Die Beschenkte & Co.: Unvergessliche Heldinnen und eine tödliche Gabe – Band 1-4 der Bestseller-Serie im Sammelband! (Die sieben Königreiche) - Kristin Cashore - E-Book
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Die Beschenkte & Co.: Unvergessliche Heldinnen und eine tödliche Gabe – Band 1-4 der Bestseller-Serie im Sammelband! (Die sieben Königreiche) E-Book

Kristin Cashore

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Beschreibung

Katsa, die beschenkte Kämpferin; Fire, die Rothaarige mit unwiderstehlicher Schönheit; Bitterblue, die junge Königin – drei starke Frauen kämpfen in der Welt der sieben Königreiche für Wahrheit, Gerechtigkeit und die Liebe. »Die Beschenkte«, »Die Flammende«, »Die Königliche« und – jetzt neu! – auch mit dem vierten Band »Die Wahrhaftige«: vier unwiderstehlich spannende Romane in einer faszinierenden Fantasy-Welt! Diese E-Box enthält alle 4 Erzählbände der Bestseller-Serie Die sieben Königreiche: Die Beschenkte (Band 1) Die Flammende (Band 2) Die Königliche (Band 3) Die Wahrhaftige (Band 4)

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Kristin CashoreDie sieben Königreiche: Die Serie aus der Welt der »Beschenkten«

Aus dem Englischen von Irmela Brender (Band 1) und Katharina Diestelmeier (Band 2 bis 4)

Katsa, die beschenkte Kämpferin; Fire, die Rothaarige mit unwiderstehlicher Schönheit; Bitterblue, die junge Königin – drei starke Frauen kämpfen in der Welt der sieben Königreiche für Wahrheit, Gerechtigkeit und die Liebe. »Die Beschenkte«, »Die Flammende«, »Die Königliche« und »Die Wahrhaftige« – vier unwiderstehlich spannende Romane in einer faszinierenden Fantasy-Welt!

Alle Bände der Serie sind auch unabhängig voneinander lesbar.

Diese E-Box enthält alle 4 Erzählbände der Bestseller-SerieDie sieben Königreiche:

WOHIN SOLL ES GEHEN?

Band 1: Die Beschenkte

Band 2: Die Flammende

Band 3: Die Königliche

Band 4: Die Wahrhaftige

Viten

1

In diesen Verliesen herrschte vollkommene Finsternis, doch Katsa hatte einen Grundriss im Kopf. Bis jetzt hatte er genau gestimmt, so wie sie es von Olls Karten und Plänen gewohnt war. Katsa strich mit der Hand die kalten Mauern entlang und zählte im Vorbeigehen Türen und Gänge. Sie bog um die Ecke, wenn es Zeit dafür war, und blieb schließlich vor einer Maueröffnung stehen, in der eine Treppe nach unten führen sollte. Sie kauerte sich nieder und tastete sich mit den Händen vor, berührte eine Steinstufe, feucht und glatt, von Moos überzogen, und eine weitere rutschige Stufe darunter. Das also war Olls Treppe. Sie hoffte nur, Oll und Giddon, die ihr mit den Fackeln folgten, würden das schleimige Moos sehen, vorsichtig sein und die Toten in diesen Verliesen nicht durch einen Sturz auf der Treppe wecken.

Katsa glitt die Treppe hinunter. Eine Abzweigung nach links und zwei nach rechts. Sie hörte bereits Stimmen, als sie in einen Gang kam, in dem eine Fackel in der Halterung an der Wand flackerndes orangefarbenes Licht in die Dunkelheit warf. Gegenüber der Fackel öffnete sich ein weiterer Gang. Und in diesem Gang würden nach Olls Bericht zwei bis zehn Wachen vor einer bestimmten Zelle am Ende des Korridors stehen.

Diese Wachen waren Katsas Aufgabe. Ihretwegen war sie vorausgeschickt worden.

Katsa schlich auf das Licht und das Gelächter zu. Sie könnte anhalten und horchen, um eine genauere Vorstellung zu bekommen, wie vielen Männern sie gegenüberstehen würde, doch ihr blieb keine Zeit. Sie zog ihre Kapuze tief herunter und bog um die Ecke.

Fast wäre sie über ihre ersten vier Opfer gestolpert, die einander auf dem Boden gegenübersaßen und sich mit dem Rücken an die Wand lehnten. In der Luft lag der Gestank irgendeines hochprozentigen Getränks, das sie mit heruntergebracht hatten, um sich die Wachzeit zu vertreiben. Katsa trat und schlug auf Schläfen und Nacken, und die vier waren zusammengesackt, bevor sich die Überraschung in ihren Augen spiegelte.

Jetzt saß nur noch ein Wachmann vor dem Zellengitter am Ende des Gangs. Hastig stand er auf und zog sein Schwert aus der Scheide. Während sie auf ihn zuging, war sie sicher, dass er ihr Gesicht und vor allem ihre Augen wegen der Fackel hinter ihr nicht erkennen konnte. Sie taxierte seine Größe, seine Bewegungen, die Kraft des Arms, der ihr das Schwert entgegenhielt.

»Bleib stehen. Ich weiß, wer du bist.« Seine Stimme klang gelassen. Er war tapfer, dieser Mann. Warnend durchschnitt er die Luft mit seinem Schwert. »Du machst mir keine Angst.«

Er griff an. Sie duckte sich unter seiner Schwertklinge und schwang die Beine wie Windmühlenflügel. Ein Fuß traf seine Schläfe und der Mann fiel zu Boden.

Sie stieg über ihn, lief zum Gitter und spähte in die dunkle Zelle. Eine Gestalt kauerte an der hinteren Wand, ein Mensch, der zu müde oder zu durchfroren war, um sich für den Kampf im Korridor zu interessieren. Er hatte die Arme um seine Knie geschlungen und den Kopf dazwischengesteckt. Er schauderte – Katsa konnte seinen Atem hören. Sie bewegte sich und das Licht fiel auf seine gekrümmte Gestalt. Sein Haar war weiß und kurz geschoren, und sie bemerkte den Goldschimmer an seinem Ohr. Olls Karten hatten ihren Zweck erfüllt, dieser Mann war ein Lienid. Er war der, den sie suchten.

Sie zog am Türriegel. Verschlossen. Nun, das war keine Überraschung, und es war nicht ihr Problem. Sie pfiff einmal, leise, wie eine Eule. Dann streckte sie den tapferen Wachmann auf dem Rücken aus und warf ihm eine ihrer Pillen in den Mund. Sie lief durch den Korridor, drehte die vier Unglücklichen nebeneinander auf den Rücken und gab auch ihnen je eine Pille. Gerade als sie sich fragte, ob Oll und Giddon sich im Kerker verirrt hatten, kamen sie um die Ecke und schlüpften an ihr vorbei.

»Eine Viertelstunde, nicht mehr«, sagte sie.

»Eine Viertelstunde, My Lady.« Olls Stimme klang wie Knurren. »Seien Sie vorsichtig.«

Ihr Fackellicht ergoss sich über die Wände, als sie sich der Zelle näherten. Der Lienid stöhnte und schlang die Arme enger um sich. Katsa sah, dass seine Kleidung zerrissen und beschmutzt war. Sie hörte, wie die Dietriche an Giddons Ring klimpernd aneinanderschlugen. Gern hätte sie gewartet und gesehen, wie sie die Tür öffneten, doch sie wurde anderswo gebraucht. Sie schob ihr Pillenpäckchen in den Ärmel und lief los.

Die Wachmänner vor der Zelle hatten der Kerkerwache Bericht zu erstatten und die Kerkerwache der Unterwache. Die Unterwache hatte die Schlosswache zu informieren. Die Nachtwache, die königliche Wache, die Mauerwache und die Gartenwache erstatteten ebenfalls der Schlosswache Bericht. Sobald ein Wachmann die Abwesenheit eines anderen Wachmanns bemerkte, würde Alarm geschlagen werden, und wenn Katsa und ihre Männer sich dann noch nicht weit genug entfernt hätten, wären sie alle verloren. Sie würden verfolgt, es würde zu Blutvergießen kommen, man würde Katsas Augen sehen und sie erkennen. Deshalb musste sie alle ausschalten, jeden einzelnen Wachmann. Oll hatte angenommen, es würden zwanzig sein. Prinz Raffin hatte ihr dreißig Pillen mitgegeben, für alle Fälle.

Die meisten Wachmänner machten ihr keine Schwierigkeiten. Wenn sie sich anschleichen konnte oder wenn sie in kleinen Gruppen beieinanderstanden, wussten sie gar nicht, wie ihnen geschah. Die Schlosswache war ein wenig komplizierter, weil fünf Wachmänner das Büro ihres Hauptmanns bewachten. Katsa wirbelte durch sie hindurch, trat und schlug, und der Hauptmann sprang hinter seinem Schreibtisch auf, stürzte durch die Tür und lief ins Getümmel.

»Ich erkenne einen Beschenkten, wenn ich ihn sehe!« Er stach mit seinem Schwert zu und sie rollte zur Seite. »Lass mich die Farbe deiner Augen sehen, Junge. Ich schneide sie dir heraus, das kannst du mir glauben!«

Mit einem gewissen Vergnügen schlug Katsa ihm den Griff ihres Messers auf den Kopf, packte ihn an den Haaren und zog ihn auf den Rücken. Dann warf sie ihm eine Pille auf die Zunge. Wenn sie mit Kopfweh und voller Scham aufwachten, würden sie alle sagen, der Schuldige sei ein Beschenkter gewesen, beschenkt mit der Gabe des Kämpfens, und er sei allein gewesen. Sie würden sie für einen Jungen halten, weil sie in ihren schlichten Hosen und dem Kapuzenhemd so aussah und weil bei einem Überfall nie jemand auf den Gedanken kam, ein Mädchen könne die Angreiferin gewesen sein. Und keiner von ihnen hatte Oll oder Giddon zu Gesicht bekommen, dafür hatte sie gesorgt.

