Die besten Ärzte - Sammelband 79 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 79 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.

Im Sammelband Die besten Ärzte erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband Die besten Ärzte ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 256 Taschenbuchseiten.

Jetzt herunterladen und sofort sparen und lesen.

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1844 - Das Schicksal um Gnade bitten

Notärztin Andrea Bergen 1323 - Die Bilder ihres Lebens

Dr. Stefan Frank 2277 - Wir werden deine Mama retten, Sophie!

Der Notarzt 326 - Diagnose: Herzklopfen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Katrin Kastell Daniela Sandow Stefan Frank Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 79

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2015/2017/2018 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2025 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © NDAB Creativity / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-8614-0

https://www.bastei.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 79

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1844

Das Schicksal um Gnade bitten

Die Notärztin 1323

Die Bilder ihres Lebens

Dr. Stefan Frank 2277

Wir werden deine Mama retten, Sophie!

Der Notarzt 326

Diagnose: Herzklopfen

Guide

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Contents

Das Schicksal um Gnade bitten

Mit diesem plötzlichen Rückschlag hat niemand gerechnet

Von Katrin Kastell

„Sie sind im vierten Monat schwanger, Valerie“, informiert der Chefarzt der Berling-Klinik die junge Galeristin. Die Nachricht ist ein Schock für sie, denn die Beziehung zu dem Vater des Kindes besteht längst nicht mehr. Für Valerie war es die große Liebe, doch als Alexander sich als Verräter entpuppte, gab sie ihm den Laufpass. Aus der Traum vom großen Glück an der Seite des attraktiven Architekten! Nein, sie will ihn nicht wiedersehen. Sie wird das Kind ohne ihn großziehen, für einen Verräter ist kein Platz in ihrem Leben.

Valerie ist sicher, dass es die richtige Entscheidung ist, bis sie kurz vor der Geburt schwer erkrankt. Das Kind muss per Kaiserschnitt geholt werden, ehe die Ärzte Valerie operieren können. Nun braucht das Baby dringend seinen Papa, denn seine Mutter schwebt in Lebensgefahr …

„Siegfried, es tut mir so leid! Ich weiß, du wirst nie aufgeben und bis zum Schluss standhaft kämpfen, aber uns ist der Mut ausgegangen. Wir möchten endlich wieder in Ruhe unser Leben führen können und nicht immerzu diesen Schikanen ausgesetzt sein. Ich bin nicht wie du. Ich brauche meinen Frieden und …“

„Du musst dich nicht rechtfertigen, Mario. Ich verstehe das doch. Ich habe jeden verstanden, der gegangen ist. Was haben sie euch geboten, wenn ihr aufgebt?“, fragte Siegfried Eichhorn frustriert.

Mario und Mechthild Mayer waren über dreißig Jahre lang seine Nachbarn gewesen und hatten einen kleinen Waschsalon geführt, den man nicht nur besucht hatte, um seine Wäsche zu waschen. Dort hatte es in der Straße zu jeder Uhrzeit immer eine Tasse Kaffee und Gebäck gegeben, und man hatte über alles geredet, was in der Nachbarschaft und in der Welt gerade so geschah.

Mit dem gemütlichen Zusammensein war aber schon seit mehreren Monaten Schluss. Im Waschsalon waren ständig Kontrollen durchgeführt worden mit immer neuen Auflagen, die von den Mayers irgendwann beim besten Willen nicht mehr hatten erfüllt werden können.

Dennoch hatten sie in ihrer Wohnung über dem Waschsalon bleiben wollen, aber ihr Vermieter hatte es verstanden, ihnen auch das zu vergällen. Nachdem sie nun auszogen, konnte er das Haus verkaufen.

„Mechthild und ich bekommen eine hübsche, kleine Wohnung in einer Anlage für betreutes Wohnen am Stadtrand. Sie liegt wirklich nett, und … na ja, dort werden wir unsere Ruhe haben. Jetzt stehst nur noch du mit deinem Haus im Weg. Pass auf dich auf, Siegfried! Ist es das denn wirklich wert? Wir haben doch schon verloren, und die haben gewonnen“, gab Mario zu bedenken.

Seine Frau und er waren Anfang siebzig und hatten ein arbeitsames, fleißiges Leben hinter sich. Sie hatten sich sehr ein Kind gewünscht und aus ihrer Kinderlosigkeit das Beste gemacht. Krisen und schwere Zeiten waren ihnen nicht neu, aber der Druck, der seit zwei Jahren legal und illegal auf sie ausgeübt worden war, hatte sie zermürbt.

Der kleine vergessene Straßenzug lag inmitten eines Viertels von München, das von eher älteren, kaum restaurierten Häusern geprägt gewesen war und nie jemanden interessiert hatte. Um dieses Viertel herum hatte sich die Stadt gewandelt. Altes war Neuem gewichen, und das Stadtbild war komplett modernisiert worden, und irgendwann war das Unausweichliche geschehen, und auch dieses Viertel war aus seinem Dornröschenschlaf erwacht.

Viele der alten Häuser waren aufwendig saniert worden und boten nun Wohnungen für zahlungskräftige Münchner, die es schick fanden, dort zu wohnen. Die früheren Mieter waren verdrängt worden, weil die Mieten für sie nicht mehr erschwinglich gewesen waren.

Und nun lag seit zwei Jahren ein Architektenplan für den kleinen Straßenzug vor. Dort sollte ein großes Shoppingcenter entstehen mit allem, was dazugehörte. Hausbesitzer, die nicht in der Straße lebten und ohnehin nie etwas für die alten Häuser getan hatten, griffen sofort zu und verkauften ihre Häuser gerne. Sie betrachteten es als ein gutes Geschäft, denn die kostspieligen Sanierungsmaßnahmen ließen sich schließlich nicht ewig hinauszögern.

Siegfried und einige andere waren dagegen hart geblieben. Sie hatten in der Regel ihr ganzes Leben dort verbracht. Die Mieteinnahmen deckten die erforderlichen Instandhaltungen und machten sie nicht reicht, aber darum ging es ihnen auch nicht. Sie mochten das Viertel und die Straße, in der man fast familiär zusammenlebte.

„Das ist unser Zuhause. Die Menschen hier bilden eine Gemeinschaft und halten zusammen. Es gibt alles, was wir brauchen an Läden, an Kneipen. Wir lassen nicht zu, dass unsere Welt zerstört wird für einen Kommerztempel mehr, den keiner braucht!“ Das hatte Siegfried vor zwei Jahren dem Aufkäufer der mächtigen Investoren erklärt.

Inzwischen waren alle anderen Hausbesitzer eingeknickt, und die Mieter hatten ausziehen müssen oder waren im Vorfeld freiwillig gegangen, weil es ihnen zu viel geworden war. Der Druck war enorm, der auf alle Betroffenen ausgeübt worden war. Die Mittel, die man angewandt hatte, um die Menschen zu vertreiben, waren alles andere, nur nicht fair.

Die Geschäftsleute waren auf unterschiedlichste Weisen terrorisiert worden, bis ihnen kaum eine andere Wahl geblieben war, als ihre Läden zu schließen und zu gehen. Ständig war es zu eigentümlichen Ausfällen von Strom und Wasser in den betroffenen Häusern gekommen. Die Computer kamen nicht ins Internet und vieles mehr. Zugleich fanden sich auf wundersame Weise plötzlich keine Handwerker mehr, um die Schäden zu beheben.

„Herr Eichhorn, ich sage Ihnen das unter der Hand, aber mir hat man sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich bei wichtigen Bauvorhaben keinen Fuß mehr in die Tür bekomme, wenn ich jemanden zu Ihnen schicke. Es tut mir leid! Was da passiert, ist übel, aber ich muss an meinen Betrieb denken.“

Auch das verstand Siegfried. Er verstand alles, aber es erfüllte ihn mit einer maßlosen Wut, dass so etwas möglich war und man sich letztendlich nicht dagegen wehren konnte. Die Lockungen von stattlichen Gewinnen und dem großen Geld lösten eine Gier aus, denen viele Menschen einfach nicht widerstehen konnten.

Einwände, die gegen das Bauvorhaben sprachen, weil etwas Gewachsenes, Schönes zerstört wurde und Menschen ihre Heimat verloren, die in München ansonsten keine Chance hatten, eine Wohnung zu finden, wurden achtlos vom Tisch gefegt.

Er wusste, dass er verloren hatte, aber er wollte nicht einfach weichen. Für ihn war das, was da geschah, ein Verbrechen, und er weigerte sich, ein Opfer zu sein. Auch seine Mieter waren nach und nach ausgezogen. Nur noch seine Tochter Valerie wohnte im Dachgeschoss des Hauses, wo sie als Malerin ihr Atelier hatte.

Mit einer Freundin führte sie eine Galerie in der Innenstadt und stellte hin und wieder auch ihre eigenen Werke aus. Unter Kunstkennern galt sie als Geheimtipp, aber dennoch war man nicht bereit, ihre Arbeiten fair zu bezahlen. Geld war immer knapp, aber ans Aufgeben dachte sie nie, und Siegfried war sehr stolz auf sie.

