Die blutigen Hähne, Band 3: Eine neue Ära der Gewalt - Knut Stang - E-Book

Die blutigen Hähne, Band 3: Eine neue Ära der Gewalt E-Book

Knut Stang

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Beschreibung

Der abschließende vierte Teil der aktuellen Tagungsbeiträge der Akademie zu Bad Meinungen an der Glaubste wendet sich nach den rechtsphilosophischen und historischen Überlegungen der vorangegangenen Bände nun der aktuellen Situation globalisierter Gewalt zu. Dabei wird der Gewaltbegriff erweitert auf die Verwüstungen des Klimawandels, die wesentlich auf Handlungen und Unterlassungen des globalen Nordens zurückzuführen sind. Aber auch die traditionelleren Formen grenzüberschreitender Gewalt werden am Beispiel von Momentaufnahmen zur Situation in der Ukraine und im Nahen Osten, hier dann auch wieder mit Rückgriff auf historische Entwicklungen, dargelegt. Beide Ansätze erlauben, vor allem in ihrer Verbindung, neue Einsichten zur Frage, wie weit die aktuelle globale Gewalt ein Novum bildet. Daraus ergeben sich dann auch Überlegungen, warum so wenig Entschlossenheit wahrnehmbar ist, dieser Gewalt, vor allem hinsichtlich der Folgen des Klimawandels und seiner weiteren Eskalation, nennenswert zu begegnen.

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Seitenzahl: 406

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

1. Norbert Kandereit: Einleitung dieses Teilbands

2. Ilja Kremer: Antagonismen und Kooperation

3. Walther Heckes: Slave New World und Game of Drones: Thesen zu Digitalisierung und Autonomisierung

4. Shelley Burnside, Karsten Ahldner: Momentaufnahme, oder: Krieg vor unserer Haustür

5. Vier Kurzbeiträge zum Krieg in der Ukraine

6. Detlev Butgereit: Palästina zwischen Zweitem Weltkrieg und Sechstagekrieg

7. Nora Schirrmacher: Oktober 2023: Das Pogrom der Hamas

8. Tim Scheelebeek: Wenn ich damals Atheist gewesen wäre

9. Colleen Sondershjölm: Der Klimawandel aus systemtheoretischer Sicht

10. Nora Schirrmacher: Wissen und Nicht-Handeln: Mögliche Ursachen für ein weltweites Versagen

11. Thomas Alpner-Hagemann: Das Reiten toter Pferde

12. Arlt Neeskens: Schlussbemerkung

1. Norbert Kandereit: Einleitung dieses Teilbands

Die Entscheidung, einen dritten Tagungstag durchzuführen, fiel spontan. Umso dankbarer sind wir, dass Norbert Kandereit, eigentlich Leiter eines Sonderforschungsbereichs zur Fahrzeugsicherheit von Elektro- und Brennstoffzellenfahrzeugen, es übernommen hat, noch in der Nacht nach unserer Entscheidung einige, wie ich finde, sehr kluge Gedanken im Rahmen eines Einleitungsvortrags zu Papier zu bringen. Entsprechend geben wir diesen Beitrag wie gehalten an dieser Stelle wieder.

Auch die meisten weiteren Beiträge in diesem dritten Teilband sind erst unmittelbar vor oder sogar während der Tagung entstanden. Es sind daher Momentaufnahmen von Meinungen und Stimmungen mit möglicherweise deutlich begrenzter Halbwertzeit. Wir fanden sie aber als Beiträge zu einer unverändert lebhaften Diskussion so wichtig, dass wir sie nun auch hier wiedergeben wollen.

Meine Damen und Herren,

die Gewalt ist in die öffentliche Wahrnehmung in Europa zurückgekehrt. Sie war nie fort, werden viele jetzt sagen, und sie haben Recht. Und doch ist etwas anders geworden, und nicht nur, dass die diesjährige Tagung außerplanmäßig verlängert worden ist. Nein, wir stehen heute staunend, verwirrt, verwundert, betroffen, entsetzt, angewidert, letztlich durch und durch emotionalisiert vor dem Scherbenhaufen dessen, was man uns als die heile Welt nach dem Ende des Kalten Kriegs angekündigt hat.

Was ist da geschehen, dass die Gewalt anscheinend nie fort war, wir aber dennoch betroffen ihre Rückkehr bemerken?

Ich denke, das ist der entscheidende Begriff: Wir sind betroffen. Nein, bei uns fallen keine Bomben, rollen keine Panzer, sucht niemand andere an irgendwelche Laternen zu hängen. Zumindest noch nicht. Und doch betrifft uns, was wir aktuell wahrnehmen, mehr als die meisten Gewaltexzesse der letzten Jahrzehnte das getan haben.

Die Bomben auf Indochina, auf Afghanistan und den Irak, haben sie uns betroffen? Kaum. Aber die einstürzenden Twin Towers am 11.09.2001, das hat etwas mit uns gemacht, das hat uns betroffen und hat daher uns betroffen gemacht. Weit weg, der Südsudan, der Tschad, der Kongo und Niger. Aber die Ukraine, eigentlich direkt und viel mehr noch als damals Jugoslawien vor unserer Haustür. Islamistische Messerstecher in unseren Fußgängerzonen, auch nicht schlimmer als Autobahnraser und Zigarettenverkäufer. Und trotzdem eine neue, eine andere Form der Gewalt, die uns plötzlich alle etwas angeht. Die wir nicht wie Zigarettenqualm und getunte BMWs ignorieren können. Oder wollen. Die angegrabschten Kinder in katholischen Jugendhäusern, in Reformschulen und profanen Sportvereinen, die von AFD-Jüngern gehetzten Migranten – da zerbrechen Idyllen, da treten Lügen, da tritt Gewalt offen zutage, von der wir uns frei geworden meinten.

Damals, ich war noch jung, der Kalte Krieg war noch lang nicht überwunden, da standen Hunderttausende auf den Straßen und skandierten gegen Aufrüstung und Militär, NATO-Nachrüstung und bundesdeutsche Kriegsvorbereitung. Man trug Uniform, also Jeans und Bundeswehrparka, aber man war trotzdem Pazifist und jedenfalls fest entschlossen, sich keinesfalls durch die Militärmühle drehen zu lassen, die alles Menschliche im Handumdrehen schreddert und nur gestaltlose Mordmaschinen und Mordmaschinenmaschinisten aus den Kasernentoren zurück in die Zivilgesellschaft entlässt.

Eine frühe LP, das gab es damals noch, meines Freundes Heinz-Rudolf Kunze trägt den Titel „Eine Form von Gewalt“. Und die Älteren werden sich vielleicht auch noch an Johann Galtungs Unterscheidung von direkter und struktureller Gewalt erinnern.

Beide Formen der Gewalt haben uns nie verlassen, sie waren immer da. Hat die strukturelle Gewalt abgenommen? Hat sie eine ökologische Nische eröffnet, in der sich die direkte Gewalt dann entfalten konnte? Sind inzwischen fast alle Staaten in mehr oder minder großem Umfang „failed states“?

Ein Failed State ist ein Staat, der seine wesentlichen Aufgaben, also Schutz seiner Bürger nach innen und außen und allgemeine Wohlfahrt, nicht mehr wahrnehmen kann. Tatsächlich haben viele solide, stabile, wohlhabende Staaten in den letzten Jahren und Jahrzehnten teils aus Kostengründen, teils aus mangelndem Verständnis der Problemlage der direkten Gewalt immer mehr Freiräume gegeben. Dabei ist direkte Gewalt nicht immer auch physische Gewalt. Der zwei Jahrzehnte dauernde Dornröschenschlaf der meisten Regierungen gegenüber direkter Gewalt im Internet hat hier ganze Biotope von Hass und Sexismus entstehen lassen, die man jetzt kaum noch wieder zu beseitigen vermag. Der blauäugige, manchmal auch mit offenkundigen Sympathien verbundene Umgang von Polizei und Sicherheitsdiensten in vielen Staaten mit rechtsextremer Gewalt, der mangelnde Wille, Zwangsprostitution und Zwangspornografie zu bekämpfen, die Unfähigkeit, der immer komplexer werdenden Finanzkriminalität mit den immer gleichen Steuerbehörden Herr zu werden: Alles offenkundige Signale, dass der Staat sich aus wesentlichen Aufgaben zurückzieht und mithin wenigstens in diesen Themen keine Skrupel hat, zum Failed State zu werden.