Auf sie würde niemand kommen. Wer die beschenkte Lady Katsa auch immer sein mochte, eine Verbrecherin, die um Mitternacht verkleidet durch dunkle Höfe schlich, war sie nicht. Außerdem war sie doch im Osten unterwegs. Ihr Onkel Randa, König der Middluns, hatte sie heute Morgen verabschiedet, die ganze Stadt hatte zugeschaut und gesehen, dass Hauptmann Oll und Giddon, Randas Adjutant, sie begleiteten. Nur ein sehr schneller Tagesritt in die falsche Richtung hätte sie in den Süden an König Murgons Hof bringen können.

Katsa lief durch den Schlosshof, an Beeten, Springbrunnen und Marmorstatuen von König Murgon vorbei. Für einen so unsympathischen König war es eigentlich ein schöner Schlosshof, es roch nach Gras und fruchtbarer Erde, dazu kam der süße Duft taufeuchter Blumen. Sie rannte durch Murgons Apfelgarten und hinterließ eine Spur aus bewusstlosen Wachleuten. Bewusstlos, nicht tot, ein wichtiger Unterschied. Oll und Giddon sowie die meisten vom geheimen Rat hatten gewollt, dass sie tötete. Doch bei der Besprechung, in der sie diesen Auftrag planten, hatte sie zu bedenken gegeben, dass sie dadurch keine Zeit gewinnen würde.

»Und wenn sie aufwachen?«, hatte Giddon gesagt.

Prinz Raffin fühlte sich angegriffen. »Du hast kein Vertrauen zu meinen Medikamenten! Sie werden nicht vorzeitig aufwachen.«

»Töten wäre schneller«, hatte Giddon gesagt und Katsa mit seinen braunen Augen eindringlich angeschaut. Die Köpfe in dem dämmrigen Raum hatten genickt.

»Ich schaffe es in der vorgesehenen Zeit«, hatte Katsa gesagt, und als Giddon widersprechen wollte, hob sie die Hand. »Genug. Ich werde sie nicht töten. Wenn ihr wollt, dass sie getötet werden, müsst ihr jemand anders schicken.«

Oll hatte gelächelt und dem jungen Adjutanten auf den Rücken geklopft. »Stell dir nur vor, Giddon, wie viel mehr Spaß es machen wird. Der perfekte Raub an allen Wachleuten Murgons vorbei, und noch nicht mal Verletzte? Das ist doch ein tolles Spiel.«

Im Raum war großes Gelächter ausgebrochen, doch Katsa hatte noch nicht einmal gelächelt. Sie würde nicht töten, wenn es nicht sein musste. Einen Mord konnte man nicht wieder rückgängig machen, und sie hatte genug getötet. Meistens für ihren Onkel. König Randa hielt sie für nützlich; er fand es sparsamer, statt einer Armee eine einzige Gesandte zu schicken, wenn es an den Grenzen Ärger gab. Aber sie hatte auch für den Rat getötet, wenn es nicht vermieden werden konnte. Diesmal war es zu vermeiden.

Am anderen Ende des Obstgartens traf sie auf einen Wachmann, der alt war, vielleicht so alt wie der Lienid. Er stand in einem Gehölz einjähriger Bäume und stützte sich auf sein Schwert, sein Rücken war rund und gebeugt. Sie schlich hinter ihn und blieb stehen. Ein Zittern schüttelte seine Hände auf dem Schwertgriff.

Katsa hielt nicht viel von einem König, der seine Wachleute nicht fürsorglich in den Ruhestand schickte, bevor sie zu alt waren, um ruhig ein Schwert zu führen.

Doch wenn sie diesen Alten unversehrt ließ, würde er die anderen finden, die sie niedergestreckt hatte, und Alarm schlagen. Sie traf ihn einmal kräftig am Hinterkopf und er sank stöhnend zusammen. Katsa fing ihn auf und ließ ihn so behutsam wie möglich auf den Boden gleiten, dann legte sie ihm die Pille in den Mund. Sie nahm sich noch die Zeit, mit den Fingern über die wachsende Beule auf seinem Kopf zu streichen. Hoffentlich hatte er einen harten Schädel.

Einmal hatte sie unabsichtlich getötet, eine Erinnerung, die sie sich immer wieder bewusst machte. Damals, vor zehn Jahren, hatte sich angekündigt, worin ihre Gabe bestand. Sie war noch ein Kind gewesen, gerade acht Jahre alt. Ein Mann, ein entfernter Cousin, hatte den Hof besucht. Sie hatte ihn nicht gemocht, sein schweres Parfum, die Art, wie er lüstern die Mädchen betrachtete, die ihn bedienten, wie sein anzüglicher Blick ihnen durch den Raum folgte, wie er sie anfasste, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Als er anfing, Katsa eine gewisse Aufmerksamkeit zu schenken, war sie misstrauisch geworden. »So eine hübsche Kleine«, sagte er. »Die Augen der Beschenkten können so hässlich sein. Aber du, glückliches Mädchen, siehst damit noch besser aus. Was ist deine Gabe, meine Süße? Geschichtenerzählen? Gedankenlesen? Ich weiß es: Du bist eine Tänzerin.«

Katsa wusste damals nicht, was ihre Gabe war. Manche Gaben brauchten länger als andere, bis sie zum Vorschein kamen. Doch selbst wenn sie es gewusst hätte, wäre sie nicht bereit gewesen, es diesem Cousin zu verraten. Sie schaute ihn böse an und wandte sich ab, da streckte er die Hand nach ihrem Bein aus und ihre Hand flog hoch und schlug ihm ins Gesicht. So schnell und so kräftig, dass sie ihm die Nasenknochen ins Gehirn stieß.

Damen am Hof hatten geschrien, eine fiel in Ohnmacht. Als sie den Cousin aus der Blutlache am Boden hoben und feststellten, dass er tot war, wurde es still und alle wichen zurück. Ängstliche Augen waren auf sie gerichtet, jetzt nicht nur die der Damen, auch die der Soldaten, der Schwertträger unter den Höflingen. Es war gut, die Mahlzeiten vom beschenkten Koch des Königs zu essen oder Pferde zum beschenkten Pferdearzt des Königs zu schicken. Aber ein Mädchen mit der Gabe des Tötens? Das war mit Vorsicht zu behandeln.

Ein anderer König hätte sie verbannt oder getötet, auch wenn sie das Kind seiner Schwester war. Doch Randa war klug. Er sah, dass seine Nichte irgendwann einen praktischen Zweck erfüllen könnte, also schickte er sie in ihre Gemächer und bestrafte sie mit wochenlangem Hausarrest, aber das war alles. Als sie wieder herauskam, rannten ihr alle aus dem Weg. Sie hatten sie auch zuvor nicht gemocht, niemand mochte die Beschenkten, doch sie hatten ihre Anwesenheit toleriert. Jetzt gab es keine vorgetäuschte Freundlichkeit mehr. »Hütet euch vor der mit dem grünen und dem blauen Auge«, flüsterten sie Gästen zu. »Sie hat ihren Cousin getötet, mit einem Schlag. Weil er ihr ein Kompliment über ihre Augen gemacht hat.« Selbst Randa ging ihr aus dem Weg. Ein mörderischer Hund mochte für einen König nützlich sein, doch er wollte nicht, dass er zu seinen Füßen schlief.

Prinz Raffin war der Einzige, der Katsas Gesellschaft suchte. »Du machst es nicht wieder, oder? Ich glaube nicht, dass mein Vater dich jeden, der dir nicht gefällt, töten lässt.«

»Ich hatte nie vor, ihn zu töten«, sagte sie.

»Was ist geschehen?«

Katsa dachte an den Vorfall zurück. »Ich habe gespürt, dass ich in Gefahr war. Deshalb habe ich ihn geschlagen.«

Prinz Raffin schüttelte den Kopf. »Man muss seine Gabe beherrschen«, sagte er. »Besonders die Gabe zu töten. Du musst, sonst wird mein Vater nicht mehr zulassen, dass wir einander sehen.«

Das war eine beängstigende Vorstellung. »Ich weiß nicht, wie ich sie beherrschen soll.«

Raffin überlegte. »Du könntest Oll fragen. Die Spione des Königs wissen, wie man verletzt, ohne zu töten. So bekommen sie ihre Informationen.«

Raffin war elf, drei Jahre älter als Katsa, und nach ihren jungen Maßstäben sehr weise. Sie folgte seinem Rat und ging zu Oll, König Randas ergrauendem Hauptmann und Meisterspion. Oll war nicht dumm, er wusste, dass er das stille Mädchen mit einem blauen und einem grünen Auge fürchten musste. Doch er hatte auch eine gewisse Fantasie. Er fragte sich, was sich noch keiner gefragt hatte, nämlich ob Katsa über den Tod ihres Cousins nicht genauso erschrocken gewesen war wie alle anderen. Und je mehr er darüber nachdachte, umso mehr interessierte er sich für ihre Möglichkeiten.

Er begann mit ihrer Ausbildung, indem er Regeln aufstellte. Sie sollte nicht an ihm oder anderen Männern des Königs üben, sondern an Puppen, die sie aus zusammengenähten und mit Getreide gefüllten Säcken machte. Sie sollte an den Gefangenen üben, die Oll zu ihr brachte, Männer, die bereits zum Tod verurteilt waren.

