Die besten Ärzte - Sammelband 78 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 78 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.

Im Sammelband Die besten Ärzte erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband Die besten Ärzte ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 256 Taschenbuchseiten.

Jetzt herunterladen und sofort sparen und lesen.

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1843 - Gebannt von der Erinnerung

Notärztin Andrea Bergen 1322 - Rückkehr im Rollstuhl

Dr. Stefan Frank 2276 - Du bist meine wahre Liebe

Der Notarzt 325 - Meine letzte Liste

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 78

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2015/2017/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2024 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Shutterstock AI

ISBN: 978-3-7517-8613-3

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 78

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1843

Gebannt von der Erinnerung

Die Notärztin 1322

Rückkehr im Rollstuhl

Dr. Stefan Frank 2276

Du bist meine wahre Liebe

Der Notarzt 325

Meine letzte Liste

Guide

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Contents

Gebannt von der Erinnerung

Sein Herz gehört der ersten Frau

Von Katrin Kastell

Nach dem Tod seiner geliebten Frau hat Martin Steiger jede Lebensfreude verloren, und sein sehnlichster Wunsch ist es, ihr ins Grab zu folgen. Deshalb vernachlässigt er seine Gesundheit auf sträfliche Weise und übersieht alle Zeichen, die auf seine schwere Erkrankung hinweisen.

Auch Dr. Holl sind die Hände gebunden – bis der beliebte Lehrer bewusstlos in die Berling-Klinik eingeliefert wird. Jetzt kann der Chefarzt endlich handeln! Oder ist es längst zu spät?

„Ein Schaufensterbummel mit meinem angetrauten Ehemann, und das an einem Samstagvormittag! Es geschehen noch Zeichen und Wunder“, freute sich Julia Holl und schmiegte sich etwas enger an die Seite ihres Mannes.

Dr. Stefan Holl und seine Frau schlenderten Arm in Arm durch die Münchner Fußgängerzone und ließen sich vom Strom der Passanten treiben.

Es war Mitte August und versprach, wieder ein warmer Sommertag zu werden. Die Menschen waren in Urlaubsstimmung, und von überall drang heiteres Lachen und Plaudern. Niemand schien es eilig zu haben, und um die zahlreichen Straßenkünstler, die Münchens Fußgängerzone bevölkerten, bildeten sich immer neue Gruppen von Zuschauern, die den Künstlern bereitwillig applaudierten.

Sehnsüchtig sah Dr. Holl zu ihnen hinüber. Er hätte sich gerne dazugesellt, aber daran war nicht zu denken. Julia hatte andere Pläne, und er wollte ihr den Spaß nicht verderben.

„Als Schaufensterbummel würde ich das nicht gerade bezeichnen.“ Demonstrativ hob er die Einkaufstüten etwas an, die er in der linken Hand trug. „Bummler bleiben vor der Tür, oder? Du lässt so gut wie keine Boutique aus, mein Schatz.“

„Na, wenn ich dich einmal dabei habe, müssen wir doch dafür sorgen, dass du gut ausgestattet nach Hause kommst. Schließlich kann ich nicht wissen, wann ich dich einmal wieder dazu bekomme, mit mir bummeln zu gehen“, meinte sie fröhlich.

„In der Tat, ich wollte schon immer ein luftiges Sommerkleid, und diese zwei herrlichen Tuniken aus Seide werden mir entzückend stehen. Sie unterstreichen optimal meinen Teint, findest du nicht?“, spottete er gutmütig.

„Sei nicht so pingelig, mein Schatz! Für dich haben wir auch schon eine leichte Jacke und Hemden gefunden. Außerdem möchte ich meinem Mann gefallen, und da ist es herrlich, wenn er mich bei der Auswahl meiner Kleidung berät. Du machst das großartig“, schmeichelte sie, weil sie wusste, wie ungern er eigentlich einkaufen ging.

„Meine Diplomatin! Womit habe ich dich nur verdient?“

„Keine Ahnung. Manchmal hat man einfach Glück im Leben. Schau mal, da könnten wir Schuhe für dich erbeuten! Wir wollen doch nicht, dass du zu kurz kommst.“

Er verdrehte die Augen, folgte ihr aber in den Schuhladen. Als das Paar wieder aus dem Laden zum Vorschein kam, trug Dr. Holl zwei weitere Tüten.

„Du brauchst keinen Ehemann an deiner Seite für diesen Einkaufsmarathon, sondern einen Packesel“, beschwerte er sich und seufzte übertrieben.

„Soll ich dir etwas abnehmen?“, bot sie an. „Ich möchte dich nicht überstrapazieren. Das käme mir nie in den Sinn!“

„Dir doch nicht!“, stimmte er ihr zu. „Ich glaube, ich schaffe es gerade noch. Für mein Alter habe ich mich gar nicht übel gehalten, und ich würde die entzückenden Schuhe, die umwerfend zu meinem Cocktailkleid passen, nie aus den Händen geben. Wie gut, dass wir in den Laden gegangen sind!“

„Ich konnte doch nicht wissen, dass es da eine derart opulente Damenabteilung gibt und dafür kaum etwas für dein Geschlecht. Beim nächsten Schuhladen bist du an der Reihe“, gelobte sie.

Stefan Holl schmunzelte. „Ehrlich gesagt, gefällt mir der Einkaufsbummel so rum viel besser, und es gibt weitaus Schlimmeres, als dein Packesel zu sein.“

„Du bist mein charmanter Held. Und zur Belohnung für so viel Heldentum und Durchhaltevermögen spendiere ich dir einen Eisbecher und einen großen Pott Milchkaffee. Ist das ein Angebot?“

„Deine Großzügigkeit ist der Grund, warum ich dich zur Mutter meiner vier Kinder gewählt habe und zur getreuen Gefährtin in guten und in schlechten Zeiten.“

„Autsch! Wenn das der einzige Grund ist, dann sollte ich mir Sorgen machen.“

„Sorgen? Du?“ Spontan stellte er die Tüten ab, zog sie an sich und gab ihr einen schmatzenden Kuss. „Beruhigt?“

„Aber Stefan! Vor all den Leuten!“, neckte sie ihn, aber ihre Augen glänzten.

„Wenn man die wundervollste Frau, die sich ein Mann nur wünschen kann, geheiratet hat, dann darf das jeder wissen.“

Julia umarmte ihn ihrerseits und küsste ihn auf die Nase und den Mund.

„Vor all den Leuten!“, imitierte er sie.

„Mir geht es wie dir. Ich habe nichts zu verbergen.“

Sie gingen hinüber zu dem Eiscafé und suchten sich einen freien Platz an einem der Tische draußen. Während sie auf ihre Bestellung warteten, flirteten sie lustig weiter, und keiner, der ihnen zuhörte, wäre darauf gekommen, wie lange sie schon verheiratet waren. Sie wirkten wie ein frisch verliebtes Paar. „Ich könnte mich daran gewöhnen, dass die Kinder aus dem Haus sind“, meinte Julia versonnen. „Es ist schön, wie früher Zeit mit dir alleine zu verbringen.“

Ihr Mann winkte lächelnd ab. „Du wirst unsere Pappenheimer schrecklich vermissen, wenn sie wirklich flügge sind und in die Welt hinausziehen“, prophezeite er.

Die Holls hatten vier Kinder. Die zwanzigjährigen Zwillinge Marc und Dani wohnten zwar noch in der Villa ihrer Eltern, aber es war absehbar, dass sie irgendwann auszogen. Bei dem fünfzehnjährigen Chris und seiner elfjährigen Schwester Juju würde es noch eine Weile dauern.

Es waren Sommerferien, und Chris und Juju waren für drei Wochen auf einer Freizeit in den Bergen. Marc und Dani zogen gemeinsam mit dem Rucksack durch England. So still wie im Moment war es selten im Hause Holl, und das Paar genoss die Ruhe in vollen Zügen.

„Am liebsten würde ich mir ein paar Tage freinehmen“, überlegte Stefan Holl. „Wann werden wir das nächste Mal für uns alleine sein? Es ist Verschwendung, diese kostbare Zeit nicht zu nutzen. „

Dr. Holl war der Chef der Bering-Klinik in München, und es war nie leicht für ihn, sich von seinen Verpflichtungen freizumachen. Wenn er den Puls seiner Klinik nicht ruhig und gleichmäßig pochen hörte und wusste, dass alles reibungslos funktionierte, wurde er schnell unruhig.

„Ein paar Tage müssen gar nicht sein, mein Lieber. So kurzfristig klappt das ohnehin nicht, und sogar wenn, wärst du nicht entspannt und mit dem Kopf in der Klinik. Aber du hast nächstes Wochenende komplett frei. Wenn wir den Freitag und vielleicht den Montag noch anhängen würden, könnten wir an den Tegernsee fahren. Das wäre doch herrlich!“, schlug Julia vor, die ihren Mann gut kannte.

Die Familie hatte einen Zweitwohnsitz in Rottach am Tegernsee und verbrachte gerne ihre Freizeit dort. Ohne die Kinder waren die Holls schon länger nicht mehr am See gewesen.

