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Erfolg ist eine Entscheidung: 20 Regeln des Business, 20 Lehren fürs Leben
Marina Buzunashvilli gilt als eine der einflussreichsten Größen im deutschen Musikbusiness, ihr Weg an die Spitze aber war alles andere als leicht. Aufgewachsen in Kreuzberg, war ihr Umfeld geprägt von Gewalt und Verbrechen. Einzig ihre Liebe zur Musik ermöglichte ihr den Aufstieg, gegen alle Widerstände. Schließlich wurde Marina Director of PR bei Sony Music Germany, war maßgeblich daran beteiligt, den Deutschrap von Kool Savas, Xatar oder Haftbefehl groß zu machen und arbeitete regelmäßig mit Künstlern wie Robbie Williams und Adele zusammen. Erstmals erzählt sie jetzt ihre ganze Geschichte und teilt die 20 Rules, die sie zum Erfolg geführt haben.
Ein faszinierender Blick hinter die Kulissen des Musikgeschäfts und ein Leitfaden für alle, die ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben führen wollen – egal was andere davon halten!
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2024
Erfolg ist eine Entscheidung: 20 Regeln des Business, 20 Lehren fürs Leben.
Marina Buzunashvilli gilt als eine der einflussreichsten Größen im deutschen Musikbusiness, ihr Weg an die Spitze aber war alles andere als leicht. Aufgewachsen in Kreuzberg, war ihr Umfeld geprägt von Gewalt und Verbrechen. Einzig ihre Liebe zur Musik ermöglichte ihr den Aufstieg, gegen alle Widerstände. Heute ist Marina Director of PR bei Sony Music Germany, war maßgeblich daran beteiligt, den Deutschrap von Kool Savas, XATAR oder Haftbefehl groß zu machen und arbeitet regelmäßig mit Künstlern wie Robbie Williams und Adele zusammen. Erstmals erzählt sie jetzt ihre ganze Geschichte und teilt die 20 Rules, die sie zum Erfolg geführt haben.
Ein faszinierender Blick hinter die Kulissen des Musikgeschäfts und ein Leitfaden für alle, die ein erfolgreiches, selbstbestimmtes Leben führen wollen – egal was andere davon halten!
Marina Buzunashvilli, 1981 in Wien geboren, wuchs als Tochter einer aserbaidschanisch-georgischen Familie in Berlin-Kreuzberg auf. 2004 begann sie in der Agentur Panorama3000 zu arbeiten, zuerst in der Buchhaltung, später dann in der Presse und dem Künstlermanagement. 2012 gründete sie gemeinsam mit einer Agenturkollegin die Musik- und Filmagentur Musicism & Cinelove, aus der heraus 2017 DIEMARINA entstand, eine der einflussreichsten Künstleragenturen im deutschen Hiphop. 2019 folgte der Wechsel zu Sony, vorerst als Head of PR und ab 2020 als Director of PR. Marina Buzunashvilli lebt in Berlin.
www.penguin-verlag.de
Marina Buzunashvilli
mit Nina Sternburg
Von der Hood an die Spitze des Musikbusiness
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Copyright © 2024 Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Lektorat: Nina Schnackenbeck
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagfoto: © Victoria Kämpfe
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32054-6V001
www.penguin-verlag.de
Für Mama, Dariusch und für Hiphop!
Ich hole tief Luft. Meine Nasenflügel weiten sich. Ich sauge den Geruch von altem Rauch, durchgesessenem, speckigem Kunstleder und etwas Muffigem ein – die Überreste von vor Tagen verschüttetem Bier? Ungewaschene Haare? Abgetragene Second-Hand-Klamotten mit einem Polyesteranteil von mindestens 90 Prozent? Ich und die Flimmerhärchen in meiner Nase können es nicht richtig ausmachen. Vielleicht ist es auch eine Mischung aus allem. Die Melange der Armut. Die Türen der U8 öffnen sich. Neue Duftnoten mischen sich zu dem Potpourri. Paco Rabannes »1 Million«, frisches Bier, Zwiebeln, Kaffeeatem, Erdbeerlipgloss, Pisse. Ich stoße die Luft mit einem Schnauben aus meiner Nase aus. Hmmmfff. Nicht wegen des Geruchs, zumindest nicht von dem hier draußen. In mir drinnen riecht es nach Wut, Frust und Pubertät – mein ganz persönliches Aroma anno 1996. Die Finger meiner Mutter umschließen die Halteschlaufe, die über unseren Köpfen baumelt, wie die Schlinge eines Galgens, und so fühlt sich diese Scheiß-U-Bahnfahrt auch an. Hmmmfff. Mama stößt ebenfalls Luft und mit ihr Frust und Wut aus ihren Nüstern. Und irgendetwas anderes katapultiert sie aus sich heraus und hinein in den Raum direkt zwischen uns, wo es unsichtbar schwebt und weitere Ziegel auf die Mauer setzt, die immer zwischen uns zu stehen scheint.
Wir drängen uns näher aneinander. Werden gedrängt – freiwillig kommen wir uns in letzter Zeit ungern so nahe. Ich verstehe nicht, warum sie überhaupt zu meinem Frauenarzttermin mitkommen will. Es ist ja nicht so, als würde ich sonst nicht auch alles allein machen. Müssen. Aber vermutlich hatte sie keinen Bock, mit Papa zu Hause zu hocken und ihn anzukeifen, weil er mal wieder tagelang verschwunden war. Mir geht’s zumindest so, auch wenn es nichts Neues ist. Immer wieder ist er manchmal einfach weg – wortlos. Zischt ohne Erklärung oder Entschuldigung nach Baku ab.