„Ich wünsche euch viel Glück! Ihr habt es verdient“, verabschiedete er sich von seinen Nachbarn, die ihn erst eingeweiht hatten, als der Möbelwagen voll beladen vor ihrer Tür stand. Sie hatten einfach nicht gewusst, wie sie es ihm sagen sollten.

„Könntest du nicht …“, setzte Mario noch einmal an.

„Nein! Was hier geschieht, das ist ein Unrecht. Ich bin in dieser Straße geboren, habe mein ganzes Leben hier verbracht, und freiwillig gehe ich nicht!“, unterbrach ihn Siegfried resolut.

„Du kommst uns doch besuchen!“, baten Mario und Mechthild, als sie in ihren Wagen stiegen, um dem Möbelwagen zu folgen.

„Natürlich komme ich! Was glaubt ihr denn?“ Er winkte ihnen, dann ging er zurück in seinen Keramikladen und setzte sich erst einmal an die Töpferscheibe, um einen Krug anzufertigen. Die Arbeit beruhigte ihn wie immer. Kunden sah er in seinem Laden nur noch, wenn sich jemand versehentlich zu ihm verirrte oder den Laden bereits kannte. In der Geisterstraße rechnete niemand mehr damit, auf einen offenen Laden zu stoßen.

„Papa? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Valerie Eichhorn kam nach Hause von der Galerie und setzte sich erst einmal zu ihrem Vater an die Drehscheibe. Sie kannte ihn gut und konnte schon an der Art erkennen, wie er mit dem Ton auf der Scheibe hantierte, dass ihn etwas bedrückte.

„Mario und Mechthild sind vorhin gegangen. Von dir haben sie sich schon verabschiedet, haben sie gesagt.“

Valerie nickte wortlos.

„Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie wegziehen?“

„Sie hatten mich darum gebeten.“

Nun war er es, der wortlos nickte.

„Jetzt sind nur noch wir übrig. Verrückt!“, meinte sie nach einer gedankenvollen, aber harmonischen Stille.

„Valerie, ich kann verstehen, wenn du …“

„Unsinn! Wir zwei sind Musketiere und halten zusammen!“, unterbrach sie ihn.

„Sogar die waren mindestens zu dritt!“, brummte ihr Vater niedergeschlagen.

„Das spielt doch keine Rolle mehr. Retten können wir hier ohnehin nichts mehr. Es wird nie wieder so sein, wie es war“, stellte sie fest.

Siegfried Eichhorn sagte nichts dazu, seine Finger streichelten den Ton. Die vertraute Berührung tat ihm gut.

„Früher oder später finden sie einen Weg, dich zu zwingen, ihnen das Haus zu überlassen. Öffentliches Interesse oder so etwas – die bekommen immer, was sie wollen. Wir sollten überlegen, was wir machen, wenn wir unseren Krempel packen müssen“, fuhr seine Tochter sachlich fort. „Der Laden …“

„Valerie, ich bin siebenundsechzig. Wenn ich den Laden hier schließe, dann war es das für mich. Ich fange nicht mehr irgendwo von vorne an. Für dich ist das Töpfern nur ein Notbehelf und Hobby. Deine Malerei und die Arbeit in der Galerie sind deine Zukunft. Natürlich bekommst du die Ausrüstung, und solltest du Pläne haben, unterstütze ich dich. Das ist doch klar!“, unterbrach Siegfried seine Tochter müde.

So offen hatten sie bisher nie über das gesprochen, was auf sie zukam. Es tat Valerie weh, ihren Vater so zu sehen. In den vergangenen zwei Jahren hatte er mutig gekämpft. Er hatte witzige Protestaktionen organisiert, die viele Münchner in die Straße gelockt hatten.

Die Presse hatte immer wieder über das vergessene Stückchen München mitten in München berichtet, und es war sogar ein kleiner Film in der Abendschau gelaufen.

Geholfen hatte der ganze Aktionismus am Ende nichts. Dafür ging es einfach um zu viel Geld, und auch die Stadt versprach sich große Gewinne vom Bau des Shoppingcenters. Das öffentliche Interesse war mit der Zeit erloschen, und alles war beim Alten geblieben. Sie hatten verloren.

„Möchtest du, dass ich aufgebe?“, fragte Siegfried und sah seiner Tochter dabei fest in die Augen. „Noch bekommen wir ein Vermögen für das Haus und wären hinterher versorgt. Du könntest die Galerie auf sichere Beine stellen und ohne Not für deine Kunst leben. Ich habe mein Leben im Grunde gelebt, Kind. Ich bin ein sturer Bock, und es fällt mir schwer, diese Leute so einfach gewinnen zu lassen. Trotzdem sehe ich, wie sinnlos es ist weiterzumachen.“

„Möchtest du aufgeben, Papa?“, fragte Valerie direkt.

„Nein!“

„Dann ziehen wir das durch!“

***

„Valerie, das ist der helle Wahnsinn! Das war gerade Wagensteller. Er hat zugesagt, bei uns auszustellen im Herbst! Wir sind gemachte Frauen! Nach der Ausstellung müssen wir uns mindestens ein Jahr keine Sorgen mehr um die Miete machen. Wahrlich ich sage dir, wir sind großartig, und unsere Galerie wird dereinst die erste und beste in München sein!“, jubelte Sophie Sperber, als sie den Telefonhörer auflegte.

„Ist sie das nicht schon jetzt?“, fragte Valerie trocken.

„Träume weiter! Keiner hat unsere Qualität. Klar sind wir die Besten, aber gelistet sind wir unter ferner liefen auf dem neunten oder zehnten Platz. Aber was nicht ist, kann noch werden. Irgendwann werden wir als Nummer eins gelistet. Du wirst schon sehen!“

Valerie musste lachen. Sie mochte Sophies Begeisterungsfähigkeit und ihre zupackende, praktische Art. Den geschäftlichen Teil überließ sie weitestgehend ihr, während sie sich selbst um die künstlerische Gestaltung kümmerte und um das Auftreten nach außen. Als Team ergänzten sie sich wunderbar, und jede von ihnen schätzte die Qualitäten der anderen.

„Du bist einfach genial, Sophie! Wagensteller ist allein dein Erfolg. Ich komme mit diesem Mann nicht klar. Vier- oder fünfmal sind wir uns bei Ausstellungen über den Weg gelaufen und immer aneinandergeraten. Am besten nehme ich Urlaub, wenn er bei uns ausstellt, sonst geht das in die Hose“, überlegte Valerie halb im Ernst.

Sie mochte die Arbeiten von Hubertus Wagensteller nicht sonderlich, auch wenn sie in der Kunstszene heiß begehrt waren, und den Künstler selbst fand sie unausstehlich.

„Tja, was soll ich dir sagen, eine seiner Bedingungen war es, dass du die Ausstellung betreust. Er schätzt deinen feinen Kunstsinn und möchte unbedingt mit dir zusammenarbeiten“, beichtete Sophie.

„Nein!“, stöhnte Valerie.

„Doch! Ich fürchte, er hat einen Narren an dir gefressen, gerade weil du ihm bei jeder eurer Begegnungen widersprochen hast. Keiner widerspricht einem Wagensteller, weil seine Skulpturen ein Vermögen bringen. Er ist in München längst zu einer Art Institution geworden. Alle reden ihm nach dem Mund, damit er bei ihnen ausstellt. Außer dir! Natürlich!“

Sophie grinste genüsslich bei der Erinnerung an eine der Auseinandersetzungen, die zur Legende geworden war.

„Erinnerst du dich? Du hast ihm vor Zeugen an den Kopf geworfen, dass sein Erfolg ihn noch lange nicht zum einsamen Kenner der Münchner Kunstszene macht und dass seine Meinung kein Gesetz ist, sondern ganz einfach nur seine Meinung. Ein Aufschrei ging durch die Szene, und wir hatten mehr Besucher in der Galerie als je zuvor. Besseres Marketing gibt es nicht“, fuhr sie fort und schmatzte dabei genießerisch.

„Als ob ich es jemals vergessen könnte! Du erinnerst mich ja ständig daran, und du bist nicht die Einzige. Einmal mehr: Danke für die unverdienten Blumen! Er hat mich einfach nur maßlos genervt, und mir war erst klar, mit wem ich mich anlege, als ich mich mit ihm angelegt hatte“, stellte Valerie richtig.

Sie fand es wirklich erstaunlich, dass Wagensteller bei ihnen ausstellen wollte und dass er verlangte, sie solle die Ausstellung betreuen.

„Und er hat tatsächlich noch nicht genug von meinem umwerfenden Charme?“, fragte sie ihre Freundin ungläubig.

„So scheint es. Es hat ihm gefallen. Sehr gut gefallen. Du hast einen Fan, Val. Er hat dieser Ausstellung bei uns nur zugestimmt, weil es auch deine Galerie ist.“

„Das kann ja heiter werden!“ Valerie verdrehte die Augen, und Sophie lachte fröhlich.