„Das machen wir! Den Freitag kann ich auf jeden Fall herausschlagen. Ob es mit dem Montag klappt, das …“

„… lassen wir auf uns zukommen“, vollendete Julia den Satz für ihn. Sie hatte selbst als Kinderärztin praktiziert und kannte den Beruf ihres Mannes aus eigener Erfahrung. Da sie voll und ganz für ihre Kinder hatte da sein wollen, war sie nach deren Geburt zu Hause geblieben. Die Familie war ihr wichtiger gewesen als ihre Karriere, aber sie wäre nie darauf gekommen, ihrem Mann Vorwürfe zu machen, weil er seinen Beruf ernst nahm. Im Gegenteil, sie respektierte und bewunderte ihn dafür und stand voll hinter ihm.

Dessen ungeachtet machte sie sich oft Sorgen um seine Gesundheit. Stefan arbeitete zu viel und gönnte sich zu wenig Pausen. Umso schöner war es, diesen Samstagvormittag mit ihm zu verbummeln, an dem es ausnahmsweise einmal nicht um die Berling-Klinik oder einen seiner Patienten ging.

Das Paar plauderte angeregt über dies und das, während es sein Eis aß. „Was ist?“, wollte Julia wissen, als sie merkte, dass ihr Mann nicht mehr ganz bei der Sache war und immer zu einem Tisch in ihrem Rücken sah.

„Der Gast dort erinnert mich an den Mann einer Patientin, die vor zwei Jahren verstorben ist, aber ich muss mich täuschen. Er ist viel zu alt. Die Ähnlichkeit ist erstaunlich – vielleicht sein Vater“, antwortete Stefan, musste jedoch immer wieder zu dem Tisch sehen.

Julia wurde neugierig und drehte sich um. An dem Tisch saß ein Mann, der gedankenverloren ins Leere starrte und den sie auf Ende vierzig Anfang fünfzig geschätzt hätte. Er wirkte krank. Sie sah noch hin, als der Mann den Blick hob und die Holls registrierte.

Ein Lächeln huschte über sein müdes Gesicht, und die Traurigkeit, die ihn wie eine dichte Wolke umhüllte, lichtete sich etwas. Er stand auf und kam zu ihnen herüber. Dr. Holl hatte sich nicht getäuscht.

***

„Herr Steiger, ich freue mich, Sie wiederzusehen“, begrüßte Stefan Holl den Mann mit Wärme. „Setzen Sie sich doch einen Moment zu uns! Darf ich Ihnen meine Frau Julia vorstellen?“ Sie reichten sich alle die Hände. „Wie geht es Ihnen?“, fragte der Arzt, obwohl die Frage nicht notwendig gewesen wäre.

Martin Steiger war in den vergangenen zwei Jahren extrem gealtert. Er war keineswegs Ende vierzig, obwohl sein Äußeres dies vermuten ließ, sondern Mitte dreißig. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, die Lippen waren bläulich verfärbt, und seine Hände hatten sich bei dem Händedruck kalt und feucht angefühlt.

Dr. Holl ging im Geist mögliche Diagnosen durch, und keine davon gefiel ihm sonderlich. Die Ursache schien ernster Natur zu sein.

Martin Steiger lächelte vage und winkte ab.

„Schlechten Menschen geht es immer gut“, scherzte er. „Ich habe noch fast drei Wochen, bis die Schule wieder losgeht. Ein Hoch auf die Sommerferien. Da kann man sich als Lehrer ein wenig erholen.“

„Wo unterrichten Sie?“, fragte Julia.

Martin Steiger erzählte ihr, dass er Gymnasiallehrer war und Mathematik und Deutsch unterrichtete. Dr. Holl musterte ihn gründlich, während Steiger sich mit Julia über den Zustand an den Schulen unterhielt. Er beschloss, dass er unter keinen Umständen schweigen durfte. Martin Steiger war krank, daran zweifelte er nicht länger. Der Mann musste sich unbedingt untersuchen lassen. Normalerweise fiel Stefan Holl nicht derart mit der Tür ins Haus, aber hier schien ihm Gefahr in Verzug.

„Wann waren Sie das letzte Mal bei Ihrem Hausarzt und haben sich gründlich untersuchen lassen?“, fragte er direkt, als sich eine Gesprächspause ergab.

„Dr. Schuster hat seine Praxis kurz nach Emmas Tod aus Altergründen an einen jungen Kollegen übergeben. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich der Praxis treu bleibe. Sollte ich einmal einen Arzt brauchen, werde ich wohl aus alter Gewohnheit hingehen“, meinte Martin Steiger gleichgültig. „Ich habe während Emmas Krankheit so viele Ärzte gesehen und in so vielen Praxen mit ihr gesessen – nein, wenn es nicht unbedingt sein muss, mache ich einen großen Bogen um Ärzte.“

Als ihm klar wurde, was er da sagte, schnitt er eine Grimasse. „Wie nett von mir! Entschuldigen Sie! Meine Schüler sagen immer, ich habe das Talent, keinen Fettnapf zu versäumen. Sie scheinen nicht so unrecht zu haben. Anwesende Mediziner sind natürlich von meiner Ärztephobie ausgeschlossen“, verbesserte er sich.

„Das freut mich zu hören, und da habe ich doch gleich ein Attentat auf Sie vor. Schauen Sie bald an der Bering-Klinik vorbei, damit wir Sie gründlich auf den Kopf stellen können! Sie gefallen mir ganz und gar nicht. Ermüden Sie leicht und neigen zu Erschöpfung? Haben Sie Schlafstörungen?“

„Chefarztvisite an einem sonnigen Samstagvormittag – mir geht es gut“, scherzte Martin Steiger und wich einer klaren Antwort aus. „Frau Holl, Sie haben auch kein leichtes Los gezogen. Da sitzen Sie gemütlich beim Eis, und Ihr Mann requiriert ganz nebenbei Patienten für seine Klinik. Wie halten Sie es mit ihm aus?“, versuchte er, das Thema geschickt zu wechseln.

„Man gewöhnt sich an alles. Mein Mann ist eben Arzt mit Leib und Seele und kann es nie lassen“, antwortete Julia, die seine Taktik durchschaute und nicht gewillt war, sich dafür herzugeben. „Vor allem ist er ein verdammt guter Arzt, und hin und wieder lohnt es sich, auf ihn zu hören, auch wenn er eine alte Nervensäge sein kann.“

„Alte Nervensäge – so hat meine Frau Emma mich auch immer genannt“, sagte Steiger traurig, und es war, als zöge sich die dunkle Wolke, die sich durch die Wiedersehensfreude kurz gelüftet hatte, wieder um ihn zusammen.

Julia spürte, wie tief die Trauer um seine Frau reichte, und empfand Mitgefühl. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie sie es verkraften würde, sollte sie Stefan je verlieren. Er gehörte zu ihr, machte die Hälfte ihres Lebens und ihres ganzen Seins aus. Wo fand man Trost, wenn einem diese zweite Hälfte entrissen wurde und man alleine weiterleben musste? Sie schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass der Tag des Abschieds noch in weiter Ferne für sie lag.

„Ich könnte Ihnen gleich am Montagmorgen einen Termin anbieten und würde mich selbstverständlich selbst um Sie kümmern“, ließ Stefan Holl sind nicht abbringen. Am liebsten hätte er auf der Stelle einen Termin mit Martin Steiger vereinbart und war bereit, seine anderen Verpflichtungen dafür zu verschieben.

„Nächste Woche wird mir das zu knapp. Ich melde mich, sobald ich Luft habe“, lehnte Steiger ab. Er blieb nur noch kurz bei ihnen, dann gab er vor, von einem Freund erwartet zu werden. Es war allen klar, dass er die Flucht ergriff.

„Kommen Sie bitte bald an der Bering-Klinik vorbei und lassen Sie sich untersuchen!“, bat Stefan Holl noch einmal eindringlich, bevor er ging.

„Das mache ich“, versprach Martin Steiger, aber es klang halbherzig und nicht sonderlich ernst gemeint.

Stefan sah ihm nach und bemerkte, wie schleppend und langsam seine Schritte waren und dass er schon nach wenigen Metern kurz stehen bleiben musste, um Atem zu schöpfen. „Manche Menschen könnte ich gerne zu uns prügeln“, sagte er bestürzt. „Wie kann man den Arztbesuch hinauszögern, wenn man sich kaum noch auf den Beinen halten kann und offensichtlich kurz vor dem Zusammenbruch steht? Das begreife ich nicht. Ich finde diesen Umgang mit dem eigenen Körper geradezu fahrlässig.“

„Er hat sich in der Trauer um seine Frau verloren, Stefan. Sein körperlicher Zustand ist ihm absolut egal, und im Grunde würde er sich am liebsten zu ihr ins Grab legen.“ Julia war ebenso betroffen wie ihr Mann, aber irgendwie verstand sie, was in Martin Steiger vorgehen mochte. „Wie ist sie gestorben?“

Das Schicksal dieser beiden Menschen interessierte sie.