»Ja, danke für’s Tschüsssagen, Papa!« Das würde ich ihm gerne sagen, aber die Gelegenheit scheint sich einfach nie so richtig zu ergeben. Denn jedes Mal, wenn er zurückkommt, tut er so, als ob gar nichts passiert wäre. Sitzt wieder in seinem Sessel, guckt sich sein russisches Fernsehen an und erteilt Ansagen. Manchmal überlege ich dann, ob ich mir das vielleicht nur eingebildet habe. Vielleicht war er gar nicht weg. Oder Mama hat gelogen. Vielleicht ist er gar nicht nach Baku gefahren, sondern hat bei irgendeinem Bekannten auf der Couch die Nächte durchgewacht, weil Mama ihn rausgeschmissen hat. Oder er war in einer Spielo und hat die Zeit vergessen. Die Welt. Uns. Wer weiß das schon so genau. Jedenfalls tue ich dann auch immer lieber so, als ob nichts wäre, denn vielleicht ist es besser so.
»Hmmfff« fauchen meine Nasenlöcher erneut. Mamas Blick trifft mich wie ein Dolch. Eigentlich habe ich keinen Bock mehr auf Diskutieren. Aber dann zischt mein Mund doch noch einen Satz hinterher wie eine Dampflok, die eine schwarze Wolke Rauch aus ihrem Schornstein stößt: »Ich wünschte, er wäre nicht mein Vater!« Meine Mutter blickt mich mit einem undurchdringlichen Blick an. Ich denke noch, dass sie es mit diesem Blick als Antwort auf meine Unverschämtheit belassen wird. Wir kennen alle diesen Blick, den Mütter dann draufhaben. Aber dann öffnet sie doch noch ihren Mund. »Na, dann wirst du dich ja freuen.« Ein freudloses Grinsen ziert ihr Gesicht. »Er ist nämlich gar nicht dein Vater.«
Das Warnlämpchen über der Automatiktür der U-Bahn färbt unsere Haarschöpfe kurz feuerfarben, und mit einem dröhnenden Sirenenton schließen sich die Pforten der U8 wieder, die soeben eine ganz neue Hölle für mich geöffnet haben.
Es gab mehrere Zäsuren in meinem Leben, die mich zu dem Menschen formten, der ich heute bin: leitende Director of Public Relations von Sony Music Germany, Deutschraps Promoqueen und Bossin der Szene. Marina, die keinen Nachnamen braucht, damit Leute wissen, von wem die Rede ist. Ich bin DIE Marina. Aber neben all diesen Beschreibungen und Titeln – oder besser gesagt, unter all dem, unter meiner glänzenden, diamantharten Oberfläche – bin ich auch die Marina, die vor Ängsten und Panikattacken während ihrer Karrierehöhepunkte nicht U-Bahn fahren konnte. Jahrelang. Die an den Tagen, als ihre Mutter und ihre Schwester starben, arbeiten ging, als wäre nichts geschehen. Die, noch bevor sie ihren 40. Geburtstag feierte, bereits mehrere Suizidversuche und Herzinfarkte hinter sich hatte. It’s all part of the story. Der Marina-Story.
Von einigen dieser Zäsuren werde ich in diesem Buch erzählen. Sehr viele davon haben mit meiner Familie zu tun und damit, was bei uns in meiner Kindheit, Jugend und auch noch im Erwachsenenalter so abging. Und das war eine Menge. Viele der Lektionen, die ich im Laufe meines Lebens und meiner Karriere gelernt habe, die ich hier mit euch teilen werde, stehen in direktem oder indirektem Zusammenhang mit meinem Aufwachsen als Kind meiner Eltern und als Schwester meiner Schwester. Nicht alle, aber viele. Ausschnittweise werde ich euch immer wieder in diese Momente des Wachsens, Aufwachens und Entwachsens meines Lebens mitnehmen. Wir reisen zusammen zurück zu den Orten, Situationen und Augenblicken, in denen etwas »Klick« machte. Mal war es ein metaphorisches Klick, mal aber auch das buchstäbliche Klicken von Handschellen, Knarren oder sich schließenden Türen, die trotzdem alle zum selben Ergebnis führten: Etwas in mir veränderte sich.
Bevor ich in den folgenden Kapiteln also versuchen werde, die Ereignisse meines Lebens zu einer zusammenhängenden Handlung aufzufädeln wie Perlen auf eine Schnur, um darin einen Sinn, ein Muster auszumachen, das euch vielleicht auch helfen kann auf eurem Weg, möchte ich euch zum besseren Verständnis erst mal ein paar Grundkenntnisse über mich liefern. Denn wenn ich eine der 20 Lektionen, über die wir im Laufe dieses Buches noch reden werden, aussuchen müsste, die ich zur wichtigsten von allen erklären müsste, dann wäre das: Never judge a book by it’s cover.
Also:
Meine Eltern waren jüdische Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Meine Mama kam aus Aserbaidschan, mein Papa – also der Mann, mit dem ich als Vater aufgewachsen bin und von dem ich bis zu dieser alles verändernden U-Bahnfahrt dachte, dass er mein biologischer Vater sei – stammte aus Georgien. Mein biologischer Erzeuger, eine Affäre meiner Mutter, war Israeli, den sie kennenlernte, als sie gemeinsam mit meinem Vater und meiner älteren Schwester von Aserbaidschan nach Israel auswanderte. Mein Vater erfuhr nie etwas davon. Weder von der Affäre noch, dass ich dabei entstanden war. Es war ein Geheimnis, eine Lüge, mit der meine Mutter und nach der geschichtsträchtigen U-Bahnfahrt 1996 dann auch ich bis zu seinem Tod lebten.