Sie übte jeden Tag. Sie lernte ihre eigene Geschwindigkeit und ihre eigene explosive Kraft zu berechnen. Sie lernte alles über Winkel, Platzierung und Intensität eines tödlichen Schlags im Gegensatz zu einem Schlag, der ihr Gegenüber nur zum Krüppel machte. Sie lernte, wie man einen Mann entwaffnet, wie man ihm das Bein bricht und wie man seinen Arm so verdreht, dass er aufhört, sich zu wehren, und um Gnade bittet. Sie lernte mit einem Schwert zu kämpfen, mit Messern und mit Dolchen. Sie war so schnell und zielgerichtet und so kreativ, dass sie einen Mann ohnmächtig schlagen konnte, obwohl man ihr beide Arme an den Seiten festgebunden hatte. Das war ihre Gabe.

Mit der Zeit besserte sich ihre Kontrolle und sie begann mit Randas Soldaten zu üben – acht oder zehn auf einmal und in voller Rüstung. Ihre Übungsstunden gaben ein großartiges Schauspiel ab: Erwachsene Männer knurrten und klapperten unbeholfen umher, und ein unbewaffnetes Kind wirbelte und tauchte zwischen ihnen hin und her und schlug sie mit einem Knie oder einer Hand nieder, die sie erst sahen, wenn sie bereits am Boden lagen. Manchmal kamen Angehörige des Hofs vorbei und schauten bei ihren Übungen zu. Aber wenn Katsa ihren Blick auffing, senkten sie die Augen und eilten davon.

König Randa nahm keinen Anstoß daran, dass Oll seine Zeit dafür opferte. Er hielt es für notwendig. Katsa würde ihm nichts nützen, wenn sie ihre Gabe nicht beherrschte.

Und jetzt, in König Murgons Schlosshof, hätte ihr niemand mangelnde Beherrschung vorwerfen können. Schnell, geräuschlos bewegte sie sich über das Gras neben den kiesbedeckten Wegen. Inzwischen mussten Oll und Giddon schon fast die Gartenmauer erreicht haben, wo zwei Diener von Murgon, Freunde des Rats, ihre Pferde bewachten. Sie war selbst schon beinah dort, sah die dunkle Mauer aufragen, schwarz vor einem schwarzen Himmel.

Ihre Gedanken wanderten, doch sie hing keinen Tagträumen nach. Ihre Sinne waren geschärft. Sie bemerkte jedes Blatt, das im Garten fiel, jeden Ast, der knackte. Und deshalb war sie verblüfft, als ein Mann aus dem Dunkel trat und sie von hinten packte. Er schlang seinen Arm um ihre Brust und hielt ihr ein Messer an die Kehle. Er setzte zum Sprechen an, doch im nächsten Augenblick hatte sie seinen Arm bereits gelähmt, ihm das Messer aus der Hand gerissen und es auf den Boden geworfen. Sie schleuderte den Mann über ihre Schulter vor sich.

Er landete auf den Füßen.

Ihre Gedanken rasten. Er war ein Beschenkter, ein Kämpfer. So viel war klar. Und wenn die Hand, die ihre Brust gestreift hatte, nicht gefühllos war, wusste er, dass er eine Frau vor sich hatte.

Er drehte sich zu ihr um. Argwöhnisch betrachteten sie einander, beide für den anderen nicht mehr als ein Schatten. Er sprach zuerst.

»Ich habe von einer Dame mit dieser besonderen Gabe gehört.« Seine Stimme war ernst und tief, er hatte einen Tonfall, einen Akzent, den sie nicht kannte. Sie musste herausfinden, wer er war, um zu entscheiden, was sie mit ihm machen sollte.

»Ich kann mir nicht vorstellen, was diese Dame so fern von zu Hause vorhaben könnte, um Mitternacht hier im Schlosshof von König Murgon«, sagte er. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung stellte er sich zwischen sie und die Mauer. Er war größer als sie und geschmeidig wie eine Katze. Täuschend ruhig, zum Sprung bereit. Eine Fackel auf einem nahen Pfad ließ kleine goldene Reife in seinen Ohren schimmern. Sein Gesicht war bartlos wie das eines Lienids.

Sie veränderte ihre Stellung und schwankte leicht, ihr Körper war so angespannt wie seiner. Sie hatte nicht viel Zeit, um sich zu entscheiden. Er wusste, wer sie war. Doch wenn er ein Lienid war, wollte sie ihn nicht töten.

»Haben Sie nichts zu sagen, Lady? Sie glauben sicher nicht, dass ich Sie ohne eine Erklärung weitergehen lasse?« In seiner Stimme lag etwas Spielerisches. Sie beobachtete ihn ruhig. Er streckte in einer fließenden Bewegung die Arme, und ihre Augen entdeckten die goldenen Ringe, die an seinen Fingern blinkten. Das reichte. Der Schmuck in seinen Ohren, die Ringe – es war eindeutig.

»Sie sind ein Lienid«, sagte sie.

»Sie haben gute Augen.«

»Nicht gut genug, um die Farben Ihrer Augen zu erkennen.«

Er lachte. »Ich glaube, ich kenne die der Ihren.«

Die Vernunft riet ihr, ihn zu töten. »Sie sind der Richtige, um von fern von zu Hause zu reden«, sagte sie. »Was macht ein Lienid am Hof von König Murgon?«

»Ich nenne Ihnen meine Gründe, wenn Sie mir Ihre sagen.«

»Ich werde Ihnen gar nichts sagen, und Sie müssen mich vorbeilassen.«

»Muss ich das?«

»Wenn Sie es nicht tun, muss ich Sie zwingen.«

»Meinen Sie, dass Sie das können?«

Sie täuschte eine Rechte vor und er wich mühelos aus. Sie wiederholte es schneller. Wieder bog er sich zur Seite. Er war sehr gut. Aber sie war Katsa.

»Ich weiß, dass ich es kann«, sagte sie.

»So!« Es klang belustigt. »Aber Sie könnten Stunden dazu brauchen.«

Warum spielte er mit ihr? Amüsierte er sich immer mit illegalen Eindringlingen? Vielleicht war er selbst ein Krimineller, ein krimineller Beschenkter. Jeder andere hätte inzwischen Alarm geschlagen. Und wenn er wirklich ein Verbrecher war, machte ihn das zum Verbündeten oder zum Feind? Würde ein Lienid es nicht begrüßen, dass sie den gefangenen Lienid befreit hatte? Ja – falls er kein Verräter war. Und falls dieser Lienid überhaupt wusste, wer in Murgons Verliesen gefangen gehalten wurde. Murgon hatte das Geheimnis gut bewahrt.

Der Rat würde ihr empfehlen, ihn zu töten. Der Rat würde sagen, sie bringe alle in Gefahr, wenn sie einen Mann am Leben ließ, der ihre Identität kannte. Aber dieser Mann war anders als jeder Gauner, dem sie je begegnet war. Er kam ihr weder brutal vor noch dumm oder bedrohlich.

Sie konnte nicht einen Lienid töten, während sie einen anderen rettete.

Sie war verrückt und würde es wahrscheinlich bereuen, aber sie würde es nicht tun.

»Ich vertraue Ihnen«, sagte er plötzlich. Er gab den Weg frei und winkte sie weiter. Sie fand ihn sehr sonderbar und impulsiv, doch sie merkte, dass er nicht mehr so wachsam war, und sie versäumte nie eine Gelegenheit. Sofort schleuderte sie den Fuß hoch und traf ihn mit dem Stiefel an der Stirn. Er riss überrascht die Augen auf und fiel zu Boden.

»Vielleicht war das unnötig.« Sie streckte seine schweren, betäubten Gliedmaßen aus. »Aber ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, und ich habe schon genug riskiert, indem ich dich am Leben lasse.« Sie holte die Pillen aus ihrem Ärmel und legte ihm eine in den Mund. Dann drehte sie sein Gesicht zum Fackellicht. Er war jünger, als sie gedacht hatte, nicht viel älter als sie, höchstens neunzehn oder zwanzig. Ein wenig Blut lief ihm über die Stirn am Ohr entlang. Sein Hemdkragen war offen und das Licht spielte auf der Linie seines Schlüsselbeins.

Was für ein seltsamer Mann. Vielleicht wusste Raffin, wer er war.

Sie schüttelte sich. Die anderen warteten schon.

Sie rannte.

Sie ritten schnell. Den alten Mann hatten sie aufs Pferd gebunden, er war zu schwach, um sich aufrecht zu halten. Einmal hielten sie an und hüllten ihn in weitere Decken.

Katsa war ungeduldig und wollte weiter. »Weiß er nicht, dass Mittsommer ist?«

»Er ist durchfroren, My Lady«, sagte Oll. »Er zittert, er ist krank. Unsere Rettung ist sinnlos, wenn er dabei umkommt.«

Sie überlegten anzuhalten, ein Feuer zu machen, doch dafür hatten sie keine Zeit. Sie mussten Randa City vor Tagesanbruch erreichen, sonst würden sie entdeckt.

Vielleicht hätte ich ihn töten sollen, dachte Katsa, während sie durch dunkle Wälder jagten. Vielleicht hätte ich ihn töten sollen. Er wusste, wer ich bin.

Aber er hatte weder bedrohlich noch verdächtig gewirkt. Und vor allem war er neugierig gewesen. Er hatte ihr vertraut.