„Es war einer dieser tragischen Fälle, in denen ein Kollege absolut versagt hat“, erzählte Stefan. „Frau Steiger war mehrmals bei ihrem Frauenarzt, weil sie in ihrer Brust etwas ertastet hatte. Da sie erst achtundzwanzig Jahre alt war, nahm der Arzt sie nicht ernst. Er tastete die Brust ab, verweigerte ihr aber eine Mammografie. Als die Patientin schließlich wegen starker Schmerzen zu uns in die Notaufnahme kam, war es zu spät. Der Tumor war sehr groß und hatte bereits Metastasen in den ganzen Körper gestreut.

Wir konnten ihn über eine aggressive Chemotherapie verkleinern und dann operativ entfernen, aber nach einigen Monaten bildeten sich in der Lunge, im Rückenmark und im Gehirn bereits neue Tumoren. Letztendlich schlug keine Therapie richtig an, und sie hatte einen schweren Leidensweg.“

„Wie lange hat sie gegen die Krankheit gekämpft?“, fragte Julia weiter.

„Drei Jahre. Sie wurde mehrfach operiert, immer wieder bestrahlt und hat sogar eine weitere Chemotherapie über sich ergehen lassen. Irgendwann wollte sie nur noch, dass es aufhört, aber sie hatte Angst um ihren Mann und hielt für ihn am Leben fest. Es war schlimm. Ich habe selten ein Paar gesehen, dass sich so innig liebt. Er hat sie rührend zu Hause gepflegt und hätte alles für sie getan, nur loslassen und ihr erlauben zu sterben, das konnte er nicht.“

Julia nickte bekümmert. „Das habe ich mir gedacht, und es ist ihm auch nach zwei Jahren noch nicht möglich, ihren Tod zu akzeptieren und zurück ins Leben zu finden. Hoffentlich kommt er rechtzeitig zu dir an die Klinik. Wenn sich jemand den Tod leidenschaftlich wünscht, sucht er keine Hilfe bei Ärzten, sondern spielt eher mit ganz anderen Gedanken“, deutete sie an.

„Denkst du, er ist selbstmordgefährdet?“ Dr. Holl war alarmiert.

„Was er gerade tut, ist eine Art passiver Selbstmord, Stefan – zumindest sehe ich das so. Ich weiß nicht, ob er je Hand an sich legen würde. Da spielen moralische und religiöse Vorstellungen eine große Rolle. Er tötet sich auf andere Weise, und ich fürchte fast, dass er in nicht so ferner Zukunft erfolgreich sein wird, wenn er nicht doch noch bereit ist, das Leben ohne seine Frau für sich anzunehmen.“

Die Holls sahen sich traurig in die Augen. „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn du …“, setzte er an.

„… das habe ich mich vorhin auch schon gefragt. Man weiß nie, was im Leben kommt, aber der Vormittag heute war wunderschön, und wir haben allen Grund, dankbar zu sein, dass wir uns gefunden haben und zusammen sein dürfen. Vieles hält man für selbstverständlich, bis man einem Mann wie Martin Steiger begegnet.“ Sie zögerte kurz. „Ich liebe dich“, fügte sie dann leise an.

Im Alltag sagte man diese magischen drei Worte so gut wie nie, und es war ihr ein Bedürfnis, sie genau in diesem Augenblick zu sagen.

Stefan legte seine Hand auf ihre. „Und ich liebe dich.“

***

„Dein Anfang ist richtig, aber bei der zweiten Ableitung hast du dich vertan. Die Formel ist falsch, und deshalb kommst du irgendwann nicht weiter“, erklärte Lisa Maran ihrem Mitschüler Timo Kübler geduldig und zeigte ihm, wie er die Aufgabe, die sie zu Hause hatten lösen sollen, richtig zu Ende führen konnte. „Siehst du! Das ist im Grunde ganz einfach“, meinte sie, als die Rechenaufgabe korrekt gelöst in seinem Heft stand.

„Ja, bei dir sieht es so einfach aus, und ich habe sogar das Gefühl, es verstanden zu haben und es beim nächsten Mal auch alleine richtig zu machen. Irre, wie toll du erklären kannst. Bei dir begreife ich immer, was der alte Steiger meint. Er sollte bei dir in die Schule gehen. Du bist spitze, Lisa!“, lobte Timo und schenkte ihr sein charmantes Timo-Lächeln, das unter den Mädchen an der Schule legendär war.

Es gab keine Abiturientin, die nicht davon träumte, einmal von Timo eingeladen zu werden. Wer es schaffte, einen Abend mit ihm zu verbringen, brüstete sich in den Pausen damit und gehörte quasi über Nacht zur weiblichen Elite des Gymnasiums.

Lisa spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Sie hasste sich dafür. Musste sie sich in der Nähe von Jungs immer wie eine unreife Göre benehmen und derart unsicher sein? Kein Wunder, dass sie in ihrem Jahrgang als Streberin und Außenseiterin verrufen war!

Ihre Mitschüler kamen nur zu ihr, um etwas von ihr abzuschreiben oder sich etwas erklären zu lassen. Zum Helfen und Erklären war sie recht, und meist gab es dafür nicht einmal ein Dankeschön. Es war zur Selbstverständlichkeit geworden, dass Lisa sich die Zeit dafür nahm. Sie tat es gerne.

Zu Partys oder gemeinsamen Unternehmungen wurde sie dennoch nie eingeladen. Ihre Isoliertheit an der Schule war nicht schön für Lisa, und sie hatte sich immer eine beste Freundin gewünscht, mit der sie hätte vertraulich reden können, um sich nicht mehr so einsam zu fühlen. Bei aller Traurigkeit war sie doch auch erleichtert, nicht eingeladen zu werden. Sie hätte ohnehin absagen müssen. Ihre Eltern hätten ihr nie erlaubt, ihre Zeit mit Müßiggang zu vergeuden, wie sie das nannten.

„Du bist jung, um etwas zu lernen, damit du es im Leben zu etwas bringst. Lass die anderen ruhig Feste feiern und ihr bisschen Gehirn mit Alkohol und Drogen vertun! Dann sind sie später schon keine ernstzunehmende Konkurrenz. Du wirst sie alle ausstechen. Du bist anders und wirst Erfolg haben und etwas aus deinem Leben machen“, sagte ihr Vater immer, und es klang weniger nach einer liebevollen Prophezeiung als nach einem Befehl.

Lisa wusste, wie stolz ihre Mutter und er auf ihren Notendurchschnitt von 1,0 waren. Die beiden erzählten es überall herum und prahlten mit ihrer klugen Tochter. Ihr war das peinlich, aber sie schwieg dazu. Ihre Eltern brauchten das.

Brachte sie einmal keine glatte Eins bei einer Klausur nach Hause, hing der Haussegen schief, und sie musste sich anhören, wie schnell man in dieser Zeit seine Chance verspielt hatte und dass man selten eine zweite bekam.

„Du wirst doch nicht nachlassen, Lisa? Streng dich gefälligst an! Ich möchte keine gewöhnliche Versagerin zur Tochter haben.“

Bestleitungen zu bringen, war für Lisa zur Pflicht geworden. Da sie hochintelligent war und ihr das Lernen leichtfiel, gelang es ihr in der Regel, aber der Druck war enorm. Seit der fünften Klasse litt sie unter Migräne und verbrachte fast jedes Wochenende einen, oft zwei Tage mit mörderischen Kopfschmerzen und Übelkeit im Bett.

Selbst dann erwartete ihr Vater, dass sie lernte, wenn es ihr möglich war. Krankheit war keine Entschuldigung für Nachlässigkeit und Faulheit. Lisa war es nicht anders gewohnt. Wenn man Liebe wollte, musste man dafür Leistung bringen. Umsonst gab es den Tod – auch das war einer der Lieblingssprüche ihres Vaters.

„Hast du am Samstagabend schon etwas vor?“, fragte Timo, als er sein Mathematikheft wieder zugeschlagen hatte. „Wir könnten doch zusammen losziehen und schauen, was so passiert. Hast du Lust?“

Lisa verschlug es den Atem. Fassungslos starrte sie ihn an. „Mit mir?“, fragte sie stotternd.

Er lachte selbstbewusst. „Hab ich dich gerade gefragt oder nicht? Aber wenn du keine Lust hast, dann …“

„Nein! Nein! Ich meine, doch! Ich habe große Lust!“, stimmte Lisa aufgeregt zu, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, was ihre Eltern dazu sagen mochten. Sie wollte so gerne einmal sein wie die anderen. Sie wollte einmal nicht nur die Streberin sein, zu der man nur freundlich war, wenn man etwas von ihr wollte.

Timo hatte sie eingeladen. Er wollte mit ihr ausgehen und Spaß haben. Ihr Herz schlug Purzelbäume vor Aufregung und Freude. Wenn die anderen Mädchen davon erfuhren, würden sie sie beneiden. Mehr als das – von da an würde sie zu Partys eingeladen werden und dazugehören. Mit seiner Einladung gab er ihr die Gelegenheit, sich endlich zu integrieren. Das wünschte sie sich von ganzem Herzen.