Noch bevor ich geboren wurde, verließen meine Eltern Israel jedoch wieder und landeten auf der Suche nach einem besseren Leben erst mal in Wien, Österreich, wo ich 1981 geboren wurde – was übrigens ein Versehen war. Eigentlich wollten meine Eltern direkt nach Deutschland gehen. Aber da mein Vater nicht wusste, dass Österreich und Deutschland zwei verschiedene Länder waren, wurde ich eine gebürtige Österreicherin. Na ja. Lange blieben wir da eh nicht. Die rassistischen und antisemitischen Erfahrungen, die meine Eltern in Österreich durchlebten, waren so unerträglich, dass sie nach gerade einmal einem Jahr, 1982, die Zelte dort abbrachen und nach Berlin zogen, genauer gesagt, nach Kreuzberg. Ich wuchs also am Halleschen Tor auf. Migrantischer Hotspot, Sozialbausiedlungen, Ticker, Arbeiter, Hustler, Linke, Kanacks – mein Zuhause, wo ich das wunderbare und scheußliche Aroma, das einem nicht nur in der U8, sondern überall in Spätis, Kneipen, Gemeindezentren und auf öffentlichen Plätzen begegnete, zum ersten Mal in meine Lungen sog und für immer in mein Herz schloss.
Meine Eltern waren Hustler. Meine Mutter war eigentlich Übersetzerin, aber hat immer drei, vier Jobs gleichzeitig gehabt. Morgens ging sie zu AEG, um im Akkord zu arbeiten. Nicht mal eine Pullerpause hat sie gemacht. Denn je mehr man schafft bei der Akkordarbeit, desto mehr Geld bringt man nach Hause. Arzthelferin und Buchhalterin konnte sie irgendwann auch noch zu ihrem Lebenslauf hinzufügen. Abends ging sie dann noch putzen, wobei ich sie häufig begleiten musste. Neben den Arztpraxen, in denen wir oft nach Dienstschluss sauber machten, zählten auch einige Damen zu ihren Kundinnen, die sie aus der jüdischen Gemeinde kannte, die jedoch wenig mit uns verband, abgesehen vom religiösen Background, der für meine Mutter aber keine große Rolle spielte – im Gegensatz zu meinem Vater. Ihm waren unsere jüdische Identität und Traditionen sehr wichtig. Wir sollten diesen Teil von uns, der in dem neuen Land, in unserem neuen Zuhause so versteckt und selten war, nicht vergessen. Er achtete darauf, dass wir die Feiertage begingen (wenn auch auf Krampf), und er war der Einzige von uns, der regelmäßig in die Synagoge ging. Ich glaube, meine Mutter war zu gepeinigt vom Leben, um irgendwelche religiösen Gefühle empfinden zu können.
Manchmal gaben uns diese Damen aus der jüdischen Gemeinde, für die wir putzen gingen, die Reste von ihrem Sushi mit, wenn wir damit fertig waren, ihre Toiletten zu reinigen. Ich mochte diese nett gemeinte Geste nicht. Ich fühlte mich schäbig dadurch. Es war nicht zu übersehen, dass sie sehr viel mehr Geld als wir hatten, sie lebten auch nicht in Kreuzberg, sondern in Mitte oder Grunewald. Auch hier, bei den Juden und Jüdinnen, die wir kennenlernten, waren wir mal wieder anders. Gehörten nicht so richtig dazu. Ein Gefühl, das sich durch mein Leben zieht – bis heute.
Ich habe schnell für mich festgemacht, dass ich mit der jüdischen Gemeinde, wie ich sie in Berlin kennenlernte, nicht wirklich viel gemeinsam hatte, und doch war sie fester Bestandteil meines Lebens. Ich identifizierte mich aber mehr mit meinem Kiez, Kreuzberg, und den anderen Einwandererkids dort, die genauso wenig Kohle, Perspektiven und Aufmerksamkeit bekamen wie ich. Religion wurde für mich irrelevant. Ich wurde Atheistin, und das bin ich bis heute geblieben.
Neben den mehr oder weniger offiziellen Jobs hat meine Mutter auch illegale Scheiße gemacht. Zigaretten verkauft und so was. Hauptsache war: Geld ranschaffen. Das war ihr von Kindesbeinen an eingehämmert worden und das war alles, was sie antrieb. Ich glaube, sie fühlte sich große Teile ihres Lebens unendlich allein. Sie hatte das Gefühl, sich weder auf meinen Vater verlassen zu können noch auf sonst irgendwen.