Gewalt hat viele Formen. Neben Galtungs Unterscheidung zwischen direkter und struktureller Gewalt ist hier vor allem die rechtsphilosophische Differenzierung von ordnender Gewalt oder Potestas und destruktiver Gewalt oder Violentia heranzuziehen. In der Psychologie unterscheidet man aber vor allem zwischen physischer und psychischer Gewalt. Wir wollen uns hier jedoch auf eine andere Differenzierung fokussieren: Gewalt ist einerseits etwas, das jemand anwendet, um einen anderen zu veranlassen, etwas zu tun, das dieser eigentlich nicht tun will. Gewalt ist also ein Mittel, durch das Zwang ausgeübt wird. Aber Gewalt kann auch ausgeübt werden, ohne eine Verhaltensänderung des anderen zu bewirken. Jan Philipp Reemtsma hat das als autotelische Gewalt bezeichnet. Wenn ein frustrierter Hausmeister, Physiker oder Bundestagsabgeordneter seine Wut abends an seiner Frau auslässt, will er keine Verhaltensänderung erreichen. Er ist noch nicht einmal an ihrer Verzweiflung, ihren Tränen, ihren körperlichen Folgen sonderlich orientiert. Er schlägt zu, um zugeschlagen zu haben. Die Gewalt ist hier Selbstzweck, auch wenn es meist nicht gleichgültig ist, wer Opfer dieser Gewalt wird, sonst könnte man auch auf einen Sandsack einschlagen.

Schon in den 1980er Jahren hat vor allem Hermann Popitz die unausgesetzte Omnipräsenz der Gewalt als humane Konstante geschildert, dabei aber für eine strikte Begriffsbeschränkung auf physische Gewalt plädiert. Dem würde ich nicht folgen, dazu sind die Motive und Effekte vor allem bei psychischer Gewalt zu ähnlich. Aber kein Zweifel: Auch wo wir Gewalt nicht ausüben oder nicht wahrnehmen, ist sie mindestens potenziell immer präsent.

Wir sollten uns daher nicht nur fragen, wie die Gewalt so eskalieren konnte, dass sie wieder breiten Platz in unserer Wahrnehmung beansprucht. Sondern wir sollten uns auch fragen, warum wir ihre unausgesetzte Präsenz jahrzehntelang ignoriert haben.

Aber eins ist auch wichtig, und wenigstens das kann einen verhalten positiv stimmen: Es mag ja sein, dass wir jahrelang weggesehen haben. Aber wenigstens im Moment tun wir das nicht mehr, und wir sind zutiefst entrüstet und entsetzt. Können wir diese Entrüstung, dieses Entsetzen in konkretes Handeln überführen? Kann man, und wenn ja, wie kann man der konkreten Gewalt Einhalt gebieten? In der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan? In unseren Fußgängerzonen, in der Nachbarwohnung, in uns selbst? Mit anderer Gewalt? Der Krieg, um alle Kriege zu beenden? Die Tracht Prügel, die dem Schläger das Prügeln ein- für allemal austreibt? Oder gibt es andere Vorstellungen, Ideen, Lösungen, die vielleicht mit dem Urvertrauen brechen, Gewalt stünde als ultima ratio immer zur Verfügung, wenn wir unsere Probleme anders nicht gelöst bekommen. Denn, und auch da bin ich wieder Kind der 1970er Jahre und zitiere Friedrich Hackers Leitsatz: „Aggression schafft die Probleme, die zu lösen sie vorgibt.“ Zwar sind Gewalt und Aggression nicht synonym zu verstehen, aber die eine ist nur schwer vorstellbar ohne die andere, und Hackers Satz gilt ohnehin für beide. Im privaten Bereich genau wie im Miteinander von Staaten.

Im Folgenden werden Sie mehrere Vorträge hören zur Gewalt in unseren Tagen. Lösungen haben wir allesamt nicht, aber dass wir miteinander sprechen, ist schon ein erster Schritt, die Gewalt zu überwinden. Denn zwar wissen wir, dass auch Sprache eine normative Gewalt sein kann, und es ist sicher ein Gewinn, die subtile Gewalt in unseren Sprachtraditionen zu thematisieren. Aber nicht miteinander zu sprechen beraubt uns des wichtigsten, vielleicht des einzigen Mittels, Gemeinsamkeit herzustellen. Und Gewalt ist immer auch wenigstens für den Moment das Brechen der Gemeinsamkeit. Mehr noch, vielfach, vor allem in familiärer Gewalt, ist gerade dies Brechen der Gemeinschaft ein wesentliches Element der Gewalt, das den anderen verzweifelt, einsam und auf sich geworfen zurücklässt. Deswegen steckt in unserem Wort „Kommunikation“ das lateinische Wort „communis“, also „gemeinsam“. Ohne Kommunikation keine Gemeinsamkeit, und ohne das Wiederentdecken des Gemeinsamen, so bitter das ist, wohl auch auf lange Sicht kein Ende der Gewalt.

Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen und uns allen einen, nun ja, vielleicht nicht schönen, aber interessanten, spannenden Tag.

2. Ilja Kremer: Antagonismen und Kooperation

Als wir vor etlichen Jahren Ilja Kremer vorschlugen, einen Vortrag auf der damaligen Akademie-Tagung zu halten, hat er sofort abgelehnt und auf seine unzureichenden Deutschkenntnisse verwiesen. Wir haben diesen Einwand natürlich nicht gelten lassen, aber es hat doch geraume Zeit gedauert, ihn zu einem Vortrag gewinnen zu können. Umso mehr freut es uns, dass er auf der diesjährigen Tagung sein eigentliches Forschungsgebiet als Astrophysiker verlassen hat, um sich mit einer faszinierenden Frage der Politologie zu befassen, nämlich der Bedeutung von Konfrontation als Fortschrittsmotor auch in demokratischen und friedlichen Gesellschaften.

Meine lieben Zuhörer_Innen, Zuschauer_Innen, Perzipiant_Innen, ich freue mich, Ihnen hier einige Gedanken zu unterbreiten und bitte Sie um Nachsicht, wenn in inhaltlicher oder sprachlicher Form hier Defizite zutage treten. Dafür schon im Voraus meinen Dank.

2.1. Konflikthaftigkeit als innergesellschaftlicher Faktor

Angenommen, jeder Konflikt in einer Gesellschaft wäre mit einer Maßzahl versehen, die Einheit wäre Eris, abgekürzt E. Dann wäre z.B. der Streit um den Parkplatz vor dem Supermarkt mit 40E taxiert, der Ehekrach vielleicht mit 120E. Das mag bei Ihnen zuhause anders sein, aber es geht nur um den Durchschnitt. Eine bewaffnete Geiselnahme mit gewaltsamer Beendigung durch ein SEK läge vielleicht bei 1350E, ein Bürgerkrieg im Bereich von etlichen Mega-E.

Die Summe all dieser Konflikte innerhalb einer Gesellschaft zu einem Zeitpunkt t ließe sich mit einem Gesamtkonfliktstatus beschreiben, der z.B. für Deutschland bei vielleicht 50E pro Tag und Person läge, in Summe also ca. 4 Mrd. E oder 4 Giga-Eris bzw. 4GE.

Es fragt sich nun, welche Haltung eine Gesellschaft zu diesen Antagonismen haben soll. Anders gesagt, ist der Gesamtkonfliktstatus etwas, das gesellschaftlichen Handelns bedarf?

In der Geistesgeschichte sind hierauf unterschiedliche Antworten gegeben worden. Diese lassen sich nach ihrer Haltung zu den Antagonismen unterscheiden, also der Frage, ob man in der Summe die Antagonismen für positiv oder für negativ hält, ebenso aber auch danach, ob man den Gesamtkonfliktstatus anders als Einzelkonflikte eigentlich für steuerbar hält oder nicht.

Letztere Frage stellt sich denjenigen nicht, die derlei Konflikte insgesamt für positiv halten, weil sie in ihnen den Motor von Kreativität, Innovation und Fortschritt sehen. Drei Namen verbinden sich mit dieser Idee, Aggression sei der Motor der Weltgeschichte: Adam Smith, Thomas Robert Malthus und Charles Darwin. Natürlich lassen sich viele andere nennen, von Heraklit über Thukydides bis Hitler, aber es sind diese drei, deren Einfluss auf unser Denken bis heute führend ist.

2.2. Das Geburtsproblem des Liberalismus

Adam Smith entwickelte die liberale Grundidee. Diese lautet: Befreie in einem Staat die wirtschaftliche Konkurrenz der Bürger von allen staatlichen oder gesetzlichen Restriktionen, so wird der Nutzen sich nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gemeinschaft optimieren.

