle Foto- und Filmdokumente, die die ungestellte, geradezu hysterische Verlorenheit der Massen an Adolf Hitler auf das Verräterischste demonstrieren. Das spätere Bekenntnis der Zujubler jedoch zu Ursache, Wesen und Inhalt solch wollüstiger Hingabe fehlt fast vollständig. Dabei hätte niemand den Erfolg des Nationalsozialismus und seiner Wahnideen im Körper eines großen Volkes bis in die allerfeinsten Verästelungen genauer, umfassender und tiefgründiger enttarnen können als ebendas riesige Kollektiv der ehemaligen Hitleranhänger selbst – wenn es geständig gewesen wäre. Aber es war nicht geständig, und es verpasste so die einmalige Chance, zum eigenen, aber auch zum Wohl der Nachkommen, Herkunft und Beschaffenheit der deutschen Anfälligkeit für den Nationalsozialismus zu ergründen.
Am 17. Juli 1944 trug Thomas Mann an seinem kalifornischen Wohnsitz Pacific Palisades in sein Tagebuch ein:
»Man soll nicht vergessen und sich nicht ausreden lassen, daß der Nationalsozialismus eine enthusiastische, funkensprühende Revolution, eine deutsche Volksbewegung mit einer ungeheuren seelischen Investierung von Glauben und Begeisterung war.«
Das ist die Wahrheit, und alles andere, sage ich als Augenzeuge, ist Lüge. Die Verschmelzung war, bis auf Reste, total, und es gibt in der Geschichte der Deutschen kein Beispiel, das an diese Amalgamierung von Führung und Volk auch nur entfernt heranreichen könnte. Das war nur möglich durch einen ungeheuren Verlust der humanen Orientierung.
Die Hitlergenerationen, also jene, die von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich verantwortlich sind, aber auch die »Pimpf«- und Hitlerjugend-Jahrgänge, die zwar nicht in diesem Sinne verantwortlich, wohl jedoch vom Dritten Reich geprägt worden sind wie niemand sonst – sie alle werden eines Tages ausgestorben sein. Es ist jedoch der leugnenden und verdrängenden Mehrheit gelungen, mit ihrer großen Lebenslüge einen Teil der nachgewachsenen bundesdeutschen Gesellschaft zu beeinflussen. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch …
Es muss gelingen, zu erforschen, was zwischen der Naziführung und der damaligen deutschen Nation so trefflich korrespondierte. Wir müssen ergründen, warum für die Mehrheit diese Ära »so schön«, »so begeisternd« war (Originalton Stammtisch via Bildschirm), während gleichzeitig doch alle bürgerlichen Freiheiten und Menschenrechte aufgehoben waren und Menschen ihrer politischen Überzeugung oder ihrer Rasse wegen verfolgt und schließlich zu Millionen wie Ungeziefer ausgerottet worden sind.
Wir müssen herauskriegen, warum sich die damaligen Deutschen dennoch die Kehle mit ihren »Heil! Heil!«-Rufen heiser gebrüllt haben und die ungeheuerlichsten Anstrengungen und Opfer erbrachten. Kurz, wir müssen in Erfahrung bringen, wie es zu diesem Verlust der humanen Orientierung kommen und weshalb er sich mit der zweiten Schuld so epidemisch bis in unsere Tage gegen Ende des Jahrhunderts fortsetzen konnte. Da die Umstände keineswegs »schön« und »begeisternd« waren (wie sich viel später wohl mancher selbst eingestand), muss es an der Beschaffenheit der damaligen Deutschen gelegen haben, dass sie so empfanden. Es kann jedoch keine Erkenntnisse der geschichtlichen Realität des Dritten Reiches geben, ohne dass die innere Verstrickung zwischen dem staatlich institutionalisierten Nationalsozialismus und ebendieser Beschaffenheit aufgedeckt wird, so schmerzlich, enthüllend und erniedrigend es für die Beteiligten und ihre Nachkommen auch sein mag.
Ein Mittel dazu ist die Analyse der zweiten Schuld. Es muss dem Verhalten von Menschen nachgegangen werden, die nach 1945 immer behaupteten, sie hätten in der Nazizeit »unter Druck« gehandelt. Gleichzeitig aber offenbarte sich nach deren Untergang durch das eigene Verhalten, wie tief die Bindewirkung der Naziepoche war, ohne dass sich nun jemand auf »Druck« berufen konnte. Etwas Unverbergbares trat da auf – Opportunismus, Verantwortungsabstinenz, Unfähigkeit, sich betroffen zu fühlen, lauter Eigenschaften, die mit erklären können, wieso es zu 1933 und dem frenetischen Triumph Hitlers kommen konnte – die zweite Schuld wird zum Spiegelbild der ersten!
Denn ganz gleich, welche Bedingungen herrschen – die vom Dritten Reich und seiner Vorgeschichte geprägten Generationen verhalten sich auch im demokratischen Nachfolgestaat nach dem gleichen Muster.
Nach so langer Beobachtungszeit setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Hoffnungen auf eine elementare moralische Regeneration einer Mehrheit jener Jahrgänge eine Verkennung der Wirklichkeit, eine falsche Erwartung waren. Sie hatte sich zu tief eingelassen mit dem Nationalsozialismus, war von ihm, weil sie sich mit ihm identifiziert hatte, zu gründlich in ihrem humanen Kern zerstört worden, um je damit fertigwerden zu können. Die Erfahrungen lehren, dass sie nicht die Kraft fand, gegenüber sich selbst und anderen, auch und erst recht gegenüber ihren Nächsten nicht, aufrichtig zu sein.
Das heißt jedoch nicht, dass die Verdrängung nach 1945 undifferenziert verlaufen wäre. Sie reicht von der unsicheren Beharrung auf den alten NS-Wahnideen und von der Schwäche, Einsichten nicht aussprechen und mitteilen zu können, über bewusst andauerndes Komplizentum und organisierte Unbußfertigkeit bis zu schweren und schwersten Depressionen. Natürlich haben im Laufe der Zeit ehemalige Nationalsozialisten dazugelernt und unter ihrer Verführbarkeit und den daraus hervorgegangenen Handlungen gelitten. Aber was auch immer die ehemaligen Hitleranhänger verhaltensmäßig unterscheiden mag, das Schweigen über die von ihnen intensiv mitgelebten zwölf Nazijahre ist ihrer Mehrheit gemeinsam und eine streng und konsequent behauptete Kollektivhaltung von höchster Negativwirkung bis in unsere Tage.