Ach ja, mein Vater: der war auch ein Hustler, nur nicht so effizient wie meine Mutter. Seine ganze Familie war nicht ganz koscher gewesen und so wusste ich nie wirklich, was er für Geschäfte machte, und ich bin mir auch nicht sicher, wie geschickt er darin tatsächlich war. Die Geschichte, wie meine Eltern damals in Israel gelandet waren, veranschaulicht das ziemlich gut. Große Teile der Familie meines Vaters waren bereits in den 70er-Jahren nach Israel ausgewandert und hatten ihm das Blaue vom Himmel versprochen. Also packte er seine kleine Familie, meine Mutter und meine Schwester, plus einen Koffer voller Geld ein und versuchte dort ebenfalls sein Glück. Den Koffer lagerte er in der Wohnung einer Tante wie ein Pirat seinen Goldschatz auf einer geheimen Insel. Und natürlich passierte, was passieren musste: Nach gerade mal ein paar Wochen am Mittelmeer wurden sie beklaut. Der Koffer war weg. Und die verheißungsvolle Aufbruchstimmung, die Hoffnung meines Vaters auf einen Neuanfang, ebenfalls. Einige Monate lang kehrte er immer wieder nach Aserbaidschan zurück, um Geschäfte zu machen, das Abenteuer Israel war jedoch ziemlich bald vorbei. Bevor sie dem Land endgültig den Rücken kehrten, entstand aber noch ich. Na ja, den Rest kennt ihr ja. Wir landeten also schlussendlich in Kreuzberg.
Die Hustler-Mentalität, die meine Eltern gemein hatten, verknüpft mit den Enttäuschungen und dem Schmerz der Armut, der Flucht und Rassismuserfahrungen, führte dazu, dass meine Grundversorgung zwar immer gesichert war, aber viele andere kindliche Bedürfnisse eher zu kurz kamen. Meine Eltern hatten einfach keine Kapazitäten dafür. Weder zeitliche noch psychische oder emotionale. Es gab in meiner Kindheit keinen »bedürfnisorientierten« Umgang – gelinde ausgedrückt. Niemand hat sich nachmittags mit mir hinsetzt, um mir bei den Hausaufgaben zu helfen. Meine Eltern haben nicht mal die Sprache gesprochen, geschweige denn die Bildung genossen, um mir dabei zu helfen. Mein Vater hatte mit 13 seinen Pass gefälscht, um von Georgien nach Aserbaidschan zu gehen, um dort zu arbeiten. Meine Mutter hat auch gearbeitet, seit sie denken kann. Kurz gesagt: In meiner Kindheit wurde ich versorgt, aber es wurde sich nicht um mich gekümmert. Alles, was darüber hinausging, dass ich Essen auf dem Tisch und Klamotten am Leib hatte, fehlte. Es gab keine emotionalen Gespräche zu Hause. Generell war Emotionalität untereinander kaum vorhanden. Mein Vater war irgendwie eine verlorene Seele, der neben seinen persönlichen Traumata mit Problemen wie Spielsucht zu kämpfen hatte. Die Ehe meiner Eltern war zerrüttet, seit ich denken kann, und das sogar, bevor er das Geld, das meine Mutter hart verdiente, verzockte. Ich hatte immer das Gefühl, meine Eltern seien nur zusammen, weil mein Vater allein überhaupt nicht lebensfähig gewesen wäre. Von einem liebevollen Miteinander kann also nicht die Rede sein.
Aber immerhin wurde ich nicht geschlagen, im Gegensatz zu meiner Schwester. Ach, meine Schwester … Ihre Probleme kamen irgendwann noch auf diesen bereits riesigen Haufen an Problemen bei uns zu Hause obendrauf. Meine Schwester begann ziemlich früh in ihrer Jugend Scheiße zu bauen. Zuerst waren das noch Probleme wie auf der Straße rumcornern, kiffen und Leuten ihre Baby-Phat-Jacken abziehen. Meine Schwester war eine richtige Kreuzberger »Banger-Olle« der 90er-Jahre. Sie war die absolut Coolste für mich – aber eben mit ihren ganz eigenen Problemen. Später erweiterte sich das Spektrum ihres Scheißebauens um die Einnahme immer härterer Drogen, am Ende Heroin, mit all den weiteren Schwierigkeiten, die mit dieser Sucht einhergehen: Beschaffungskriminalität, Gewalt, Prostitution, psychische Krankheiten.
20 Jahre ihres Lebens war meine Schwester heroinsüchtig. Und ihre Sucht bestimmte schnell unser aller Leben. Es geschah nicht selten, dass ihre Drogendealer plötzlich vor unserer Tür standen und mit vorgehaltener Waffe das Geld, das sie ihnen schuldete, von uns erpressten. Einmal entführte mich einer der Dealer sogar. Der Anblick meiner Mutter, wie sie am Fenster steht und nervös die Straße vor unserer Wohnung nach Blaulicht oder zwielichtigen Typen scannt, die eventuell zu uns auf dem Weg sein könnten, hat sich in meine Netzhaut gebrannt und taucht unwiderruflich auf, sobald ich an meine Jugend denke.
Jetzt ging Mamas Geld nicht nur für Papas Sucht drauf, sondern auch für die meiner Schwester. Und sobald ich Geld verdienen konnte, auch mein Geld. Selbst als ich später schon erfolgreich als Promoterin arbeitete und tausende von Euros verdiente, gab es Winter, in denen ich keine Heizung in meiner Wohnung anschaltete, weil ich kein Geld dafür hatte. Ich gab alles meiner Familie, denn meine Mutter konnte irgendwann nicht mehr und musste von mir mitversorgt werden. Der Spuk endete erst, als meine Schwester mit Anfang 40 an ihrer Drogensucht und deren Folgen starb.