Adam Smith stand unter dem traumatisierenden Einfluss der Konfessionskriege, die ganz Europa in bis dahin nicht für möglich gehaltenes Chaos und Leid gestürzt hatten. Er glaubt, je stärker der zivile und privatwirtschaftliche Bereich wird, um so schwächer werden die Staaten und politischen Fraktionen, die daher dann auch außerstande sein werden, erneut derlei Kriege zu entfesseln.

Damit lassen sich drei Grundintentionen des Liberalismus identifizieren:

Maximierung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens;

Dynamisierung des individuellen und kollektiven Forschungs- und Entwicklerdrangs;

Schwächung der kriegsinteressierten Mächte im Staat durch gesteigerte Bedeutung der Privatwirtschaft und den ihr zugrunde liegenden Privatinteressen.

Rawls und Nash haben aus unterschiedlichen Perspektiven heraus gezeigt, dass eine Maximierung des Gesamtnutzens auf diesem Weg nicht oder nur in seltenen Fällen möglich ist. Und dass der Entwicklerdrang in der von allen Restriktionen befreiten Privatwirtschaft besser zum Tragen kommt, darf man auch bezweifeln. An jeder drittklassigen State University in den USA, erst recht in Europa, ist die Innovationsquote deutlich höher als im vielgerühmten Silicon Valley. Denn disruptives Denken und unkonventionelle Neuerungen entstehen nicht unter Kosten- und Effizienzdruck, sondern im freien, von allen Rechenschiebern und Stoppuhren befreiten Diskurs.

Aber wie ist es mit der dritten Grundintention des Liberalismus? Kann man die Wahrscheinlichkeit verwüstender Kriege reduzieren, indem man Unternehmen von staatlichen Restriktionen radikal befreit?

Man darf Zweifel haben, ob das für das 18. Jahrhundert eine erfolgversprechende Annahme war. Aber in der Folgezeit entstand die Industriegesellschaft und mit ihr der industrialisierte Krieg. In der Vorstellung von Adam Smith waren es teils machtbesessene oder ruhmsüchtige Herrscher, teils Glaubensfanatiker, welche die Kriege zumeist entfesselten, während das privatwirtschaftliche Bestreben am Krieg kein Interesse haben kann. Das änderte sich aber in der Folgezeit, weil immer mehr Bereiche der Industriegesellschaft auch einen Nutzen aus Aufrüstung und Krieg zu ziehen versuchten. Das gilt bis heute zum einen offensichtlich für die Rüstungsindustrie. Aber auch diverse Branchen erhoffen sich von einem erfolgreichen Krieg erleichterten Zugang zu wichtigen Rohstoffen, Erschließung neuer Märkte oder Zugriff auf deutlich kostenreduzierte Arbeitskräfte. Damit aber führt eine Entfesselung der Marktkräfte nicht zu einer Reduzierung der Kriegsgefahr. In diversen benennbaren Fällen haben stattdessen Industrieunternehmen und Branchenvertreter sogar einen erheblichen Einfluss auf das Zustandekommen von Kriegen gehabt.

Die Kriegsgefahr steigt durch Liberalisierung natürlich vor allem dort, wo Politiker sich Industrieinteressen zu eigen machen. Der Grund hierfür kann sein, dass sie etwa in der Rüstungsindustrie einen wichtigen Wirtschaftszweig sehen und daher das Wohl der Rüstungsindustrie und der Allgemeinheit eng verbunden sehen. Es mag auch sein, dass jemand bestimmten Industriezweigen – oft der Rüstungsindustrie – vergleichsweise wohlwollend gegenübersteht, weil er aktuell mehr oder weniger offene Förderung, Wahlkampfhilfen, Sondervergütungen oder sogar schlichte Bestechungsgelder von dort erhält. Andere spekulieren auf eine lukrative Aufgabe in der Rüstungsindustrie, wenn ihre politische Laufbahn aus dem einen oder anderen Grund zu Ende gegangen sein sollte.

Für diese Verflechtung von Industrie, Militär und Politik hat sich spätestens seit Eisenhowers Abschiedsrede vom 17.01.1961 der Terminus „Militärisch-industrieller Komplex“ eingebürgert. Eisenhower sah hier die größte Gefahr für demokratische Systeme der Gegenwart, wobei man aber sagen muss, dass sich seit seiner Präsidentschaft dieser Verflechtung um ein Vielfaches vermehrt und intensiviert hat. Aber schon nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sprach ein – allerdings wissenschaftlich nur schlecht untermauerter – Untersuchungsbericht des gerade erst gegründeten Völkerbunds von einer Verschwörung der Rüstungskonzerne vieler Staaten. Diese hätten Einfluss auf diverse Presse-Organe ausgeübt, um eine regelrechte Kriegserwartung anzustacheln, hätten intensiv Einfluss auf die Politik genommen, auch durch unverblümte Korruption in vielen Staaten und Preisabsprachen getroffen, um die Gewinne ihrer Verkäufe zu optimieren.

Wenn also kein unausweichlicher Interessensgegensatz zwischen Privatwirtschaft und staatlicher Kriegstreiberei besteht, wie Adam Smith noch gehofft hatte, dann ist auch die dritte Grundannahme des Liberalismus mindestens für die heutige Zeit als Wunschtraum zu bezeichnen. Es wäre eher ein Friedensgarant, wenn die Industrie, vor allem die Rüstungsindustrie, in ein Regelsystem gebracht würde, das sie von der Notwendigkeit gewinnorientierten Handelns befreit, etwa indem man alle Rüstungsunternehmen verstaatlicht. Dann könnte diese Intention des Liberalismus sogar in gewissem Umfang wirksam werden, weil die dann noch verbleibende Privatwirtschaft kein Interesse an Aufrüstung und Krieg hätte und die Politik daher nicht in diese Richtung zu beeinflussen versuchen würde.

2.3. Die Beeinflussbarkeit der gesamtgesellschaftlichen Konfliktmenge

Smith fand viele Nachfolger, welche die Grundüberlegung seiner Lehre stillschweigend unter den Tisch fallen ließen und im ungebremsten Konkurrenzkampf innerhalb einer Gesellschaft die Wurzel menschlichen Glücks und des Fortschritts in allen relevanten Themen – Wissenschaft, Technik, Kunst, Politik usw. – sahen. Die USA sind derjenige Staat, der aus diesem Geist heraus gegründet worden ist und – bei allen internen Diskursen hierzu – insgesamt unverändert auf diesem Grundkonsens beruhen und ihn auch als Maxime hinaus in die Welt tragen wollen.

Praktisch alle anderen Religionen und Ideologien sehen hingegen es als wesentliche Aufgabe an, den Gesamtkonfliktstatus einer Gesellschaft zu senken oder wenigstens zu entschärfen. Einige streben zudem auch eine Überwindung von Konflikten zwischen Gesellschaften an. Dem Christentum etwa liegt trotz seiner wechselvollen und oft genug kriegerischen Geschichte die Idee zugrunde, innerhalb des Volkes Israel, aber dann auch über dies hinaus in anderen Völkern und zwischen diesen Frieden zu stiften. Ähnliches gilt z.B. für den Buddhismus. Das ist zwar in der gelebten Praxis der entsprechenden Religionen und Ideologien häufig in den Hintergrund getreten, bildet aber dennoch den Urgrund, der etwa durch das christliche „Liebe deine Feinde!“ umschrieben worden ist.

Der christlichen Haltung liegt die Idee zugrunde, dass Antagonismen insgesamt negativ und nicht gottgewollt sind. Aber die hieraus gezogenen Konsequenzen haben in der abendländischen Geschichte keinesfalls dazu beigetragen, den Gesamtkonfliktstatus zu senken. Im Gegenteil, wenn überhaupt, dann haben sie ihn eher noch erhöht.

Das Scheitern des Christentums hat, wie oben ausgeführt, Adam Smith durch eine Ablenkung der Konfliktmenge ins Private zu beantworten versucht. Hingegen verbindet sich vor allem mit Hegel und seinen Nachfolgern der Gedanke, dass der Gesamtkonfliktstatus nicht beeinflussbar ist, sondern einen historisch notwendigen Faktor darstellt. Dies entspricht im 19. Jahrhundert der von Darwin propagierten Idee eines Konkurrenzkampfes der Arten im Rahmen der Evolution. Wie Adam Smith war freilich auch Charles Darwin Opfer einer Verkürzung seiner Lehre. Er betrachtete nämlich die Überwindung genau dieses Konkurrenzkampfes als größte Errungenschaft und fortgesetzte Verpflichtung der menschlichen Gesellschaft. Aber seine Epigonen haben stattdessen den Darwinismus auch als gesellschaftliches und historisches Erklärungsmodell verwendet.