Es wäre völlig absurd, sich die Träger der zweiten Schuld als fanatische NS-Propagandisten mit ständigem Agitationsschaum vor dem Mund vorzustellen. Die gibt es zwar immer noch, aber sie sind nicht typisch für die Masse derer, von denen hier die Rede ist. Die meisten sind brave Wähler der Land- und Bundestage, und sie werden von sich, nicht zu Unrecht, behaupten, dass Politik eine verhältnismäßig geringe Rolle in ihrem Leben spiele. Sosehr das zutrifft, über eine lange Strecke der Nachkriegszeit waren es – und sind es, soweit sie noch leben, immer noch – dieselben Leute, die sich unter dem Hakenkreuz auf eine in unserer Geschichte bisher beispiellose Weise politisch mobilisieren ließen. Das Erschreckende am »gewöhnlichen Nationalsozialismus« war ebendie Normalität seiner Anhänger.
Hinter dem Selbstschutzschild der Generationen, die die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik geprägt haben – und die immer noch von Einfluss sind –, hat sich inzwischen ein völlig versteinertes System von NS-Vergangenheitsabwehr aufgebaut. Neben vielem anderen Bedenklichen, was es hervorgebracht hat, ist ihm eine Generation jugendlicher Nazinachahmer entsprungen, die ihre Respektlosigkeit gegenüber der parlamentarischen Demokratie aus ihrer De-jure- und De-facto-Schuldlosigkeit am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen bezieht. Diese Gruppe ist bisher nicht stark, gibt sich aber, ohne alle historischen Kenntnisse über ihr Vorbild, weit radikaler und risikofreudiger als die taktierenden Alt-Neonazis des rechtsextremistischen Spektrums.
Im Allgemeinen weichen die Träger der zweiten Schuld davor aus, ernsthaft über das verdrängte und verleugnete Thema zu sprechen, sobald ihnen energisch Paroli geboten wird. Ihre Haltung hängt allerdings von den Umständen ab. Läuft einem irgendwann einmal solch ein Unentwegter allein in die Arme, so kann man eine interessante Feststellung machen. Als Einzelner nämlich entpuppt er sich keineswegs als unerschütterbar, sondern eher als ein schlechter Verfechter seiner Sache. Ich habe selbst in manchen Gesprächen mit »Ehemaligen« und auch mit jugendlichen Neonazis unter den Bedingungen einer Zweierdiskussion eine große Schwäche angetroffen, den eingenommenen Standort zu begründen. Das ändert sich sofort unter Gleichgesinnten. Je mehr es sind, desto kühner gibt sich der Einzelne. Isoliert ist er nicht nur schwach, sondern sogar einsichtsfähig. Im Rudel aber taucht er im Imponiergehabe aller unter und fühlt sich geschützt – wahrscheinlich eines der kläglichen Geheimnisse des Stammtisch-Schwadronierers.
Es gibt in der Bundesrepublik zwei deutlich voneinander geschiedene Wege bei der Behandlung des NS-Erbes – ebenden »Stammtisch«, als Teil, als Sprachrohr der öffentlichen Meinung, und die veröffentlichte Meinung, also die Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Der Gegensatz zwischen den beiden Meinungsebenen ist auffallend. Während die Medien sich ununterbrochen mit Nazizeit und NS-Erbe beschäftigen, und zwar in der Regel antinazistisch oder doch jedenfalls nicht pro-, bleibt ein wesentlicher Teil der öffentlichen Meinung eher taub und unberührt. Ausnahmen, wie die Wirkung der vierteiligen TV-Serie »Holocaust«, bestätigen eher die Beobachtung, dass sich der Pegel, der Schmerz, Anteilnahme, Trauer, Mitleiden anzeigt, in der Bundesrepublik nur selten bewegt. Dass der Zugang zu einem ansonsten pauschalen Verfolgtenschicksal durch Individualisierung leichter wird, leuchtet wohl ein. Dennoch bleibt die verbreitete Unempfindlichkeit gegenüber den Schrecken filmischer Dokumentationen, die die Wirklichkeit sichtbar machen, rätselhaft.
In allen politischen und ethischen Grundfragen, die die Nazizeit betreffen, klaffen zwischen veröffentlichter Meinung und »Volkes Stimme« oft Abgründe. Dabei ist das Gefälle zwischen den Generationen zuungunsten der Älteren notorisch.
Innerhalb der Druckmedien gibt es eine Rubrik, die sich über die Jahrzehnte hin als eine Art Schauplatz der schlimmsten rückwärtsgewandten Ansichten erwiesen hat – die »Leserbriefe«. Dabei wird nur die Spitze des Eisberges sichtbar. Das meiste bleibt ungedruckt – aus Scham und Ekel der verantwortlichen Redakteure, aber auch wegen des Grundsatzes, Anonymes nicht zu veröffentlichen. Bedenklicherweise zeigt sich seit einiger Zeit, dass die Zahl solcher anonymen Zuschriften abnimmt und immer häufiger Namen und Adressen voll ausgeschrieben werden. Offensichtlich glaubt die eingeborene Feigheit, dass damit seit der »Wende« keine Risiken mehr verbunden sind. (Was natürlich auch vorher nicht der Fall war. Nur entzieht sich das bezeichnenderweise dem Demokratieverständnis des »neuen Muts«.)
Diese, angesichts unserer Verfassung unzeitgemäß anmutende, Sicht der eigenen Gefährdung bestätigt ein vordemokratisches Verhältnis des betreffenden Individuums zum Staat. Ein aus der Nazizeit weitertransportierter innerer Alarm blieb auch unter den völlig anderen gesellschaftlichen Bedingungen der zweiten deutschen Republik am Leben.
Eine Misstrauensdistanz zur Demokratie äußern viel breitere Kreise als der Zirkel der unentwegt Braunen. Sie empfinden den Parlamentarismus immer noch als fremd und haben ihn keineswegs in das eigene Daseinsgefühl einbezogen. Bei ihnen konservieren sich NS-Ideen jedoch durchaus nicht plakativ oder aggressiv, sondern werden eher, wenn überhaupt, verhalten vorgetragen, in gewisser Weise zweifelnd. Was man da mit sich herumträgt, so wird gespürt, sollte in der Öffentlichkeit besser nicht laut ausgesprochen werden – man ist mit sich nicht im Reinen.
Von der Last, Deutscher zu sein.
Ohne ihre Verantwortung außer Acht zu lassen, befasst sich das Buch weniger mit den großen Dienern und Handlangern des Dritten Reiches – den Industriellen, Bankherren, Militärs, Diplomaten, Wehrwirtschafts- und Parteiführern. Es befasst sich vielmehr mit den sogenannten »kleinen Leuten«, dem »einfachen Mann« und der »einfachen Frau«, ohne die der »Führer« nichts, aber auch gar nichts geworden und gewesen wäre – mit den Millionen, die die Massen eines Volkes ausmachen. Von ihrer Haltung vor, besonders aber nach 1945 wird hier die Rede sein.