Ich weiß, dass mich meine Eltern und meine Schwester geliebt haben. Trotzdem haben sie und die Gesellschaft, in der ich aufwuchs, sehr viel Schaden angerichtet. Wir sind alle das Ergebnis unserer Erziehung und Lebensumstände. Auch meine Eltern und meine Schwester. Ich nehme ihnen ihre Fehler heute nicht mehr übel. Wir waren arm, Arbeiterklasse, dazu noch Ausländer und Juden. Da kommen die Kopf- und Seelenschmerzen mit dem Stempel der Aufenthaltserlaubnis gratis dazu. Meine Schwester ist mit dem Schmerz umgegangen, indem sie ihn betäubt hat. Ich ging mit dem Schmerz meiner Kindheit um, indem ich ihn angeguckt und seziert habe, um ihn aus jedem Winkel und Schatten heraus verstehen, kontrollieren – und so eventuell auch irgendwann überwinden zu können. Analyse mit anschließender Lösungsfindung – so agiere ich bis heute. Ich hätte aber auch ganz anders aus diesen Erfahrungen herausgehen können.
Ich habe meinen Eltern und meiner Schwester verziehen. Es hat mein Leben schwerer gemacht, wie sie mich erzogen und in ihre Probleme reingezogen haben, aber ich bin auch dankbar, weil ich dadurch gelernt habe, das Steuer zu übernehmen. Als ich neun Jahre alt war, hatte meine Mutter ihren ersten Suizidversuch. Vor mir. Das war der Zeitpunkt, wo ich endgültig erwachsen wurde und begann, die Verantwortung für mein Glück komplett selbst zu übernehmen. Ich wusste, dass die Einzige, die mich retten konnte, ich selbst war. Ich träumte von einer Zukunft, die mir nicht versprochen worden war, und ich packte sie gewaltsam mit meinen Fäusten und ließ sie nie mehr los, als ich auch nur ein Fitzelchen davon zu fassen kriegte. Alles ist, wie es ist, weil alles so war, wie es war.
Wir sind alle mehr, als der erste Eindruck vermitteln mag. Ich glaube, besonders Menschen, die viel Düsternis erleben mussten, haben deswegen auch ein gesteigertes Nachsehen mit den Schattenseiten anderer. Wir kennen nicht die ganze Reise, die jemand hinter sich haben mag, also sollten wir mit unserem Urteil vorsichtig sein. Das ist, was der Spruch: »Never judge a book by it’s cover« in erster Linie aussagt. Für mich bedeutet er aber auch: Lass dich nicht unterschätzen und unterschätze auch selbst keine*n andere*n, auch wenn er oder sie auf den ersten Blick nicht deinen Vorstellungen, Erwartungen oder deinem Urteil entsprechen mag. Wir wissen nie, welche Schätze unter der Oberfläche versteckt sein können und welche Geschichte uns erwartet, wenn wir erst mal die erste Seite umgeblättert haben.
Und damit sind wir schon am Ende des Einstiegs und dem Anfang vom Rest angelangt.
Restaurantquittungen, Taxirechnungen, Bahntickets … Mit zusammengezogenen Augenbrauen scanne ich den Zettelberg auf meinem Schreibtisch, als hätten meine Augen einen Laser hinter ihrer Iris eingebaut, der die unsichtbaren Barcodes der Spesenabrechnung abtastet und notiert. Ich spüre plötzlich einen weichen Stupser an meiner Wade. Ich blicke von den Papierstreifen vor mir auf und an mir hinab und sehe gerade noch, wie eine Katze an meinem Schreibtisch vorbei in das Loch in der Wand saust, das das Büro mit der Wohnung nebenan verbindet. Ich lächele und lasse meinen Blick durch den Raum wandern. Über das Parkett entlang zum Fenster, an dessen weiß lackiertem Holzrahmen weiter hinauf zum Stuck, der die meterhohen Decken der drei Zimmer schmückt wie Buttercremeverzierungen eine Hochzeitstorte. Während ich so in meinen Prenzlauer Berg Day Dream come true versinke, beginnt das Telefon auf meinem Schreibtisch zu klingeln. Ein normales Geräusch, besonders in einem Agenturbüro. In der Welt der 20-jährigen Marina ist dieses Klingeln jedoch mehr als ein belangloses Alltagsgeräusch. Es verursacht eine Kettenreaktion. Zuerst ist da dieses innere Zucken, als würde mein Herz eine Vollbremsung einlegen. Dann kriecht langsam ein lähmendes Gefühl aus den Tiefen meines Magens immer höher gen Kehlkopf. Wie Kohlensäurebläschen, die akkurat aneinandergereiht in kleinen Säulen einen Flaschenhals emporzischeln. Mein Herz befreit sich aus der Vollbremsung und beginnt mit Kickstart von null auf hundert zu beschleunigen. Was das alles bedeutet: Ich habe panische Angst vorm Telefonieren. Aber da ich die Nummer auf dem Display als die meines Chefs erkenne, nehme ich ab. Und lasse mir natürlich nichts anmerken. »Ah, perfekt, Yousef, ich wollte dich gerade eh etwas fragen!«, fange ich mich schnell und beginne in dem Zettelhaufen vor mir zu wühlen, während ich den Hörer zwischen Kinn und Schulter klemme. »Es sieht so aus, als ob es bei der Spesenabrechnung ein paar Unstimmigkeiten bei den Restaurantquittungen gäbe. Weißt du, ob …«, doch Yousef fällt mir ins Wort. »Marina, scheiß da mal kurz drauf. Ich wollte mit dir über etwas anderes reden.« Seine Stimme hört sich ungewöhnlich dumpf an. Eher wie ein Keuchen als wie das Dröhnen, das ich sonst von ihm gewohnt bin. Er klingt, als hätte er Schmerzen. Ich lege die Quittungen langsam wieder zurück auf ihren Haufen und antworte: »Okayyyy?«
»Du machst jetzt PR«, bellt es aus dem Hörer. Daraufhin kehrt erst mal Stille in der Leitung ein. Mein Herz legt gerade nämlich eine weitere Vollbremsung hin. Ich nehme den Hörer von der Schulter und umgreife ihn wieder mit der Hand.