„Du machst das schon! Er steht auf dich und weiß, dass er nicht mit Diplomatie und Zurückhaltung rechnen darf, wenn es um die Sache geht“, tröstete Sophie sie.

„Wunderbar! Dann kann ich ihm sagen, dass ich ihn für einen allgemein überschätzten, aufgeblähten, arroganten Wichtigtuer halte und keinen Cent für eine seiner Skulpturen ausgeben würde, oder?“, fragte Valerie unschuldig.

„Solche diplomatischen Feinheiten überlasse ich wie immer ganz dir!“, meinte Sophie gelassen.

„Danke!“

„Das passt schon!“

Die Freundinnen und Geschäftspartnerinnen lachten und beschlossen, sich zur Feier des Tages erst einmal einen Kaffee und ein Stückchen Kuchen zu gönnen, bevor sie sich wieder an die Arbeit machten.

Valerie holte beides schnell bei dem Bäcker auf der anderen Straßenseite, und sie machten es sich in ihrem kleinen Büro gemütlich.

„Lecker! Das habe ich jetzt gebraucht. Du Jungspund kannst dir das nicht vorstellen, wie es ist, wenn man allmählich alt wird!“, seufzte Sophie und streckte und reckte sich auf ihrem Stuhl. Sie war dreiunddreißig und nur stolze drei Jahre älter als Valerie.

„Nein, Madame Methusalem, davon habe ich natürlich keine Ahnung!“, stimmte Valerie ihr zu und reckte sich ebenfalls.

Die beiden waren gerade dabei, eine Ausstellung abzuräumen und die Fotografien, die nicht verkauft worden waren, wieder zu verpacken. Es war ihnen gelungen, mehrere Bilder zu verkaufen und Aufmerksamkeit auf die bislang eher unbekannte Fotografin zu lenken.

Ein Kritiker hatte ihre Wasserfotografien äußerst gelobt und geschrieben, sie würden einen Blick tief in das Wesen des Seins gewähren. Nach dieser Kritik standen der Künstlerin einige Türen offen, und sie war Valerie und Sophie sehr dankbar.

„Wie geht es deinem alten Herrn?“, wollte Sophie wissen, als sie den ersten Schluck Kaffee getrunken hatte und sich etwas entspannte.

„Nicht gut. Sein ganzer Sinn für Recht und Ordnung und Gerechtigkeit begehrt dagegen auf, sich zu beugen. Ich wünschte, ich könnte etwas tun, aber ich kann nur zu ihm stehen. Unsere Straße war immer voller Leben, und im Laden war es nie still. Jetzt ist die Gegend vollkommen verödet.“

„Das ist wirklich schlimm“, warf Sophie ein.

„Ja, außer dem Briefträger mit immer neuen Mahnungen und Drohungen kommt so gut wie niemand mehr vorbei. Das zehrt an den Nerven. Papa braucht Menschen um sich. Wenn er dort noch lange alleine herumsitzt, wird er krank. Ich mache mir ziemliche Sorgen“, erzählte Valerie ihr.

„Weiß er, dass du zur Not erst einmal bei mir als Untermieterin einziehen könntest?“

Valerie schüttelte den Kopf. Eigentlich hatte sie es ihrem Vater schon lange sagen wollen, aber es kam ihr wie Fahnenflucht vor, dass sie für sich eine Notlösung gefunden hatte, wenn der Ernstfall eintreten sollte.

„Seit diese Baulöwen vor zwei Jahren ein Auge auf unsere Straße geworfen haben, löst sich unser Leben auf und wird dünner und brüchiger von Monat zu Monat. Manchmal wünsche ich mir nur noch, dass es endlich vorbei ist“, gestand sie.

„Und wenn du deinem Vater sagst, dass du endlich loslassen und neu anfangen möchtest? Vielleicht wäre er sogar erleichtert und könnte selber auch einen Schlussstrich ziehen. Nimm es mir nicht übel, aber euer Haus ist wirklich nur den Abriss wert. Was sie euch allein für den Bauplatz geboten haben, reicht euch für zwei Leben aus. Ist es so schwer, noch einmal an einem anderen Ort anzufangen?“

„Unsere Straße, unser Viertel – das war etwas Besonderes. Es war herrlich, dort aufzuwachsen. Wir wohnten mitten in der Großstadt, aber man kannte sich und unterstützte sich. Kam ich von der Schule, und Mama und Papa hatten jede Menge Arbeit, dann war ich nie allein oder verloren. Da bekam ich Kuchen, dort ein Eis, und jemand anderes machte die Hausaufgaben mit mir, wenn ich das wollte. Es war schön“, schwärmte Valerie.

„Ja, ich habe es noch ein wenig mitbekommen, Val, aber so unfair das auch ist, es gehört der Vergangenheit an. Es ist vorbei, und niemandem ist damit gedient, wenn dein Vater als einsamer Kämpfer für ein paar weitere Monate verhindert, dass das Center gebaut werden kann. Es wird gebaut werden. Irgendwann.“

„Ich weiß das, und er weiß das auch.“

„Aber?“

„Kein Aber, Sophie. Wenn Papa so weit ist, lässt er los, und bis er so weit ist, bin ich an seiner Seite.“

„Das mag verstehen, wer kann. Ich begreife es nicht. Mir wäre das Leben zu kurz und zu kostbar, um es aus Sturheit zu vergeuden.“

„Der gesunde Menschenverstand sagt mir, dass du recht haben könntest, aber Sturheit liegt in meiner Familie in den Genen. Ich bin meinem Vater ziemlich ähnlich. Auch ich gebe ungern auf“, erwiderte Valerie und zuckte mit den Achseln.

„Kämpfer und Streiter, kühne Reiter auf dem Weg nach Eldorado“, spöttelte Sophie gutmütig. „Aber ich merke, dass es dir allmählich an die Substanz geht. Immerzu kämpfen, schadet der Gesundheit. Was meinst du, sollen wir am Samstag einmal wieder durch die Clubs ziehen? Stürzen wir uns ins pralle Leben und schauen, was so passiert?“, lockte sie.

Liefen Ausstellungen, waren sie beide in der Regel auch an den Wochenenden in der Galerie. Jetzt hatten sie seit Langem einmal wieder zwei Wochen, in denen die Galerie nur ganz normal öffnete und schloss.

Bis zur Vernissage, mit der die kommende Ausstellung anlief, hatten sie zwar viel Vorbereitungsarbeit zu leisten, aber sie konnten abends dennoch einmal früher Schluss machen. Der Sonntag war ausnahmsweise einmal frei, und das lud natürlich zum Feiern ein.

Valerie zögerte. Nach so einer Nacht mit Sophie war sie meist für ein paar Tage verkatert und müde. Es machte Spaß mit ihr durch die nächtliche Stadt zu ziehen, aber hinterher zahlte man seinen Preis. Eigentlich hatte sie am Samstagabend in aller Ruhe in ihrem Atelier arbeiten und malen wollen. Das war etwas, was ihr große Freude bereitete und wofür sie viel zu selten Zeit fand.

„Gib deinem biederen Herzen einen Stoß! Ich brauche eine Dosis Spaß und Lebensfreude, und ohne dich ist es immer nur halb so schön!“, bettelte Sophie. „Bist du dabei? Komm schon! Die ersten fünf Cocktails gehen auf mich!“

„Na, bei so einem großzügigen Köder muss ich doch Ja sagen! Ich bin dabei!“, lenkte Valerie lächelnd ein. Etwas Ausgelassenheit und Spaß konnten ihr wirklich nicht schaden.

***

Am Samstag schlossen die Freundinnen die Galerie bereits kurz nach neunzehn Uhr, dann fuhr jede von ihnen nach Hause, um sich für den Abend hübsch zu machen. Als sie sich kurz vor zweiundzwanzig Uhr wieder in der Innenstadt trafen, bewunderten sie sich gegenseitig ausgiebig.

„Wow! Du siehst einfach klasse aus!“ Valerie fand Sophies Stil toll. Sophie war fast einen Kopf kleiner als sie und knabenhaft dünn. Daraus hatte sie für sich einen ganz speziellen Kleidungsstil entwickelt, der ihr hervorragend stand. Wenn sie tanzte, sah sie wie ein wilder Derwisch aus, und nicht nur Valerie fand sie unwiderstehlich.

„Heute gehe ich nicht ungeküsst zu Bette!“, kündigte Sophie heiter an. „Es ist wieder einmal so weit. Ich brauche meine Dosis Zärtlichkeit und einen Hauch Liebe.“

„Männerwelt nimm dich in Acht! Einer von euch wird heute um sein Herz gebracht!“, meine Valerie fröhlich.

Wenn Sophie bereit für eine Romanze war, dann fand sich immer ein passender Mann. Leider hielten ihre Romanzen aber selten länger als zwei oder drei Wochen an, dann wurden ihr die Romeos lästig, und sie warf sie hochkant wieder aus ihrem Leben.