Um der Gerechtigkeit willen muss jedoch gesagt werden, dass sie selbst auch einmal Söhne, Töchter, Enkelinnen und Enkel waren, an denen sich die Eltern und Großeltern versündigten – aus der Tiefe der deutschen Reichsgeschichte heraus, aus deren Gestein lange vor 1933 Stufen geschlagen wurden, die Hitler außerordentlich zustattenkamen. Jene Generationen, die hier im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen, waren ja bereits nationalistisch vorverseucht, auf eine Weise, die heute kaum mehr vorstellbar ist. Das Kollektiv derer, die von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich mit verantwortlich waren, ist von der Geschichte unseres Jahrhunderts strapaziert und überfordert worden wie keine Generation sonst.
Mancher aus diesem riesigen Personenkreis hat zu seinen Lebzeiten fünf verschiedene Staatsformen kennengelernt: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich und – meist in der Himmelsrichtung von Ost nach West – die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik.
Ja, sie haben Hiebe ausgeteilt, die Generationen der Eltern und Großeltern, fürchterliche Hiebe, und nach allen Seiten. Aber sie haben auch Hiebe empfangen, sind schwer gebeutelt und von vielfältigen und sehr dauerhaften Niederlagen heimgesucht worden. Und das so sehr, dass sich bei der Beschäftigung mit ihren Biografien unweigerlich Mitempfinden einschleicht, Anteilnahme, manchmal auch Bewunderung und Verwunderung für unerhört Ausgehaltenes, ob man es nun will oder nicht. Die überwältigende Masse derer, auf die der Begriff der zweiten Schuld zutrifft, besteht ja nicht aus simplen Bösewichtern, sondern aus Menschen, die eine Art inneren Kompass verloren haben. An dieser Stelle ein Wort zur Verhältnismäßigkeit des Themas. Es ist keiner der Stoffe, die der Menschheit auf den Nägeln brennen, wie Welthunger und Weltarmut oder die hochexplosive Rivalität der beiden Supermächte USA und Sowjetunion, wie die hirnverbrannte Hochrüstung und die Furcht vor der nuklearen Apokalypse eines dritten und allerletzten Weltkrieges. Das Thema der zweiten Schuld steht auch nicht so dräuend über unserer Epoche wie die Giftwolke von Tschernobyl, die symbolisierte, dass das Überleben der Erdbevölkerung ökologisch immer fragwürdiger erscheint. Es hat weder die Gewalt noch die Größenordnung der bedrohlichen Bevölkerungsvermehrung in Asien, Afrika und Lateinamerika oder der Verstädterung dort durch Landflucht mit den sich stetig erweiternden Jahresringen der wachsenden Slumregionen um die immer eingeschnürteren Ballungsräume der Metropolen.
Aber auch einheimische Probleme sind dem Bundesbürger näher, wie die soziale Katastrophe einer Massenarbeitslosigkeit mit dem erschreckenden Dauerbestand von über zwei Millionen und eher düsterer Perspektive. Oder wie Aids, diese moderne Pest, die die beiden lebenserhaltenden Haupttriebe des Menschen, den der Selbsterhaltung und den des Geschlechts, auf unvorhergesehene Weise miteinander in Konflikt bringt und sehr bald zum Hauptproblem überhaupt werden könnte.
All das mag im öffentlichen Bewusstsein vor der Beschäftigung mit der zweiten Schuld rangieren. Dennoch hat sie mit den zitierten Problemen zweierlei gemeinsam: ihren Langzeitcharakter und das internationale Interesse an ihren Äußerungen.
Wann und wo immer etwas von dem verdeckt gehaltenen Teil der NS-Vergangenheit zum Vorschein kommt – ob in Form einer Lokalnachricht oder des Bitburg-Debakels Ronald Reagan–Helmut Kohl –, rührt sich ringsum eine Sensibilität von schlafloser Wachsamkeit. Und das nicht nur im Osten, sondern auch und kaum geringer in Nord, Süd und West. Wann immer aus einem Ereignis geschlossen werden kann, dass Hitler wohl militärisch, jedoch nicht ideologisch geschlagen worden ist, werden Schwingungen in Gang gesetzt, die bestätigen, unter welch dünnem Firn das europäische und internationale Erinnerungsvermögen schwelt.
Das ist begreifbar, ja zu begrüßen, hat aber trotzdem manchmal auch eine groteske Note.
Die zweite Schuld ist nach meiner festen Überzeugung Teil eines riesigen Rückzugsprozesses. Sie vollzieht sich unter Bedingungen, die sich gänzlich unterscheiden von der historischen Phase der ersten Schuld. Nationalsozialismus und Faschismus waren große, bestimmende Kräfte während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition des Zweiten Weltkrieges und ihr rascher Zerfall danach haben ganz neue Verhältnisse geschaffen. Zwar hat das ehemalige nationale Kollektiv der Hitleranhänger von der Rivalität der Supermächte, die Deutschland zerschneidet, kräftig profitiert. Aber im alten Sinne stellt es kein Weltproblem mehr dar.
Es geht bei der Erörterung der zweiten Schuld nicht um die Frage, ob der Bundesrepublik ein zweiter 30. Januar 1933, eine zweite Etablierung des Nationalsozialismus, droht. Es geht vielmehr um ein schweres Vergehen schuldig gewordener Älterer an den schuldlos beladenen Söhnen, Töchtern, Enkelinnen und Enkeln – sie sind die eigentlichen Opfer der zweiten Schuld, denn was die Großeltern und Eltern nicht abgetragen haben, kommt auf sie über.
Die zweite Schuld ist ein Problem der nationalen Hygiene, die von ihr bis zur Unkenntlichkeit versehrt worden ist.
Ich möchte jetzt vor dem Leser den eigenen Standort bekunden und meine Motivationen, dieses Buch zu schreiben.
Ich hatte es zwischen 1933 und 1945 schwerer gehabt als die meisten Deutschen – ich fiel, meiner jüdischen Mutter wegen, unter die Nürnberger Rassengesetze, mit Leiden für mich und meine Familie, die mich befähigten, den Hamburger Verfolgtenroman »Die Bertinis« zu schreiben, eine Arbeit von vierzig Jahren.
Nach 1945 habe ich es dagegen leichter gehabt als die meisten anderen – ich gehörte zu den überlebenden Opfern. Niemand klagte mich an, im Gegenteil – die Vergangenheit verschaffte mir moralisch einen privilegierten Platz. Ich hatte der Mehrheit aber noch etwas voraus: Der Zufall meiner Geburt, die rassische Diskriminierung hatten es mir auch leicht gemacht, den Nationalsozialismus als das zu erkennen, was er war, und von Anfang an sein geschworener Feind zu sein.