»Wie?«
»Ich bin krank. Blinddarm oder so. Du musst meinen Kram übernehmen.« Wieder Stille. Yousef merkt, dass es mir wohl die Sprache verschlagen hat und mein Beitrag zu diesem Gespräch eher geringfügig ausfallen wird. Er nimmt wieder den Faden auf. »Ich glaube, du bist so weit.«
»Aber ich mach doch Buchhaltung!«, bringe ich schließlich doch noch heraus. »Gut, und Marketing hier und da«, füge ich hinzu. »Und inzwischen auch ein bisschen Management. Aber …«
»Nein. Du machst jetzt PR.« In Yousefs Stimme liegt etwas Endgültiges, wenn auch nichts Unfreundliches. Er hat seine Entscheidung gefällt und damit ist die Diskussion beendet. »Nimm den Hörer in die Hand und los gehts!« Und mit diesen Worten legt mein Chef, Yousef Hammoudah, auf und lässt mich mit dem Dröhnen des Freizeichens und der inneren, noch sehr viel lauter dröhnenden Frage zurück: Wie zur Hölle soll ich Promo machen, wenn ich Telefonangst habe? Und warum zur Hölle denkt er, dass ich das kann?
Ein Schubser, nein, ein kompletter Roundhouse-Kick ins kalte, tiefe Wasser war das. Aber wie sich bald herausstellen sollte: Ich schwamm.
PANORAMA3000 war die Agentur, in der ich meine ersten Schritte in Richtung Promotion ging. Ich hatte davor schon unzählige andere Jobs gehabt – Burger braten bei McDonald’s, Sekretärin bei einer Versicherung, Putzen – aber der erste Step in meiner Karriere als Promoterin begann bei PANORAMA3000 und Yousef Hammoudah. Ich lernte ihn auf einem Event kennen und wir kamen ins Gespräch. Als er mich fragte, was ich denn so könne, antwortete ich ihm: »Na ja, ich mache gerade auf der Abendschule mein Abi nach. Davor hab ich eine Ausbildung zur Bürofachfrau gemacht. Also, ich kann Buchhaltung.«
Aber was ich gelernt oder nicht gelernt hatte, schien ihn nicht zu interessieren. Wir sprachen über Musik, über Film, unsere Leidenschaften und das Aufwachsen mit amerikanischer Popkultur und wie sehr uns das geprägt hatte. Er lachte, hörte zu, fragte nach und machte mir schließlich am Ende des Abends ein Angebot: »Guck mal: Ich kann dir nicht viel Geld bieten, aber ich finde dich gut. Ich sehe was in dir. Also: Was würdest du gerne machen?«
Ich erinnerte mich nicht, wann mich das zuletzt jemand gefragt und aufrichtig hingehört hatte. Gute Frage … Was würde ich gerne machen? Ganz genau konnte ich das zu diesem Zeitpunkt gar nicht definieren. Was ich aber wusste, war: Ich träumte seit meiner Teenagerzeit von einer Karriere in der Musikindustrie. Und ich wusste, dass Yousef mit MC Rene, von dem ich Riesenfan war, Marracash Music gegründet hatte und eine eigene Agentur betrieb. Yousef könnte für mich der Schlüssel zu dieser Welt sein. Einer Welt, zu der ich mir niemals hätte vorstellen können, Zutritt zu haben. Eine Welt, in der man mich fragte, was ich gerne machen würde. Auch wenn ich die Frage noch nicht klar beantworten konnte, hatte ich doch eine Antwort für Yousef parat: »Gib mir ein Praktikum!« Eventuell würde ich im Laufe dessen eine Antwort auf die eigentliche Frage finden.
Und so landete ich bei PANORAMA3000 und erledigte erst mal die Buchhaltung und alles, wofür ich in dem schönen Büro mit dem Katzendurchgang in der Schönhauser Allee gebraucht wurde. Am Anfang waren das vor allem Guerilla-Marketing-Aktionen. Damals war Guerilla-Marketing der heiße Scheiß. Ich schrieb in Fan-Foren von Tokio Hotel, LaFee, Vanilla Sky und allen möglichen anderen Artists-Beiträge, um neue Singles oder auch Filme zu bewerben. »Hey, habt ihr schon das gehört? Checkt das mal aus!«, so in der Art.
PANORAMA3000 war eine sogenannte New Media-Agentur. Wir bauten Webtools, Landing Pages, solche Sachen. Für Deichkind haben wir mal eine Plattform gebaut, auf der Leute Videos einreichen konnten, aus denen dann ein Musikvideo entstehen sollte. Das Internet eben, bevor es Social Media gab. Und natürlich machten wir auch Musik- und Film-Promotion und das Artist-Management von MC Rene.
