Die Briten und Europa - Brendan Simms - E-Book

Die Briten und Europa E-Book

Brendan Simms

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Beschreibung

Die Briten und wir: Warum der Brexit nicht das Ende der britisch-europäischen Partnerschaft sein wird

Europa hat in der Geschichte Großbritanniens stets eine wichtige Rolle gespielt. Seit Jahrhunderten mischen sich die Briten mit Lust in die Geschicke der europäischen Nachbarstaaten ein – und werden wiederum von den Ereignissen dort beeinflusst. In seiner fulminanten Geschichte der tausendjährigen, turbulenten Beziehung zwischen den Briten und Europa zeigt Brendan Simms ebenso faktenreich wie unterhaltsam, warum man die eine Seite des Ärmelkanals nicht ohne die andere denken kann. Sein Buch bündelt die Glanzlichter und die Tiefpunkte der britisch-europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zum Brexit und ist ein eindrucksvolles Plädoyer für eine enge Partnerschaft, auch über das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinaus.

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Zum Buch

Schon immer hat Europa in der Geschichte Großbritanniens eine wichtige Rolle gespielt. Seit Jahrhunderten mischen sich die Briten mit Lust in die Geschicke der europäischen Nachbarstaaten ein – und werden wiederum von den Ereignissen dort beeinflusst. In seiner fulminanten Geschichte der tausendjährigen, turbulenten Beziehung zwischen den Briten und Europa zeigt Brendan Simms, warum man die eine Seite des Ärmelkanals nicht ohne die andere denken kann. Sein Buch bündelt die Glanzlichter und die Tiefpunkte der britisch-europäischen Geschichte vom Mittelalter bis zum Brexit und ist ein eindrucksvolles Plädoyer für eine enge Partnerschaft, auch über das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinaus.

Zum Autor

Brendan Simms, geboren 1967, ist Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Europas und die Geschichte Deutschlands im europäischen Kontext. Er ist Autor zahlreicher Bücher, daneben publiziert er in Zeitschriften und Zeitungen zu aktuellen europapolitischen Themen. Auf Deutsch erschienen von ihm zuletzt Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute (2014) und Der längste Nachmittag. 400 Deutsche, Napoleon und die Entscheidung von Waterloo (2014) sowie, zusammen mit Charlie Laderman, Wir hätten gewarnt sein können. Donald Trumps Sicht auf die Welt (2017).

Brendan Simms

Die Briten und Europa

Tausend Jahre Konflikt und Kooperation

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2016 unter dem Titel Britain’s Europe. A Thousand Years of Conflict and Cooperationbei Allen Lane, einem Imprint von Penguin Books, London.Kapitel 10 wurde aufgrund aktueller Entwicklungen durch einen neuen Text des Autors ersetzt.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2016 Brendan Simms Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagmotiv: © The Battle of Waterloo, 18th June 1815, published by Ackermann (coloured engraving), Bibliothèque Nationale, Paris, France / Bridgeman Images Lektorat: Heike Specht, Zürich Typografie: DVA /Andrea Mogwitz Gesetzt aus der Adobe Garamond Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-24475-0V002www.dva.de

Für Anita

Ich bin tief beeindruckt von der Melancholie und der zweifelhaften Art der Aussichten, die vor Europa liegen … Ich halte es für verfrüht, uns unsererseits in heiteren Erwartungen zu ergehen … Wenn wir in die Zukunft schauen, müssen wir zweifellos bedenken, welche Stellung dieses Land in Bezug auf Europa als Ganzes einnimmt; und was mich betrifft, kann ich, wenn ich seine Stellung um der Argumentation willen gedanklich für einen Augenblick von derjenigen Europas trenne, nicht umhin, dass wir einigen Grund haben, dankbar zu sein – dankbar für die Lage des Landes und dankbar für die Einigkeit des Volks …