Entgegen dem festen Willen, nach allen Erlebnissen Deutschland im Falle der Befreiung zu verlassen, blieb ich hier, als sie eingetreten war. Gefragt, warum ich geblieben sei, entgegnete ich stets wieder: weil die Bindungen an das Land meiner Herkunft stärker waren als die Schäden, die die Verfolgungen, die ständige Furcht vor dem Gewalttod, vor Folter und Zwangsarbeit und das Entsetzen des illegalen Daseins in mir angerichtet hatten. Und daran gemessen, müssen es sehr dauerhafte Bindungen gewesen sein. Die Entscheidung gilt bis heute und ist nie zurückgenommen worden, muss aber ergänzt werden durch das Geständnis, dass die Konfrontation mit der zweiten Schuld sie auch zu einer schweren Bürde gemacht hat.
Dabei vertrete ich die Ansicht, dass die Voraussetzung dafür, ein Buch wie dieses zu schreiben, keineswegs darin bestehen muss, zu den Verfolgten des Naziregimes gehört zu haben. Es hätte ebenso gut geschrieben werden können von einem Autor mit einem ganz anderen Lebenslauf – wie ja auch häufig Bücher über diese Fragen erschienen sind. Nicht eigene Erlebnisse, die oft genug schon vom Lebensalter her gar nicht möglich waren, sondern Humanität und Moralität haben vielen Schriftstellern die Feder geführt, als sie sich an die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem Erbe machten.
Ich beziehe meine Motivation aus dem oben kurz skizzierten Lebensabschnitt, das heißt eine Motivation. Denn es gibt noch eine weitere.
Schuld und Schuldgefühle aus politischen Gründen sind mir keineswegs unbekannt, wenngleich unter einem anderen Vorzeichen als dem des Hakenkreuzes – nämlich unter dem von Hammer und Sichel. Weil ich glaubte, die Feinde meiner Feinde müssten naturgemäß meine Freunde sein – also die nach den Juden von den Nationalsozialisten am meisten gehassten und verfolgten Kommunisten –, trat ich bald nach der Befreiung in Hamburg der KPD bei. Elf Jahre später, 1957, verließ ich sie wieder, aus denselben Gründen, aus denen ich mich ihr angeschlossen hatte: um meinen Teil dazu beizutragen, die Erde für die Menschheit bewohnbarer zu machen. Aus der Tiefe meiner antifaschistischen Biografie heraus und wegen meiner starken Engagementfähigkeit bedurfte es der 132 Monate, um die Lüge als Lüge, die Unmenschlichkeit als Unmenschlichkeit zu erkennen und dem Fehlverhalten die Konsequenz folgen zu lassen – die Trennung.
Das war wie ein individueller Weltuntergang, zugleich aber auch, nach der Befreiung durch äußere Kräfte im Mai 1945, die ganz neue Erfahrung der Selbstbefreiung. Voraussetzung war das Eingeständnis des eigenen Irrtums. Ich hatte, als Publizist und als Parteiarbeiter, mein Atom Verantwortung an der Stalin- und der ersten Nach-Stalin-Ära zu tragen. Damit wollte, damit musste ich nun fertigwerden. Das geschah zunächst in Form eines Buches, das ich mir bis 1961 von der Seele geschrieben hatte, mit dem symbolisch-ironischen Titel »Die Partei hat immer recht«, einem Zitat aus der bekannten gleichnamigen SED-Kantate. Nicht als Autobiografie eines enttäuschten Kommunisten, sondern als ein Beitrag zur Anatomie des Stalinismus – wie es ihm gelang, Menschen zu gewinnen, sie politisch auszubeuten, eine Zeit lang zu halten, und wie er sie dann durch die inneren Widersprüche zwischen Propaganda und Wirklichkeit wieder verlor. Die Arbeit konnte keinen anderen Sinn haben, als Menschen vor einem ähnlichen Irrtum zu bewahren.
Genauso wichtig aber war das Bekenntnis dieses Irrtums, der Verantwortung und der Schuld vor mir selbst. Alles andere hätte meine Person und mein Leben verkrüppelt, jede individuelle Weiterentwicklung zerstört. Zu leugnen, abzuwehren, zu schweigen – all das hätte unweigerlich zur intellektuellen Auflösung geführt, die zukünftigen Wege blockiert, jede Kreativität erstickt und – vor allem – die Wiedergewinnung humaner Maßstäbe verhindert.
Gerade auf Letztes möchte ich näher eingehen, denn dabei tauchen plötzlich zwei beklemmende Parallelen auf zwischen mir und dem Personenkreis, den ich in diesem Buch aufs Korn genommen habe.
Die erste Parallele besteht in der kritiklosen Gläubigkeit an einen Übervater. Denn ich war durchaus vertraut mit der Hingabe an einen Politgott, der in meinem Fall den Namen Stalin trug, und mit allen Phasen eines später als blödsinnig, lächerlich und höchst mörderisch erkannten Personenkults um ihn.
Die zweite Parallele besteht in der Teilung der Humanitas aus ideologischen Gründen, in der Leugnung von Unmenschlichkeiten im »eigenen Lager« bei äußerster Scharfsichtigkeit jenseits davon. Trotz der ständigen Hinweise auf den Archipel Gulag und sein riesiges Repressionssystem bin ich ihnen allzu lange nicht gefolgt, sondern habe die Berichte abgetan als kranke Ausgeburten des »Klassenfeindes« und mich jenem »guten Glauben« hingegeben, den auch meine erklärten Gegner für sich in Anspruch nahmen. Ich kenne also aus eigenem Erleben nur zu gut die Blindheit der Ideologien und ihren Mechanismus, Realität je nach Bedarf zu entwirklichen. Ich kenne auch die falschen Hoch- und Überlegenheitsgefühle des politischen Radikalismus.
Nun sind mir alle Argumente gegen solchen Parallelismus bekannt, wie: dass damit eigentlich Unvergleichbares aneinandergehalten werde, da man nicht aus denselben Gründen Kommunist werde wie Nazi; dass es gänzlich verschiedene Motive seien, die den einen nach da, den anderen nach dort trieben. Nie habe es den Eintritt in eine Naziorganisation aus humaner Absicht gegeben noch geben können. Das aber sei doch gerade das Kriterium bei nahezu jedem freiwilligen Beitritt in eine kommunistische Partei. Und schließlich befinde sich der Irrende nach seinem Bruch in bester Gesellschaft, wofür große Namen aufgeführt werden könnten.