Thomas Robert Malthus endlich hat versucht zu zeigen, dass der Krieg ein notwendiges Korrektiv der Natur sei, da sonst ein bestenfalls lineares Wachstum der verfügbaren Nahrungsmittel mit einem exponentiellen Bevölkerungswachstum unausweichlich überfordert sein werde. Dass dies völliger Unsinn ist, haben zwar schon diverse Zeitgenossen von Malthus eindrucksvoll bewiesen. Trotzdem sind diesen Ideen entsprechende Ideologien und Argumente im politischen Diskurs allenthalben und bis heute anzutreffen.

Für Malthus und seine Nachfolger ist, anders als für Smith und Darwin, eine politische Steuerung von Konflikten nicht sinnvoll, aber auch nicht realisierbar. Entsprechend ging Hegel von einer Art Samsara der Konflikte in der Geschichte aus. Eine herrschende Schicht verliert über die Zeit hinweg ihre Dominanz, eine andere verdrängt sie und richtet sich in der Führungsposition ein, nur um früher oder später ebenso abgelöst zu werden. Buddhistisch gesprochen propagierte Karl Marx die Überwindung dieses Samsaras, dieses Kreislaufs der Wiedergeburten, durch die Überwindung der fortgesetzten historischen Antagonisierung. Wie der Erleuchtete am Ende den Kreislauf der Wiedergeburten hinter sich lässt, so überwindet der Kommunismus letztlich den fortgesetzten Klassenkampf durch die Klassenlose Gesellschaft. Die Herrschaft von Arbeitern und Bauern im Sozialismus ist also noch kein Kommunismus, sondern die letzte Gesellschaftsform, die noch dem Hegelschen Kreislauf der Herrschaft entspricht, aber die Basis bereiten soll für die sich aus ihr entwickelnde Klassenlose Gesellschaft.

Der Faschismus als die andere wesentlich von Hegel und Darwin beeinflusste Ideologie glaubt hingegen nicht, dass es einmal eine konfliktarme Gesellschaft christlicher oder kommunistischer Prägung geben kann, weil der Konflikt wie bei Malthus für Faschisten die wesentliche Determinante der Natur und der menschlichen Gesellschaft ist. Man kann daher die Antagonismen allenfalls lenken, aber nicht senken. Lenkung bedeutet, die innergesellschaftlichen Konflikte zu reduzieren, was etwa der italienische Faschismus als Corporativismo bezeichnet. Hier sind entsprechend z.B. Gewerkschaften nicht mehr Kampforganisationen der Arbeiter zur Erringung besserer Arbeitsbedingungen und höherer Löhne. Sondern sie führen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu Gemeinschaften zusammen, die insgesamt dem Gemeinwohl dienen sollen.

Damit steht der Faschismus aber vor der Frage, wohin er denn die Antagonismen lenken will, wenn er schon den Gesamtkonfliktstatus nicht für beeinflussbar hält. Hierauf gibt der Faschismus zwei Antworten. Zum einen ist es die Hinwendung auf gemeinsame Aufbauziele, was die sich bisher in Antagonismen verbrauchenden Kräfte anders zum Tragen bringen soll. Das ist die ideologische Begründung – neben der ökonomischen – für die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe ebenso wie für den – ursprünglich und lange vor Hitler als reine Wirtschaftsförderungsmaßnahme begonnenen – Autobahnbau in Deutschland.

Aber der Faschismus beruht vor allem auf der Idee, die gesellschaftlichen Konflikte auf ein gemeinsames Feindbild zu fokussieren. Dieser Feind wird sowohl innen als auch außen gesehen. Die Verfolgung Andersdenkender, dann auch, vor allem im NS-Staat, von als „andersrassig“ definierten Menschen ist die Binnenwendung dieser Fokussierung, die sich rasch auch nach außen wendete. Der Corporativismo in Italien oder die Volksgemeinschaft der NS-Ideologie suchten sich also einen inneren wie äußeren Feind, der als Vehikel zur Definition nationaler Gruppenidentität dienen sollte. Ein Feind zudem, der von der Ideologie und der durch sie legitimierten Führung vorgegeben war.

Diese Taktik ist keine Erfindung des Faschismus, erst recht nicht der NS-Herrschaft. Eine konfliktreiche Situation im Inneren dadurch zu entschärfen, dass man die widerstreitenden inneren Kräfte auf ein gemeinsames Ziel außerhalb der Gesellschaft bündelt, bildete beispielsweise den Auslöser für den Ersten Kreuzzug 1096. Wenn es hierfür auch mehrere Anlässe gab, so war ein wesentliches Motiv, den verzankten französischen Adligen und vor allem ihren perspektivlosen nachgeborenen Söhnen ein Ventil zu geben, indem man sie zur Rückeroberung des Heiligen Lands aufrief. In ganz ähnlicher Weise versuchte das Zweite Deutsche Kaiserreich, den – wohl zu Unrecht befürchteten – umfassenden Arbeiteraufstand dadurch zu entschärfen, dass man dem Volk mit der Flottenrüstung und dem Schlagwort vom „Platz an der Sonne“ ein, wie man meinte, attraktives gemeinsames Ziel gab. Vor allem wollte der wesentliche Vordenker dieses Aufrüstungsvorhabens, Alfred Tirpitz, damit eine befürchtete Entfremdung der bisher staatstragenden Kräfte – Militärs, Industrielle und Agrarier – und eine Demokratisierung der Gesellschaft verhindern. Emotionale Flotteneuphorie sollte sich paaren mit nüchterner Besitzgier, da man versprach, mit Hilfe der so errichteten Flotte auch Deutschlands Kolonialbesitz massiv auszubauen. Aber auch dieses – verglichen mit den meisten europäischen Mächten spät einsetzende – Streben nach Kolonien wurde rasch ideologisch überhöht und als Vehikel einer nationalen Euphorisierung genutzt. Geibels Gedicht von 1861, „Deutschlands Beruf“, lieferte hierfür das wichtigste Schlagwort: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.“ Geibel hatte das eigentlich anders gemeint. Er forderte auf, Deutschland erneut zu vereinen, das Papsttum aus der Politik auszugrenzen und trotz scheinbarer Dominanz von Russland und Frankreich zu Gleichberechtigung im europäischen Miteinander zu finden. Entsprechend schrieb er noch „mag“, nicht „soll“. Nun aber propagierte man einen Sendungsauftrag, die Welt in einen anderen Ort zu verwandeln. Obwohl Geibel eine Überwindung der europäischen Antagonismen propagiert hatte, wurde er nun als Agitator einer deutschnationalen Antagonisierung zwischen den europäischen Staaten herangezogen. Entsprechend rasch wurde auch Bismarcks Versuch auf der Kongokonferenz von 1884 belächelt oder offen kritisiert, einen drohenden gesamteuropäischen Krieg abzuwenden, wenn auch mit kalter Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen der afrikanischen Völker. Dadurch geriet der Kongo in die Klauen Leopolds II., der im Nachgang das Menschenmögliche unternahm, als schlimmster Massenmörder aller Zeiten in die Weltgeschichte einzugehen – ein Ehrentitel, den erst Hitler, Stalin und Hirohito ihm erfolgreich streitig machen konnten.

2.4. Der persistente Konflikt

Hitler war der prominenteste Vertreter einer Persistenz des Antagonismus als wesentlicher Determinante jedweder menschlichen Gesellschaft. Auch bei Stalin finden sich vergleichbare Vorstellungen. Während Stalin sich damit eindeutig gegen Marx stellte und eher Hegels Interpretation der Geschichte folgte, kann man Hitlers Idee, der Konflikt sei der Urzustand allen Seins und könne nicht dauerhaft überwunden werden, mit verschiedenen Quellen in Zusammenhang bringen. Das wurde natürlich von Hitlers sehr geringem Bildungsstand erleichtert. Fragile Theoriegebäude lassen sich nun einmal umso leichter errichten, je weniger eine allzu detailversessene Überprüfung die stolzen Mauern ins Wanken bringt. Daher bezog sich Hitler auf darwinistische und sozialdarwinistische Ideen genauso wie auf Hegel und seine nationalistischen Nachfolger. Mal berief er sich in pseudoreligiöser Weise auf einen diffus an Hegel angelehnten Weltgeist, mal auf den Überlebenskampf der Arten im biologischen System. Aber – auch wenn explizite Bezüge hierauf in den überlieferten Quellen und Berichten fehlen – letztlich war er wie viele seiner Zeitgenossen geprägt von der militaristisch-darwinistischen Auslegung des kurzen von Heraklit überlieferten Fragments, wonach der Streit, im weiteren Sinne der Krieg der Vater aller Dinge sei. Hitler übernahm diesen Gedanken von Nietzsche, der freilich selber Heraklit nicht einmal ansatzweise verstanden hatte.