Aber ich gebe zu und bin der Erste, es zu bekräftigen, dass wir, ungeachtet aller Sicherheit, Macht und Unabhängigkeit, nicht das Recht haben, uns in eine absolute, selbstsüchtige Isolation einzuhüllen. Wir haben eine Geschichte, wir haben Traditionen, wir haben ein Leben, ständigen, immerwährenden, vielfältigen Verkehr und Kontakt mit allen Völkern Europas. Wir wären der Erinnerung an unsere Vergangenheit, unserer Hoffnungen für die Zukunft und der Größe der Gegenwart nicht wert, wenn wir die Verpflichtungen verleugneten, die aus diesen Beziehungen zu anderen, die mehr zu erleiden haben als wir, erwachsen.

William Gladstone, Rede im Unterhaus, 9. Februar 1871

Inhalt

Einleitung

1. Die Bande der »Christenheit«

2. »Ein Stück des Kontinents«

3. »Die Bollwerke Großbritanniens«

4. So viel zur Nachbarschaft

5. »Die große Bank Europas«

6. »Wo das Wetter herkommt«

7. »Unter einer einzigen Macht«

8. »Unser Schicksal ist es, Europa zu gestalten«

9. Großbritannien, die letzte europäische Großmacht1

10. »Die Europäische Union verlassen, aber nicht Europa«

Schlussbetrachtung

Dank

Anmerkungen

Personenregister

Einleitung

Unsere europäische Geschichte

Der französische Historiker Jules Michelet begann seine Vorlesungen über die britische Geschichte mit der berühmt gewordenen Feststellung: »England ist eine Insel.« Im Zeitalter Eduards VII. bezeichnete die Kinderbuchautorin Henrietta Elizabeth Marshall die Geschichte Englands als Our Island Story (1905). Arthur Bryant bezog sich auf die Worte, die Shakespeare Johann von Gent auf dem Sterbebett sagen lässt, als der Historiker dem ersten Band seiner History of Britain and the British People den Titel »Set in a Silver Sea« gab; den zweiten Band, der die Zeit von den Tudors bis zum frühen 19. Jahrhundert umfasst, nannte er »Freedom’s Own Island«. In jüngerer Zeit schrieb Raphael Samuel, der radikale Gründer der History-Workshop-Bewegung, der als Historiker in vieler Hinsicht das Gegenteil von Bryant war, Island Stories; ungeachtet des Plurals stand für ihn nicht in Frage, dass die britische Geschichte in erster Linie diejenige einer Insel war. Um dies zu unterstreichen, waren auf dem Schutzeinband des zweiten, »Theatres of Memory« betitelten Bandes die Kreidefelsen von Dover abgebildet, als wären sie ein Wall, der fremde – das heißt europäische – Einflüsse abhält.1 Christopher Lee produzierte für BBC Radio 4 eine Sendereihe mit dem Titel This Sceptred Isle (1995), auch dies ein Zitat aus Johann von Gents letzten Worten.2 Laut einer in jüngster Zeit erschienenen Sammlung von Aufsätzen prominenter Historiker sind die Britischen Inseln A World by Itself,3 womit wiederum ein Shakespeare-Stück bemüht wird, diesmal Cymbeline. Der ehemalige konservative britische Bildungsminister Michael Gove, der sich besonders für den Geschichtsunterricht an den Schulen interessierte, stellte sich in diese Tradition, als er dafür plädierte, zur Lehre traditioneller Themen zurückzukehren, um »den Kindern die Gelegenheit zu geben, von unserer Inselgeschichte zu hören«.4 Diese Geschichte ist ein machtvolles Narrativ, das zudem wesentlich differenzierter ist, als diese Aufzählung erkennen lässt, und das trotz meiner Vorbehalte Respekt verdient.