Ich spreche einer primitiven Nivellierung nicht das Wort. Es leuchtet mir auch ein, dass der Bezug eines in der Bundesrepublik agierenden KPD-Mitglieds von 1946 bis 1957 zu dem von ihm mitzuverantwortenden Geschehen innerhalb des sowjetischen Machtbereiches nicht das Gleiche ist wie die nationale Eingebundenheit des Durchschnittsdeutschen unter Hitler in ein Staatswesen, das er mit dem Vaterland identifizierte und das die ungeheuerlichsten Verbrechen der Weltgeschichte beging.
Aber der Streit, ob bestimmte Parallelen zwischen ansonsten völlig verschiedenen Überzeugungen nun berechtigt seien oder nicht, hebt sich angesichts der viel wichtigeren Frage auf, welche Konsequenzen aus einem politischen Irrtum gezogen werden sollten: nämlich ihn zu überwinden durch Erkenntnis und Bekenntnis, auch wenn sie schmerzen, oder auf ihm durch Verdrängung oder Verleugnung zu beharren.
Genau das aber ist das Wesen der zweiten Schuld.
Mit ihrer publizistischen Behandlung verlasse ich die sanften Triften jener sicheren öffentlichen Anteilnahme, die mir meine Hamburger Verfolgtensaga »Die Bertinis« in so hohem Maße beschert hat, und begebe mich auf die hohe See der Schuldforschung und ihrer widrigen Gegenwinde: Wie kam es zu der Massenverfolgung und -vernichtung? Wer waren die Verfolger, und wer half ihnen dabei? Vor allem aber: Was geschah mit den Verfolgern, mit den Tätern danach? Mit den Antwortversuchen auf solche Fragen macht man sich bei uns nicht beliebt.
Zum Schluss der Einführung noch etwas zu den zwangsläufigen Gefahren, die in der Verengung der stets komplexen Wirklichkeit durch das unvermeidlich Ausschnitthafte jeder speziellen Fragestellung liegen.
Natürlich besteht die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland keineswegs bloß aus alten, neuen oder verhinderten Nazis. Nachdem zahlreiche Angehörige der von ihrem Lebensalter her für das Dritte Reich verantwortlichen Generationen seit 1945 ihr natürliches biologisches Ende gefunden haben, sieht die Gegenwart eine Mehrheit von Bürgern, die entweder in der NS-Zeit ihrer Jugend wegen keine Verantwortung haben konnten oder die erst nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges geboren worden sind.
Niemand kann in der zweiten deutschen Republik kraftvolle Demokratisierungsprozesse übersehen, und die Probleme, die von der NS-Vergangenheit aufgeworfen werden, vereinen eine große Gemeinschaft von Menschen, die in vielen anderen Fragen völlig unterschiedlicher Meinung sein können. Ganz allgemein trägt die Bundesrepublik nach außen ein Gesicht, das es etwa den Millionen von Ausländern, die sie jedes Jahr besuchen, schwer macht, mit dem Thema dieses Buches in eine direkte, dingliche Beziehung zu kommen.
Dies ist ein bemerkenswertes Land! Ob Bundesbürger oder Fremder, jedermann erlebt die Bundesrepublik in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre als eine interessante, hochmobile Gesellschaft sondergleichen. Es herrschen Buntheit und Freiheit, die beispiellos sein dürften in der deutschen Geschichte, und die Grenzen der Reisemöglichkeiten werden nur gezogen durch die Beschränktheit der finanziellen Mittel und des Urlaubs. Das Spektrum der verschiedensten Meinungen bietet sich an jedem Kiosk, in jeder Buchhandlung geradezu überquellend dar, und auch vom Bildschirm flimmert, allen Unkenrufen zum Trotz, allwöchentlich immer noch manche beträchtliche Leistung.
Das Land hat große Naturschönheiten, so dicht besiedelt, ja zersiedelt es in seiner handtuchschmalen Ost-West-Ausdehnung auch ist. Die Kultur- und Kunstdenkmale sind Legion. Den zivilisatorischen Stand, den es hat, weiß der umso höher zu schätzen, der dessen Annehmlichkeiten anderswo auf der Erde vermissen musste. Und die Menschen dieses Landes? Sie sind so unkriegerisch, wie es sich nur denken lässt. Mehr, ihre Liebe zum Frieden ist, wie das ihrer Landsleute in der DDR, womöglich noch ausgeprägter, eingewachsener, selbstverständlicher als in anderen Regionen, schon weil sich hier, im Herzen Europas, auf deutschem Boden, die größte Vernichtungskapazität auf kleinstem Raum drängt.
Unschwer lässt sich eine starke Hilfsbereitschaft erkennen. Die Millionenspenden, die wieder und wieder, wenn auch kampagnenhaft, für die Opfer von Hunger, Natur- und Kriegskatastrophen zusammenkommen, dürften keineswegs allein dem schlechten Gewissen des Wohlstandes zu verdanken sein. Das ist vielleicht ein, jedoch nicht das einzige Motiv. Trotz optischer Inflationierung durch das Fernsehen, die Not anderer findet immer noch den Weg zu den Deutschen von heute.
Aber – die Bundesrepublik hat einen Januskopf, ein Doppelantlitz. Denn gleichzeitig zeigen sich Ausländerfeindlichkeit, Politextremismus von rechts und links, Terrorismus von rechts und links sowie ein tief institutionalisierter Gegenradikalismus, der allein auf den Linksterrorismus reagiert. Dies ist ein Staat, der seine ihm von außen geschenkte Demokratie ständig nach allen Seiten verteidigen muss, besonders aber gegen Kräfte und Denkweisen, deren Ursprünge weit zurückreichen und die von den Alten und Älteren auf Teile der mittleren und jungen Generationen übertragen worden sind. Die zweite deutsche Demokratie und ihre Freiheiten sind keine Selbstverständlichkeiten von 1949 an bis in alle Ewigkeit, sondern eine fortwährend bedrohte Kostbarkeit.
Obwohl sich vieles geändert hat, obwohl Jahrgänge mit einem weit unbefangeneren Lebensgefühl herangewachsen sind, die schon von ihrem legeren Äußeren her einen wohltuenden Gegensatz zu ihren oft gravitätischen Altvorderen bilden – obwohl all das so ist, hat die Bundesrepublik dennoch die größten Schwierigkeiten, mit einer Vergangenheit fertigzuwerden, aus der sie am liebsten immer wieder ausgestiegen wäre. Aber:
»Die Hoffnung, die Nachkriegszeit sei abgeschlossen, was wiederholt von führenden deutschen Politikern geäußert worden ist, muss sich als Irrtum erweisen, weil nicht wir allein bestimmen, wenn es genug ist, Folgerungen aus einer Vergangenheit zu ziehen, die das Leben und das Glück einer so großen Zahl von Menschen vernichtet hat.«
Das schrieben Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem 1967 erschienenen Buch »Die Unfähigkeit zu trauern«, dieser ebenso klassischen wie bitteren Charakteristik des Durchschnittsdeutschen unter Hitler und in den ersten zwanzig Jahren nach 1945 (ein Werk, aus dem noch häufig zitiert werden wird).