PANORAMA3000 war mein Einstieg in die Welt der Promotion – und der Musik. Aber da gab es an diesem Tag, als mich Yousef ins kalte Wasser schmiss, eben dieses eine große Problem: Zu PR gehört auch Telefonieren. Vor allem sogar. Wie sollte ich ihm erklären, dass ich nicht mit Fremden telefonieren konnte? Ich entschied mich, es erst mal gar nicht zu tun und einfach loszulegen.
Meine erste Künstlerin, deren Pressearbeit ich übernahm, war Jeanette Biedermann. Und es ist alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte. Ich habe an einen Verteiler von 1000 Menschen aus Versehen nicht ihre Artist-Bio, sondern unser Angebot für das Plattenlabel geschickt. Ich habe Medienpartnerinnen angerufen und mitten im Gespräch aufgelegt, weil sie mir Fragen stellten, die in meinen Ohren gemein klangen. Es war eine Katastrophe. Aber Yousef faltete mich nicht zusammen, obwohl er aus meiner Sicht ein schlimmer Choleriker sein konnte. Wenn sich jemand über mich beschwerte, stellte er sich sogar auf meine Seite. Und irgendwann dachte ich mir dann: Scheiß drauf. DIE wissen ja nicht, dass ich nichts kann.Make Impostor Syndrome work for you!Wenn ich schon mal die Möglichkeit habe, mit Musik zu arbeiten – was ich liebe –, dann muss ich das nutzen!
Ich habe mich richtig reingehängt und meinen inneren Boss, der mein Privatleben schon lange beherrschte, auch in meinem frischen Berufsleben rausgelassen. Yousef meinte nach ein paar Wochen zu mir: »Ich habe das noch nie zu jemandem gesagt, aber: Schmeiß dein Abi!« Zu diesem Zeitpunkt ging ich ja noch zur Abendschule. »Du hast deine Passion gefunden, steck alles da rein!« Und dann habe ich richtig Gas gegeben. Egal welcher Artist, welches Thema, welcher Film – ich nahm jeden Auftrag an, ging zu jedem Event, nervte alle so lange, bis meine Kampagne platziert wurde. Meine Telefonangst wurde schwächer als mein Wille, es allen zeigen zu wollen. Und so legte ich sie Stück für Stück ab. Sie hatte einfach keinen Platz mehr. Ich wurde zu einem Tasmanischen Teufel, der alles wegfegte, was sich ihm in den Weg stellte. Ich begann, Selbstbewusstsein zu entwickeln in dem, was ich machte. Yousef bemerkte das auch und unterbreitete mir in einem weiteren geschichtsträchtigen Telefonat einige Monate später eine Neuigkeit, die mein berufliches Leben für immer verändern würde.
»Marina, wie findest du denn Azad?« Beim letzten Wort ging Yousefs Stimme gekünstelt einige Oktaven nach oben. Ich konnte sein Grinsen quasi durch den Telefonhörer sehen. Ich brüllte direkt zurück: »Verarschst du mich?« Yousef lachte. »Ja ey, Universal hat uns angefragt für seine Promo. Du arbeitest jetzt für Azad.«
So kam ich zu meinem ersten PR-Job im Rap. Der Anfang einer großen Liebe und der längsten Beziehung, die ich bisher in meinem Leben geführt habe. Ich habe Deutschrap abgöttisch geliebt – klar, ich kam aus Kreuzberg! Das war unsere Kultur, das waren unsere Geschichten, unser Schmerz, um den es da in der Musik ging. Auch wenn ich in meiner Jugend ein Hardcore Boyband-Fan war (zu diesem Kapitel kommen wir später noch), war Rap schnell Teil meiner Seele, meines Selbstverständnisses geworden, als ich aufwuchs. Die Musik von Kool Savas, Azad, Sido berührte Seiten in mir, die zuvor niemals die Sonne gesehen hatten. Sie verliehen meiner Wut eine Sprache, gaben meinem inneren Kämpfen eine Arena, spendeten Trost in der Trauer, die ich niemals zeigen wollte.
In Kreuzberg kam man damals in den 90er-Jahren nicht um Deutschrap herum. Dennoch hatte ich erst mal Angst davor, mit Rappern zu arbeiten. Nicht, weil ich vor ihnen Angst gehabt hätte! Wer mit sieben Jahren vom SEK von zu Hause abgeholt worden ist, dem machen ein paar breite Typen mit Tattoos keine Angst. Es war eher die Sorge, dass sich die Volksweisheit bewahrheiten könnte: »Never meet your idols«.
Ich war mega-schüchtern als junge Frau. Manchmal bin ich damals in Clubs wie das H2O oder Kurvenstar gegangen, das wir »K-Star« nannten, wo oft auch Rapper abhingen. Wenn ich dort dann jemanden wie Kool Savas an der Theke spottete, war ich einfach nur froh, dieselbe Luft atmen zu dürfen. Ich hätte keinen Ton zu den Rappern sagen können. Und jetzt sollte ich plötzlich in dieses Genre eintauchen? Mit diesen Leuten arbeiten, vor denen ich solchen Respekt hatte? Ich hatte eine Heidenangst davor.
Aber mal wieder wurde ich einfach ins kalte Wasser gestoßen – und ich schwamm.