Andererseits hatte er von der Fährte betäubter Wachleute, die sie hinterlassen hatte, nichts gewusst. Und er würde ihr nicht mehr vertrauen, sobald er mit diesem Striemen am Kopf aufwachte.

Wenn er König Murgon von dieser Begegnung erzählte und Murgon die Geschichte an König Randa weitergab, konnte es sehr schwierig werden für Lady Katsa. Randa wusste nichts von dem gefangenen Lienid, und noch weniger von Katsas Nebenbeschäftigung als Retterin.

Katsa schüttelte sich unbehaglich. Diese Gedanken halfen nichts, jetzt war es zu spät. Sie mussten den Alten in Sicherheit und ins Warme bringen, und vor allem zu Raffin. Sie duckte sich tiefer in ihren Sattel und drängte ihr Pferd nach Norden.

2

Das Land bestand aus sieben Königreichen; sieben Königreichen mit sieben völlig unberechenbaren Königen. Warum um alles in der Welt sollte jemand Prinz Tealiff entführen, den Vater des Königs von Lienid? Er war ein alter Mann. Er hatte keine Macht, er hatte keinen Ehrgeiz, er war noch nicht einmal gesund. Es hieß, er würde die meiste Zeit am Feuer verbringen oder in der Sonne, über das Meer schauen, mit seinen Urenkeln spielen und niemandem zur Last fallen.

Das Volk der Lienid hatte keine Feinde. Sie verschifften ihr Gold zu allen, die entsprechende Handelsware hatten, sie ernteten ihr eigenes Obst und züchteten ihr eigenes Wild, und sie blieben auf ihrer Insel, durch ein Meer von den anderen sechs Reichen getrennt. Sie waren anders als die anderen. Sie hatten ein charakteristisches dunkles Äußeres, besondere Sitten und liebten ihre Isolation. König Ror von Lienid war der friedlichste der sieben Könige. Er schloss keine Verträge mit den anderen, aber er führte auch keinen Krieg und regierte sein Volk gerecht.

Es hatte nichts zu sagen, dass die Spione des Rats mit ihrem Netzwerk König Rors Vater in Murgons Kerker in Sunder gefunden hatten. Murgon neigte nicht dazu, Unfrieden unter den Königreichen zu stiften, aber häufig war er, wenn gutes Geld floss, als Handlanger an den Verbrechen anderer beteiligt. Zweifellos hatte ihn jemand dafür bezahlt, den Großvater aus Lienid gefangen zu halten. Die Frage war, wer.

Katsas Onkel Randa, König der Middluns, hatte mit dieser Sache nichts zu tun. Da konnte der Rat sicher sein, denn Oll war Randas Meisterspion und sein Vertrauter. Durch Oll wusste der Rat alles Wissenswerte über Randa.

Außerdem war Randa gewöhnlich darauf bedacht, sich nicht mit den anderen Königreichen anzulegen. Sein Reich lag zwischen Estill und Wester auf der einen Achse und zwischen Nander und Sunder auf der anderen. Diese Lage war zu heikel, um Bündnisse zu schließen.

Die meisten Unruhen verursachten die Könige von Wester, Nander und Estill. Sie waren alle drei aus dem gleichen Holz geschnitzt: hitzköpfig, ehrgeizig, neidisch, dazu noch gedankenlos, herzlos und wechselhaft. König Birn von Wester und König Drowden von Nander mochten ein Bündnis schließen und der Armee von Estill an dessen Nordgrenze zusetzen, aber sie konnten nie lange zusammenarbeiten. Plötzlich beleidigte einer den anderen, Wester und Nander wurden wieder Feinde und Estill verbündete sich mit Nander, um Wester zu schlagen.

Und zu ihrem Volk waren die Könige nicht besser als zueinander. Katsa erinnerte sich an die Bauern von Estill, die sie und Oll vor Wochen heimlich aus ihrem provisorischen Gefängnis in einem Kuhstall befreit hatten. Sie hatten ihrem König Thigpen den Zehnten nicht zahlen können, weil Thigpens Armee ihre Felder zertrampelt hatte, als sie zum Überfall eines Dorfs in Nander unterwegs gewesen war. Thigpen hätte es sein sollen, der den Bauern eine Entschädigung zahlte; selbst Randa wäre dazu bereit gewesen, wenn seine eigene Armee den Schaden angerichtet hätte. Doch Thigpen hatte die Bauern aufhängen wollen, weil sie den Zehnten nicht bezahlt hatten. Ja, Birn, Drowden und Thigpen gaben dem Rat viel zu tun.

Das war nicht immer so gewesen. Die fünf Königreiche Wester, Nander, Estill, Sunder und die Middluns hatten es einst verstanden, friedlich nebeneinander zu existieren. Vor Jahrhunderten waren sie alle aus derselben Familie hervorgegangen, drei Brüder und zwei Schwestern hatten regiert und ihre Eifersüchteleien ohne kriegerische Auseinandersetzungen beigelegt. Doch diese alten Familienbande hatten längst ihre Bedeutung verloren. Die Menschen in den Königreichen waren von der Gnade derer abhängig, die zu ihren Herrschern aufstiegen. Es war ein Spiel, und die gegenwärtige Generation hatte keine Aussicht, zu gewinnen.

Das siebte Königreich war Monsea. Die Berge trennten es von den anderen, so wie das Meer Lienid umschloss. Leck, der König von Monsea, war mit Ashen verheiratet, der Schwester von König Ror von Lienid. Leck und Ror missbilligten beide die Streitigkeiten der anderen Königreiche. Doch das schmiedete noch kein Bündnis, Monsea und Lienid waren zu weit voneinander entfernt und zu unabhängig, zu desinteressiert am Treiben der anderen.

Über den Hof von Monsea war wenig bekannt. König Leck wurde von seinem Volk geliebt, er hatte den Ruf, zu Kindern, Tieren und allen hilflosen Geschöpfen besonders gütig zu sein. Die Königin war eine liebenswürdige Frau. Es hieß, sie nehme keine Nahrung mehr zu sich seit dem Tag, an dem sie vom Verschwinden des alten Lienids gehört habe. Denn natürlich war der Vater des Königs von Lienid auch ihr Vater.

Es konnte nur Wester, Nander oder Estill den Großvater entführt haben. Katsa fiel keine andere Möglichkeit ein, es sei denn, Lienid selbst wäre beteiligt. Der Gedanke schien lächerlich, wäre nicht dieser Lienid in Murgons Schlosshof gewesen. Er hatte üppigen Schmuck getragen, er war sicher ein Adliger. Und jeder Gast von Murgon war verdächtig.

Doch Katsa glaubte nicht, dass er an der Entführung beteiligt war. Sie konnte es nicht erklären, aber sie spürte es.

Warum war Großvater Tealiff geraubt worden? Welche Bedeutung könnte er haben?

Sie erreichten Randa City vor der Sonne, aber nur knapp. Sobald die Pferdehufe auf dem Pflaster in den Straßen klapperten, ritten sie langsamer. Manche Bürger waren schon wach. Katsa und ihre Begleiter durften nicht durch die engen Straßen preschen, das hätte sie verdächtig gemacht.

Sie ritten vorbei an Bretterbuden und Holzhäusern, Werkstätten in Gebäuden aus Stein, Geschäften mit geschlossenen Läden. Die Häuser wirkten freundlich, die meisten hatten vor Kurzem einen neuen Anstrich bekommen. In Randa City gab es keinen Schmutz. Randa duldete keinen Schmutz.

Als die Straßen anstiegen, sprang Katsa ab. Sie gab Giddon ihre Zügel und nahm die von Tealiffs Pferd. Giddon und Oll bogen in eine Straße, die sich nach Osten zum Wald erstreckte, und führten Katsas Pferd hinter sich her. So war es abgemacht. Ein Junge mit seinem Großvater zu Pferd fiel auf dem Weg zum Schloss sicher weniger auf als vier Pferde und vier Reiter. Oll und Giddon würden die Stadt verlassen und zwischen den Bäumen auf Katsa warten. Sie wollte Tealiff durch ein hohes Tor in einem abgelegenen Teil der Schlossmauer zu Prinz Raffin bringen, das Oll sorgfältig vor Randa geheim hielt.

Katsa zog dem alten Mann die Decken fester um den Kopf. Es war noch dunkel, doch wenn sie seine Ohrreife sehen konnte, würden andere sie auch bemerken. Tealiff lag zusammengesunken auf dem Pferd; ob er schlief oder bewusstlos war, konnte sie nicht sagen. Falls er bewusstlos war, hatte sie keine Ahnung, wie sie den letzten Teil der Reise hinter sich bringen sollte. Sie mussten eine bröckelnde Treppe in der Mauer hinauf, die kein Pferd bewältigen konnte. Katsa berührte Tealiffs Gesicht. Er regte sich und fing wieder an zu zittern.