Mag die Nachkriegszeit in den seither abermals verflossenen zwei Dezennien endgültig abgeschlossen worden sein, die Versuche, sich am Erbe des Nationalsozialismus vorbeizumogeln, sind es nicht. Im Gegenteil, nach den lange eher plebejischen Artikulationen der Schuldverdrängung und -leugnung üben sich heute mit beträchtlichem Stimmaufwand akademisch-intellektuelle Debattierer, die NS-Epoche zu relativieren und zu bagatellisieren (wovon noch die Rede sein wird).
Und doch werden alle diese Anstrengungen vergebens sein, definitiv umsonst, denn das Wort vom »Tausendjährigen Reich« wird sich, wenn auch nicht im Sinne seiner Schöpfer, insofern bewahrheiten, als sich die Menschheit noch in fernsten Zeiten mit ihm beschäftigen wird. So zahlreich sie schon sein mögen, alle bisherigen publizistischen Bemühungen sind erst ein Anfang, wie »Die zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein« – geschrieben in Zorn, in Trauer und in Hoffnung.
Hamburg, August 1987
Ralph Giordano
Vom Verlust der humanen Orientierung
Der Untergang des Dritten Reiches, so schreiben die Mitscherlichs in »Die Unfähigkeit zu trauern«, sei ein katastrophales Ereignis gewesen, auf das selbst bei zunehmend als widersprüchlich empfundenen Vorstellungen die große Mehrheit der Deutschen nicht vorbereitet war. Sie sei aufgrund ihrer Allmachtsfantasien keiner wirklichkeitsgerechten Vorschau in die Zukunft fähig gewesen. Die Auseinandersetzung mit der Einsicht, dass die gewaltigen Kriegsanstrengungen wie die ungeheuerlichen Verbrechen einer wahnhaften Aufblähung des Selbstgefühls, einer ins Groteske gesteigerten Selbstliebe dienten, hätte zur völligen Entwertung des Selbstgefühls führen und Melancholie auslösen müssen, wenn diese Gefahr nicht durch Verleugnungsarbeit schon im Keime abgefangen worden wäre.
Das ist die exakte Schilderung des Kollektivverhaltens während der ersten zwanzig Jahre im Nachkriegsdeutschland, an dem sich, was die noch lebenden Angesprochenen betrifft, auch in den seither noch einmal verstrichenen zwei Jahrzehnten kaum etwas geändert haben dürfte.
Die Verleugnungsarbeit setzte 1945 sofort ein und trat überall mit den gleichen Artikulationen auf. Millionen, die sich nie begegnet waren und einander nicht kennen konnten, Menschen zwischen Flensburg und München, Köln und Berlin, fanden bis auf den Buchstaben genau die gleichen Entlastungsformulierungen. Sie waren so elementar, dass sie sich damals nicht nur epidemisch verbreiteten, sondern sich bis in unsere Zeit so gut wie unversehrt erhalten haben.
Ich habe das »kollektive Affekte« genannt. »Kollektiv«, weil die Uniformität dieser Affekte einem massenhaften, ja nationalen Grundgefühl entsprach, dem dann auch sogleich die historische Fehlentscheidung entwuchs, nicht aufzuarbeiten, sondern zu verdrängen. »Affekt«, weil es sich um eine jähe, unreflektierte und die erste Schreckstunde nicht überwindende Reaktion handelte. Wie die Schuldabwehr selbst, so mögen auch ihre kollektiven Affekte zunächst von Scham gezeugt worden sein, jedenfalls bei einer großen Zahl ehemaliger Hitleranhänger. Das wäre eine moralische Rückwirkung, der Hinweis auf einen humanen Funken, der von der Asche der zwölf Nazijahre nicht ganz erstickt werden konnte. So viel aber war von vornherein klar: Würde es bei diesem Ur-, diesem Erststadium der Auseinandersetzung mit jenem Abschnitt selbst erlebter und mitgestalteter Geschichte bleiben, wäre unweigerlich eine innere Versteinerung die Folge – wie es dann auch tatsächlich allzu häufig der Fall war.
Die kollektiven Affekte sind der unverfälschte Ausdruck eines Verlustes an humaner Orientierung, wie ihn in solch inflationärem Ausmaß kein anderes Volk je erlitten hat. Älteren wird der Wortlaut der Affekte nur zu bekannt sein, dem jugendlichen Leser aber sei wiederholt, dass sich die Artikulationen rhetorischer Schuldabwehr seit vierzig Jahren nicht geändert haben.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen nun acht von ihnen genannt, analysiert und auf ihren Humanitätsverlust untersucht werden.
Kollektiver Affekt 1:
»Es waren ja gar nicht sechs Millionen Juden, die umgebracht worden sind, sondern …«
Meist folgen dann Zahlenangaben, die von fünf Millionen auf einige Hunderttausende herabsinken – von der Null-Opfer-These der Verfechter der »Auschwitz-Lüge« gar nicht zu reden.
In der Vorstellungswelt, der dieser Affekt entstammt, wird der Völkermord an den Juden im deutsch besetzten Europa während des Zweiten Weltkrieges zu einer bloßen Frage von Ziffern, von Quantität. Die Logik des Affektes: Je niedriger die Zahl der ermordeten Juden gedrückt werden kann, desto beruhigter fühlt man sich. Die Vernichtung selbst löst kein Entsetzen aus, weil es keinerlei innere Beziehung zur Welt der Naziopfer gibt. Wenn Betroffenheit eintritt, dann ausschließlich im Zusammenhang mit der eigenen Person über die Anschuldigung, einem System, das solche Massenverbrechen begangen hat, gedient, angehangen, zugejubelt zu haben (wo nicht mehr im Spiele war). Die Ermordung großer nicht jüdischer Opfergruppen, wie sowjetischer Kriegs- und Zivilgefangener oder der Sinti und Roma, ist dem Bewusstsein der bundesdeutschen Öffentlichkeit bis heute so gut wie unbekannt geblieben.
Die Minimalisierer des kollektiven Affektes 1 erweisen sich an anderer Stelle jedoch als ausgesprochene Maximalisierer von Opferziffern, aber stets nur, wenn es Deutsche betraf, zum Beispiel die Toten des alliierten Luftkrieges, und darunter wieder besonders die Dresdens.