Allerdings vertrete ich die entgegengesetzte Auffassung. Meiner Ansicht nach ist die Geschichte Englands und später Großbritanniens vornehmlich eine kontinentale Geschichte. Ihr Verlauf wurde hauptsächlich durch die Beziehungen zum übrigen Europa geprägt und weniger durch diejenigen zur weiten Welt außerhalb Europas.5 Mein Buch bietet keine systematische Darstellung der Beziehungen Großbritanniens zum Kontinent; sonst wäre es ein anderes und wesentlich dickeres Buch geworden. Es konzentriert sich vielmehr auf die Außenpolitik und den Verfassungsrahmen. Wirtschaft und Innenpolitik werden weitgehend außer Acht gelassen, andere Aspekte – wie Migration, Kultur, »Nationalcharakter«6 und Ethnie – praktisch ignoriert. Die Perspektive ist selbstverständlich durchweg »whiggish«, sowohl was die Betonung der zentralen Rolle Europas betrifft als auch was die Bestimmung einer klaren Linie angeht, die von der Vergangenheit in die Gegenwart führt – wenn auch nicht notwendigerweise in die Zukunft.

Am Anfang des Buchs beleuchtet eine kurze Einführung die Verbundenheit Englands mit dem Kontinent durch die Bande der »Christenheit« und ähnliche soziopolitische Strukturen. Es wird gezeigt, wie sich England im Kampf mit den Wikingern herausbildete, anschließend eine starke nationale Identität entwickelte und schließlich ein politisches Zentrum schuf in dem, was später einmal »Parlament« genannt werden sollte. Im folgenden Kapitel betrachten wir, wie England am Ende des Hundertjährigen Kriegs die territoriale Verbindung zum kontinentalen Europa verlor und sie am Anfang der Hannoveraner Epoche wiederentdeckte. Der Kontinent, so viel wird klar, blieb dennoch, insbesondere nach dem Beginn der Reformation, der Hauptbezugspunkt der britischen Strategie und Politik. Wir werden sehen, wie das Vereinigte Königreich in Reaktion auf den Druck des europäischen Systems als parlamentarische Union »erfunden« wurde. Seither boxte es in der Welt »oberhalb seiner Gewichtsklasse«. Ein großer Teil Europas hatte dagegen seine repräsentativen Strukturen bereits verloren oder war dabei, sie zu verlieren.

In den nächsten Kapiteln widmen wir uns dem ausgeklügelten britischen Europaverständnis im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Dass der Kontinent während dieser gesamten Zeit im Mittelpunkt der strategischen und politischen Debatte in Großbritannien stand, ist Thema des dritten Kapitels, »Die Bollwerke Großbritanniens«. Das Gleichgewicht der Mächte und der Zusammenhang zwischen dem mitteleuropäischen Gleichgewicht und demjenigen an den Rändern waren von entscheidender Bedeutung für die Verteidigung der britischen parlamentarischen Freiheiten. Nach Ansicht von Zeitgenossen waren die »Freiheiten Europas« und diejenigen des Vereinigten Königreichs eng miteinander verknüpft. Diese Überlegung wog stets schwerer als das Interesse an den Kolonien, das seinerseits vor allem auf dem Bestreben beruhte, Ressourcen für Europa zu mobilisieren oder sie dortigen Rivalen vorzuenthalten. Im Mittelpunkt des vierten Kapitels, »So viel zur Nachbarschaft«, steht der Politiker und politische Denker Edmund Burke. Er beobachtete im späten 18. Jahrhundert, wie das konfessionell motivierte Interesse am Schicksal des Kontinents von dem Eindruck, dass die ideologische Neuausrichtung Europas, insbesondere infolge des zunehmenden Gewichts des revolutionären Frankreich, schwerwiegende Auswirkungen auf die britische Sicherheitslage habe, zunächst überlagert und dann ersetzt wurde. Das fünfte Kapitel, »Die große Bank Europas«, knüpft an diese Themen an und verfolgt sie weiter in die Zeit der napoleonischen Kriege, in der Großbritannien seine enormen Ressourcen einsetzte, um kontinentale Koalitionen zu schmieden, welche die Wiederherstellung des Gleichgewichts der Mächte in Europa und damit der Grundlage seiner eigenen Prosperität und Freiheit ermöglichen würden.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war Europa, wie Winston Churchill es kurz vor dem Ersten Weltkrieg ausdrückte, der Weltteil, »wo das Wetter herkommt«. Das sechste Kapitel verfolgt die Entwicklung von 1815 bis 1914. Wie sich zeigt, blieb der Kontinent selbst dann wichtig, als das Britische Empire sich auf dem Höhepunkt der Viktorianischen Epoche im Aufschwung befand und England zur »Werkstatt der Welt« wurde. Britische Staatsmänner maßen dem europäischen Gleichgewicht weiterhin grundlegende Bedeutung bei, ergänzten dies jedoch durch das Bemühen um die Verteidigung des Liberalismus, den sie als Bollwerk gegen autokratische Aggressionen betrachteten. Dieses Anliegen verstärkte sich, als sich das kontinentale Gleichgewicht im späten 19. Jahrhundert zugunsten Deutschlands und Russlands verschob. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs überwog die Sorge über den Zustand Europas die imperialen Ambitionen bei Weitem; tatsächlich waren Letztere auf Erstere zurückzuführen. Das nächste Kapitel, »Unter einer einzigen Macht«, ist der britischen Entschlossenheit gewidmet, Eurasien und insbesondere Europa nicht unter die Herrschaft einer einzigen Macht geraten zu lassen, schon gar keiner totalitären. Dass Europa in der Ära der beiden Weltkriege im Mittelpunkt der britischen Geschichte stand, ist so offenkundig, dass es keiner weiteren Erläuterung bedarf.