„Gut, dann treffen wir uns am Samstag um zweiundzwanzig Uhr beim Eulenspiegel in der Fußgängerzone. Ich freue mich schon darauf.“ Timo versprühte noch einmal eine Überdosis seines Testosteron-Charmes, bevor er an seinen Platz ging, weil Martin Steiger das Zimmer betrat.

***

Die Sommerferien waren seit einer Woche um, und an der Schule kehrte allmählich Alltag ein. Martin Steiger hatte immer gerne unterrichtet, und er tat es noch, auch wenn es ihn inzwischen sehr anstrengte, sich für die Dauer eines Schultages zu konzentrieren. Manchmal wusste er nicht, wie er vor Müdigkeit noch die Augen offen halten sollte. Er hatte seine Hoffnungen auf die Sommerferien gesetzt und war davon ausgegangen, dass es ihm nach den Ferien wieder etwas leichter fallen würde, aber dem war nicht so.

Er trug es mit Gelassenheit. Müdigkeit und Schwäche schreckten ihn nicht. Ohne Emma hatte das Leben keinen Sinn, und sollte er ihr bald folgen dürfen, würde er dankbar sein.

Für Martin war es schon anstrengend, wenn er mit den Unterrichtsmaterialen die wenigen Schritte zu den Klassenzimmern ging. Er kam außer Atem an und musste vor der Tür verschnaufen, damit die Löwenrudel, die ihn dahinter erwarteten, nichts von seiner Schwäche mitbekamen. Schüler waren an diesem Punkt berechenbar. Sie hackten gnadenlos auf den Lehrern herum, die geschwächt waren. Das Motto lautete: Alles, nur nichts anmerken lassen! Normalerweise war Martin darin Profi.

Emma hatte ihn darum bewundert. Sie war als Mensch und als Lehrerin viel weicher gewesen als er und hatte sich deshalb mehr mit aufmüpfigen und frechen Schülern herumärgern müssen. Dabei hatte sie sich für jeden ihrer Schüler bedingungslos eingesetzt. Martin musste lächeln, als er an sie dachte. Die Frechsten waren ihr meist die Liebsten gewesen, und irgendwie hatte sie früher oder später jeden gebändigt.

Mit Mühe konzentrierte sich Martin Steiger auf seinen Leistungskurs Mathe und blickte in die jungen Gesichter, die gelangweilt und unmotiviert seinem Unterricht entgegensahen. Die einzige Ausnahme war Lisa Maran. Anfangs war sich Martin nicht sicher gewesen, ob es gut war, wenn Lisa seinen Leistungskurs besuchte. Er wohnte in einem Reihenmittelhaus in einer der Randsiedlungen Münchens. Lisa und ihre Eltern wohnten in dem Eckhaus daneben, und die Gärten grenzten aneinander.

Emma und Lisa hatten einen innigen Draht zueinander gehabt, und das Mädchen war oft bei ihnen gewesen und hatte Stunden an Emmas Bett gesessen und ihr vorgelesen in ihrer Krankheitszeit. Lisas Eltern hatten es geduldet, weil sie davon ausgegangen waren, dass Emma Lisa schulisch förderte. Sicher hatte sie dies auch auf die eine oder andere Weise getan, aber das war Nebensache gewesen.

Für Martin war es schlimm, mit anzusehen, wie streng Lisas Eltern waren und dass sie ihrer Tochter nicht erlaubten, jung zu sein. Man konnte nie wissen, wie viel Zeit einem Menschen vergönnt war. Emma hatte mit einunddreißig Jahren sterben müssen. Es gab keine Zeit, die man verschenken durfte, und Martins Ansicht nach stahlen die Marans Lisa ihre Jugend. Er hütete sich, etwas Dementsprechendes ihnen gegenüber zu äußern. Kurt und Jutta Maran waren unbelehrbar.

Inzwischen war Martin froh, Lisa im Kurs zu haben. Sie war die Einzige, für die Mathematik kein böhmisches Dorf war und die sich für die Schönheit eines mathematischen Lösungsweges begeistern konnte.

An diesem Tag aber merkte der Lehrer, dass auch Lisa mit den Gedanken nicht beim Unterricht war. Sie wirkte irgendwie verwirrt, aber auf eine schöne, lebendige Weise. In ihren Augen lag ein ungewohnter Glanz. Ganz ließ sich die Jugend zum Glück doch nicht austreiben.

Martin schmunzelte in sich hinein. Er wollte Kasimir heißen, wenn das junge Mädchen nicht dabei war, sich zu verlieben. So sollte es sein. Der Lehrer freute sich für seine Schülerin und wünschte ihr eine erfüllende, schöne erste Liebe.

***

Lisa rang lange mit sich, ob sie ihren Eltern von ihrer Verabredung mit Timo am Samstag erzählen sollte. Mit achtzehn Jahren war sie schließlich fast erwachsen und hatte das Recht, einen Abend fortzugehen und etwas mit Gleichaltrigen zu unternehmen. Da sie wusste, dass ihre Eltern es ihr rigoros verbieten würden, verschwieg sie es ihnen am Ende.

Wenn alles gut ging, konnte sie sich am Samstagabend fortschleichen, und am Sonntagmorgen würde sie brav in ihrem Bett liegen. Das Mädchen wollte jeden Streit vermeiden und seine Eltern nicht enttäuschen. Die Verabredung war ihm wichtig, und es wäre trotz eines Verbotes gegangen. Heimlichkeiten waren nichts Schönes, aber manchmal ging es eben nicht anders.

„Mein Kopf explodiert“, stöhnte Lisa am Samstag gegen einundzwanzig Uhr und rieb sich wie so oft die Schläfen. „Ich glaube, ich gehe ins Bett, damit ich morgen früh vielleicht wieder fit bin. Schlaft gut!“

„Du auch und gute Besserung, Schatz!“, wünschte ihr ihre Mutter liebevoll, und Lisas Gewissen war rabenschwarz, aber es schien ihr für alle Beteiligten das Beste so. Normalerweise sahen ihre Eltern nicht in ihr Zimmer, wenn sie sich mit Migräne zurückgezogen hatte, weil sie wussten, dass jedes Geräusch und Helligkeit ihr Schmerz bereiteten.

Lisas Zimmer lag im Erdgeschoss und hatte eine Terrassentür nach hinten zum Garten zu. Lautlos schlich sich das Mädchen kurz nach halb zehn hinaus, nahm sein Fahrrad, das es umsichtig am Zaun bereitgestellt hatte, und radelte in die Stadt. Lisa hatte so etwas noch nie getan, und der Reiz des Verbotenen war Teil des Abenteuers.

Ob Timo es ernst gemeint hatte und tatsächlich am Eulenspiegel auf sie wartete? Sie wünschte es sich, glaubte es aber nicht. Falls er nicht da wäre, wollte sie zurück nach Hause radeln und ihn nicht darauf ansprechen, dass er sie versetzt hatte. Er sollte nicht erfahren, ob sie nun da gewesen war oder nicht. Den Triumph, die fade Streberin einmal ordentlich an der Nase herumgeführt zu haben, wollte sie ihm nicht gönnen.

Timo stand an der Tür des Nachtclubs, als Lisa angeradelt kam, und winkte ihr fröhlich.

„Ich dachte schon, du kneifst und kommst nicht“, begrüßte er sie, dann legte er mit der größten Selbstverständlichkeit den Arm um ihre Schultern und führte sie in den Club ein.

Für Lisa war es eine spannende Erfahrung, und sie sog alles gierig auf. Die Musik war laut und hämmernd, und man konnte sein eigenes Wort nicht verstehen. Trotz der späten Stunde war der Club brechend voll, und auf der Tanzfläche klebte ein zuckender Leib am anderen. Es war ihr ein Rätsel, wo all die Gäste noch unterkamen, die unentwegt zur Tür hereinströmten.

„Darf ich dir etwas zu trinken spendieren?“, fragte Timo, der schon den teuren Eintritt übernommen hatte.

„Soll das nicht lieber ich bezahlen?“, bot Lisa an, die ihn nicht unnötig schröpfen wollte. Sie hatte extra hundert Euro von ihrem Studienkonto abgehoben, auf das seit ihrer Kindheit jeder Cent einbezahlt wurde, den sie zu Weihnachten oder zum Geburtstag bekam. Ihre Eltern waren nicht reich, und das Geld sollte ihr später helfen, ihr Studium zu finanzieren.

„Quatsch! Ich zahle!“, bestimmte Timo. „Was hättest du gern?“

„Eine Cola.“ Lisa wollte sich lieber nicht ausmalen, was eine Cola in diesem Club kosten mochte. Sie war fest entschlossen, sich für den Rest des Abends daran festzuhalten.

Timo drängte sich durch die Menge an die Bar und kehrte mit einem großen Glas Cola zurück. Lisa hatte Durst und setzte vertrauensvoll an. Nach dem ersten Schluck hustete sie würgend.

Er lachte. „Sorry! Ich hätte dich warnen sollen. Da ist ein Schuss Weinbrand drin. Ich hoffe, das ist okay. So schmeckt es besser.“ Er prostete ihr zu.