Die Zweifler an der Mordbilanz der »Endlösung« nennen im Zusammenhang mit dem Untergang Dresdens am 13. und 14. Februar 1945 gewöhnlich Zahlen zwischen 120000 und 200000 Getöteten, während eine amtliche Liste 35000 aufführt. Was immer an dem einen oder dem anderen stimmen mag oder nicht – ein Bevölkerungsteil, der sich gegenüber den NS-Verbrechen vollkommen versteinert gibt und deren Ziffern nicht weit genug herunterspielen kann, ganze Generationen, deren Lebensgefühl auf der Verniedlichung, der Bagatellisierung, ja der Leugnung von NS-Opfern überhaupt basiert – sie werden plötzlich fuchsteufelswild, wenn sie meinen, dass die Zahlen deutscher Opfer zu tief angesetzt werden. Selbstverständlich bestand keinerlei militärische Notwendigkeit, Dresden so kurz vor dem unbezweifelbaren Ausgang des Zweiten Weltkrieges zu bombardieren und auszuglühen.
Das eigentliche Elend der Anhänger des kollektiven Affektes 1 aber, um deren Beschaffenheit es geht, besteht in einer Gesinnung, die auf weniger als sechs Millionen ermordeten Juden, jedoch auf mehr als 35000 umgekommenen Dresdnern verharrt.
Kollektiver Affekt 2:
»Aber wir haben doch von nichts gewusst!«
Was ist damit gemeint, worauf bezieht sich das »… von nichts gewusst«? Es bezieht sich auf Auschwitz und auf alles, was dieser Name symbolisiert und materialisiert, das heißt auf den Serien-, Massen- und Völkermord der Jahre 1941 bis 1945. Aber der kriminelle Charakter des Nationalsozialismus begann nicht mit seinem Vernichtungsapparat! Das Verbrechen begann bereits mit den Maßnahmen, die die demokratischen Freiheiten aufhoben, die erste Republik zerstörten, und es setzte sich fort über die Verhaftungen, Folterungen und Ermordungen politischer Gegner von gestern, die Errichtung von Konzentrationslagern, die Bücherverbrennungen, den Boykott jüdischer Geschäfte schon im April 1933, alles Geschehnisse, von denen jedermann in Deutschland gewusst hat. Und zwar so gut gewusst, dass schon sehr bald nach dem 30. Januar 1933 der »deutsche Blick« aufkam: Wenn zwei sich trafen, die sich nicht kannten, schätzten sie sich erst mal ab, ob der eine den anderen ins »Konzertlager« bringen könnte … Jedermann wusste von der Proklamation der Nürnberger Rassengesetze; von der viehischen Brutalität, mit der Hitler seinen Rivalen Ernst Röhm und dessen Anhang umbringen ließ; von der sogenannten »Reichskristallnacht« im November 1938, dem bis dahin schrecklichsten Pogrom gegen die Juden im Reich. Und jedermann wusste von der Deportation dieser Juden ab 1940/41, denn das geschah unter freiem Himmel, am helllichten Tag und über ganz Deutschland verstreut.
Der kollektive Affekt »Aber wir haben doch von nichts gewusst!« schafft von der »Machtergreifung« bis zur Errichtung des Vernichtungsapparates unter dem Dach des Reichssicherheitshauptamtes und dem Beginn seiner Mordpraktiken im Großformat, also von 1933 bis 1941, eine quasiverbrechensfreie Strecke. Er nivelliert das Dritte Reich bis dahin mit anderen zeitgenössischen Gesellschaften diktatorischen Zuschnitts, ja baut geradezu eine Zone bürgerlicher Gesittung auf, gegen die anzugehen und Widerstand zu leisten jegliches Motiv entfiel. Der Versuch, die kriminelle Gesamtheit des NS-Staates auf einen Teilsektor oder eine bestimmte Phase seiner Herrschaft zu reduzieren, dauert bis in unsere Tage an. Der Affekt signalisiert das immer noch fehlende Bewusstsein, dass der Nationalsozialismus durch und durch verbrecherisch war, von seiner Peripherie bis zu seinem Zentrum. Die neun Jahre zwischen dem 30. Januar 1933 und der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942, auf der die »Endlösung der Judenfrage« in Europa beschlossen wurde, waren keineswegs relativ, sie waren absolut verbrecherisch: als der Schoß, aus dem dann die höchste Institutionalisierung des NS-Staates kroch, die Mordmaschinerie der Einsatzgruppen und des Holocaust. Der Vernichtungsapparat war die Spitze einer Staatsstruktur, die voll in seinem Dienste stand.
Dem kollektiven Affekt »Aber wir haben doch von nichts gewusst!« folgt übrigens meistens eine Zwillingsbeteuerung, sozusagen ein Unteraffekt, der lautet: »Wir konnten doch nichts dagegen machen!«
Da sei doch in aller Unschuld gefragt: Wogegen denn? Gegen das, was man »nicht gewusst« hat?
Instabilitäten wie diese wohnen dem gesamten Bau der Schuldabwehr inne.
Kollektiver Affekt 3:
»Konzentrationslager waren gar keine deutsche Erfindung, sondern eine britische – im Kampf gegen die Buren, damals, in Südafrika …«
Also vorgegebene Kenntnis weit zurückliegender Ereignisse in einem fremden Land und in zehntausend Kilometer Entfernung bei gleichzeitiger Beharrung auf der Unkenntnis gegenüber Ereignissen im eigenen Land, in nächster Umgebung und in nationaler Verantwortung.
Kollektiver Affekt 4:
»Hitler hat nicht nur Schlechtes, er hat auch Gutes geschaffen, zum Beispiel die Autobahnen …«
Dieser Affekt wird sehr häufig angeführt: Auch nach vierzig Jahren absoluter Informationsfreiheit über Hitlerdeutschland wird immer noch geteilt in einen »guten« und einen »schlechten Führer«, als hätte es deren zwei gegeben; wird immer auch noch geteilt in einen Nationalsozialismus von Auschwitz und in einen anderen der Autobahnen. Was nicht nur das fehlende Bewusstsein dafür anzeigt, dass der Autobahnbau ein Teil des NS-Rüstungs- und Kriegsvorbereitungsprogramms war (ebenso wie die vom kollektiven Affekt 4 oft zitierten »Kraft durch Freude«-Urlauberschiffe, die schnell in Truppentransporter umgebaut werden konnten). Es fehlt auch das Empfinden für die Unzulässigkeit der Aufrechnungsmethode. Hier klingt ihre innere Variante an, sie hat auch eine äußere.