»Sie müssen aufwachen, Prinz«, sagte sie. »Ich kann Sie nicht die Stufen zum Schloss hinauftragen.«

Das graue Morgenlicht spiegelte sich in seinen Augen, als er sie aufschlug, und seine Stimme zitterte, weil er so fror. »Wo bin ich?«

»Wir sind in Randa City, in den Middluns«, sagte sie. »Wir sind fast in Sicherheit.«

»Ich habe Randa nicht für jemanden gehalten, der Rettungsaktionen unternimmt.«

Sie hatte nicht erwartet, dass er so klar dachte. »Das tut er auch nicht.«

»Hm. Nun, ich bin wach. Sie werden mich nicht tragen müssen. Sie sind Lady Katsa, nicht wahr?«

»Ja, Prinz.«

»Ich habe gehört, eins Ihrer Augen sei so grün wie die Gräser in den Middluns und das andere so blau wie der Himmel.«

»Ja, Prinz, das stimmt.«

»Ich habe auch gehört, Sie könnten einen Mann mit dem Nagel Ihres kleinsten Fingers töten.«

Sie lächelte. »Ja, das ist richtig, Prinz.«

»Macht es das leichter?«

Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie auf seine krumme Gestalt im Sattel. »Ich verstehe Sie nicht.«

»Schöne Augen zu haben. Erleichtert es die Last Ihrer Gabe, zu wissen, dass Sie schöne Augen haben?«

Sie lachte. »Nein, Prinz. Ich würde beides gerne hergeben.«

»Vermutlich schulde ich Ihnen Dank«, sagte er und verfiel dann in Schweigen.

Sie wollte fragen: Wofür? Wovor hatte sie ihn gerettet? Doch er war krank und müde und schien wieder zu schlafen. Sie wollte ihn nicht quälen. Sie mochte diesen Großvater aus Lienid. Es gab nicht viele Leute, die sie auf ihre Gabe ansprachen.

Sie stiegen an dunklen Dächern und Toren vorbei. Katsa spürte allmählich die Folgen der schlaflosen Nacht, und es würde noch einige Stunden dauern, bis sie sich ausruhen konnte. In Gedanken wiederholte sie die Worte des Großvaters. Er hatte den gleichen Akzent wie dieser Mann, der Lienid im Schlosshof.

Schließlich trug sie ihn doch, denn als es so weit war, bekam sie ihn nicht wach. Sie gab die Zügel einem Kind, das an der Mauer kauerte, einem Mädchen, dessen Vater ein Freund des Rats war. Dann legte sie sich den Alten über die Schulter und wankte Schritt für Schritt die zerbrochenen Stufen hinauf. Das letzte Stück war praktisch senkrecht. Nur der bedrohlich heller werdende Himmel trieb sie an, nie hätte sie sich vorgestellt, dass ein Mann, der aussah wie aus Staub gemacht, so schwer sein konnte.

Sie hatte keine Luft mehr für den leisen Pfiff, das Signal für Raffin, aber das machte nichts. Er hörte sie kommen.

»Vermutlich hat die ganze Stadt deinen Aufstieg gehört«, flüsterte er. »Ehrlich, Kat, ich hätte nicht gedacht, dass du so viel Krach machen kannst.« Er bückte sich und zog ihre Last auf die eigenen mageren Schultern. Sie lehnte sich an die Mauer und holte Atem.

»Meine Gabe gibt mir keine übermenschlichen Kräfte«, sagte sie. »Ihr Unbeschenkten versteht das nicht. Ihr glaubt, wenn wir eine Gabe haben, dann haben wir alle.«

»Ich habe deinen Kuchen probiert und erinnere mich an deine Handarbeiten. Mir ist klar, dass du bei einer ganzen Reihe von Gaben übergangen worden bist.« Er lachte im grauen Morgenlicht zu ihr hinunter und sie lächelte zurück. »Ist es gelaufen wie geplant?«

Sie dachte an den Lienid im Schlosshof. »Ja, zum größten Teil.«

»Geh jetzt«, sagte er, »und sei vorsichtig. Ich werde mich um ihn kümmern.«

Er drehte sich um und schlüpfte mit seiner lebenden Bürde ins Schloss. Sie rannte die zerbrochenen Stufen hinunter, bog in einen Weg nach Osten, zog die Kapuze tief ins Gesicht und lief dem rosa Himmel entgegen.

3

Katsa lief an Wohnhäusern und Werkstätten, Läden und Gasthäusern vorbei. Die Stadt erwachte und die Straßen rochen nach frisch gebackenem Brot. Sie begegnete dem Milchmann, der im Halbschlaf auf seinem Karren saß; vor ihm seufzte sein Pferd.

Sie fühlte sich leicht ohne ihre Last und die Straße neigte sich bergab. Leise und schnell rannte sie über die Felder im Osten der Stadt, immer weiter. Eine Bauersfrau trug zwei Eimer über ihren Hof, die an einer Stange auf ihren Schultern hingen.

Als sie zwischen die Bäume kam, wurde Katsa langsamer. Jetzt musste sie vorsichtig sein, damit sie keine Äste brach oder Stiefelabdrücke hinterließ und eine Spur direkt zum Treffpunkt legte. Der Weg wirkte bereits ein wenig benutzt. Oll, Giddon und die anderen gaben nie so gut acht wie sie, und natürlich konnten die Pferde nicht anders, als einen Pfad zu bahnen. Bald würden sie einen neuen Treffpunkt brauchen.

Bis sie in das Dickicht eindrang, in dem sich ihr Versteck befand, war es hell. Die Pferde grasten. Giddon lag auf dem Boden, Oll lehnte an einem Stapel Satteltaschen. Beide schliefen.

Katsa schluckte ihren Ärger hinunter und ging zu den Pferden. Sie begrüßte die Tiere und hob ihre Hufe, einen nach dem anderen, um sie nach Rissen und Steinen abzusuchen. Die Pferde hatten ihre Sache gut gemacht, und wenigstens sie wussten es besser, als im Wald einzuschlafen, so nah bei der Stadt und so weit von dem Ort, wo Randa sie vermutete. Ihr eigenes Pferd schnaubte und Oll hinter ihr rührte sich.

»Und was wäre, wenn euch jemand schlafend am Waldrand entdeckt hätte«, sagte sie, »während ihr schon halbwegs an der östlichen Grenze sein solltet?« Sie sprach in ihren Sattel und kratzte ihr Pferd an der Schulter. »Wie hättet ihr das erklärt?«

»Ich hatte nicht vor zu schlafen, My Lady.«

»Das macht es nicht besser.«

»Wir haben nicht alle Ihre Ausdauer, My Lady, besonders die Grauhaarigen nicht. Beruhigen Sie sich, es ist nichts passiert.« Er schüttelte Giddon, der als Reaktion die Hände auf die Augen legte. »Wachen Sie auf, My Lord. Wir sollten weiter.«

Katsa sagte nichts. Sie legte ihre Satteltaschen auf und wartete bei den Pferden. Oll brachte die restlichen Taschen und befestigte sie. »Ist Prinz Tealiff in Sicherheit, My Lady?«

»Ja, es ist gut gegangen.«

Giddon stolperte herüber, er fuhr sich durch den braunen Bart und packte dann einen Brotlaib aus, den er ihr hinhielt, doch sie schüttelte den Kopf. »Ich werde später essen.«

Giddon brach ein Stück ab und reichte Oll den Laib. »Bist du wütend, weil wir keine Kraftübungen gemacht haben, als du kamst, Katsa? Hätten wir Klimmzüge an den Ästen machen sollen?«

»Ihr hättet entdeckt werden können, Giddon. Man hätte euch sehen können, und was dann?«

»Dir wäre etwas eingefallen«, sagte Giddon. »Du hättest uns gerettet, wie du alle rettest.« Er lächelte, seine freundlichen Augen erhellten ein selbstbewusstes und gut aussehendes Gesicht, aber das machte momentan keinen Eindruck auf Katsa. Giddon war ein wenig älter als Raffin, kräftig und ein guter Reiter. Es gab keine Entschuldigung dafür, dass er geschlafen hatte.

»Kommen Sie, My Lord«, sagte Oll. »Wir essen unser Brot im Sattel. Sonst reitet unsere Dame ohne uns davon.«

Sie wusste, dass die beiden sie neckten und sie für zu kritisch hielten. Sie wusste aber auch, dass sie sich selbst kein Nickerchen gestattet hätte, wenn das gefährlich war.

Andererseits hätten sie den beschenkten Lienid niemals leben lassen. Wenn sie das wüssten, wären sie sehr wütend, und sie hätte nicht einmal eine vernünftige Ausrede.

Sie ritten zwischen den Bäumen zu einem Waldpfad, der parallel zur Hauptstraße verlief, und wandten sich nach Osten. Sie zogen die Kapuzen tief ins Gesicht und trieben die Pferde an. Nach ein paar Minuten zwischen dröhnenden Hufen verflogen Katsas Bedenken. Wenn sie in Bewegung war, machte sie sich nie lange Sorgen.

Auf die Wälder der südlichen Middluns folgten Hügel, zuerst niedrige, dann größere, als sie sich Estill näherten. Sie hielten nur einmal an, zur Mittagszeit, um in einem abgelegenen Gasthof, der dem Rat seine Dienste angeboten hatte, die Pferde zu wechseln.

Mit frischen Pferden kamen sie gut voran, und als die Nacht anbrach, näherten sie sich der Grenze zu Estill. Wenn sie früh losritten, konnten sie bis zur Mitte des Vormittags ihr Ziel, das Gut in Estill, erreichen, ihre Angelegenheit für Randa erledigen und dann umkehren. Sie konnten in einem vernünftigen Tempo reiten und dennoch am folgenden Tag vor Einbruch der Nacht in Randa City ankommen. Zu diesem Zeitpunkt wurden sie von Randa erwartet. Und dann würde Katsa wissen, ob Prinz Raffin von dem alten Lienid etwas erfahren hatte.

Sie lagerten in einem tiefen Felsspalt, der sich bis zum Fuß eines der östlichen Hügel zog. Die Nacht war kalt, doch sie entschieden sich gegen ein Feuer. In den Hügeln an der Grenze zu Estill lauerten zwielichtige Gestalten, und obwohl sie sich sicher fühlen konnten – zwei mit Schwertern bewaffnete Männer und Katsa –, hatte es keinen Sinn, Gefahren herauszufordern. Sie aßen Brot und Käse, tranken Wasser aus ihren Feldflaschen und stiegen dann in ihre Schlafsäcke.