Gegenstand des achten Kapitels, »Unser Schicksal ist es, Europa zu gestalten«, ist die Zeit von 1945 bis heute, in der sich die europäische Frage auf zugleich bekannte und neue Weise stellte und stellt. Die Sicherheit Europas angesichts sowjetischer Aggressivität bildete die Hauptsorge der britischen »Grand Strategy«, der Gesamtstrategie, und hatte häufig tiefgreifende Auswirkungen auf die Innenpolitik. Deshalb wurde das Projekt der westeuropäischen Integration als Mobilisierung des Kontinents für die gemeinsame Verteidigung und die Eindämmung der zentrifugalen Kräfte und nicht zuletzt der deutschen Macht begrüßt. Die europäische Integration stellte jedoch auch eine fundamentale Bedrohung der Unversehrtheit des Vereinigten Königreichs dar. Nachdem sie jahrhundertelang jede feindliche Übernahme abgewehrt hatten, wurden die Briten jetzt aufgefordert, eine Fusion auf dem Verhandlungswege in Betracht zu ziehen. Die Frontlinien spalteten nicht nur in Fragen der Gesamtstrategie, sie berührten das Wesen Großbritanniens selbst, bis hin zu der Frage, ob es überhaupt ein souveränes Vereinigtes Königreich geben sollte. Im vorletzten Kapitel wird dargelegt, warum Großbritannien, trotz aller ökonomischen und politischen Veränderungen der letzten siebzig Jahre, weiterhin eine Großmacht ist, und zwar die einzige in Europa. Grund dafür ist sein überaus widerstandsfähiges gesellschaftliches und politisches System, das sich über Jahrhunderte hinweg in Reaktion auf europäischen Druck entwickelt hat. Es hat das Vereinigte Königreich in die Lage versetzt, alle Stürme der Vergangenheit zu überstehen, und, wie das letzte Kapitel mutmaßt, wird dies sehr wahrscheinlich auch in Zukunft tun.