Kollektiver Affekt 5:
»Die anderen haben auch Verbrechen begangen, nicht nur wir Deutschen!«
Das ist eine ebenso unbezweifelbare wie niederschmetternde Wahrheit. Dennoch kann ihr nicht applaudiert werden, da die Motivation des kollektiven Affektes 5 nicht zustimmungswürdig ist. Ihm liegt nämlich nicht das Erbarmen mit allen Opfern zugrunde, sondern ebendas Prinzip der Aufrechnung, der Kompensation. Opfer, die deutschen übrigens eingeschlossen, werden zu bloßen Verrechnungsobjekten des eigenen Entschuldungsbedürfnisses, sehen sich zu willkommenen Einheiten einer entseelten Totenarithmetik deklassiert. Das Entlastungsbedürfnis geht bis in die totale Inhumanität. Massaker, anderswo begangen, entsetzen nicht mehr, sie trösten. Der Verlust der humanen Orientierung erreicht hier einen gewissen Gipfel. Aber auch die noch folgenden kollektiven Affekte sind nicht weit darunter angesiedelt.
Kollektiver Affekt 6:
»Schluss mit den Anklagen gegen NS-Täter, Schluss mit den NS-Prozessen vor deutschen Gerichten – wer soll das bezahlen?«
Hier schlägt das Bedürfnis nach persönlicher Entlastung großkalibrig zu. Wenn strafrechtliche Täter Absolution erhielten, von der Justiz verbrieft und bescheinigt, wie erlöst dürfte man sich dann erst selbst fühlen, als ehemaliger Mitläufer, Kleinparteigenosse oder auch Unorganisierter, der wohl »Heil!« gerufen, sich jedoch die Hände nicht mit Blut befleckt hat? Also: Straffreiheit für Totschläger und Mörder, um strafrechtlich geringer oder gar nicht Betroffenen ein besseres Gewissen zu verschaffen.
Die zweite Schuld tastet das gesamte Mordgeschehen des Dritten Reiches ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der eigenen Entlastungsmöglichkeiten ab.
Der Ruf nach Straffreiheit beschränkt sich nur auf NS-Täter. Anderen Tätergruppen gegenüber sind die Anhänger des kollektiven Affektes 6 nicht nur auf Bestrafung aus, sondern für diese fordern sie sogar die Einführung der Todesstrafe. Zum Beispiel für Taxifahrermörder, Sittlichkeitstäter, Kindesentführer und – natürlich – Terroristen.
Auf die Frage »Todesstrafe – auch für Naziverbrecher?« malt sich nach meinen eigenen Erfahrungen die ganze Skala von Begriffslosigkeit bis hin zu Erschrecken auf den Mienen ab. Beim Ruf nach Wiedereinführung der Todesstrafe ist diese Tätergruppe völlig ausgeklammert. An sie hatte man mit keinem Gedanken gedacht.
Kollektiver Affekt 7:
»Unter Hitler hat es noch Zucht und Ordnung gegeben. Da konnte man nachts unbehelligt auf der Straße gehen. Aber heute …«
Die Begriffslosigkeit ist vollständig. Kein Gedanke daran, dass damals der Mord staatlich institutionalisiert war und dass an einem einzigen Tag, ja in einer einzigen Stunde in Hitlerdeutschland mehr Menschen aus politischen Gründen oder rassistischen Motiven umgebracht worden sind, als in der Bundesrepublik seit ihrer Gründung Morde ausgeführt wurden (ganz abgesehen von deren nicht staatlichem Charakter) – dieser Gedanke wird überhaupt nicht gedacht. Die Wertvorstellungen aus der Zeit vor vierzig Jahren haben sich bis heute unversehrt erhalten. Die KZ- und Vernichtungswirklichkeit ist in solcher Vorstellung immer noch ausgesondert. Die Summierung der kollektiven Affekte macht in mancher Hinsicht klar, welchen Haltungen Hitler damals seinen Triumph zu verdanken hatte – sie haben sich bis in unsere Gegenwart konserviert.
Darin besteht auch das Wesen des letzten der hier aufgezählten kollektiven Affekte.
Kollektiver Affekt 8:
»Es muss doch endlich einmal vergessen, es muss doch endlich einmal Schluss gemacht werden …«
Abgesehen davon, dass ich diese Forderung mit eigenen Ohren schon im Jahre 1945 gehört habe – gerade die Verfechter des kollektiven Affektes 8 erweisen sich als wahre Erinnerungsgiganten. Ausgezeichnetes Gedächtnis auf allen Sektoren des privaten Lebens und des politischen Daseins zwischen 1933 und Kriegsende, wo nichts Belastendes vermutet wird. Gedächtnisversagen gegenüber allen Ereignissen, die mit Unlust, Scham und Schuldgefühlen besetzt sein könnten. Es wird also genau sortiert, was vergessen werden soll – und was nicht. KZ und Holocaust – vergessen. Nicht vergessen: Gewalttaten an Deutschen und Luftkrieg. Wenn es gar nicht anders geht, das Aufrechnungsprinzip hervorholen: Vertreibung gegen Auschwitz.
Die kollektiven Affekte sind der greifbarste Ausdruck des Verlustes der humanen Orientierung, aber dieser erschöpft sich nicht in ihnen.
Die Abwehr gegen Leid, das als fremd empfunden wird, die lange Abtötung von menschlichen Reaktionen, um diese Abwehr aufrechtzuerhalten, fordern ihren Preis. Sie greifen über auf die Welt der eigenen, der deutschen Opfer, denn die innere Beziehungslosigkeit zur Welt der Naziopfer bedeutet Beziehungslosigkeit zu Opfern überhaupt, eingeschlossen die viel beschworenen der Bomben und des Phosphors sowie die Gefallenen an den Fronten. Die Mitscherlichs schreiben dazu:
»Obgleich sie ein ehrendes Andenken finden, bleiben auch die Toten der Schlachtfelder und unserer gegen Ende des Krieges in Schutt und Asche versinkenden Städte hinter diesem Schleier des Unwirklichen, der De-Realisation. Für Kriegstote, so hat man den Eindruck, wird die Erinnerung bei uns oft weniger aus Pietät denn aus der Absicht, Schuld aufzurechnen, wachgehalten. So achten wir auf lebhaftere Gefühle für die vermeidbare Zerstörung deutscher Städte durch Achtlosigkeit oder Destruktion der Alliierten als für die gleichen Taten unserer Seite, etwa gegen die zügellose Drohung, die Städte unserer Feinde ›auszuradieren‹. Dieses isolierte Bedauern einer Zerstörung an der eigenen Substanz ist wiederum die charakteristische Wirkungsweise eines Selbstschutzes durch Abwehr. Die eigenen Leiden werden aus dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung isoliert. Mögen dies unbezweifelbar Unrechtstaten sein, der Selbstbetrug besteht darin, dass gemeint wird, sie widerführen einem unverdient.«
In den Sechzigerjahren geschrieben, hat diese bestechend treffsichere Analyse immer noch Gültigkeit.