„Wie halten das die Frauen nur aus, jeden Morgen neben einem Mann aufzuwachen? Ich meine, für ein paar Tage ist das nett, aber spätestens nach drei Wochen stinkt der Fisch, und ich frage mich nur noch, was dieser Kerl da neben mir verloren hat. Nein, ich glaube, für meinen Topf gibt es keinen Deckel.“

Das erklärte sie Valerie jedes Mal, wenn sie wieder solo war.

„Ich bin mit der Galerie verheiratet und brauche nur hin und wieder ein paar Schmuseeinheiten. Sobald die Schmuseeinheiten Forderungen stellen und Erwartungen an mich haben, sind sie mir lästig.“ Ihre frisch zurückerworbene Freiheit wurde immer mit einem Glas Sekt gefeiert, und Valerie hatte noch nie erlebt, dass Sophie einem ihrer Romeos auch nur eine Träne nachgeweint hätte.

Sie selbst sehnte sich durchaus nach einem Partner und einer stabilen, vertrauensvollen Beziehung der Art, wie die Beziehung ihrer Eltern gewesen war. Zweimal hatte sie einen Anlauf genommen und mehrjährige Beziehungen geführt, aber am Ende waren sie kläglich gescheitert.

Robert, ihr Freund in Studientagen an der Kunstakademie, hatte sie mit einer vermeintlichen Freundin betrogen. Fünf Jahre waren sie zusammen gewesen, als sie unerwartet früher nach Hause gekommen war. Pech oder Glück – so genau konnte sie das nicht sagen. Er hatte ihr viel bedeutet, aber nach dem Vertrauensbruch gab es keine Zukunft mehr.

„Das war doch nur Sex! Ich liebe nur dich, Valerie!“, hatte er ihr erklärt, als sie ihn ein paar Wochen danach vor die Tür gesetzt hatte.

Inzwischen war er mit der anderen verheiratet, und sie hatten zwei süße kleine Mädchen. Valerie war die Patin der Älteren, die unter anderen Umständen auch ihr eigenes Kind hätte sein können. So konnte es gehen.

Nach einem Jahr hatte sie sich erneut verliebt. Sophie und sie hatten da gerade die Galerie eröffnet und kämpften verbissen darum, sich zu etablieren. Viel Zeit war ihr da natürlich nicht für die Liebe geblieben, und Paul hatte nach drei mehr oder weniger gemeinsamen Jahren seine Konsequenzen gezogen.

„Du hast nur deine Arbeit im Kopf, und ich möchte mehr. Tut mir leid! Das mit uns war keine gute Idee! Wir passen nicht zusammen.“

Valerie hatte ihm im Stillen zugestimmt und ihn nicht gebeten zu bleiben. Er war für sie mehr und mehr zum Klotz am Bein geworden, und sein beständiges Nörgeln, dass sie zu viel arbeitete, war ihr auf die Nerven gegangen. So ungern sie auch alleine war, so hatte Paul ihr nie gefehlt.

Zwei Jahre war sie nun schon solo, und langweilig wurde es ihr nie. Dafür ließen ihr die Galerie, ihre Malerei und ihr Vater keine Zeit. Und doch fehlte ihr etwas. Im Gegensatz zu Sophie träumte sie von einer Familie, und es machte sie manchmal traurig, dass aus diesem Traum nichts zu werden schien.

„Wenn ich dich anschaue, wünschte ich, ich wäre ein Mann“, gab Sophie das Kompliment zurück und pfiff leise durch gespitzte Lippen. „Du hättest keine Chance. Ich würde dich im Handstreich erobern und vernaschen!“

„Wunderbar! Schauen wir mal, ob sich ein männliches Wesen findet, das ähnlich tickt wie du, meine Liebe. Ich hätte heute Abend nichts dagegen einzuwenden, im Sturm erobert zu werden.“

„Herrlich!“ Sophie strahlte über das ganze Gesicht, während sie sich bei Valerie einhakte. „Zwei Frauen offen und bereit, die Welt zu erobern! Wir sind spitze! Wir sind Siegerinnen!“

„Und du bist ein ganz kleines bisschen verrückt“, kommentierte Valerie lachend.

„Ein ganz kleines bisschen? Beleidige mich nicht! Ich bin komplett verrückt nach dem Leben!“

Unternehmungslustig und bester Laune zogen sie los und besuchten den ersten Club. Nach Mitternacht ging es weiter zum nächsten. Sie waren schon zu mehr als einem Cocktail eingeladen worden und hatten viel getanzt, aber der richtige Mann war noch nicht dabei gewesen, der sich von den anderen abgehoben hätte.

Als sie den Club betraten, wurde gerade eines ihrer Lieblingslieder gespielt. Die Bässe ließen ihre ganzen Körper vibrieren, und der bezwingende Rhythmus zog sie augenblicklich in seinen Bann. Sophie und Valerie tanzten miteinander und gaben sich der Musik und dieser Nacht bedingungslos hin.

Irgendwann schloss Valerie für einen Moment die Augen. Ihr war, als ob sie nicht mehr Teil dieser Welt war. Es gab nur noch Rhythmus und Bewegung und eine wilde, ungezähmte Freiheit, die sie anzog. Pflicht und guter Wille und dieses unermüdliche Streben und Kämpfen waren vergessen. Sie war an einem ganz anderen Ort angekommen, an einem Ort der Sehnsucht und der Erfüllung.

Als sie die Augen wieder öffnete, war es nicht mehr Sophie, die ihr gegenüber tanzte, sondern ein Unbekannter, einer der zahllosen Männer dieser Nacht, die ihr schon gesagt und gezeigt hatten, dass sie eine schöne und verführerische Frau war.

Er sah gut aus, attraktiv, sportlich, tanzte gut, war dem Rhythmus verfallen genau wie sie, und das ließ sie verschmelzen.

Valerie ließ es geschehen und fragte sich nicht, was da geschah oder warum es geschah.

Bis gegen drei Uhr tanzte sie mit diesem Mann, und es tat gut und war wunderschön. Die Musik war viel zu laut, um sich zu unterhalten. Man hätte brüllen müssen und doch keinen Ton verstanden, aber das machte nichts. Worte hätten dem Zauber dieser Begegnung nur geschadet. Was sollten sie sich zu sagen haben? Alles und nichts. Sie waren sich zuvor noch nie begegnet und würden sich nach dieser Nacht nie wieder begegnen. Worte bedeuteten nichts. Der Tanz war alles.

Irgendwann tanzten sie nicht mehr auf Abstand, sondern eng aneinandergeschmiegt. Ihre Körper bildeten eine Einheit, der Rhythmus löste jede Trennung auf und ließ sie miteinander verwachsen. Waren es seine Beine oder ihre Beine, seine Arme oder ihre Arme – Valerie wusste es nicht mehr. Sie ging in ihm auf wie er in ihr. Es war berauschend, enthemmend, befreiend.

Als seine Lippen ihren Hals und ihr Ohrläppchen liebkosten, stöhnte sie wohlig und presste sich noch enger an ihn. Diese Nacht war vollkommen, und sie wollte sich ihr hingeben und einfach glücklich sein. Sie wollte der Einsamkeit und allen Problemen des Alltags entfliehen – nur für ein paar Stunden.

„Du bist unglaublich! Ich möchte mehr, viel mehr!“, sagte er in ihr Ohr.

Sie küsste ihn auf die Lippen anstelle einer Antwort. Da nahm er ihre Hand und zog sie mit sich vor die Tür. Valerie warf einen Blick zurück. Sie konnte Sophie nirgendwo entdecken, aber das bereitete ihr keine Sorgen.

In der Regel war es Valerie, die an solchen Abenden irgendwann gegen Morgen allein nach Hause ging, weil sie gewöhnlich eher zurückhaltend blieb und sich auf nichts einließ. Sophie schlief dagegen nach so einer Nacht meist für eine Weile nicht mehr allein in ihrem Bett.

Als Valerie mit dem Unbekannten den Club verließ, handelte sie gegen ihre Gepflogenheiten. Etwas in ihr fühlte sich zu ihm hingezogen, und sie wollte diese Nacht mit ihm genießen. Sie wollte ganz im Augenblick sein, ohne an ein Morgen zu denken.

„Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt“, sagte er, als sie zusammen im Taxi saßen.

„Musst du das wissen? Ich bin eine Fremde dieser Nacht, und du bist ein Fremder dieser Nacht. Müssen wir mehr wissen?“, fragte sie und küsste ihn.

„Eine Frau wie du ist mir noch nie begegnet.“

Sie liebkosten sich leidenschaftlich, und Valerie bekam kaum etwas von seiner Wohnung mit. Wie er lebte, interessierte sie nicht. Sie spürte ihn, und seine Berührungen ließen in ihrem Kopf tausend Synapsen explodieren. Sie hatte so etwas noch nie zuvor erlebt. Sex war für sie immer etwas Schönes gewesen, aber irgendwie hatte sie nie ganz verstanden, warum alle eine so große Sache daraus machten. Es war entspannend und tat gut.