2.5. Konflikt, Kooperation und Moderation

Für jede Gesellschaft stellt sich damit die Frage, ob sie es als ihre wesentliche Aufgabe ansieht, jede Art Konflikt zu moderieren zu einem möglichst großen Gemeinnutzen hin. Dies ist die Idee aller liberalistischen Staatsentwürfe, wie sie sich etwa in den USA besonders erfolgreich manifestieren. Oder ist es die Aufgabe einer Gesellschaft, die angebliche Unausweichlichkeit der Antagonismen nicht ohne weiteres zu akzeptieren? Sondern sie zu lösen, um dem kooperativen Prinzip den Vorrang zu geben?

Historisch sind Kooperation und Ausgleich erheblich bedeutender als Konflikt, Konkurrenz und Antagonismus. Anders als Hegel dies formuliert hat, ist die Weltgeschichte im Wesentlichen die Geschichte eines erfolgreichen Miteinanders unter der unausgesetzten Bedrohung und gelegentlichen Konkretisierung eines Gegeneinander. Und man darf wohl gegen Darwin und seine Nachfolger sogar in der Naturgeschichte den Erfolg von Kooperation und Miteinander nicht unterschätzen. So hätte etwa Hitler, hätten aber auch viele seines Geistes den Löwen als Krönung der Evolution im Tierreich bezeichnet. Aber in der Realität sind Löwen, Leoparden, Tiger und ähnliche Tiere jammervolle Randexistenzen der Evolution. Zum Vergleich: Es ist sicher nicht fair, Löwe und Rind zu vergleichen. Letzteres existiert auf der ganzen Welt und erfreut sich starker Begünstigung seitens des Käse und Steaks erheischenden Homo Sapiens. Aber wie der Löwe auf den afrikanischen Lebensraum beschränkt und daselbst auch nicht domestiziert ist das Gnu. Vergleicht man beide, so fragt sich, woran der Erfolg einer Spezies sich bemisst. So gibt es aktuell 1,5 Mio. Gnus, aber nur etwa 50.000 Löwen, also ca. 3,3% der Gnus. Veranschlagt man die von der Spezies agglomerierte Biomasse, fällt der Vergleich noch ungünstiger aus. Gnus sind ca. 10% schwerer als Löwen, daher beträgt die Biomasse der Löwen nur ca. 3% der Biomasse der Gnus. Zudem leben Gnus viel länger, nämlich im Schnitt 20 Jahre, das sind 165% der Lebenszeit eines Löwen. Und außerdem: Löwen sind als Spezies so erfolglos, dass sie mit ihrer geringen Energiezufuhr nur überleben können, indem sie 75% des Tages verschlafen, sodass sie so wenig Energie wie möglich verbrauchen. Hingegen sind Gnus fast den ganzen Tag aktiv. Ihnen reichen meist vier Stunden Schlaf pro Nacht.

Anhänger der Idee einer von Konflikten getriebenen Entwicklung der Welt würden jetzt einwenden, der Löwe sei bekannt dafür, recht oft das eine oder andere Gnu zu erbeuten, was umgekehrt selbst in extremen Ausnahmefällen nicht vorkomme. Das ist natürlich völlig korrekt. Aber der obige Vergleich der beiden Arten zeigt eben, dass es den Löwen wenig Nutzen gebracht hat, ein Gnu erschlagen zu können. Und man würde wohl kaum Metzger, Jäger oder Berufskiller als die führende Elite einer innerstaatlichen Gemeinschaft bezeichnen wollen. Auch innerhalb der afrikanischen Tierwelt wäre dann bekanntermaßen nicht der Löwe König der Tiere. Denn ab und an wird schon mal ein Löwe von einem verärgerten Nashorn, einem übellaunigen Elefanten oder einer verstimmten Mamba getötet.

Natürlich können die USA unendlich stolz sein, einen übermächtigen Feind wie Grenada oder Panama in einem gewaltigen Kraftakt ganz allein in die Knie gezwungen zu haben. Aber grundsätzlich gilt: Staaten, die zur Lösung ihrer Schwierigkeiten oder als Aufbruch zu neuen Ufern Gewalt für ein probates Mittel halten, scheitern in aller Regel. Und wer allein gegen eine Gemeinschaft antritt, hat sowieso keine Chance. Das musste Athen im Peloponnesischen Krieg ebenso lernen wie Napoleon oder Hitler. Die auf Kooperation beruhenden Ansätze sind immer auf lange Sicht stärker als alles, was auf Alleingang und Heldentum hinausläuft. Deswegen gibt es auch nur selten einen Konflikt, wo eine Diktatur sich gegen eine Demokratie durchsetzt. Demokratische Strukturen sind so viel stärker als autokratische Systeme, dass es schon eines sehr großen Ungleichgewichts an Territorium, Wirtschaftsmacht, Bevölkerungszahl usw. bedarf, um eine Niederlage der Demokratie zu ermöglichen. Oder eines singulären Faktors wie der Pest-Epidemie zwischen 430 und 426 v.u.Z., welche die Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg herbeiführte.

2.6. Ziviler Ungehorsam und militärischer Widerstand

Wenn man sich die Geschichte der USA und der NATO nach dem Zweiten Weltkrieg anschaut, findet man eigentlich von Korea über Vietnam, Libanon, Somalia, Afghanistan, Irak, Libyen, Mali usw. nur eine muntere Folge von Debakeln ernsthaften Bemühens, mit Militäreinsatz die Welt besser zu machen. Selbst die Idee, wenigstens einen monetären oder wirtschaftlichen Vorteil zu erringen, ist allenthalben fehlgeschlagen, auch wenn im selben Geist aktuell wieder Begehrlichkeiten der USA hinsichtlich Panama oder Grönland von einigen Anhängern des früheren Präsidenten propagiert werden.

Es ist noch gar nicht so lang her, dass zwei Befürworterinnen militärischer Lösungen von politischen Problemen, Erica Chenoweth und Maria J. Stephan, statistisch die These zu untermauern versucht haben, dass Gewalt das beste Mittel zum Erfolg sei. Also für das 20. Jahrhundert zu bestätigen, dass in gewaltdurchsetzten Unterdrückungssituationen praktisch jedes nennenswerte Problem militärisch gelöst werden musste, weil Proteste der Zivilgesellschaft anderer Nationen, aber auch ziviler Ungehorsam und Widerstand der ursprünglich Betroffenen hier nur in ganz seltenen Fällen von Erfolg gekrönt waren. Sie müssen recht überrascht gewesen sein, als ihre Eingangsthese sich nicht bestätigen ließ. Jedenfalls im 20. Jahrhundert konnten demzufolge gewaltfreie Widerstandsbewegungen in ca. 52% aller untersuchten Fälle ihre Ziele umsetzen, während gewaltorientierte Bewegungen nur zu ca. 23% erfolgreich waren.

Ein Blick auf die Ökonomie der Industriegesellschaften bestätigt dieses Bild. Hier, wo angeblich ein gnadenloser Kampf jeder gegen jeden herrscht, ist die arbeitsteilige Produktion, also Kooperation, die Daseinsbedingung des Industrialismus. Fast alles in der Wirtschaft ist Kooperation. Zwischen Unternehmen, innerhalb von Unternehmen, zwischen Mitarbeitern und Management, mit Gewerkschaften, mit Zulieferern, mit politischen Entscheidungsträgern, Parteien, übernationalen Institutionen. Nur ganz selten, ganz punktuell kommt es auch hier zu Konfrontation und Konflikt. Aber auch hier ist immer derjenige erfolgreich, dem es entweder gelingt, den Konflikt in Kooperation zu verwandeln. Oder der seine Konfliktposition in eine deutlich stärkere Kooperationsstruktur einbetten kann.