Auf Azad folgte Bushido und auf Bushido immer mehr Artists, mit denen ich mich bis vor Kurzem niemals getraut hätte, auch nur an einem Tisch zu sitzen. Prinz Pi, Sido, Haftbefehl, XATAR … Der Boss in mir wuchs und wuchs mit jeder Begegnung. Ich werde diese ersten Male nie vergessen. Das erste Mal XATAR treffen, Hafti, Farid Bang … Und wie sie auf mich reagierten, wenn sie MICH das erste Mal trafen. Die Überraschung in ihren Blicken. »DU machst jetzt meine Promo?« Äh, ja? Ich mach das jetzt. Sie erwarteten wohl keine 1,50 Meter kleine Frau im Jogginganzug und mit zu dünn gezupften Augenbrauen als ihre PR-Vertreterin. Aber ich liebte es, wie sich die skeptischen Blicke innerhalb von einigen Stunden in anerkennende verwandelten. Dann hieß es plötzlich: »Ey, sie ist der Boss, sie regelt.« Wenn mal neue Leute dazukamen, die frech zu mir wurden – was selten passierte –, haben die großen, starken Männer nicht gesagt: »Ey, sei nicht frech zu ihr, sonst klatsch ich dir eine«, sondern: »Sei nicht frech zu ihr, denn die frisst dich auf!«
Ich glaube, es spielten mehrere Faktoren eine Rolle, warum ich so schnell von den Rappern akzeptiert wurde, trotz meiner Andersartigkeit, auf die ich später noch mal zurückkommen werde. Aber vor allem war es der Boss in mir, der mir diese Türen öffnete und mir einen Platz am Tisch sicherte. Ich war wie sie. Sie erkannten sich in mir, obwohl wir kaum unterschiedlicher hätten aussehen und anmuten können. Es lag ein unausgesprochenes Verständnis zwischen uns in der Luft, das mehr sagte als tausend Worte.
Wenn ich vom »Boss« im mir spreche, dann meine ich, dass ich begann, eine Persönlichkeit nach außen zu kehren, die kompromisslos Raum einnahm und alles, was in diesem Raum verfügbar war: Ressourcen, Macht, Aufmerksamkeit, Geld. Dieser Boss macht das laut, direkt heraus und manchmal ohne Rücksicht auf Verluste. Im Laufe meiner Karriere wurde ich immer wieder mit einem Pit Bull verglichen. Ich war zwar nur 1,50 Meter groß, aber ich hatte die Klappe und die Attitude eines 2-Meter-Hayvans und ließ mir gar nichts sagen. Und so musste ich auch sein. Die kleine Marina, die verschüchtert in der Ecke steht und wartet, bis sie eingeladen wird, würde heute vermutlich immer noch dort herumstehen. Es war nicht die Zeit für Zurückhaltung, erst recht nicht als Frau in diesem Game. Wenn ich hier etwas reißen wollte, dann musste ich dafür sorgen, dass ich unübersehbar und unverzichtbar wurde. Und dafür brauchte ich den Boss in mir.
Mein Selbstbewusstsein, das ich mir im Umgang mit Rappern immer mehr aufzubauen begann, nährte sich aus drei Töpfen. Erstens: dem Vertrauen, das mein Chef in mich hatte. Das kannte ich bisher nicht. Jemand, der etwas in mir sah und förderte. Ich werde ihm für immer dankbar sein. Grund zwei: Alle waren so nett. Dass Azad einer der ersten Rapper war, mit denen ich arbeiten durfte, war wichtig, denn er ist einer der höflichsten Menschen der Welt. Mirko, der damalige Manager von Bushido, ebenso. Und dann kam ein Künstlercamp, das mir vollends das Gefühl gab, hierherzugehören: das Sido-Camp. Dieses Urvertrauen, das mir damals von Aggro Berlin entgegengebracht wurde, war unmatched. Ich glaube, wir haben damals 95 Prozent meiner Ideen umgesetzt.
Allein mit Kaete Ewert-Hessel, der Managerin von Sido, arbeiten zu dürfen, die ein Idol für mich war, war unbeschreiblich. Denn neben Kaete gab es praktisch keine andere Frau in dieser Szene. Zu sehen, wie sie sich behauptete und ihren Job meisterte, respektiert von allen, inspirierte mich. Dieses Camp gab mir das Gefühl: Irgendwas mache ich richtig. Ich wurde ernst genommen. Sie haben es mir leicht gemacht.
Ich fühlte mich also schnell wohl in der Deutschrap-Szene, weil ich das Gefühl hatte, dazuzugehören – und das war ein Gefühl, das ich so gut wie noch nirgendwo sonst empfunden hatte. Nicht in der Schule, nicht bei den Bekannten und Freunden meiner Eltern und ganz sicher nicht bei irgendwelchen Vorstellungsgesprächen und Jobs, in denen mein Lebenslauf gescannt wurde, als wäre er mit Hundescheiße eingerieben und man nicht mal versuchte, meinen Nachnamen richtig auszusprechen.
Dass ich mich im Rap zugehörig fühlte, dazu trug Grund drei noch bei: Wir alle durften nicht an gewissen Tischen sitzen. Deutschrap war damals, in den 90er-Jahren, eine Subkultur, auf die die breite Masse mit einem sehr skeptischen Auge herabblickte. Promo für Rap-Themen zu machen, bedeutete damals meist: Absagen, Kopfschütteln und verschlossene Türen. Rapper, das waren die Schmuddelkinder, mit denen Der Spiegel oder Die Zeit nichts zu tun haben wollten, und dasselbe galt für mich. Aber daraus wuchs ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das den Boss in mir noch stärker werden ließ. Deutschrap weckte irgendwie meinen Beschützerinstinkt. »Was?! Der Spiegel sagt, sie sehen uns nicht?!«, »Was?! Der Stern