Lisa trank eigentlich keinen Alkohol, aber sie wollte nicht gleich zu Beginn aus der Rolle fallen und nahm tapfer einen weiteren Schluck. So schlecht schmeckte es gar nicht, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte.

Mitschüler stießen zu ihnen, und Timo stand wie immer im Mittelpunkt.

Lisa fühlte sich unscheinbar und grau an seiner Seite, aber wenn sie sich etwas zurückziehen wollte, legte er jedes Mal besitzergreifend den Arm um sie. Sie konnte sehen, wie verwundert die Jungs waren und dass die Mädchen vor Neid kochten. Es tat gut, und so ließ sie es geschehen.

Bevor sie den Club kurz nach Mitternacht verließen, brachte Timo ihr ein weiteres Glas Cola mit Weinbrand. Sie spürte schon jetzt, wie der Alkohol ihr Gehirn vernebelte und alles irgendwie irreal erscheinen ließ. War sie wirklich mit Timo in diesem Club, oder war sie mit Migräne ins Bett gegangen und hatte einen dieser eigentümlichen Träume?

Sie hätte es nicht sagen können. Der Alkohol enthemmte sie, und auf der Tanzfläche ließ sie den ganzen Druck einmal heraus und tanzte mit wilder Leidenschaft. Die Blicke der anderen bemerkte sie nicht.

„Hey, wenn du mit der Streberin fertig bist, kannst du sie gerne an mich weiterreichen“, raunte ein Mitschüler Timo zu. „Wenn sie im Bett so gut ist wie auf der Tanzfläche, lasse ich mir das gefallen.“

Timo grinste breit. „Näheres kann ich dir am Montag sagen“, rief er zurück. „Du bist der Erste auf der Liste – nach mir.“

„Hier wird es langweilig“, sagte er wenig später zu Lisa, als sie verschwitzt und sichtlich angetrunken von der Tanzfläche zurückkam. „Lass uns zum nächsten Club weiterziehen!“

Lisa ließ sich von ihm vor die Tür ziehen, und als sie die frische, kühle Nachtluft atmete, klärte sich für einen Moment ihr Geist.

„Ich sollte nach Hause fahren“, nuschelte sie mit schwerer Zunge und musste selbst darüber kichern. Sie war noch nie betrunken gewesen. „Es ist schon spät.“

„Die Nacht fängt doch erst an“, widersprach Timo, dann zog er sie wortlos an sich und gab ihr einen Kuss.

Einen Kuss hatte Lisa auch noch nie bekommen, und die Hormone brausten ungestüm durch ihr Blut und schalteten den Verstand aus. Sie drängte sich an ihn. Lachend schob er sie etwas auf Abstand.

„Nicht hier. Ich habe das Auto im Parkhaus.“

„Aber ich bin mit dem Rad hier“, lallte Lisa, und etwas in ihr wollte fliehen.

„Das holen wir später. Hinterher.“ Timo zog sie wieder an sich, drückte sie gegen die Hauswand und begann, sie zu streicheln.

„Hinter was?“, wollte sie wissen, als er sich etwas von ihr löste. „Ich will nicht … Ich meine, ich habe noch nie und … und …“ Wenn sie nur in der Lage gewesen wäre, einen klaren Gedanken zu fassen! „Ich will lieber heimfahren“, kämpfte sie gegen das Chaos an, das durch ihr Blut tobte. Sie war doch gar nicht in Timo verliebt, oder?

Hielt sie ihn nicht heimlich für einen Angeber, der an der Schule den Ton angab, nur, weil er ein teures Auto von seinen Eltern geschenkt bekommen hatte und gut aussah? Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie ihn wirklich mochte, aber es fiel ihr beim besten Willen nicht mehr ein. Sex wollte sie aber unter keinen Umständen mit ihm haben.

Nein, beim ersten Mal sollte es ein Junge sein, bei dem sie sicher war, dass sie ihn auch noch mochte, wenn sie wieder nüchtern war.

„Kein Sex!“, rang sie ihrer schweren Zunge eine klare Ablehnung ab.

„Spielverderberin!“, flüsterte Timo ihr ins Ohr, während seine Hand ihre Brust massierte. „Du weißt nicht, was dir entgeht.“

„Ich will heim!“ Lisa versuchte, sich von ihm zu befreien, und wollte zu ihrem Rad gehen, aber als er sie in der Tat abrupt losließ, torkelte sie und griff dankbar nach seiner Hand, die er ihr lachend reichte.

„Mit dem Fahrrad kommst du in dem Zustand nicht weit. Eigentlich wollte ich noch in einen anderen Club mit dir, aber ich bringe dich heim“, versprach Timo, und Lisa ließ sich von ihm in die Tiefgarage des Clubs führen.

Hinterher konnte sie kaum sagen, was dann geschah. Plötzlich schienen seine Hände und seine Lippen überall zu sein, und was er ihr zuraunte, klang unbeschreiblich schön. Sie wollte sich wehren, aber sie schaffte es nicht, die Leidenschaft zu kontrollieren, die er in ihr weckte.

Irgendwann lag sie nackt auf dem Rücksitz seines Wagens, und noch immer wehrte sich etwas in ihr.

„Nicht!“, bat sie. „Nicht so! Bitte!“

„Vertrau mir! Ich werde dir nicht wehtun. Ich habe schon viele entjungfert und weiß, wie man das macht“, beruhigte er sie. „Du kannst doch nicht ewig Jungfrau bleiben. Die anderen Mädchen wissen alle schon, wie das geht. Lass mich nur machen! Es wird dir gefallen. Bisher hat es jeder gefallen.“

Etwas in Lisa wusste, dass all das schrecklich falsch war und dass er ihr etwas antat, aber sie ließ es geschehen und gab sich seinen Liebkosungen hin. Als sie wie durch einen Vorhang mitbekam, dass er mit seinem Handy Aufnahmen machte, war es längst zu spät.

Auf der Fahrt zum Haus ihrer Eltern sprachen Timo und Lisa kein Wort miteinander. Lisa hatte hämmernde Kopfschmerzen, und ihr war übel, aber der Rauschzustand war verflogen. Sie schämte sich in Grund und Boden. Das hätte nie passieren dürfen!

Trotzdem machte sie Timo keinen Vorwurf. Er hatte sie nicht gezwungen, Alkohol zu trinken, und es war auch keine Vergewaltigung gewesen. Sie verabscheute sich selbst für das, was sie zugelassen hatte, und ihr war klar, dass es keine zweite Verabredung geben würde. Timo hatte bekommen, was er wollte. Das machte es noch schlimmer.

Lisa stieg aus, ohne sich von Timo zu verabschieden, rannte ins Badezimmer, übergab sich und stellte sich lange unter die Dusche. Es half nicht. Das Gefühl, beschmutzt zu sein, blieb. Sie hatte einen entsetzlichen Fehler gemacht, und Ekel und Angst hielten sie den Rest der Nacht wach.

***

Als Lisa am Montagmorgen den Kursraum betrat, hatte Timo die Fotos und den kurzen Film, den er von seiner Eroberung im Parkhaus gedreht hatte, längst anonym ins Internet gestellt. Alle im Raum hatten es bereits gesehen. Die Mädchen kicherten hämisch. Die Jungs zogen Lisa mit den Augen aus.

„Du bist auch nichts Besseres“, spottete eine Mitschülerin bösartig, kurz bevor Martin Steiger den Raum betrat. „Lisa in Aktion im Internet. Beeindruckend.“ Sie hielt Lisa ihr Handy unter die Nase und zeigte ihr, was Timo aufgenommen hatte.

Lisa sackte auf ihrem Stuhl zusammen und hatte das Gefühl, in einen endlosen Abgrund zu stürzen. Das Grauen presste ihr die Kehle zusammen, ansonsten hätte sie in ihrer Not geschrien. Warum tat er ihr das an? Warum taten sie alle ihr das an? Was hatte sie getan, um diesen Hass und diese Bösartigkeit zu verdienen? Sie klammerte sich mit den Händen an der Tischplatte fest und biss die Zähne zusammen.

Als der Lehrer seinen Kurs begrüßte und dabei Lisa sah, erschrak er zutiefst. Sie war kalkweiß, ihre Augen schienen geradezu vor Schmerz zu glühen, und ihre verkrampfte Haltung ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie litt. „Lisa, geht es dir nicht gut? Möchtest du ins Sanitätszimmer?“, fragte er besorgt.

Sie sah ihn blicklos an, als würde sie ihn nicht erkennen, dann nickte sie mechanisch und hievte sich hoch. Taumelnd ging sie auf die Tür zu und machte den Eindruck, kaum bei sich zu sein. In diesem Zustand konnte der Lehrer sie unmöglich alleine aus dem Zimmer gehen lassen.

„Marion, könntest du Lisa ins Sanitätszimmer bringen!“, bat er eine Schülerin, die eine Reihe vor Lisa saß.

„Ich möchte Ihren Unterricht nicht verpassen. Die schafft das auch alleine“, kam es kalt zurück.