»Heute Nacht werde ich gut schlafen«, sagte Giddon gähnend. »Ein Glück, dass der Gasthof dem Rat Hilfe angeboten hat. Sonst hätten wir die Pferde zuschanden geritten.«

»Es überrascht mich, wie viele Freunde der Rat findet«, sagte Oll.

Giddon stützte sich auf den Ellbogen. »Hast du das erwartet, Katsa? Hast du damit gerechnet, dass sich dein Rat so vergrößert?«

Was hatte sie erwartet, als sie mit dem Rat anfing? Sie hatte sich vorgestellt, wie sie allein durch Gassen und um Ecken schlich, eine unsichtbare Kraft, die gegen die Gedankenlosigkeit der Könige arbeitete. »Ich habe nie erwartet, dass die Sache über mich hinausgeht.«

»Und jetzt haben wir Freunde in fast jedem Königreich«, sagte Giddon. »Menschen öffnen uns ihre Häuser. Hast du gewusst, dass ein Grenzlord von Nander die Bewohner eines ganzen Dorfs hinter seine Mauern holte, als der Rat vor einem Überfall aus Wester warnte? Das Dorf wurde zerstört, aber die Menschen blieben alle am Leben.« Er legte sich auf die Seite und gähnte wieder. »Das macht Mut. Der Rat bewirkt viel Gutes.«

Katsa lag auf dem Rücken und horchte auf das gleichmäßige Atmen der Männer. Auch die Pferde schliefen. Nicht aber Katsa: Nach zweitägigem anstrengendem Ritt und einer schlaflosen Nacht dazwischen war sie hellwach. Sie sah den Wolken zu, die über den Himmel zogen, die Sterne verhüllten und wieder freigaben. Ein nächtlicher Wind wehte und ließ das Hügelgras rascheln.

Als sie das erste Mal für Randa jemanden niederstreckte, war das in einem Grenzdorf nicht weit von diesem Lager. Ein Gefolgsmann von Randa war als Spion enttarnt worden, er stand im Dienst des Königs Thigpen von Estill. Er wurde des Verrats beschuldigt, darauf stand die Todesstrafe. Der Mann war in Richtung Estill geflohen.

Katsa war gerade zehn Jahre alt. Randa war zu einer ihrer Übungsstunden gekommen und hatte sie mit einem unangenehmen Lächeln beobachtet. »Bist du bereit, etwas Nützliches mit deiner Gabe anzufangen, Mädchen?«, rief er ihr zu.

Katsa hörte auf zu treten und herumzuwirbeln, sie stand still, von der Vorstellung beeindruckt, dass ihre Gabe nützlich sein könnte.

»Hmm.« Randa grinste über ihr Schweigen. »Dein Schwert ist das einzig Glänzende an dir. Hör gut zu, Mädchen. Ich schicke dich diesem Verräter hinterher. Du musst ihn in aller Öffentlichkeit töten, mit deinen bloßen Händen, ohne Waffen. Nur ihn, sonst keinen. Wir alle hoffen, dass du inzwischen gelernt hast, deinen Blutdurst zu beherrschen.«

Katsa zog sich plötzlich in sich selbst zurück, zu klein zum Sprechen, selbst wenn sie etwas zu sagen gehabt hätte. Sie verstand seinen Befehl. Er verweigerte ihr den Gebrauch von Waffen, weil er nicht wollte, dass der Mann schnell starb. Randa wollte ein blutiges, qualvolles Schauspiel, und er erwartete von ihr, dass sie es lieferte.

Katsa zog mit Oll los, von Soldaten begleitet. Als die Soldaten den Flüchtigen gefangen hatten, schleppten sie ihn zum Marktplatz des nächsten Dorfs, wo ihnen ein paar überraschte Leute erstaunt zuschauten. Katsa wies die Soldaten an, den Mann niederknien zu lassen. Mit einer einzigen Bewegung brach sie ihm den Hals. Es floss kein Blut, es gab nur einen jähen Schmerz. Die meisten in der Menge merkten gar nicht, was geschehen war.

Als Randa hörte, was sie getan hatte, wurde er zornig; zornig genug, um sie in seinen Thronsaal zu rufen. Von seinem erhöhten Platz schaute er auf sie hinunter, der Blick seiner blauen Augen war hart, sein Lächeln nicht mehr als ein Zähnezeigen. »Welchen Sinn hat eine öffentliche Hinrichtung«, sagte er, »wenn die Öffentlichkeit nicht mitbekommt, dass der Bursche stirbt? Ich merke, dass ich bei Befehlen deine geistige Beschränktheit berücksichtigen muss.«

Danach enthielten seine Kommandos Einzelheiten: Blut und Schmerzen soundso lange. Man konnte seine Wünsche nicht umgehen. Je öfter Katsa sie ausführte, umso besser wurde sie darin. Und Randa bekam, was er wollte, denn ihr Ruf verbreitete sich wie ein Krebsgeschwür. Jeder wusste, was mit denen geschah, die König Randa von den Middluns in die Quere kamen.

Und eine Zeit lang vergaß Katsa ihren Widerstand. Es wurde zu schwierig, sich das auch nur vorzustellen.

Auf ihren Reisen im Auftrag Randas erzählte Oll dem Mädchen von den Dingen, die Randas Spione erfuhren, wenn sie in andere Königreiche kamen. Junge Mädchen verschwanden aus einem Dorf in Estill und tauchten Wochen später in einem Bordell in Wester wieder auf. Ein Mann büßte in einem Kerker in Nander für den Diebstahl seines Bruders, denn sein Bruder war tot und es musste jemand bestraft werden. Der König von Wester erhob in den Dörfern von Estill eine Steuer, die Soldaten aus Wester einsammelten, indem sie Dorfbewohner aus Estill erschlugen und ihre Taschen leerten.

Alle diese Geschichten wurden Randa von seinen Spionen berichtet, und alle ignorierte er. Jetzt gab es eine neue – ein Lord aus den Middluns hatte den größten Teil seiner Ernte versteckt, um einen kleineren Zehnten zu bezahlen, als er ihm schuldete. Das war eine lohnende Geschichte, hier gab es ein Problem, das die Middluns etwas anging. Randa schickte Katsa los, damit sie dem Lord den Schädel einschlug.

Katsa konnte nicht sagen, woher die Idee gekommen war, doch sobald sie sich in ihre Gedanken gedrängt hatte, ging sie ihr nicht mehr aus dem Kopf. Wozu wäre sie fähig, wenn sie aus freiem Willen handelte und unabhängig von Randas Befehlen? Das war es, worüber sie nachdachte, was sie ablenkte, wenn sie in Randas Auftrag Finger brach und Männerarme aus ihren Gelenkpfannen drehte. Und je mehr sie über die Frage nachdachte, umso dringlicher wurde sie, bis Katsa glaubte, aufzulodern und zu verbrennen, weil sich die Sehnsucht, ihre Idee zu verwirklichen, nicht erfüllte.

Mit sechzehn vertraute sie die Idee Raffin an. »Es könnte funktionieren«, sagte er. »Ich helfe dir natürlich.« Als Nächstes ging sie zu Oll.

Oll war skeptisch, sogar beunruhigt. Er war daran gewöhnt, seine Informationen Randa vorzutragen, er war daran gewöhnt, dass Randa entschied, was zu tun war. Doch sobald Oll einsah, dass Katsa es sowieso tun werde, mit oder ohne ihn, und sobald er sich überzeugt hatte, dass es dem König nicht schaden werde, wenn er nicht über jede Bewegung seines Meisterspions Bescheid wusste, öffnete er sich langsam und allmählich ihren Argumenten.

Bei ihrem ersten Einsatz fing Katsa eine kleine Gruppe mitternächtlicher Plünderer ab, die der König von Estill auf sein eigenes Volk angesetzt hatte, und jagte die Fliehenden in die Berge. Es war der glücklichste und aufregendste Moment ihres Lebens.

Als Nächstes befreiten Katsa und Oll eine Anzahl Jungen aus Wester, die in einer Eisenmine in Nander als Sklaven arbeiten mussten. Nach ein oder zwei weiteren Abenteuern sickerte die Neuigkeit von ihren Einsätzen in nützliche Kanäle. Einige von Olls Spionen traten der Sache bei, ebenso ein paar Gefolgsleute an Randas Hof, darunter Giddon. Dann Olls Frau Bertol und andere Frauen aus dem Schloss. Sie führten regelmäßige Sitzungen in versteckten Räumen ein. Bei den Beratungen herrschte eine Atmosphäre von Abenteuer, von reiner, gefährlicher Freiheit. Es fühlte sich an wie ein Spiel, zu wunderbar, dachte Katsa manchmal, um wahr zu sein. Doch das war es. Sie redeten nicht nur von Subversion, sie planten sie und führten sie aus.

Es war unausweichlich, dass sie im Lauf der Zeit Verbündete außerhalb des Reichs anzogen: Randas Grenzlords, die genug davon hatten herumzusitzen, während benachbarte Dörfer geplündert wurden, Lords aus anderen Königreichen und ihre Spione, und nach und nach auch andere Leute – Gastwirte, Hufschmiede, Bauern. Alle hatten genug von den verrückten Königen, jeder war bereit, ein kleines Risiko auf sich zu nehmen, um den Schaden zu verringern, den ihr Ehrgeiz, ihre Willkür und Gesetzlosigkeit anrichteten.