1

Die Bande der »Christenheit«

Europa und die Schaffung Englands

Um die Christenheit vor dem vorsätzlichen, bösen Ansturm der Ungläubigen zu retten, die sie zu vernichten und in ihren verschiedenen Gebieten auszulöschen versuchen; und damit der König [von Frankreich], sein Widersacher von England und die Fürsten beider Seiten in der Lage sind, sich um einen guten Frieden und wahre Einigkeit in unserer Heiligen Mutter Kirche, die so lange gespalten und im Schisma war, bemühen …

Französisches Friedensangebot an England, 1396 1

Hält man sich die großen, unschätzbaren und beinahe unendlichen Kosten und Ausgaben sowohl von Gütern als auch von Blut, die [England] um [Frankreichs] willen getragen und erlitten hat, vor Augen, wäre sein schändlicher Verlust, den Gott auf ewig verhüten möge, nicht nur ein unwiederbringlicher Schaden für die gemeinsame Sache, sondern auch eine immerwährende Scharte und ständige Verunglimpfung des Ruhms und Rufs dieses edlen Reichs.

Edmund Beaufort, Befehlshaber der englischen Truppen in Frankreich, 1449 2

England war schon lange, bevor es beides gab, mit Europa verbunden. Über Jahrmillionen hinweg ganz physisch. Die Landmasse, die einst England bilden sollte, hing mit dem übrigen Kontinent zusammen. Dann bedeckte Eis die Landbrücke, und als es abtaute, entstand schließlich der Ärmelkanal. Streng genommen, gehörte England geographisch weiterhin zum europäischen Kontinent – dort findet man es in jedem Atlas –, und politisch war es immer ein Teil des größeren Ganzen. Im 1. Jahrhundert wurde das Gebiet von den Römern besetzt, die es zu einer Provinz eines Reichs machten, das den gesamten Kontinent umfasste und darüber hinaus nach Asien und Afrika hineinreichte. Nach dem Rückzug der Römer im frühen 5. Jahrhundert wurde England von norddeutschen Stämmen kolonisiert. Diese Angelsachsen, wie sie zur Unterscheidung von ihren deutschen Verwandten auf dem Kontinent bezeichnet wurden,3 schufen die Königreiche Northumbria, Mercia, Wessex, East Anglia, Essex, Kent und Sussex, die durch ihre Christianisierung im 7. Jahrhundert zum Teil einer umfassenderen europäischen Einheit wurden, der westlichen »Christenheit«, die dem Papst zur Treue verpflichtet war. Dabei blieb es für die nächsten rund neunhundert Jahre.4 Die Bewohner dieser Königreiche sprachen »Englisch« und wurden als »gens Anglorum« bezeichnet.5 Sie standen in regem Austausch mit dem Kontinent, insbesondere mit den Gebieten, die zu Deutschland werden sollten. Dank des fruchtbaren Bodens, ihres Fleißes und der Nähe zu europäischen Handelsrouten gelangten sie im Vergleich zum übrigen Europa zu außerordentlichem Reichtum.6 Ihr Wohlstand machte sie immer wieder zu einem Angriffsziel; Isolation aber war für diese frühen Engländer trotz ihrer Insellage keine Option. Die über Jahre hinweg erfolgenden Wikingerüberfälle und die anschließende Landnahme zeigten, dass Europa jedenfalls, selbst wenn die Engländer ihrerseits nicht am Kontinent interessiert gewesen sein sollten, durchaus Interesse an ihnen hatte.