Wenn aber Gewaltfreiheit und Kooperation so viel erfolgreicher sind als Konfrontation, woher rührt dann die allgegenwärtige Glorifizierung von Konflikt und Antagonismus? Warum glauben so viele Menschen, in einem Raubtiergehege überleben zu müssen, wo das Prinzip „Jeder gegen jeden!“ alles dominiere und jeder, der nicht ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht sei, am Ende als der Dumme dastehe? Um das zu verstehen, lohnt ein weiterer Blick auf Heraklit, Hegel, Darwin und Nietzsche. Allerdings weiß man wenig über Heraklit. Aber seinen drei Nachfolgern ist eins gemeinsam: Jeder hatte früh die Erfahrung von Niedergang, Zerfall, Zerstörung machen müssen. Dies galt in biografischer wie politischer Hinsicht. Alle drei betrachteten diese katastrophischen, gewalthaften Endphasen biografischer, historischer oder entwicklungsgeschichtlicher Episoden als unausweichlich. Sie versuchten jedoch, diesen Katastrophen etwas Positives abzugewinnen. Hegel, geprägt von furchtbaren Kriegen, die mit dem Siebenjährigen Krieg als dem eigentlichen Ersten Weltkrieg begannen und bei Waterloo endeten, schuf eine verhalten positive Perspektive mit der Aussage, dass jeder Untergang einer herrschenden Klasse einer anderen, moderneren, fortschrittlicheren den Weg zur Herrschaft freimachen werde. Darwin gewann wie viele seiner Zeitgenossen die sich Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr durchsetzende Einsicht, dass die meisten Arten, die jemals den Planeten bevölkert hatten, ausgestorben waren. Er wollte zeigen, dass kaum eine Art wirklich ausstirbt, sondern sich weiterentwickelt in eine besser angepasste, höher entwickelte. Und Nietzsche schließlich definierte das fortgesetzte Zerstören und Aufbauen und erneute Zerstören als den Sturm des Dionysischen, in dem die Menschen leben müssten, wollten sie sich nicht der würgenden Erstarrung in einem vernunftversklavten Leben anheim geben.

Alle drei Autoren gelangten aus biografischen Motiven zu falschen Schlüssen. Aber viele Menschen, die – meist weniger elegant und elaboriert – ähnliche Ansichten vertreten, haben irgendwann eine ähnliche irreführende Episode durchleben müssen.

Der Erste Weltkrieg markiert für die meisten der sich auf Smith, Malthus, Hegel, Darwin und Nietzsche berufenden Gesellschaftslehren eigentlich das absolute Scheitern, unabhängig davon, wie stark sie die ursprünglichen Ideen verkürzt, verdreht oder angereichert haben. Eigentlich, denn was stattdessen geschah, war, dass alle diese Lehren in geradezu grotesker Form fortgeschrieben wurden, um sie gegen die vernichtende Realität von Verdun und auch gegen den Albtraum der direkt folgenden Spanischen Grippe irgendwie zu retten. So fußte der Stalinismus auf einer bizarren Variante der Hegelschen Lehren, führte ein radikalisierter Liberalismus zu Hardings und Hoovers Laissez-faire in den USA und damit zum Schwarzen Freitag von 1929, berief sich die modernistische Richtung in der NS-Ideologie auf Darwin und Nietzsche – auch wenn beiden bei diesem Gedanken wahrscheinlich übel geworden wäre.

Die Dominanz des Konflikts in allen Lebensbereichen kann man damit als fächerübergreifendes Paradigma des 19., aber auch noch des 20. Jahrhunderts begreifen, das mit Robert Koch noch in die Medizin, mit der verbreiteten Fehlinterpretation des Begriffs vom Urknall in die populäre Rezeption der Astronomie Einzug gehalten hat. Das 21. Jahrhundert steht vor der fundamentalen Herausforderung, die eigentlich immens größere Bedeutung von Kooperation wieder in den Vordergrund zu heben. Und das darf man sogar ökologisch verstehen. Unser raubtierhaftes Ausplündern der Erde, Verbrennen fossiler Rohstoffe als Lieferant von Energie, Ermorden als tragende Säule unserer Ernährung sind Irrwege, die wir hinter uns lassen müssen. Oder es wird irgendwann nicht mehr Menschen geben, als heute Löwen in Afrika leben. Bestenfalls.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

3. Walther Heckes: Slave New World und Game of Drones: Thesen zu Digitalisierung und Autonomisierung

Walther Heckes ist Siedlungsarchäologe, der wesentliche Beiträge vor allem zur Erforschung der frühmittelalterlichen Erschließung bis dahin dünn besiedelter Regionen im Elsass und in der Nordschweiz geleistet hat. Dass er aber sich intensiv auch mit Fragen der näheren Zukunft in Deutschland und in der Welt befasst, zeigt sein Tagungsbeitrag, den wir in der gehaltenen Form wiedergeben. Lediglich der ebenso kraftvolle wie altmodische Tafelanschrieb mit quietschender Kreide jeder These dieses Beitrags ist aus technischen Gründen hier leider profaner Druckerschwärze gewichen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Präsident, liebe Kollegen,

Ich habe vor ein paar Tagen mit Colleen Sondershjölm sprechen können, die Ihnen später am Tag noch etwas zum aktuellen Stand der Klimakrisenforschung berichten wird. Da habe ich mich dann schon gefragt: Ist das eigentlich noch relevant, was ich Ihnen heute erzählen will? Die Zukunft der Technik? Der Informationstechnik? Von Robotern in der Industriegesellschaft? Wo doch anscheinend – und nicht zuletzt wegen dieser Industriegesellschaft – schon sehr bald kein Land der Erde mehr über die Rohstoffe, die Infrastruktur, die Energie verfügen wird, um weiterhin diese Industriegesellschaft auf dem jetzigen oder womöglich noch höheren Technisierungsgrad zu betreiben. Weil die Klimasituation in nicht mal fünfzig Jahren von heute für die dann vielleicht noch zwei Milliarden Menschen auf Erden die Agrarwirtschaft des Frühmittelalters mit wenigen urbanen Enklaven bereits eine traumhafte Idylle sein wird.

Aber für den Fall, dass es aus noch unbekannten Gründen nicht zum globalen Kataklysmus der Menschheit und von Millionen weiterer Arten kommen wird: Kann man heute eigentlich grundsätzliche Entwicklungstendenzen der Technisierung identifizieren? Und haben diese Tendenzen möglicherweise nicht nur eine technische, sondern auch eine soziale oder politische Dimension? Dazu folgend einige Thesen mit knapper Erläuterung.

3.1. Automatisierung war gestern, Digitalisierung ist heute, die Zukunft ist Autonomisierung

Man hält gemeinhin die französischen Manufakturen des Merkantilismus, wie sie vor allem durch Gustave Colbert unter Louis XIV. gegründet wurden, für den Startschuss zum industriellen Zeitalter, welches mit Macht dann Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzte. Die Mechanisierung der Landwirtschaft und das infolge des medizinischen Fortschritts rasche Anwachsen der Bevölkerung schufen eine neue Schicht vor allem in den Städten, die zunächst die nötigen Arbeitskräfte offerierte, über kurz oder lang dann auch wesentliche Abnehmer von Industrieprodukten darstellte. Zugleich sorgten neue Anbaumethoden, andere Feldfrüchte, vor allem die Kartoffel, und die wachsende Bedeutung von Dünger dafür, dass auch die für diese Bevölkerung notwendige Nahrung in der Regel zur Verfügung stand.

Damit begann eine wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung, die bis heute bei weitem nicht abgeschlossen ist. Eine wichtige Epoche verbindet sich dabei mit dem Begriff der Automatisierung, also der Einführung maschinengestützter, stark serieller Fertigung, am typischsten in der Fließbandfertigung, der Henry Fords Erfolg zum Durchbruch verhalf und die ihrerseits erst das Auto zu einer Massenware werden lassen konnte.

Wiewohl diese Phase nicht abgeschlossen ist, wird sie seit etwa einem halben Jahrhundert überlagert von der Phase der Digitalisierung, also des Transfers analoger, materieller Datenhaltung und -bearbeitung auf digitale Datenträger. Was zunächst nur papiergebundene, dann auch andere analoge durch digitale Prozesse abzulösen sich anschickte, durchzieht inzwischen alle Lebensbereiche mindestens in den Industriegesellschaften, zunehmend aber auch in allen anderen Ländern der Erde. Zudem werden hiervon immer mehr gesellschaftliche Gruppen innerhalb der nationalen Gesellschaften erfasst.