In dieser Nacht in ihrem Lager an der Grenze zu Estill blinzelte Katsa hellwach in den Himmel und dachte darüber nach, wie groß der Rat geworden war. Er war gewachsen wie eine Ranke in Randas Wald.

Sie hatte den Rat jetzt nicht mehr unter Kontrolle. Im Namen des Rats wurden Einsätze an Orten durchgeführt, an denen sie nie gewesen war, dazu ohne ihre Überwachung, und alles war gefährlich geworden. Ein unvorsichtiges Wort vom Kind eines Gastwirts, eine unglückliche Begegnung irgendwo in der Welt von zwei Menschen, die sie nie getroffen hatte, und alles würde in sich zusammenfallen. Dann gäbe es für sie keine Einsätze mehr, dafür würde Randa sorgen. Und dann wäre sie wieder nichts anderes als die brutale Handlangerin des Königs.

Sie hätte dem fremden Lienid nicht vertrauen sollen.

Katsa verschränkte die Arme über der Brust und schaute hinauf zu den Sternen. Gern hätte sie ihr Pferd geholt und wäre rund um die Hügel geritten. Das hätte sie beruhigt, sie müde gemacht. Aber es hätte auch ihr Pferd ermüdet, und sie wollte Oll und Giddon nicht allein lassen. Außerdem machte man so etwas nicht. Es war nicht normal.

Sie schnaubte, dann horchte sie, um sicher zu sein, dass niemand aufgewacht war. Normal. Sie war nicht normal. Ein Mädchen, beschenkt mit der Gabe des Tötens, eine königliche Schlägerin? Ein Mädchen, das keinen der möglichen Ehemänner haben wollte, die Randa ihr aufdrängte, gut aussehende und geistreiche Männer, ein Mädchen, das Panik bekam beim Gedanken an ein Baby an ihrer Brust oder ein Kind, das ihre Füße umklammerte?

Sie war nicht natürlich.

Wenn der Rat entdeckt wurde, würde sie an einen Ort fliehen, an dem niemand sie finden konnte. Lienid oder Monsea. Sie würde in einer Höhle, in einem Wald leben. Sie würde jeden töten, der sie fand und erkannte.

Sie würde auf das bisschen Kontrolle nicht verzichten, das sie über ihr Leben gewonnen hatte.

Sie musste schlafen.

Schlaf, Katsa, sagte sie sich. Du musst schlafen, du musst deine Kräfte schonen.

Und plötzlich überkam sie Müdigkeit, und sie schlief.

4

Am Morgen zogen sie ihre üblichen Sachen an, Giddon den Reiseanzug, der einem Adjutanten von Randa zukam, und Oll seine Hauptmannsuniform. Katsa kleidete sich in eine blaue Tunika, gefüttert mit der orangefarbenen Seide von Randas Höfen, und die passende Hose dazu, die sie immer trug, wenn sie Randas Aufträge erfüllte. Mit dieser Kleidung war der König nur einverstanden, weil Katsa jedes Kleid beim Reiten verschliss. Randa stellte sich seine Kämpferin bei der Ausführung seiner Strafen nicht gern in zerrissenen, verschmutzten Röcken vor. Das wäre würdelos.

Bei ihrem Auftrag in Estill ging es um einen Grenzlord, der Holz aus den südlichen Wäldern der Middluns gekauft hatte. Den abgemachten Preis hatte er bezahlt, doch dann hatte er mehr als die vereinbarte Zahl an Bäumen geschlagen. Randa wollte Geld für das zusätzliche Holz, und er wollte, dass der Lord bestraft wurde, weil er die Abmachung ohne königliche Erlaubnis geändert hatte.

»Ich muss euch noch warnen«, sagte Oll, als sie ihr Lager räumten. »Dieser Lord hat eine Tochter, die mit Gedankenlesen beschenkt ist.«

»Warum die Warnung?«, fragte Katsa. »Ist sie nicht an Thigpens Hof?«

»König Thigpen hat sie zu ihrem Vater nach Hause geschickt.«

Katsa riss heftig an den Riemen, die ihre Tasche am Sattel hielten.

»Versuchst du das Pferd umzuwerfen, Katsa«, sagte Giddon, »oder willst du nur die Satteltasche zerreißen?«

Katsa machte ein missmutiges Gesicht. »Niemand hat mir gesagt, dass wir einer Gedankenleserin begegnen werden.«

»Ich sage es Ihnen jetzt, My Lady«, erklärte Oll, »und es gibt keinen Grund zur Sorge. Sie ist ein Kind. Das meiste, was sie plappert, ist Unsinn.«

»Und was stimmt nicht mit ihr?«

»Mit ihr stimmt nicht, dass sie meistens Unsinn plappert. Oder unnützes, unwichtiges Zeug, und sie platzt mit allem heraus, was sie sieht. Sie ist nicht zu bremsen. Sie hat Thigpen nervös gemacht, deshalb hat er sie nach Hause geschickt, My Lady, und ihrem Vater befohlen, sie zurückzusenden, wenn sie zu etwas nütze ist.«

In Estill wie in den meisten anderen Königreichen wurden Beschenkte laut Gesetz dem König zu seiner Verfügung überlassen. Jedes Kind, dessen Augen Wochen, Monate, selten Jahre nach seiner Geburt zwei unterschiedliche Farben angenommen hatten, wurde an den Hof seines Königs gebracht und in den Kinderzimmern des Königs aufgezogen. Wenn seine Gabe sich als nützlich für den König erwies, blieb das Kind in seinen Diensten. Wenn nicht, wurde es nach Hause zurückgeschickt. Natürlich mit den Entschuldigungen des Hofs, weil es schwierig für eine Familie war, einen Beschenkten einzusetzen, vor allem einen mit einer nutzlosen Gabe wie die, auf Bäume zu klettern, eine unmöglich lange Zeit die Luft anzuhalten oder rückwärts zu reden. In einer Bauernfamilie konnte es dem Kind noch gut gehen, da arbeitete es auf den Feldern und niemand sah es oder wusste davon. Aber wenn ein König einen Beschenkten nach Hause in die Familie eines Gastwirts schickte oder in die eines Ladenbesitzers in einer Stadt mit mehr als einem solchen Unternehmen, dann litt zwangsläufig das Geschäft. Es machte keinen Unterschied, welche Gabe das Kind hatte. Wenn irgend möglich, mieden die Leute jeden Ort, an dem sie einen Menschen mit verschiedenfarbigen Augen treffen konnten.

»Thigpen ist dumm, wenn er eine Gedankenleserin nicht bei sich behält«, sagte Giddon, »nur weil sie ihm noch nicht nützlich ist. Gedankenleser sind zu gefährlich. Was, wenn das Mädchen unter den Einfluss eines anderen gerät?«

Giddon hatte natürlich recht. Was Gedankenleser auch sonst noch sein mochten, fast immer waren sie wertvolle Werkzeuge in der Hand eines Königs. Doch Katsa konnte nicht verstehen, wie jemand sie in der Nähe haben wollte. Randas Koch war ein Beschenkter, ebenso sein Pferdehändler, sein Weinbauer und einer seiner Hoftänzer. Er hatte einen Jongleur, der mit unzähligen Gegenständen jonglieren konnte, ohne sie fallen zu lassen. Er hatte mehrere Soldaten, wenn auch keine Rivalen für Katsa, die mit dem Schwertkampf beschenkt waren. Er hatte einen Mann, der die Qualität der Ernte im kommenden Jahr voraussah. Er hatte eine Beschenkte, die wunderbar mit Zahlen umgehen konnte und als einzige Frau in allen sieben Königreichen im Zahlhaus eines Königs arbeitete.

Der König hatte auch einen Mann, der die Stimmung jeder Person kannte, die er berührte. Er war der einzige Beschenkte an Randas Hof, der Katsa abstieß, der einzige außer Randa selbst, den sie mied.

»Dass Thigpen sich töricht verhält, kann kaum besonders überraschen, My Lord«, sagte Oll.

»Welche Art Gedankenleserin ist sie?«, fragte Katsa.

»Ich bin mir nicht sicher, My Lady. Sie ist so ungeformt. Und Sie wissen, wie die Gedankenleser sind, ihre Gabe ändert sich dauernd und lässt sich nur schwer festlegen. Sie sind erwachsen, bevor sie in ihre ganze Macht hineingewachsen sind. Aber es scheint, dass dieses Kind Wünsche lesen kann. Es weiß, was andere Leute gern hätten.«

»Dann wird die Kleine auch wissen, dass ich sie bewusstlos schlagen will, wenn sie mich auch nur anschaut.« Katsa sagte es in die Mähne ihres Pferdes hinein. Diese Worte waren nicht für die Ohren ihrer Gefährten bestimmt, die sie auseinandernehmen und Witze darüber machen würden. »Gibt es noch etwas, das ich über diesen Grenzlord wissen muss?«, fragte sie laut und trat in ihre Steigbügel. »Vielleicht wird er von hundert beschenkten Kämpfern bewacht? Oder von einem abgerichteten Bären? Noch etwas, das ihr vergessen habt zu erwähnen?«

»Sie brauchen nicht sarkastisch zu werden, My Lady«, sagte Oll.

»Du bist heute Morgen eine so angenehme Gesellschaft wie immer, Katsa«, sagte Giddon.

Katsa trieb ihr Pferd voran. Sie wollte Giddons lachendes Gesicht nicht sehen.