Was sie mit diesem Fremden erlebte, war alles andere als entspannend, aber es war unvergleichlich und unbeschreiblich. Sie wurde zwischen Himmel und Hölle hin und her geschleudert und fühlte sich bis in die kleinste Zelle ihres Körpers hinein lebendig. Draußen war es schon hell, als die beiden eng ineinander verschlungen einschliefen.

Valerie erwachte am frühen Vormittag. In ihrem Kopf hämmerte ein Presslufthammer und wollte alle Rekorde brechen. Sie hatte entsetzlichen Durst und einen schalen Geschmack im Mund. Langsam kam die Erinnerung an die vergangene Nacht zurück. Vorsichtig rückte sie von dem tief schlafenden Mann an ihrer Seite ab und atmete auf, als sie sich ins Badezimmer schleichen konnte, ohne ihn zu wecken.

Was war das gewesen? Was war da passiert? Trotz ihres verkaterten Zustandes war ihr klar, dass diese Nacht außergewöhnlich gewesen war. Eigentlich wollte sie nur rasch in ihre Kleider schlüpfen und dann seine Wohnung unbemerkt verlassen. Nach dem, was sie geteilt hatten, war es ihr irgendwie peinlich, sich über den netten Morgen und das Wetter mit ihm zu unterhalten. Nein, es war besser, wenn sie nicht mehr da war, wenn er aufwachte.

Zugleich empfand sie ein eigentümliches Bedauern. Er kannte ihren Namen nicht und wusste nichts von ihr. Wenn sie ging, ohne ihm ihre Telefonnummer zu hinterlassen, würde sie ihn nie wiedersehen. So wollte sie es doch, oder? Wollte sie ihn etwa wiedersehen?

Sie kannten sich nicht und hatten nur Spaß zusammen gehabt. Daraus konnte nie und nimmer etwas Ernstes werden. Woher wollte sie wissen, ob er kein eitler, oberflächlicher Idiot war? Was wusste sie denn überhaupt von ihm?

Ihr Blick streifte durchs Badezimmer, und sie musste schlucken. Das war Luxus, purer Luxus. Das Bad war riesig und bot alles, wovon man nur träumen konnte. In der Dusche konnte man Tango tanzen. Valerie äugte kurz nach draußen zum Bett hinüber. Er hatte sich auf den Bauch gedreht und schlief tief. Sie konnte nicht widerstehen und duschte noch, bevor sie sich anzog.

Mister Unbekannt war eindeutig finanziell gut gestellt. Seine Wohnung war äußerst geschmackvoll eingerichtet, soweit sie sehen konnte – geschmackvoll und teuer. Attraktiv, intelligent, erfolgreich und der genialste Liebhaber, den sie sich vorstellen konnte – mit wem hatte sie da um Himmels willen die Nacht verbracht?

Noch einmal sah sie fast bedauernd zu ihm hinüber, bevor sie sich aus der Wohnung schlich. Es war wunderschön gewesen, aber sie hatten zu viel übersprungen, um nun ganz normal zu beginnen. Wie sollten sie sich nach dieser Nacht unbefangen kennenlernen? Nein, diese Chance hatten sie sich in ihrem Rausch aus Rhythmus und Lebensgier selbst genommen.

Nicht weit entfernt von seiner Wohnung war eine U-Bahnstation, und Valerie fuhr nach Hause. Obwohl sie geduscht hatte, glaubte sie, seine Berührungen noch auf ihrer Haut zu spüren. Sie schlang die Arme um sich und atmete ein paarmal tief durch.

War es richtig gewesen zu gehen? Verschenkte sie eine der großen Gelegenheiten des Lebens? Sie war sich nicht sicher, aber sie konnte nicht anders handeln.

„Schon gefrühstückt, du Nachteule?“, wurde sie von ihrem Vater begrüßt. Er las seine Sonntagszeitung und saß am gedeckten Tisch. „Kaffee musst du dir machen, aber sonst ist alles da!“, lud er sie ein.

„Möchtest du auch noch eine Tasse Kaffee?“, fragte sie, bevor sie in die Küche ging.

„Ich hatte schon eine ganze Kanne. Mein Blut ist reines Koffein“, scherzte er und musterte sie kurz, als sie sich zu ihm setzte. „Essen kannst du eher nichts, nehme ich einmal an.“

Sie nickte und massierte sich die pochende Stirn, während sie an dem starken, pechschwarzen Kaffee nippte.

„Zu einem rechten Katerfrühstück gehört eine Schmerztablette.“ Er holte ihr eine Tablette aus dem Medikamentenschrank im Badezimmer. „Möge sie Wunder wirken! Du siehst schlimm aus. War es das wert?“

„Und ob!“

„Na, dann ist doch alles in Ordnung!“ Er las weiter in seiner Zeitung und ließ sie in Ruhe.

Valerie saß bei ihm am Tisch, trank ihren Kaffee und war dankbar für die Stille und Harmonie. Es war richtig gewesen, sich davonzuschleichen. Es war richtig gewesen! Je öfter sie es dachte, umso unsicherer wurde sie, ob sie nicht den größten Fehler ihres Lebens gemacht hatte.

Vergessen würde sie diese Nacht und diesen Mann nie, das war ihr klar, aber sie würde auch nie erfahren, ob nicht vielleicht doch mehr aus dieser Geschichte hätte werden können. Die Frage würde immer offenbleiben. Vermutlich war das auch besser so.

***

Einen Monat später bekam Siegfried Eichhorn eine Einladung zu einem Treffen mit Heinrich Striegel, einem der Hauptinvestoren, und Alexander Groß, dem Architekten, dessen Entwürfe den Zuschlag bekommen hatten. Die Einladung ging von dem Architekten aus und war sachlich, aber äußerst freundlich verfasst. Er lud in sein Büro ein und hoffte, die Fronten etwas aufweichen zu können.

„Die Fronten aufweichen? Der Mann glaubt an Einhörner und kennt keine Eichhorns. Gehst du hin?“, fragte Valerie, als ihr Vater ihr den Brief zeigte, und rechnete mit einem klaren Nein.

„Warum nicht! Er schreibt, dass er mir gerne zeigen möchte, worum es ihm geht, und dass es ihm ein Anliegen ist, etwas von dem, was unsere Straße ausgemacht hat, in die Zukunft zu tragen. Große Worte. Lassen wir uns überraschen! Gehst du mit?“

„Gerne!“

Alexander Groß, Architektenbüro stand auf dem Firmenschild zu lesen. Der Name Groß war Valerie ein Begriff. Sie hatte schon einiges von dem noch recht jungen Architekten gehört, dessen Entwürfen man nachsagte, dass sie äußerst kreativ waren und immer das Wohlbehagen der Menschen ins Zentrum rückten. Sie war gespannt, wie die Begegnung verlaufen würde.

Als sich dann die Tür zum Besprechungsraum öffnete, blieb sie wie erstarrt stehen. Wie oft hatte sie in den vergangenen Wochen an diesen Mann gedacht und sich gefragt, ob sie ihn je wiedersehen würde! Sie hatte ihn vermisst und sich ein paarmal überlegt, zu seiner Adresse zu fahren und sich von sich aus bei ihm zu melden.

Im letzten Moment hatte sie es nie getan, weil sie sich billig dabei gefühlt hätte. Es war schließlich nur eine Nacht gewesen und Sex. Was hätte er von ihr gedacht, wenn sie plötzlich vor seiner Tür gestanden hätte? Nein! Das ging nicht!

Wie hätte sie ihm erklären sollen, dass sie mehr über ihn wissen wollte, weil die Begegnung mit ihm etwas Einmaliges für sie gewesen war? Man lernte sich kennen, bevor man miteinander ins Bett ging. Hinterher war das irgendwie seltsam. Und doch konnte sie ihn nicht vergessen. Und nun stand er vor ihr.

Sie zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, weil sie mit einer Begrüßung rechnete, die für sie nur unangenehm sein konnte, aber nichts dergleichen geschah. Keine Regung in seiner Miene deutete darauf hin, dass er ihr schon einmal begegnet war. Ganz im Gegenteil, er reichte ihr genau wie ihrem Vater höflich die Hand und hieß sie wie eine Fremde in seinem Büro willkommen.

Valerie setzte sich an den vornehmen Verhandlungstisch neben ihren Vater, aber in Gedanken war sie nicht bei der Sache. Er erkannte sie nicht. Der Mann, der ihr nicht aus dem Kopf ging, an den sie immerzu denken musste, erkannte sie nicht. Sie hatte keinerlei bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Das tat weh.

Innerlich schauderte sie bei der Vorstellung, wie er wohl reagiert hätte, hätte sie tatsächlich unerwartet vor seiner Tür gestanden. Sicher hätte er sie für die Putzfrau gehalten. Da hatte sie noch einmal Glück gehabt, sagte sie sich, und doch fühlte es sich nicht wie Glück an – ganz und gar nicht. Für ihn war sie einfach irgendeine Frau gewesen, eine Frau von vielen. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich ihr Gesicht einzuprägen.