„Das darf doch nicht wahr sein!“, donnerte Martin Steiger empört. „Das wäre das erste Mal, dass du dich für meinen Unterricht interessierst. Du begleitest Lisa augenblicklich und sorgst dafür, dass sie gut im Sanitätszimmer ankommt!“ Der Egoismus einiger der jungen Leute brachte Martin jedes Mal auf die Palme.

Marion errötete und folgte Lisa widerstrebend hinaus. Im Moment war es nicht günstig, als jemand zu gelten, der auf Lisas Seite stand. Ein wenig verärgert, in etwas hineingezogen zu werden, was sie nichts anging, kam Marion schweigend ihrer Pflicht nach.

„Ich möchte nicht ins Sanitätszimmer. Du kannst gleich zurückgehen“, sagte Lisa müde, die durchaus verstand, dass Herr Steiger Marion mit seiner Bitte in eine unangenehme Lage gebracht hatte.

„Ich bleibe bei dir. Wo willst du hin?“ Marion war kein Unmensch, und Lisa brauchte wirklich jemanden, der auf sie aufpasste. „Ich hab nichts gegen dich. Ehrlich“, fügte sie verlegen an. Irgendwie tat Lisa ihr leid, aber sie war auch sauer auf sie. Wie konnte man nur so dumm sein und auf so einen Trick hereinfallen! Marion war im Club gewesen und hatte alles mitbekommen.

„Timo ist ein Schwein, Lisa. Du bist nicht die Erste, die er derart vorführt. Die anderen haben das bald vergessen und zerreißen sich über jemand anders die Mäuler. Einer muss immer dafür herhalten. So ist das halt. Mach dir nichts daraus! Es ist halb so schlimm“, tröstete sie hilflos. Lisas Verzweiflung berührte sie.

Unendlich traurig sah Lisa sie an. „Ich war so schrecklich naiv“, gestand sie und kämpfte mit den Tränen.

„Das passiert. Timo kann verdammt nett sein, wenn er sich nicht gerade wie ein Volltrottel benimmt. Er muss immer der Star sein, und dafür ist ihm jedes Mittel recht. War es wirklich dein erstes Mal?“, wollte Marion wissen.

Lisa errötete und nickte.

Marion nahm sie spontan in den Arm. „Vergiss es einfach! Der Idiot ist es nicht wert, dass du ihm eine Träne nachweinst.“

„Er ist mir egal, aber es ist im Netz. Jeder kann es sehen. Wenn meine Eltern das mitbekommen, dann …“ Tränen rannen über Lisas Wangen, und mit dem Rest an Selbstbeherrschung, die sie gewahrt hatte, war es vorbei.

Marion rang kurz mit sich, dann traf sie eine Entscheidung. Lisa war eine Außenseiterin, aber sie war immer hilfsbereit und nett zu ihr gewesen, und jetzt brauchte sie zur Abwechslung einmal die Hilfe von ihr und den anderen Mädchen. Timo hatte den Bogen überspannt und konnte einen Dämpfer vertragen. „Ich sorge dafür, dass Timo es sofort aus dem Netz nimmt!“, versprach sie.

„Kannst du das denn?“ Ungläubig sah Lisa sie an.

Marion lächelte grimmig. „Einige von uns haben Aufnahmen, die der gute Timo nicht gerne im Netz sehen würde. Mach dir keinen Kopf. Spätestens nach der großen Pause hat er es rausgenommen.“

„Danke!“ Lisa glaubte es nicht recht, fühlte sich aber etwas leichter. Es hatte allein schon gut getan, mit Marion reden zu können. Sie merkte, wie ausgehungert sie nach einer Art von Freundschaft war, die sie nie erfahren hatte.

Marion kehrte ins Klassenzimmer zurück und schaffte es noch während des Unterrichtes, die Mädchen gegen Timo aufzubringen. Er bekam ein paar Mails mit Anhängen auf sein Handy und wurde sichtlich kleiner und kleiner. An diesem Morgen gab es keinen einzigen im Leistungskurs Mathematik, der sonderlich auf Martin Steiger achtete. Unter den jungen Leuten brodelte es, und die Mädchen gewannen. Lisa war noch nicht im Zimmer zurück, als Timo schon gelobte, Bilder und Film in der Pause herauszunehmen und sich bei Lisa zu entschuldigen.

Ihm war nicht klar gewesen, wie viel die Mädchen gegen ihn in der Hand hatten. Was sie ihm so gemailt hatten, wollte er gewiss nicht im Internet sehen. Er war zornig auf Lisa. Die graue Maus verursachte Ärger. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Seiner Einschätzung nach hatte er sich doch nur einen kleinen Spaß mit ihr erlaubt. Warum reagierten die Mädchen derart über?

Lisa hatte sich ins Mädchenklo geflüchtet, sich würgend übergeben und dann bitterlich geweint.

Kurz vor Ende der Doppelstunde kehrte sie in den Unterricht zurück und merkte sofort, dass die Stimmung umgeschlagen war. Die Mädchen lächelten sie aufmunternd an und nickten ihr zu.

Was immer Marion unternommen hatte, es schien zu wirken. Auf ihrem Platz wartete ein kleines gefaltetes Brieflein von ihrer Mitschülerin. „ Alles wieder gut. Kein Grund mehr zur Sorge.“

Lisa las es mit ausdrucksloser Miene. Sie war dankbar, aber nichts war gut, und nach dem Samstagabend konnte sie sich auch nicht vorstellen, dass es je wieder gut wurde.

Ruhig nahm sie am Unterricht teil und ignorierte ihre Mitschüler konsequent. Marion hatte für sie das Ruder herumgerissen, und nun richtete sich die Gruppenhäme gegen Timo, aber das konnte jederzeit wieder umschlagen. In dieser Hinsicht traute Lisa nicht einmal Marion.

Sie waren keine Freundinnen. Freundschaft war eine Illusion. Ihr Vater hatte recht. Leistung war das Einzige, was zählte.

„Lisa kannst du kurz ans Pult kommen!“, bat Martin Steiger das Mädchen zu sich, als der Unterricht vorbei war. „Geht es dir besser? Ich habe eine Freistunde und kann dich nach Hause bringen, wenn du möchtest“, bot er an.

„Nein, danke! Mir geht es gut, Herr Steiger“, lehnte Lisa ab.

So elend ihr war, fühlte sie sich momentan an der Schule noch immer wohler als bei ihren Eltern. Sie hatte das Gefühl, die beiden betrogen zu haben. Nun war sie nicht mehr die perfekte Tochter, die ihre Eltern haben wollten. Sie hatte versagt, und Versagen war unverzeihlich.

Martin spürte, dass etwas nicht stimmte.

„Lisa, wenn du mich brauchst, kannst du jederzeit kommen“, sagte er eindringlich. „Auch wenn du jemanden zum Reden brauchst. Ich bin für dich da.“

„Danke! Ich komme klar, Herr Steiger.“ Wie hätte sie ihm erzählen sollen, wie sehr sie sich für das schämte, was geschehen war? Nein, er durfte es so wenig erfahren wie ihre Eltern!

„Ist das nicht deine Starschülerin?“, wurde Martin im Lehrerzimmer von einem Kollegen begrüßt, der etwas auf dem Bildschirm seines Notebooks verfolgte und anscheinend noch andere Lehrer herbeigerufen hatte. Er schien sich prächtig über etwas zu amüsieren.

Martin warf einen Blick auf den Bildschirm, und ihm gefror das Blut in den Adern vor Entsetzen. Jetzt begriff er, was mit Lisa los gewesen war. Mitgefühl und Sorge um das Mädchen erfüllten ihn. Ohne erst lange zu erklären, klappte er den Bildschirm zu. „Was soll denn das?“, schimpfte sein Kollege entrüstet.

„Siegfried, es ist schlimm genug, was die jungen Leute sich damit antun. Zeige es nicht auch noch im Lehrerzimmer herum!“, bat Martin mühsam beherrscht und hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige gegeben.

„Was denkst du eigentlich von mir! Ich sehe mir so etwas doch nicht zum persönlichen Vergnügen an. Ich …“, rechtfertigte sich sein Kollege mit geröteten Wangen, fuhr aber zugleich den Computer herunter, um zu signalisieren, dass er Martins Bitte nachkam.

Martin verließ das Lehrerzimmer gleich wieder, um Lisa aus dem Deutschunterricht zu holen, der vor ein paar Minuten begonnen hatte. Er musste mit ihr reden. Das Mädchen brauchte auf der Stelle Hilfe. Hoffentlich konnte er Lisa davon überzeugen, ihm zu vertrauen und ihm zu sagen, wer ihr das angetan hatte.

Schon nach ein paar Schritten musste er stehen bleiben und japste keuchend nach Luft. Seine Lunge fühlte sich an, als wäre sie aus Marmor.

„Jetzt nicht!“, schrie es in ihm, als ihm schwindlig wurde und sein Herz zu rasen und gegen den Brustkorb zu hämmern begann. „Jetzt nicht!“

Die Beschwörungen halfen nicht. Er machte noch ein paar Schritte, dann musste er sich gegen die Wand des Flures lehnen und bekam endgültig keine Luft mehr.