Der Gutshof des Lords lag hinter grauen Steinmauern auf dem Gipfel eines Hügels mit wogendem Gras. Der Mann, der sie durch das Tor einließ und ihre Pferde übernahm, sagte, sein Herr sei beim Frühstück. Katsa, Giddon und Oll gingen direkt in die große Halle, ohne auf Begleitung zu warten.

Ein Diener des Lords wollte den Eingang zum Frühstücksraum versperren. Dann sah er Katsa. Er räusperte sich und öffnete die hohen Flügeltüren. »Gesandte vom Hof König Randas, My Lord«, sagte er. Ohne auf eine Antwort seines Herrn zu warten, schlüpfte er wieder hinaus und lief davon.

Der Lord saß vor einem Mahl aus Schinken, Eiern, Brot und Käse und hatte einen zweiten Diener an seiner Seite. Beide schauten auf, als die drei eintraten, und erstarrten. Dem Lord fiel klappernd der Löffel aus der Hand.

»Guten Morgen, My Lord«, sagte Giddon. »Entschuldigen Sie, dass wir Ihr Frühstück unterbrechen. Wissen Sie, warum wir hier sind?«

Der Lord schien nur mit Mühe seine Stimme zu finden. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.« Seine Hand lag an der Kehle.

»Nein? Vielleicht könnte Lady Katsa Ihrer Erinnerung nachhelfen«, sagte Giddon. »Lady?«

Katsa trat vor.

»Schon gut, schon gut.« Der Lord stand auf. Seine Beine schlugen an den Tisch und ein Glas fiel um. Er war groß und breitschultrig, noch größer als Giddon und Oll. Seine Hände flatterten, unruhig schaute er durch den Raum, vermied es aber, Katsa anzusehen. In seinem Bart hing ein wenig Ei. So dumm, ein so großer Mann, und so ängstlich! Katsa machte ein ausdrucksloses Gesicht, damit keiner von ihnen sah, wie sehr sie das alles hasste.

»Ah, Sie haben sich erinnert«, sagte Giddon, »stimmts? Sie haben sich erinnert, warum wir hier sind?«

»Ich glaube, ich schulde Ihnen Geld«, sagte der Lord. »Ich glaube, Sie sind gekommen, um es abzuholen.«

»Sehr gut!« Giddon sprach wie zu einem Kind. »Und warum schulden Sie uns Geld? Im Vertrag ging es um wie viele Morgen Wald? Helfen Sie meinem Gedächtnis nach, Hauptmann.«

»Dreißig Morgen, My Lord«, sagte Oll.

»Und wie viele Morgen hat der Lord genommen, Hauptmann?«

»Fünfunddreißig Morgen, My Lord«, sagte Oll.

»Fünfunddreißig Morgen!«, wiederholte Giddon. »Das ist ein ziemlich beträchtlicher Unterschied, habe ich nicht recht?«

»Ein schrecklicher Fehler.« Der Lord versuchte gequält zu lächeln. »Es war uns nicht klar, dass wir so viel brauchen würden. Natürlich werde ich sofort bezahlen. Nennen Sie nur Ihren Preis.«

»Sie haben König Randa beträchtliche Unannehmlichkeiten verursacht«, sagte Giddon. »Sie haben gegen seinen Willen seinen Wald um fünf Morgen vermindert. Die Wälder des Königs sind nicht grenzenlos.«

»Nein. Selbstverständlich nicht. Ein schrecklicher Fehler.«

»Außerdem sind wir tagelang unterwegs gewesen, um diese Angelegenheit zu klären. Unsere Abwesenheit vom Hof ist höchst lästig für den König.«

»Natürlich«, sagte der Lord. »Natürlich.«

»Ich denke, wenn Sie Ihre ursprüngliche Zahlung verdoppeln würden, könnte das den Ärger des Königs über diese Unannehmlichkeiten verringern.«

Der Lord fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Die ursprüngliche Zahlung verdoppeln. Ja. Das erscheint mir ganz angemessen.«

Giddon lächelte. »Sehr gut. Vielleicht führt uns Ihr Mann hier zu Ihrem Zahlhaus.«

»Gewiss.« Der Lord winkte dem Diener neben sich. »Rasch, Mann. Rasch!«

»Lady Katsa«, sagte Giddon, als er und Oll sich zur Tür wandten, »warum bleiben Sie nicht hier? Leisten Sie Seiner Lordschaft doch Gesellschaft.«

Der Diener führte Giddon und Oll hinaus. Die großen Türflügel schwangen hinter ihnen zu. Katsa und der Lord waren allein.

Sie starrte ihn an. Er atmete flach, sein Gesicht war blass. Er schaute sie nicht an und sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen.

»Setzen Sie sich«, sagte Katsa. Er fiel auf seinen Stuhl und stieß ein schwaches Stöhnen aus.

»Schauen Sie mich an«, sagte sie. Sein Blick zuckte zu ihrem Gesicht und glitt dann zu ihren Händen. Randas Opfer beobachteten immer ihre Hände, nie ihr Gesicht. Sie konnten ihre Augen nicht ertragen. Und sie erwarteten einen Schlag ihrer Hände.

Katsa seufzte. »Sie sind ein Lügner und ein Dieb«, sagte sie. »Und ein Dummkopf.«

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber nichts als ein Krächzen kam heraus.

»Ich kann Sie nicht verstehen«, sagte Katsa.

Er räusperte sich. »Ich habe eine Familie. Ich habe eine Familie zu versorgen. Tun Sie, was Sie wollen, aber ich bitte Sie, töten Sie mich nicht.«

»Sie wollen nicht, dass ich Sie töte, um Ihrer Familie willen?«

Eine Träne rann in seinen Bart. »Und um meinetwillen. Ich will nicht sterben.«

Natürlich wollte er nicht sterben für fünf Morgen Land. »Ich töte keine Männer, die fünf Morgen Wald vom König stehlen«, sagte sie, »und dann teuer dafür in Gold bezahlen. Ein solches Verbrechen rechtfertigt eher einen gebrochenen Arm oder den Verlust eines Fingers.«

Er schnappte nach Luft und starrte auf die Eier und das Obst auf seinem Teller. Sie überlegte, ob er sich gleich übergeben oder weinen würde. Aber dann schob er den Teller zur Seite, ebenso das umgekippte Glas und das Besteck. Er legte die Arme auf den Tisch vor sich, senkte den Kopf und wartete.

Eine Welle von Müdigkeit überkam sie. Randas Befehle ließen sich leichter befolgen, wenn die Opfer flehten oder schrien, wenn sie ihnen keinen Respekt mehr entgegenbrachte.

Katsa bewegte sich auf ihn zu und zog ihren Dolch aus der Scheide. Sie starrte die Klinge an. Randa machte sich nichts aus seinem Wald; er wollte nur Geld und Macht. Außerdem würden die Wälder eines Tages wieder nachwachsen. Finger wuchsen nicht wieder nach.

Sie schob den Dolch zurück in die Scheide. Sie würde ihm nicht seinen Finger nehmen. Sein Arm würde dran glauben müssen oder sein Bein, vielleicht auch sein Schlüsselbein, das schmerzte immer, wenn es gebrochen wurde. Aber ihre eigenen Arme waren plötzlich bleischwer und ihre Beine schienen sie nicht vorantragen zu wollen.

Der Lord holte zitternd Atem, aber er regte sich nicht, sagte nichts. Er war ein Lügner, ein Dieb und ein Dummkopf.

Es gelang Katsa nicht, die Sache wichtig zu nehmen.

Sie seufzte schwer. »Ich gebe zu, dass Sie tapfer sind«, sagte sie, »obwohl es zuerst nicht so aussah.« Sie sprang zum Tisch und schlug ihn auf die Schläfe, wie sie es bei Murgons Wachmännern getan hatte. Er wurde schlaff und fiel von seinem Stuhl. Zusammengekrümmt lag er auf dem Boden, die Beine unter dem bestickten Tischtuch begraben.

Sie drehte sich um und verließ den Raum. In der großen Steinhalle des Lords wartete sie, dass Giddon und Oll mit dem Geld zurückkamen.

Der Lord würde mit Kopfweh erwachen, aber das war alles. Wenn Randa hörte, was sie getan hatte, würde er einen Wutanfall bekommen.

Aber vielleicht würde Randa nichts erfahren. Oder sie könnte den Lord beschuldigen, dass er gelogen hatte, um sein Gesicht zu wahren.

In diesem Fall würde Randa darauf bestehen, dass sie in Zukunft mit Beweisen zurückkehrte. Mit einer Sammlung zusammengeschrumpfter Finger und Zehen. Was das für ihren Ruf bedeuten würde!

Es war ihr gleichgültig. Sie hatte heute nicht die Kraft, eine Person zu quälen, die es nicht verdiente.

Eine kleine Gestalt kam in die Halle getrippelt. Katsa wusste, wer es war, noch bevor sie die Augen des Mädchens gesehen hatte, eins gelb wie die Kürbisse, die sie im Norden anbauten, und eins braun wie Schlamm. Diesem Mädchen würde sie wehtun. Dieses Mädchen würde sie quälen, damit es nicht ihre Gedanken las. Sie fing den Blick des Mädchens auf und erwiderte ihn, bis das Kind nach Luft schnappte und ein paar Schritte zurückwich. Dann drehte es sich um und rannte aus der Halle.

5

Sie kamen schnell voran, auch wenn Katsa sich über ihr Tempo ärgerte.

»Katsa meint, wenn man ein Pferd nicht mit halsbrecherischer Geschwindigkeit vorantreibt, nutzt man es nicht richtig«, sagte Giddon.