Valeries Eitelkeit begehrte auf. War sie denn so unscheinbar? War sie in der Tat eine von vielen und hob sich durch nichts aus der Menge heraus? Sie war Künstlerin! Jawohl! Sie leitete eine aufstrebende Galerie, und auch wenn sie kein superteures Büro führte und in München keine begehrte Stararchitektin war, gehörte sie zu den Erfolgreichen, denn sie ging ihren ureigenen Weg.

Er war ein Idiot, wenn er das nicht erkannt hatte! Er hatte es überhaupt nicht verdient, dass sie einen zweiten Gedanken an ihn verschwendet hatte! Sie warf ihm einen geradezu trotzigen und unbewusst sichtlich beleidigten Blick zu, den er ungerührt erwiderte, ohne das geringste Anzeichen eines Wiedererkennens.

Am Rande bekam Valerie mit, dass ihr Vater sich hervorragend schlug. Rhetorisch war ihm nicht so schnell jemand gewachsen. Bisher war Alexander Groß dabei so gut wie gar nicht zu Wort gekommen, weil sich die alten Gegner gegenseitig beharkten, die immer wieder aufeinandergetroffen waren, ohne dabei einer Einigung auch nur einen Millimeter näher gekommen zu sein.

„Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wie viel uns Ihr kindischer Widerstand jeden Tag kostet? Seit einem Monat müssten die Abrissbirnen am Werk sein, aber solange Sie auf stur stellen, ist das ganze Projekt noch gefährdet. Wir können nicht um Ihr Haus herumbauen. Es steht zu zentral“, griff der Investor ihren Vater an.

„Leuten wie Ihnen kann man nur an einer Stelle wehtun, und das ist am Geldbeutel. Klasse, wenn mir das gelingt! Dann mache ich meine Sache gar nicht übel“, konterte Siegfried giftig.

„Sie können den Fortschritt nicht aufhalten. Solche Ewiggestrigen wie Sie sind eine Plage“, kam eine deftige Beleidigung zurück, und so ging es hin und her.

„Meine Herren …“, meldete sich Alexander Groß zu Wort und wurde schlicht und ergreifend ignoriert.

Die Gegner warfen sich wieder heftige Schmähungen an den Kopf, und das Treffen war auf dem besten Weg, wie die Treffen zuvor zu verlaufen.

„Meine Herren!“, donnerte da Alexander Groß in einer Lautstärke, die alle erschrocken zu ihm herumfahren ließ. „Danke für Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit“, fuhr er ironisch in normaler Lautstärke fort. „Wir sind hier, um uns offen auszutauschen. Beleidigt haben Sie sich, denke ich, bereits mehr als genug in den vergangenen zwei Jahren.“

„Worüber sollten wir uns denn austauschen?“, griff Siegfried nun ihn an. „Sie wollen etwas von dem, was verloren gegangen ist, in die Zukunft tragen, schreiben Sie und tun so, als stünden Sie auf meiner Seite. Was für ein Unsinn! Da sitzt Ihr Geldgeber, und dem sind Sie verpflichtet. Für wie dumm halten Sie mich?“

„Ich bin der Qualität meiner Arbeit verpflichtet und den Menschen, die irgendwann diese Straße wiederbeleben werden, und sonst niemandem, Herr Eichhorn. Wenn es Ihnen wirklich um die Straße geht und ihre Menschen, dann sollten Sie an meinen Entwürfen zumindest interessiert sein, oder? Protest um des Protestes willen erschöpft sich irgendwann. Worum geht es Ihnen?“, konterte Alexander Groß.

Valerie war beeindruckt. Es war bisher kaum jemandem gelungen, ihren Vater aus dem Konzept zu bringen, und der blieb nun für einen Moment stumm und schien nachzudenken. Sein Thema war die Vergangenheit und das Verlorene. Was der junge Architekt da von ihm erwartete, war eine echte Herausforderung.

„Gut, dann zeigen Sie mir, was Sie bauen wollen, aber glauben Sie bloß nicht, dass mich Ihre moderne Architektur so vom Hocker reißen wird, dass ich den Mund halte“, knurrte er.

„Nein, das erwarte ich nicht. Was ich erwarte, ist, dass Sie sich ein gerechtes Urteil bilden. Das ist alles!“

„Gerecht? Warum sollte ich gerecht sein? Warum? Hatte das, was mit den Menschen geschehen ist, die einmal meine Nachbarn oder Mieter waren, etwas mit Gerechtigkeit oder Fairness zu tun? Ein paar Millionäre sehen die Eurozeichen in ihren Augen blinken, und alle müssen weichen, damit sie ihren Gewinn machen können. Ist das unsere Welt? Ist das unsere neue Gerechtigkeit? Darauf pfeife ich!“, ereiferte sich Siegfried.

Valerie verkniff sich ein böses Grinsen. Gerecht – das war das falsche Stichwort gewesen. Damit hatte der Architekt verloren, und genau das gönnte sie ihm. Warum sollte sie ihm helfen wollen? Wenn er sie einfach aus seinem Gedächtnis gestrichen hatte, dann schuldete sie ihm gar nichts.

„Genau aus diesem Grund erwarte ich ein gerechtes Urteil von Ihnen. Unrecht haben Sie zur Genüge erfahren, und wenn Sie für etwas anderes stehen wollen, dann müssen Sie auch anders denken und handeln. Veränderung kann nur entstehen, wenn wir ausbrechen“, hielt Groß ihrem Vater entgegen, und der verstummte ein weiteres Mal und sah den jungen Mann prüfend an.

„Sind Sie weise, oder verstehen Sie es, weise Sprüche passend zu zitieren?“, fragte er ihn.

„Finden Sie es heraus, falls es Sie interessiert! Aber im Prinzip ist das einerlei, wenn das, was ich sage, seine Berechtigung hat und zutrifft, oder? Wollen Sie einen Unterschied machen? Ich für meinen Teil möchte einen Unterschied machen, wo immer es mir möglich ist. Wir müssen nicht einer Meinung sein, aber an diesem einen Punkt könnten wir uns begegnen.“

Valerie schluckte. Das war großartig gepokert oder vielleicht sogar aufrecht gespielt – wie auch immer. Alexander Groß trug seinen Namen zu Recht. Er war großartig. Schlagartig bedauerte sie es zutiefst, sich an jenem Morgen feige davongeschlichen zu haben. Sie wäre diesem Menschen gerne begegnet.

Konnte sie ihm einen Vorwurf daraus machen, dass er sich nicht an sie erinnerte? Sie war klammheimlich aus seinem Gesichtsfeld verschwunden, anstatt sich in Erinnerung zu bringen und den Mut zu haben, die Dinge sich entwickeln zu lassen. Es war ihre eigene Schuld, dass er sie vergessen hatte.

Der Investor sah vom Architekten zu Siegfried Eichhorn und zurück, und sein Unbehagen füllte den Raum. Offensichtlich war er sich nicht mehr sicher, ob Alexander Groß der Verbündete war, für den er ihn gehalten hatte. Die Sprache, die an diesem Verhandlungstisch gerade gesprochen wurde, war ihm fremd und sagte ihm nichts.

„Herr Groß, der finanzielle Aspekt sollte mit Vorrang behandelt werden. Wir können das äußerst großzügige Angebot, das wir Herrn Eichhorn unterbreitet haben, sonst nicht mehr lange aufrechterhalten“, drohte er, und eine Ader an Siegfried Eichhorns Schläfe begann zu pochen. Er war bereit, sich wieder in den Ring zu stürzen, aber dazu kam es nicht, denn das tat Alexander Groß für ihn.

„Herr Striegel, ich bin Architekt und nicht Ihr Buchhalter. Hier geht es nicht um finanzielle Aspekte, und bitte unterlassen Sie es, jemandem in meinem Büro zu drohen! Sollten Herr Eichhorn und ich ins Gespräch kommen und der Entwurf ihm zusagen, mag sich das auf Ihre Finanzen positiv auswirken, aber im Moment geht es nicht um Zahlen, sondern um Lebensqualität und Beständigkeit.“

Heinrich Striegel war ein mächtiger Mann, ein sehr mächtiger Mann. Fassungslos sah er den jungen Architekten an, der seinem Blick nicht auswich. Dann räusperte er sich mehrmals und blieb still.

Siegfried Eichhorn hatte noch keinen dieser mächtigen Männer auf diese Weise verstummen sehen. Er genoss es. Vorerst zufrieden folgte er Alexander Groß zusammen mit Valerie und Striegel in einen Nebenraum, in dem ein großes Modell der Straße aufgebaut war, wie sie einmal werden sollte.

„Ich habe den Bericht über Ihre Straße in der Abendschau gesehen und erkannt, dass diese Straße das pulsierende Herz des ganzen Viertels war. Genau das soll sie auch wieder werden“, erklärte der Architekt.

Seine Augen leuchteten, und er war in seinem Element.