Die Vereinigung der englischen Königreiche unter Alfred dem Großen und seinen Nachfolgern, die bis zum Jahr 1000 weitgehend abgeschlossen war, geschah in erster Linie in Reaktion auf diesen äußeren Druck.7 »England« hatte es weder schon immer gegeben, noch entstand es einfach so. Es wurde unter Zwang geschaffen, um einer europäischen Bedrohung begegnen zu können, die das stärkste Argument für seine weitere Existenz blieb. Als sich 1051 in Gloucestershire die beiden erbitterten Rivalen Edward und Godwin gegenüberstanden, hielten es Beobachter, den Chroniken zufolge, für eine »große Narrheit, wenn sie in die Schlacht zögen, denn in den beiden Heeren befänden sich die meisten der Edelsten von England, und sie [die Beobachter] dachten, dass sie unseren Feinden einen Weg öffnen würden, in unser Land zu gelangen und großen Schaden bei uns anzurichten«.8 England zeichnete sich in Europa durch eine Landsteuer aus, zu der das »Danegeld« gehörte, das ursprünglich erhoben wurde, um die Wikinger auszuzahlen. Charakteristisch war aber auch seine effiziente Bürokratie, die in der Lage war, das Land für die gemeinsame Verteidigung zu mobilisieren. Im Unterschied zu vielen kontinentalen Staaten gab es eine einheitliche, im gesamten Reich anerkannte Währung und ein einziges Rechts- und Verwaltungssystem. Die Art der Königsherrschaft unterschied sich, anders als im übrigen Europa, von Region zu Region kaum. England hatte, zumindest nach den Maßstäben der Zeit, einen starken Staat, der tief in das Leben seiner Bewohner eingriff – und es bis heute tut. In Staat und Verwaltung war die Umgangssprache, das heißt das Englische, ungewöhnlich weit verbreitet, und es gab einen starken Nationalstolz. Obwohl die meisten europäischen Länder repräsentative Strukturen der einen oder anderen Art besaßen, war England insofern ungewöhnlich, als es eine Nationalversammlung besaß, an deren Sitzungen gelegentlich auch »Außenstehende« aus Wales und Schottland sowie Abgesandte kleiner Gemeinden teilnahmen. Diese frühe englische Volksvertretung trat recht selbstbewusst auf und war durchaus in der Lage, dem König ihren »Ratschlag« aufzuzwingen.9 Das Ergebnis war ein für ihre Zeit bemerkenswert kohärentes Gemeinwesen: der erste europäische Nationalstaat.10

In dieser Zeit war Englands strategischer Horizont relativ beschränkt. Gewiss waren sich die Engländer der Existenz Europas bewusst, zum einen in Gestalt der universalen Kirche, zum anderen in derjenigen des Heiligen Römischen Reichs, des politischen Nachfolgers des Römischen Reichs.11 Aber die meiste Zeit wurde ihre Aufmerksamkeit von näherliegenden Ereignissen beansprucht. Die späteren angelsächsischen Chroniken schenkten dem Kontinent als Ganzem kaum Beachtung, den Geschehnissen in Nordfrankreich und den Niederlanden aber umso mehr.12 Vor allem jedoch schaute England über seine Schulter auf die Wikingerfestungen auf der Insel selbst, in Dublin, auf den Shetlandinseln und in Skandinavien. Im Jahr 1015 wurde England in das Reich Knuts des Großen eingegliedert, das sich schließlich von der Britischen Insel über Dänemark und Norwegen bis nach Südschweden erstrecken sollte.13 Auch an Norddeutschland war Knut interessiert; so nahm er an der Krönung Konrads II. zum römisch-deutschen Kaiser in Rom teil. Strategisch schaute England in den ersten rund zwei Jahrhunderten seiner Existenz daher nach Norden und Nordosten, von wo die größte Gefahr drohte. Aus diesem Grund wandte sich König Harold im Jahr 1066, als sein Land mit Invasionen von Norden und Süden konfrontiert war, zuerst nach Norden, um den norwegischen König Harald den Harten zurückzuschlagen, den er in der Schlacht von Stamford Bridge besiegte.