Verbissen kämpfte er gegen die aufsteigende Panik an. War das der Tod? Vermutlich. Wie sehr hatte er sich in den vergangenen zwei Jahren gewünscht, zu Emma gehen zu dürfen. Nun flehte er um eine kurze Verlängerung, damit er Lisa helfen konnte.

Anscheinend war im Himmel gerade niemand auf Empfang.

„Hilfe!“, stieß er noch hervor, bevor er bewusstlos in sich zusammensackte.

„Herr Steiger?“ Ein Neuntklässler, der zu spät zum Unterricht kam, sah, wie der Lehrer zusammenbrach. Er rannte ins Lehrerzimmer, um Hilfe zu holen.

Martin Steiger wurde mit Blaulicht und Sirene in die Notaufnahme der Berling-Klinik gebracht. Es bestand der starke Verdacht auf einen Herzinfarkt, und das Leben des Lehrers hing an einem seidenen Faden.

***

Dr. Stefan Holl war zufällig in der Notaufnahme, als Martin Steiger eingeliefert wurde. Der Lehrer war noch immer ohne Bewusstsein, und seine Lebenszeichen waren schwach.

„Ich kenne den Patienten und übernehme“, rief der Arzt und rannte neben der Liege her in eine der Notfallkabinen.

Er hatte die Begegnung im Straßencafé nicht vergessen und sogar überlegt, Martin Steiger von sich aus anzurufen, um ihn zu einem Besuch an der Klinik zu überreden. Den Gedanken hatte er verworfen. Der Patient musste freiwillig kommen und Heilung suchen, ansonsten war der beste Arzt chancenlos. Lebensbereitschaft und Lebensfreude waren eine Medizin, die sich durch nichts ersetzen ließ.

Der Notarzt, der Martin Steiger im Krankenwagen notversorgt hatte, war ratlos.

„Alles spricht für einen schweren Herzinfarkt, aber das EKG ist unauffällig. Das Herz ist schwach und schlägt unregelmäßig, doch es liegt, soweit ich sehen konnte, kein Infarkt vor“, informierte er bei der Übergabe. „Der Fall interessiert mich. Noch ein paar Tage länger und der Mann wäre vermutlich an einem Herzinfarkt gestorben. Keiner hätte bemerkt, dass die Ursache eine andere sein muss. Würden Sie mich auf dem Laufenden halten? Glauben Sie, es könnte sich um eine Herzinsuffizienz handeln, unter Umständen eine über einen langen Zeitraum nicht diagnostizierte Entzündung des Herzmuskels?“

„Es wäre ein untypischer Verlauf, aber momentan halte ich alles für möglich. Wenn wir die Blutwerte haben und die ersten Untersuchungsergebnisse vorliegen, sehen wir hoffentlich weiter. Ich rufe Sie an“, versprach Dr. Holl.

„Wo bin ich?“, murmelte Martin Steiger, als er wenig später in der Kabine zu sich kam. Die Medikamente schlugen an, und sein Zustand stabilisierte sich.

Dr. Holl zog sich einen Hocker an seine Liege und lächelte ihn an.

„Sie sind doch noch bei mir in der Berling-Klinik gelandet, wenn auch nicht ganz freiwillig. Die flotte Fahrt durch die Stadt hätten Sie sich ersparen können, wenn Sie wie verabredet zur Untersuchung gekommen wären.“

„Was ist passiert?“ Martin versuchte, den Morgen Revue passieren zu lassen. Er war zur Schule gefahren und hatte unterrichtet und dann …

Lisa fiel ihm ein, aber er war einfach zu müde, um den Gedanken weiterzuverfolgen. Etwas mit dem Mädchen war nicht in Ordnung, und er hatte helfen wollen, aber an mehr erinnerte er sich nicht. Was es auch war, dafür waren nun andere zuständig.

„Sie sind in der Schule bewusstlos zusammengebrochen und wurden mit dem Krankenwagen gebracht“, erzählte ihm der Arzt.

„Jetzt dürfen Sie mich doch noch gründlich auf den Kopf stellen“, schaffte es Martin, einen kleinen Scherz zu machen. „Aber lassen Sie mich bitte bald wieder nach Hause! Wir haben Lehrermangel, und ich bilde mir zumindest ein, gebraucht zu werden.“

Zwischen jedem Wort rang Martin schwer nach Atem. Das Sprechen strengte ihn an, und er rechnete nicht damit, jemals wieder nach Hause zu kommen. Er spürte die Nähe des Todes und begrüßte ihn ohne Furcht und mit Dankbarkeit.

„Sobald es Ihnen wieder gutgeht, können wir darüber reden, aber das wird nicht morgen oder übermorgen sein. Ruhen Sie sich erst einmal bei uns aus und tanken Sie Kraft, dann läuft es wieder rund.“

Dr. Holl fürchtete, dass es eine geraume Weile dauern würde, bis der Lehrer wieder vor einer Klasse stand – falls überhaupt.

„Wir müssen einige Untersuchungen machen. Sie werden Geduld brauchen“, mahnte er sanft, um Steiger darauf vorzubereiten, dass sein Zustand ernst war.

„Auf mich wartet niemand zu Hause. Toben Sie sich an mir aus!“

Müde schloss Martin die Augen. Er wollte nur schlafen und hinübertauchen in die große Dunkelheit, die ihn schon sachte umfangen hielt. Es war die Aufgabe des Arztes, alles zu tun, um ihn am Leben zu erhalten, aber Martin glaubte nicht, dass es ihm gelingen würde.

Dr. Holls Untersuchungen bestätigten die Ergebnisse des Notarztes. Steigers Herz war extrem geschwächt und kam seiner Funktion nur noch notdürftig nach, ohne dass das EKG einen Grund für die Schwächung zeigte. Als die Blutwerte des Patienten aus dem Labor zurückkamen, traute der Arzt kaum seinen Augen.

„Um Himmels willen!“, murmelte er fassungslos vor sich hin. „Wie konnten Sie damit Ihren Alltag bewältigen und Ihrer Arbeit nachgehen?“

Der Sauerstoffgehalt in Martin Steigers Blut lag bei gerade einmal einundfünfzig Prozent, wobei die Entzündungswerte unauffällig waren. Es handelte sich eindeutig um keine Herzinsuffizienz.

Die Symptomatik war verwirrend. Eigentlich hätte Steiger bei dieser Sauerstoffsättigung nur noch passiv im Bett liegen müssen. Daher kamen die blauen Lippen und all die Symptome, die Dr. Holl sofort ins Auge gefallen waren. Kein Wunder, dass der Patient sich derart geschleppt hatte. Ihn konnte nur die reine Willenskraft auf den Beinen gehalten haben.

„Ist mein Herz verbraucht?“, wollte Martin Steiger wissen und konnte der Vorstellung etwas abgewinnen. Liebeskummer machte ihn krank. War es da nicht passend und geradezu romantisch, wenn sein Herz versagte und ihn tötete.

„Es ist geschwächt, aber die Ursache dafür kennen wir noch nicht. Dafür brauchen wir weitere Untersuchungen und müssen neben dem Herzen auch die Lunge in Augenschein nehmen.“

Dr. Holl ordnete eine Röntgen-Untersuchung der Lunge an und eine Echokardiografie mit indirekter Messung des Pulmonalarteriendrucks.

Es stellte sich heraus, dass Steigers Herzkammern deutlich vergrößert waren. Noch war das Herz einigermaßen funktionsfähig, aber die Ursache der Vergrößerung musste schnell gefunden werden, sonst drohte doch noch ein Infarkt.

Die Ergebnisse der Echokardiografie waren aufschlussreich, und Dr. Holl sprach sie mit dem Patienten durch.

„Sie leiden an Pulmonaler Hypertonie. Das bedeutet, der Gefäßwiderstand und damit der Blutdruck in Ihrem Lungenkreislauf ist stark erhöht, was sich wiederum auf das Herz auswirkt. Es muss quasi permanent Schwerstarbeit leisten, um Ihren Körper zu versorgen. Deshalb ist es vergrößert. Ein Phänomen, das Sie sicher von Leistungssportlern kennen.“

„Bluthochdruck in der Lunge? Das hört sich nicht so spektakulär an. Lässt sich das medikamentös beheben?“ Martin war etwas enttäuscht.

Nahm man gegen Bluthochdruck nicht einfach nur Tabletten ein und konnte uralt damit werden? Seit er im Krankenhaus zu sich gekommen war, jubelte etwas in ihm. Endlich durfte er zu Emma! Endlich war seine Leidenszeit vorbei, und er musste sich nicht mehr jeden Tag derart bemühen, ein redliches Leben zu führen und nicht immerzu nur vom Tod zu träumen. Er hielt es einfach nicht aus, von ihr getrennt zu sein.