„Sehen Sie, hier ist Raum für Arztpraxen und eine Apotheke – alles günstig auch für ältere Menschen gelegen. Es gibt Raum für eine Vielzahl kleiner Läden, Boutiquen, Banken, was auch immer. Alles ist hell, viel Glas, Licht kommt herein, und im eigentlichen Shoppingcenter ist viel Platz gelassen zum Flanieren. Integriert wird ein Kino und Theater. Die Menschen finden, was immer sie brauchen.“

Mit einem langen Holzstock deutete er auf die entsprechenden Bereiche im Modell und fuhr fort.

„Die Straße selbst ist mir wichtig. Sie soll genau wie früher ein Ort der Begegnung sein und des entspannten Gesprächs. Es wird eine Fußgängerzone werden, kein Verkehr, das habe ich bei der Stadt München angeregt und bin auf große Zustimmung gestoßen. Raum für Straßenmusiker und Straßenkünstler. Überall werden Bänke stehen, und Bäume werden gepflanzt werden. Auch außerhalb der Straßencafés soll die Straße dazu einladen, sich hinzusetzen, zu schauen und zu reden.“

Valerie betrachtete das Modell fasziniert. Der Entwurf war wirklich gut. Gespannt sah sie zu ihrem Vater hinüber und konnte seine Miene nicht deuten, was eher selten vorkam. Er wirkte innerlich zerrissen, ging um den Tisch mit dem Modell herum und besah es gründlich.

„Warum sind Sie nicht zum Frühstück geblieben? Ich hätte Brötchen geholt und uns Kaffee gemacht“, raunte ihr da Alexander Groß zu, auf den sie nur einen Moment nicht geachtet hatte.

Er hatte sie doch nicht vergessen! Valerie durchströmte ein warmes Gefühl der Freude, und zugleich ärgerte sie sich über sich selbst. Egal, was er sagte, in der Sache gehörte er der gegnerischen Seite an. Er war sozusagen der Feind, und jegliche Verbrüderung mit dem Feind grenzte an Verrat. Nur noch sie war ihrem Vater als Kampfgenossin geblieben, und sie musste loyal bleiben.

„Ein Frühstück ist für mich etwas sehr Intimes“, flüsterte sie zurück.

„Für mich auch!“ Nach diesen Worten wandte er seine volle Aufmerksamkeit wieder den zwei Männern zu, die sich förmlich umschlichen.

„Unterschreiben Sie endlich, und stehen Sie uns nicht mehr im Weg!“, ereiferte sich Striegel. Offenbar konnte er sich nicht länger zurückhalten, und seine Aggression gab den Ausschlag.

Siegfried ignorierte ihn komplett und wandte sich an den Architekten.

„Ihr Entwurf ist schön – von außen. Er ist aber eine Venusfalle“, lautete sein Urteil.

„Eine Venusfalle?“ Alexander Groß wirkte nicht enttäuscht, eher erstaunt.

„Das ist kein pulsierendes, schlagendes Herz, sondern eine perfekt aufgebaute Herzattrappe, so etwas wie eine auf Hochglanz polierte Spieluhr, die den Herzschlag imitiert. Im Grunde geht es nur um eines, und das ist der Kommerz. Die Leute sollen angelockt werden und ihr Geld ausgeben. Das ist alles. Sein Gewinn, darum geht es“, sagte Siegfried und deutete auf Striegel.

„Was Sie hier sehen, ist natürlich nur der Rahmen. Die Menschen, die sich darin einmal bewegen werden, bestimmen über das wahre Bild. Es ist alles da, um Raum für Geselligkeit und Leben zu schaffen. Ob dieser Raum genutzt wird, muss sich erweisen, aber eine Mogelpackung ist es nicht“, verteidigte der Architekt seine Arbeit.

„Und wer wird in diesem Kommerztempel leben?“, höhnte Siegfried und glaubte, seinen Stich gemacht zu haben.

„Hier habe ich altersgerechte und behindertengerechte Wohnungen geplant.“

Der Stock deutete auf Häuser, die bei dem Ärztezentrum und der Apotheke lagen.

„Mit der Stadt stehe ich in Verhandlungen, ob wir in diesem Bereich Mittel für den sozialen Wohnungsbau ausschöpfen können, um die Wohnungen später zu günstigen Mieten an Sozialschwache abgeben zu können. Ich sehe es nicht als Kommerztempel, sondern als eine lebendige, gesunde Mischung, wo Leben stattfinden kann auf allen Ebenen. Alle sollen sich wohlfühlen – begüterte und weniger gut Gestellte sollen alle auf ihre Kosten kommen können.“

Siegfried prustete geräuschvoll durch die Lippen.

„Was passt Ihnen denn jetzt wieder nicht?“, explodierte Striegel, der es nicht gewohnt war, so lange die zweite Geige zu spielen und kaum beachtet zu werden.

„Der junge Mann da scheint es durchaus gut zu meinen, aber er hat sich keine guten Auftraggeber ausgesucht. Letztendlich ist er Ihr Lakai, auch wenn er Sie herrlich zur Schnecke machen kann. Er ist und bleibt Ihr Lakai, und das gefällt mir nicht. Valerie, komm, wir gehen!“ Stolz erhobenen Hauptes marschierte Siegfried davon, und Valerie folgte ihm.

Als sie schon vor der Tür waren, drehte sie sich noch einmal um, und tatsächlich, Alexander Groß war ihr mit den Augen gefolgt. Ein Lächeln spielte um seine Lippen, als sie sich ihm noch einmal zuwandte. Valerie versuchte, besonders grimmig zu schauen, aber auch sie lächelte. Was hatte es nur mit diesem Mann auf sich, dass er sie so leicht aus der Fassung bringen konnte?

***

„Dein geheimnisvoller Unbekannter ist ausgerechnet Alexander Groß? Ich fasse es nicht! Du koalierst mit dem Feind. Schäme dich! Was sagt dein Vater dazu?“, spottete Sophie und fand es grandios, wie das Leben spielen konnte.

Es gab einfach keine Zufälle! Alles war ein wunderbar aufeinander abgestimmtes, eng gestricktes, vollkommenes und perfektes göttliches Chaos. Sie liebte es zu leben.

„Er weiß das nicht, und das muss auch so bleiben!“ Valerie hob abwehrend beide Hände. „Wobei Groß ihn durchaus beeindruckt hat. Wären sie unter sich gewesen, hätte sich da unter Umständen eine Lösung aufgetan.“

„Und du? Wirst du ihn wiedersehen? Jetzt, wo du weißt, wer er ist und dass auch er dich nicht vergessen hat?“

„Wo denkst du hin? Natürlich nicht! Ich dränge mich diesem Mann doch nicht auf!“, verneinte Valerie etwas zu emotional.

Sophie schmunzelte. So begann das Spiel. Sie war neugierig, was sich daraus ergeben würde. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass die Geschichte dieser zwei Menschen noch nicht erzählt war und gerade erst begann.

„Du musst gar nicht so seltsam schmunzeln! Da wird nichts passieren. Es war eine besondere Nacht, und damit ist es gut! Manches lässt sich nicht wiederholen“, betonte Valerie noch einmal.

„Aber du würdest es gerne wiederholen?“, stichelte Sophie.

„Was? Wie kommst du denn darauf? Unsinn! Nein! Was du immer redest! Groß ist mir gleichgültig. Ich kenne ihn doch überhaupt nicht!“, verteidigte sich Valerie heftig.

„Selbstverständlich! Das weiß ich doch! Und dann auch noch der Interessenkonflikt wegen deines Vaters. Nein! Und abermals Nein! Du bist die Loyalität in Person.“ Sophie grinste breit. „Und was ist, wenn Groß zu dir kommt?“, fragte sie.

„Ach, jetzt halt schon die Klappe!“, schimpfte Valerie und streckte ihrer Freundin die Zunge heraus, die schallend lachte und sich wieder an ihre Arbeit machte.

Am nächsten Abend schaute Alexander Groß kurz vor Geschäftsschluss in der Galerie vorbei. Suchend sah er sich um und betrachtete dann in aller Ruhe die Kunstwerke, wobei er ein wenig verloren wirkte. Irgendwann aber blieb er lange bei einem bestimmten Bild stehen und schien gefesselt davon.

Valerie hatte ihn über einen entsprechend platzierten Spiegel vom Büro aus hereinkommen sehen, ohne von ihm gesehen werden zu können. Zum Glück war Sophie schon nach Hause gegangen. Anstatt wie bei anderen Kunden sofort zu ihm zu gehen, ließ Valerie ihn warten und beobachtete ihn.

Ein Zufall war dieser Besuch nicht. Ihr Herz klopfte wild. Sie freute sich und wollte sich nicht freuen. Auch er kam nicht dagegen an und wollte sie wiedersehen.

Fünf Minuten ließ sie ihn warten, und etwas in ihr hoffte, dass er aufgab und wieder ging, aber das tat er nicht. Als sie zu ihm trat, strahlte er über das ganze Gesicht. Die Freude wirkte so echt und tief, dass es sie berührte. Da war etwas, was sie machtvoll zueinander zog, aber es war nicht richtig. Es durfte nicht sein!

„Sind Sie etwa auch noch Kunstkenner und Kunstsammler?“, fragte sie mit freundlichem Spott in der Stimme.