Die technische und die damit verbundene gesellschaftliche Entwicklung durchläuft mit der Digitalisierung der Lebens- und Arbeitswelt aber nur eine Zwischenstufe. Der eigentliche Schritt wird die wachsende Autonomisierung technischer Systeme sein. Dabei muss man nicht in Science-Fiction-Szenarien denken wie „I, Robot“ oder „Terminator“. Vielmehr erlebt jedermann bereits die wachsende Autonomisierung traditioneller Hilfsgeräte. Im Haushalt, wo der Waschvollautomat der 1960er Jahre durch den Staubsaugroboter oder den autonomen Rasenmäher ergänzt wird. Im Straßenverkehr, wo Brems- und Parkassistenten nur die Vorstufe zu autonom operierenden Fahrzeugen sind. Bis hin zu scheinbaren Domänen des Menschen, also vor allem dem kreativen Sektor, wo mindestens für eher triviale Texte bereits Textgeneratoren Journalisten und Texter zu verdrängen begonnen haben. Wo Hunderte Übersetzungsbüros ihre Geschäfte eingestellt haben, weil sie von den wenigen Übersetzungen für Verträge und Rechtsvorfälle nicht leben können. Denn für die Alltagsübersetzungen des täglichen Arbeitslebens sind die Defizite von Übersetzungen mit Google Translate oder DeepL unproblematisch, vor allem gemessen an der Zeit- und Kostenersparnis.

Dank Deep Fake gibt es auch Schritte zum maschinengenerierten Schauspieler. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis wir einen Star Wars sehen mit Marylin Monroe als Prinzessin Leia und John Wayne als Luke Skywalker. Oder Louis de Funès als Darth Vader.

Letztlich bilden sich allenthalben autonome Systeme und Supersysteme von Maschinen, die untereinander, ohne Beteiligung eines Menschen, eng vernetzt ein gemeinsames Ziel erreichen, etwa wenn im heimischen Bereich der Ladeautomat des Fahrzeugs, der Saugroboter und der Wäschetrockner vereinbaren, wer wann auf das Netz zugreift, damit sie einerseits günstigen Nachtstrom nutzen, andererseits aber nicht plötzlich alle Steckdosen in Flammen stehen.

3.2. Maschinen werden autonom. Sie steuern sich selbst, andere Maschinen und Menschen.

So richtig klar ist dabei nicht, was mit „Autonomisierung“ gemeint ist. In Maschinenbau und Informatik bezeichnet man als autonome Maschinen oder Systeme zumeist Maschinen, welche in der Umsetzung von menschbestimmten Zielen über die richtige Umsetzung selbst entscheiden können, sofern sie dabei vorgegebene Regeln nicht verletzen. Dies entspricht aber nicht der Verwendung in Politologie und Soziologie bzw., in der Nachfolge von Immanuel Kant, in der Philosophie. Hier versteht man unter Autonomie das Handeln auf Basis selbstgesetzter Ziele, und zwar nicht nur im Rahmen von Teil- oder Subzielen, sondern in der generellen Zielsetzung des eigenen Seins und Handelns.

Menschliche Autonomie ist daher sehr weitgehend, sie wird fast nur durch die menschliche Sterblichkeit und die damit zusammenhängenden Erfordernisse der Lebenserhaltung, durch die Grenzen der eigenen physischen, intellektuellen und materiellen Leistungspotenziale und mit einer gewissen Varianz durch die gesetzlichen und sittlichen Gegebenheiten, Traditionen und Rituale bestimmt und limitiert. Aber bekanntermaßen kann man vor allem die Grenzen der Leistungspotenziale durch Maschinen verschieben. Sterblichkeit und Lebenserhaltung wiederum gehören zu den Dingen, die man mitunter zu ignorieren bereit sein darf, ohne dass das unausweichlich zu einem betrüblichen Ausgang führen muss. Dennoch sind gerade diese beiden letztlich von einer durch keine Automatisierung überwindbaren Unerbittlichkeit, mindestens, solange wir uns nicht insgesamt in IT-Systeme übertragen können, deren schlimmste Bedrohung dann ein Ausfall der Energieversorgung wäre.

Autonomisierung von Maschinen ist mithin die Zuweisung einer immer größeren Zielsetzungskompetenz an Maschinen. Wenn auch die Letztbestimmung der Maschine, also die Sinnstiftung ihres unmittelbaren Daseins, vielleicht noch auf geraume Zeit dem Menschen überlassen bleiben wird, so ist doch eine zunehmende Zahl von Maschinen frei in der Wahl der Zwischenziele, die zur Verwirklichung dieser Sinnstiftung notwendig sind oder ihnen – nicht uns – als am ehesten geeignet erscheinen.

Autonomisierung von Maschinen berührt aber, anders als beim Menschen, auch die Entwicklung von Maschinen, die sich zum einen selbst steuern, zum anderen aber auch andere Maschinen steuern. Dies betrifft die bedarfsgerechte Produktion in vollautonomen Fertigungsanlagen, aber auch Systeme ohne steuernden Hauptknoten, die auf kooperativer Basis eine Gesamtsteuerung erreichen, etwa in der Vereinbarung reibungsloser Verkehrsflüsse durch Car2Car-Kommunikation.

3.3. Entwicklungs- und Fertigungsketten „Mensch zu Mensch“ werden zu Verknüpfungen „Mensch zu Maschine“, „Maschine zu Mensch“, „Maschine zu Maschine“.

Das Manufakturwesen war geprägt von Fertigungsketten, die wesentlich von Mensch zu Mensch gingen, wenn auch unter Verwendung von manuell zu verwendenden Werkzeugen. Diese Ketten wurden mit der Industrialisierung abgelöst von Mensch-Maschine-Mensch-Ketten, wobei aber die hier involvierten Maschinen noch nicht autonom agierten, sondern lediglich als mit Eigenantrieb versehene Werkzeuge.

Im industriellen Bereich treten inzwischen aber zunehmend Maschinen involvierende Kooperationen auf, in denen die Maschinen in erheblichem Umfang autonom operieren. Sie verarbeiten keine Abfolge von Handlungsanweisungen, sondern versuchen ein gesetztes Ziel zu erreichen. In der Kommunikation zwischen zwei menschlichen Partnern stellt seit langen die Kommunikation „Mensch zu Maschine zu Maschine zu Mensch“, also profanes Telefonieren, eine wichtige Kommunikationsform dar. Und kaum jemand, der sich wie selbstverständlich dieser Kommunikationsketten bedient, macht sich zwei Dinge klar: Zum einen, dass er durchaus nicht mit einem Menschen redet, sondern mit einer Maschine. Zum anderen, dass er überhaupt keine Ahnung hat, wie diese Verkettung funktioniert oder auch nur sagen könnte, welche Maschinen neben dem Telefon in seiner Hand noch an dieser Verkettung beteiligt sind.

Neben diese gewohnte Form verketteter Kommunikation tritt zunehmend die normalsprachliche Kommunikation mit der Maschine, also Siri, Alexa, Bots im Auto, um das Navi zu steuern. Hinzu kommt die Kommunikation der Maschinen untereinander. Noch weniger als Menschen in einer Mensch-Maschine-Kommunikation können in der Regel Teilnehmer einer Maschine-Maschine-Kommunikation den Prozess dieser Kommunikation, seine Regeln und Formen erläutern oder gar hinterfragen.

Aber schon in der fast allgegenwärtigen Kommunikation zwischen Mensch und Maschine wissen die beteiligten Menschen meist nicht, wie die hier operierenden Maschinen funktionieren. Was bewegt Siri, auf die Frage nach einer schönen Musik zum Abend Chopin vorzuschlagen und nicht Marilyn Manson? Warum hält Alexa eine Raumtemperatur von 21° C für angemessen, wenn man eine „angenehme Zimmertemperatur“ verlangt hat? Warum nicht 20° C? Oder 32° C? Und wäre Siri zum selben Ergebnis gekommen?

Viele dieser Mechanismen kann man mit einem Begriff von Sarah Spiekermann und Frank Pallas als „Technologiepaternalismus“ bezeichnen, also als eine quasi-patriarchale Reduktion menschlicher Verantwortung und Entscheidungsfreiheit zugunsten von Handlungen, die im allgemeinen Konsens als dem Einzelnen nützlich angesehen werden können. Die Software im Auto, die permanent piept, bis man die Geschwindigkeit auf ein vernünftiges, also sicheres Level zurückgenommen hat. Die Smartphone-App, die mir Nachtruhe anrät oder mich genau jetzt auf eine Wanderung zu begeben oder meine Tante zum Geburtstag anzurufen. Zwar üben diese Systeme meist keinen unmittelbaren Zwang aus, aber mit ihrer subtilen Indoktrination sind sie trotzdem ein Fremdkörper in einem grundlegend auf die Freiheit des Individuums ausgelegten Gesellschaft.

Zudem zeigt sich, dass die Modellierung und Vereinbarung erfolgreicher Kommunikationsverfahren von Maschine zu Maschine mindestens so schwierig und mühsam sein kann wie vor hundert Jahren die Einigung auf Standards beim Telefonieren. Die Dimension dieser intermaschinellen Kommunikation wird umso relevanter, je mehr Teilnehmer der Kommunikationskette Maschinen, womöglich heterogene Maschinen sind, also Maschinen ganz unterschiedlicher Art, Aufgabe oder Intelligenz. Erst recht natürlich, wenn an Anfang oder Ende dieser Kette keine menschlichen Teilnehmer mehr stehen.