„So einfach ist das leider nicht“, erklärte Dr. Holl. „Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Sie sind sehr krank, Herr Steiger.“ Der Arzt wunderte sich, warum sich die Miene des Patienten entspannte, als freute er sich über die Nachricht. „Für heute haben Sie genug über sich ergehen lassen, und der Pfleger bringt Sie gleich nach oben auf die Wachstation. Gerade ist Ihr Zustand relativ stabil, aber Sie müssen unter Beobachtung sein. Morgen machen wir eine Herzkatheter-Untersuchung und messen den genauen Lungendruck, dann sehen wir weiter.“

Martin Steiger wollte sich die Sauerstoffzufuhr aus der Nase ziehen, als der Pfleger den Raum betrat.

Dr. Holl hinderte ihn daran. „Das brauchen Sie. Wir müssen erreichen, dass Ihre Sauerstoffsättigung sich erhöht und konstant auf einem höheren Level bleibt, damit Ihr Gehirn und Ihr ganzer Körper wieder optimal mit Sauerstoff versorgt werden können“, erklärte er. „Ohne Hilfe kann das Ihre Lunge nicht mehr leisten.“

Martin runzelte die Brauen. „Meinen Sie damit, dass ich für den Rest meines Lebens am Sauerstoff hängen werde?“

Der Arzt zögerte. „Das ist möglich, aber lassen Sie uns die Ergebnisse der Untersuchung morgen abwarten. Wir müssen noch herausfinden, wodurch sich der Gefäßwiderstand in Ihrer Lunge derart erhöht hat. Haben wir die Ursache, können wir über mögliche Therapien nachdenken. Ich schaue später noch einmal bei Ihnen vorbei“, versprach der Arzt.

Martin hatte sich das Sterben einfacher vorgestellt und fühlte sich um einen guten Tod betrogen. Warum hatte er nicht an der Schule tot umfallen können? Was sollte diese unangenehme Verzögerung. Gut, ein Tod an der Schule war ziemlich egoistisch. Er wollte schließlich nicht, dass Schüler seinetwegen Albträume hatten. Aber spätestens im Krankenwagen hätte es vorbei sein müssen.

Je mehr sich sein Zustand in den letzten Monaten verschlechtert hatte, desto mehr war er davon ausgegangen, dass er bald und schnell sterben würde.

Nun kamen ihm die ersten Zweifel. Er hatte seinen Tod herbeigesehnt, ohne daran zu denken, dass man dafür zuerst sterben musste. Der Tod war unberechenbar. Stand ihm etwa eine ähnliche Leidenszeit wie Emma damals bevor?

Er hatte Emma drei Jahre lang kämpfen sehen, und ihr Leid in den letzten Monaten war unbeschreiblich gewesen. Manchmal wachte er noch schweißgebadet auf, weil er sie so liegen sah im Traum und ihr nicht helfen konnte. Würde sein Abschied von diesem Leben ähnlich sein? Er hoffte von Herzen, dass er mehr Glück hatte. Der Tod war ihm willkommen, aber das Sterben sollte schnell gehen.

„Das liegt nicht in deiner Hand“, wies er sich zurecht. „Hauptsache, du darfst gehen.“

***

Es war zweiundzwanzig Uhr, und die Kinder waren auf ihren Zimmern, als sich Stefan und Julia Holl wie meist noch auf ein Glas Rotwein in den Garten setzten. Es war eine lieb gewordene Angewohnheit von ihnen, zum Abschluss des Tages ihre Eindrücke und Gedanken auszutauschen und sich wechselseitig an dem teilhaben zu lassen, was sie beschäftigte.

Julia war nicht ganz glücklich mit dem neuen Englischlehrer, den Juju, ihre Jüngste, im Gymnasium bekommen hatte.

Der Lehrer war Ende fünfzig und vom alten Schlag. Er hatte sich bei dem Elternabend am Tage zuvor als besonders streng und unnachgiebig gezeigt und die Eltern ziemlich eingeschüchtert, weil er für keine Argumente aufgeschlossen schien.

Die Holls hatten seither noch keine Gelegenheit gehabt, darüber zu reden. Stefan war zu einem Notfall an die Berlin-Klinik zurückgerufen worden und hatte nicht, wie geplant, an dem Elternabend teilnehmen können. Nun erzählte ihm seine Frau, was er verpasst hatte.

„‚Ich bin nicht dafür da, Ihre Kinder zu bespaßen oder mich als Entertainer zu betätigen. Das ist eine neue Mode an den Schulen, mit der ich nichts anfangen kann. Bei mir kann man viel lernen, wenn man das möchte. Kinder, die das nicht wollen, haben meiner Meinung nach nichts an einem Gymnasium verloren ‘“ , zitierte sie ihn. „Das hat er genau so gesagt und dabei trotzig in die Runde gesehen, als wartete er nur auf Widerspruch, um einmal ordentlich vom Leder zu ziehen. Den Gefallen hat ihm keiner getan.“

„Tja, er scheint weder vom Entertainment noch von Diplomatie viel zu halten“, kommentierte Stefan amüsiert.

„Offensichtlich nicht. Nach zehn Minuten, in denen er uns mehr oder weniger den Lehrplan vorgestellt hat, konnte er gehen. Niemand wagte, ihm auch nur eine Frage zu stellen. Im Gegensatz zu ihm wurden die anderen Lehrer, die sich vorgestellt haben, förmlich mit Fragen bestürmt. Wenn er schon uns Erwachsene derart einschüchtern kann, frage ich mich, wie die Kinder mit ihm zurechtkommen.“

„Selbst wenn sie mit ihm klarkommen, hat er sich keine Freunde gemacht“, mutmaßte Stefan.

„Das kannst du laut sagen. Die Elternsprecherin hat mich heute Morgen prompt angerufen. Mehrere Eltern haben sich an sie gewandt und wollen, dass wir geschlossen gegen ihn vorgehen und dafür sorgen, dass er ausgetauscht wird. Verrückt. Gestern haben alle geduckt, aber hintenherum hat die Hetzte begonnen. Dabei hat Juju bisher nichts Negatives über ihn erzählt. Sie besucht seinen Unterricht gern. Hoffen wir, das bleibt so.“

„Das wäre nicht schlecht, denn soweit ich weiß, lässt sich ein Lehrerwechsel nicht so leicht erzwingen. Die nächsten zwei Jahre wird er der Klasse höchstwahrscheinlich erhalten bleiben.“

Julia nickte. „Tja, da kommt etwas auf uns zu. Das kann heiter werden. Ob unser Temperamentbündel dauerhaft mit ihm zurechtkommt?“

„Juju macht das schon. Mit ihrem Charme kann sie Steine erweichen, da wird es ihr doch gelingen, sich mit diesem alten Knochen gut zu stellen“, meinte Stefan optimistisch, der auf die Wissbegierde seiner Tochter baute. „So falsch finde ich seine Ansichten übrigens gar nicht. Lernen soll Spaß machen. Klar! Aber Kinder sollten auch lernen, sich zu konzentrieren, ohne ständig motiviert und bei der Stange gehalten zu werden. Die gute alte Disziplin für trockene Lernstoffe, die nun einmal auch in den Kopf müssen.“

„Noch ein Hartliner!“, rief Julia und spielte die Entsetzte. „Aber ein reichlich niedergeschlagener Hartliner. Was liegt dir auf der Seele, Schatz?“

„Kannst du dich an Martin Steiger erinnern? Wir sind ihm vor einigen Wochen samstags in der Stadt begegnet.“

„Natürlich. Ich musste noch oft an ihn und seine Frau denken. Seine Trauer hat mich berührt. Ist er doch noch zu dir an die Klinik gekommen, um sich untersuchen zu lassen?“

„Ja, aber leider in einem Krankenwagen und in kritischem Zustand. Er ist ernstlich krank. Unter Umständen können wir wenig für ihn tun, aber es könnte sein, dass er operiert werden kann. Das zeigt sich alles morgen“, erzählte Stefan. „Bei jedem anderen Patienten würde ich hoffen, dass wir operieren können. Bei ihm habe ich das Gefühl, dass er einer Operation auch dann nicht zustimmen wird, wenn es seine einzige Chance ist.“

Julia beugte sich zu ihm, strich ihm über die Wange und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Stirn. „Stefan, du kannst nicht jeden retten. Es liegt bei Herr Steiger, ob er weiterleben möchte, oder nicht. Du kannst als Arzt nur dein Bestes geben, und das tust du. Lass es nicht zu nahe an dich heran!“, riet sie.

„Ich weiß. Mit meiner professionellen Distanz ist es in seinem Fall nicht weit her, aber ich habe schon seine Frau verloren. Ich hätte ihr so gerne geholfen, und das hätte ich auch, wenn dieser Idiot von einem Kollegen ihr nicht aus falscher Sparsamkeit und Inkompetenz eine Mammografie verweigert hätte. Ihre Krebsform war aggressiv und in einem fortgeschrittenen Stadium nicht mehr zu bremsen. Ein paar Monate früher und sie wäre heute höchstwahrscheinlich noch am Leben und gesund.“

„Gibst du dir die Schuld an ihrem Tod?“, fragte Julia und sah ihm dabei in die Augen.