„Nein, damit kann ich leider nicht dienen. Mit den meisten Skulpturen und Bildern hier kann ich wenig anfangen. Aber das abstrakte Gemälde dort finde ich großartig. Was kostet es?“

„Es ist unverkäuflich.“ Valerie sagte ihm nicht, dass er ausgerechnet eines ihrer eigenen Bilder ausgesucht hatte, an dem bewusst kein Namensschild angebracht war.

„Schade!“

„Vielleicht ändert die Künstlerin ihre Meinung irgendwann, dann teile ich es Ihnen mit.“

„Das würde mich freuen.“

Sie schwiegen beide und sahen sich an.

„Ich wollte Sie wiedersehen“, begann er schließlich. „Sie sind mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Ich war mehrmals in dem Club und habe nach Ihnen gesucht, aber Sie waren nie wieder dort.“

„Nein, ich war seitdem nicht mehr dort. Mit der Galerie bleibt wenig Zeit für so etwas“, antwortete sie etwas lahm.

„Bei mir ist es nicht anders. Es können Wochen vergehen, in denen ich abends nichts unternehme, und das, was wir beide erlebt haben, ist für mich nichts Alltägliches. Ich schleppe normalerweise keine Frauen ab. Das mache ich sonst nie. Ich wollte, dass Sie das wissen.“

„Gut, dass Sie eine Ausnahme gemacht haben“, frotzelte sie.

„Sie reagieren nie, wie ich es erwarte und von anderen Menschen kenne.“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Sie sind ein Phänomen.“

„Ich bin die Tochter meines Vaters – stur, unbeugsam, unbelehrbar. Sie hätten Ihr Ziel an dem Tag übrigens erreicht, wenn Striegel nicht da gewesen wäre. Mit einem roten Tuch vor der Nase bekommen Sie keinen Stier zahm. Aber angesichts der Umstände waren Sie verdammt nahe dran.“

„Ich wollte Ihren Vater nicht zähmen. Ich hätte ihn gerne überzeugt, aber seinen Einwand muss ich stehen lassen. Natürlich geht es im Prinzip immer ums Geschäft. Alles andere wäre gelogen“, räumte er ein. „Ich bin kein Idealist, sondern versuche nur, das Beste im Rahmen des Möglichen zu realisieren. Seine Kritik war daher begründet.“

„Es würde ihn freuen, das zu hören. Zustimmung und echte Auseinandersetzung mit seiner Meinung hat er kaum erfahren.“

„Sie stehen ihm sehr nahe“, stellte Alexander fest.

„Natürlich. Er ist mein Vater. Mit keinem anderen Menschen habe ich so intensiv und heftig gestritten in meinem Leben wie mit ihm, aber kein anderer Mensch hat mich auch nur halb so stark geprägt. Ich verdanke ihm sehr viel.“

„Ich gehöre nicht zu seinen Gegnern, auch wenn er das anders sieht“, betonte Alexander.

„Na, wenn es Ihnen gelingen sollte, ihn davon zu überzeugen, lasse ich Sie heiligsprechen.“

Wieder sahen sie sich lange an. Valerie spürte diesen eigentümlichen Sog, diesen Rhythmus des Herzens. Sie wollte ihn berühren, einfach nur über seinen Arm streichen, aber sie hielt sich zurück. Das war doch verrückt. Sie kannten sich noch immer nicht, auch wenn er zu ihr in die Galerie gekommen war und offensichtlich ähnlich empfand wie sie.

Sie spielten mit dem Feuer, und am sichersten war es, wenn sie ihn vor die Tür setzte und einen klaren Schlussstrich zog. Hier ging es nicht um eine harmlose Liebelei, und dann sagte man leichten Herzens Lebewohl. Ließen sie sich darauf ein, konnten sie sich gegenseitig tief verletzen. Sie konnten einander die Herzen brechen. Wollte sie dieses Risiko eingehen? Etwas in ihr scheute zurück, so groß die Anziehungskraft auch war, die er auf sie ausübte.

„Darf ich Sie zum Essen einladen?“, fragte er. „Ich war heute den ganzen Tag auf Baustellen unterwegs und habe Hunger. Kennen Sie hier in der Nähe ein nettes Lokal?“

Valerie zögerte und rang mit ihrer Furcht und ihrem Sinn für Loyalität. War es in Ordnung, mit dem Feind essen zu gehen? Für ihren Vater wäre das kaum akzeptabel, aber im Grunde hatte Alexander Groß recht, er war nicht sein Gegner.

„Nur ein Essen!“, bat er. „Wenn Sie das wollen, sagen wir dann Tschüss auf Nimmerwiedersehen. Versprochen!“

„Es gibt einen Vietnamesen ums Eck. Er kocht nur mit frischem Gemüse und guten Bioprodukten. Ich esse gerne dort. Es schmeckt gut, und die Preise sind angemessen.“ Valerie nahm seine Einladung an, und sie pilgerten die wenigen Meter zu dem Lokal, nachdem sie die Galerie geschlossen hatte.

„Nach unserem grandiosen Einstand fühlt sich das Sie nicht ganz passend an“, meinte Valerie, als sie an einem Tisch vor dem Lokal Platz genommen hatten.

Es war kurz nach zwanzig Uhr an einem Freitagabend, und in der Fußgängerzone schlenderten Passanten vorüber, die wie sie einen Happen essen wollten oder auf dem Weg ins Kino oder Theater waren. Es herrschte eine entspannte Stimmung. Das Wochenende stand bevor.

„Valerie Eichhorn, Künstlerin, Galeristin und Tochter eines sturen Gesellen“, holte Valerie die förmliche Vorstellung nach.

„Du hast bei deiner Aufzählung die bezaubernde, unwiderstehliche Frau und verführerische Tänzerin vergessen“, vervollständigte er.

„Hmm! Ich stehe auf Komplimente! Danke! Und mit wem habe ich es zu tun?“

„Alexander Groß, Segelfreak, Pazifist und Häuslebauer“, stellte er sich vor. „Getauft von einer liebenden Mama nach Alexander dem Großen, aber bisher Gott sei es gedankt, noch nicht zur Eroberung der Welt geneigt. Ich hoffe, dieser Kelch geht an mir und der Welt vorüber.“

Valerie lachte. Nein, er war kein arroganter Idiot, sosehr sie sich das auch gewünscht hätte. Er war mehr als nett, und sie mochte ihn. Es zog sie machtvoll zu ihm hin. Wenn sie nicht aufpasste, würde es kaum bei diesem einen Essen bleiben, und was dann? Das war die Frage. Wollte sie ihren Vater derart vor den Kopf stoßen? Er hatte schon so viele herbe Enttäuschungen einstecken müssen. Brach nun auch sie noch weg? Das konnte sie ihm doch nicht antun!

„Du bist so ernst geworden.“ Alexander spürte sofort, dass sich die Stimmung zwischen ihnen wieder verändert hatte.

„Ich wünschte, du wärst nicht ausgerechnet der Architekt, der unsere vergessene Straße in die Gegenwart holen wird. Mir ist klar, dass es jemand tun muss, aber ich wünschte, das wärst nicht du!“, gestand Valerie.

„Können wir das nicht voneinander getrennt halten?“, fragte er.

„Wir können es versuchen, aber manches nimmt mein Vater immer persönlich. Da ist er eigen.“

„Du bist erwachsen.“

„Mit dreißig Jahren sollte ich das spätestens sein, aber ich glaube nicht, dass da mein Problem liegt. Ich lebe mein Leben und habe meine eigenen Meinungen. Das ist es nicht.“

„Sondern?“, hakte Alexander nach.

„Mit siebenundsechzig Jahren verliert er alles, was er kennt und liebt. Er hat sein Leben dort verbracht, seine Kindheit und die schönen Jahre mit meiner Mutter. Sie ist vor sieben Jahren gestorben. Er muss vollkommen neu anfangen, und ich weiß nicht, ob er das schafft. Ich mache mir Sorgen um ihn“, erklärte Valerie.

Alexander nickte nachdenklich. Sie sah ihm an, dass er seine Gedanken zurückhielt, weil er sich nicht das Recht zugestand, sie zu äußern.

„Raus damit! Was denkst du? Ich kann Kritik vertragen und nehme ein offenes Wort nie übel“, forderte sie ihn auf. Es war eigentümlich, dass er ihr einerseits derart vertraut und nah schien und dass sie einander andererseits wirklich noch kaum kannten.

„Das ist seine Geschichte, seine Entscheidung, sein Leben. Sosehr wir einen anderen Menschen auch lieb haben, müssen wir manches bei ihm belassen. Wir können und dürfen dem anderen sein Leben nicht abnehmen. Und ich halte es immer für kritisch, wenn wir uns aufgeben, damit es einem anderen gut geht. Haben wir das Recht dazu? Wer gibt es uns? Aber das ist meine persönliche Herangehensweise und Erfahrung“, sagte er.

„Ich gebe mich nicht für meinen Vater auf, sondern möchte nur, dass es ihm gut geht“, verteidigte sich Valerie.