Dabei gilt für Maschinen, was für Menschen auch gilt: Jede Perzeption löst einen Übersetzungsvorgang aus. Selbst wenn ein Zwilling seinem Gegenpart etwas mittelt, wird die aurale Perzeption zunächst in ein Beziehungsgeflecht im Gehirn des Rezipienten übersetzt, bevor der eigentliche Akt des Verstehens einsetzen kann. Das bedeutet aber, dass es kein vollkommen kongruentes Verstehen geben kann. Je heterogener Menschen sind, desto größer sind die Verluste beim Übersetzen vom Gesprochenen ins Perzipierte und von dort ins Verstandene, was insbesondere natürlich für interkulturelle Kommunikation gilt.

Die Maschine-Maschine-Verkettungen werden immer länger, die Zahl der in sie integrierten Menschen nimmt kontinuierlich ab. So werden etwa in autonomen Fabriken der nahen Zukunft alle Prozesse von heterogenen Maschinen gesteuert und umgesetzt werden, wogegen Menschen allenfalls noch als Nutznießer der hierdurch erzeugten Produkte in Erscheinung treten werden. Aber innerhalb der Fabrik wird die Kommunikation ausschließlich zwischen Maschinen durchgeführt werden – auf Basis von Kommunikationsstandards, die nicht mehr von Menschen, sondern evolutionär von Maschinen festgelegt worden sind.

3.4. Knappe, präzise Formulierungen in Fachsprache werden durch voluminöse, unpräzise Formulierungen in Allgemeinsprache verdrängt

Die meisten Menschen fragen sich zumindest von Zeit zu Zeit: Wer bin ich? Die Antwort auf diese Frage liegt in einem permanenten Prozess der Selbstdefinition gegenüber äußeren Versuchen, einer Person zu sagen, wer sie ist oder sein muss.

Ein wichtiger Aspekt der Selbstdefinition und damit der Identität ist die individuelle Sprache. Ich bin, wer ich bin, weil ich so spreche, wie ich spreche. Dies gilt für Menschen ebenso wie für jede Organisation, jedes Team, jede Geschäftseinheit. Jeder Beruf hat seine eigene Sprache, sein Sprachderivat, das andere nur in begrenztem Umfang verstehen können.

Komplexere Aussagen, aber auch Romane oder Theaterstücke verbinden ihren Inhalt über verbale Token oder Schlüsselwörter, die spezifisch für den Kontext sind, in dem der Text erstellt wird. Daher ist es für Menschen und Teams von entscheidender Bedeutung, diese spezifische Sprache und die besondere Bedeutung verschiedener Begriffe in diesem Kontext zu speichern.

Ein linguistischer Ansatz in der KI erfordert Lernen auf der Grundlage einer großen Menge an Quellen. Doch je spezifischer und spezieller das lokale Sprachderivat ist, desto geringer ist die Materialversorgung für den KI-Lernprozess. Daher lernt die KI zu einem großen Teil auf der Grundlage allgemeinsprachlicher Quellen. Mit der Zeit wird sie in der Lage sein, die meisten Texte – in einer schwachen Interpretation des Begriffs – zu „verstehen“, selbst wenn ein höher spezialisiertes Sprachderivat angewendet wurde. Wenn sie jedoch einen Text erstellt, ist sie standardmäßig nicht in der Lage, sich auf dieses Sprachderivat zu beschränken. Das Ergebnis wird ein in Allgemeinsprache abgefasster Text sein.

Der Vorteil eines solchen allgemeinsprachlichen Texts besteht natürlich darin, dass Menschen, die nicht in der jeweils spezialisierten Sprache geschult sind, den Text dennoch verstehen können. Aber:

Das Sprachderivat ist nicht nur ein Weg zur schnelleren, spezialisierten Kommunikation innerhalb der jeweiligen Gruppe. Es ist entscheidend für die Verbindung der Bedeutungselemente eines Texts. Diese Klammer geht in Allgemeinsprache möglicherweise verloren.

Spezialisierte Sprache ist auch eine Säule bei der Konstruktion individueller und sozialer Identität. Eine zunehmende Anzahl KI-generierter, also allgemeinsprachlicher Texte beraubt Menschen und Gruppen dieses wichtigen Teils ihrer Identitätsdefinition. Das schwächt sowohl Menschen als auch Gruppen und Organisationen.

Der Grund, spezialisierte Sprachen einzuführen, ist nicht immer, soziale Abschottung über Spracherwerb sicherzustellen. In vielen Fällen ließen sich Aussagen der jeweiligen Disziplin, also etwa in der Mathematik, auch in Allgemeinsprache formulieren. Viele Menschen werfen der Mathematik sogar vor, ihre Verstehbarkeit durch die hohe Formalisierung ihres Sprachderivats unnötig zu erschweren. Indes, die spezialisierte Sprache lässt sich erlernen. Mathematische Theorien in Allgemeinsprache zu formulieren, würde umfangreiche Texte erzeugen, die zum einen deutlich mehr Interpretationsspielraum böten, zum anderen aber für fast jeden Leser praktisch unverstehbar wären, schlicht aufgrund ihres Volumens

Es wird daher für linguistische Ansätze in der KI eine entscheidende Aufgabe sein, die lokalen Sprachableitungen trotz der begrenzten Menge verfügbarer Quellen für das Lernen beizubehalten und zu verwenden. Tatsächlich gibt es verschiedene erste Ansätze, einem zunächst normalsprachlich trainierten Large Language Model mit Hilfe von Review Augmented Generation (RAG) zumindest ein passives Verständnis auch von fachsprachlichen Texten zu ermöglichen. Wie weit die KI auf dieser Basis aber auch zur Erzeugung entsprechender Texte gelangen kann, bleibt vorerst abzuwarten. Im Moment ist die Gefährdung der Spezialsprachen durch KI und Digitalisierung eines der größten Risiken dieser Entwicklung, das heute bei weitem nicht hinreichend diskutiert wird.

3.5. Die Grenzen zwischen Privat und Beruf, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Intern und Partnerfirma lösen sich zunehmend auf.

Sucht man für die europäische Gesellschaft der Antike ein grundlegendes Element, anhand dessen Geschichte sich die gesamtgesellschaftliche Entwicklung überzeugend darlegen und begreifen lässt, so ist dies zweifellos der materielle Besitz, vor allem der Besitz an Boden. Bereits am ersten Tag unserer diesjährigen Zusammenkunft hat Ihnen Frau Bregnitz dargelegt, wie materieller Besitz, Geld und Information als eigenständig werthaltige Faktoren korrelieren. Man kann demzufolge die Gesellschaft vor allem der Neuzeit entlang der Geschichte des Geldes und der Währungen beschreiben. Diese tritt neben die materielle Austauschgeschichte und schiebt sie mitunter auch deutlich in den Hintergrund. Aber dies markiert auch den allerersten Übergang von einer am materiellen Sein und Werden orientierten Gesamtgeschichte zu einer informationsbasierten Geschichte, die sich weniger am So Sein von Ländern, Gesellschaften, Kontinenten usw. orientiert, sondern eher daran, was Menschen zu welchem Zeitpunkt wovon wussten und wie dieses Wissen weitergegeben wurde – oder auch nicht.

Die informationsgeschichtliche Interpretation der Geschichte ist also nicht neu. Ihre Bedeutung wächst aber mit Blick auf die letzten zwei Jahrhunderte. Sie gewinnt aber auch deshalb immer mehr an Bedeutung, weil die Bedeutung von Information im historischen Prozess, aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr zunimmt. Entsprechend kann man auch die heutige Gesellschaft weiter wie frühere gesellschaftliche Zustände als die Gesamtheit der in ihr stattfindenden Materialflüsse sehen. Sie wird aber zunehmend besser darstellbar, wenn man sie als Agglomerat der in ihr stattfindenden Informationsflüsse begreift. Und das gilt nicht nur für die Gesellschaft insgesamt, sondern auch für alle ihre Teile, also für einzelne Personen und kleine Gruppen, aber auch für Organisationen beliebiger Größe, lokal ebenso wie national oder international. Umgekehrt wird das Erlangen, das Halten und Steuern von Informationen neben dem Erlangen, Halten und Steuern von materiellen oder monetären Werten eine dritte Säule, auf der gesellschaftliche und ökonomische Prozesse und Machtstrukturen basieren.