Aufgrund der normannischen Eroberung nach dem Sieg Wilhelms, des Herzogs der Normandie, über die Engländer in der Schlacht von Hastings verlagerte sich die strategische Ausrichtung. In den folgenden rund fünfhundert Jahren war das strategische Augenmerk Englands auf die Länder südlich des Ärmelkanals gerichtet.14 Es sollte drei getrennte, aber einander überlappende britische »Reiche« in Frankreich geben – Zeitgenossen benutzten diesen Begriff nicht, aber im Grunde waren sie genau das. Das erste war dasjenige Wilhelms des Eroberers, dessen Zentrum die Normandie war, die er und seine Nachfolger mit Hilfe englischer Ressourcen verteidigten. Dieses »Reich« wurde unter Heinrich II. erheblich vergrößert, der durch die Heirat mit Eleanor von Aquitanien im Jahr 1152 die Provinzen Anjou, Maine und Touraine sowie Aquitanien und die Gascogne erwarb, so dass seine Lande bis nach Bordeaux und zu den Pyrenäen reichten. Im frühen 13. Jahrhundert verlor König Johann Ohneland den Nordteil dieses »Reichs«. Im Anschluss entstand in der Gascogne ein zweites englisches »Reich«, das zum Hauptgebiet englischer Präsenz in Frankreich wurde, nachdem Heinrich III. 1259 im Vertrag von Paris den Verlust der Normandie akzeptiert hatte. Anschließend, von den 1330er Jahren an, eroberte England im Verlauf des Hundertjährigen Kriegs immer wieder große Teile von Zentral- und Nordfrankreich. Den Höhepunkt bildeten die Eroberungen Heinrichs V. nach der Schlacht von Azincourt. Eine Zeitlang – in den 1430er Jahren – befanden sich die Normandie, Maine, große Teile Flanderns und sogar Paris unter englischer Herrschaft.

England erwarb sein französisches Reich durch dynastische Zufälle, und die Ausweitung seiner Grenzen war im Ehrgeiz seiner Könige begründet. Aber das Bemühen, dieses Gebiet zu bewahren, hatte einen strategischen Grund. In vormoderner Zeit war das Segeln die schnellste Fortbewegungsart, weshalb Frankreich und Flandern von London aus weit näher lagen als Nordengland. Der Ärmelkanal bildete keine Barriere, sondern eine Verbindung über das »Enge Meer« hinweg.15 Die »Cinque Ports«, die häufig als eine Art Küstenverteidigungssystem beschrieben wurden, waren mindestens ebenso sehr als Stützpunkte eines Fährsystems über den Kanal gedacht.16 Die Nähe war gut für den Handel, aber schlecht für die Verteidigung. Es war völlig ungewiss, ob die noch in den Anfängen steckende Marine in der Lage gewesen wäre, eine Invasionsarmee abzufangen, sobald diese sich eingeschifft hatte.17 Dies wäre, trotz des englischen Vorteils hinsichtlich der Zahl und Qualität der Schiffe, mit den damaligen Navigations- und Schiffbautechniken kaum möglich gewesen. Wer im Mittelalter – und noch lange darüber hinaus – Zugang zum Meer hatte, konnte es überqueren, wenn er die Schiffe dafür besaß. England blieben daher nur zwei Möglichkeiten: entweder feindliche Flotten anzugreifen, bevor sie den Hafen verließen – wie 1213 in Brügge und 1340 in Sluis erfolgreich geschehen –, oder, besser noch, die gegenüberliegende Küste zu beherrschen, um deren Einschiffung von vornherein zu verhindern. Kanalhäfen wie Dover und Calais wurden deshalb als strategisch zusammengehörig betrachtet, als Bastionen gegen Europa und als Sicherheitsschleusen für den Zugang zum Kontinent. Wie eng die Beziehung war, zeigte sich darin, dass manche Hafenkapitäne der südenglischen Häfen dasselbe Amt auch in Calais innehatten.

Damit war das englische Engagement in Europa indes nicht erschöpft. England war sich darüber im Klaren, dass es Verbündete auf dem Kontinent brauchte; dieses Thema zieht sich durch die gesamte britische Geschichte. Frankreich wurde durch eine Reihe von Bündnissen mit Fürsten angrenzender Staaten »überbrückt«. Der verheerendste dieser Schachzüge war das Bündnis Englands mit dem römisch-deutschen Kaiser und Flandern, deren vereintes Heer 1214 in der Schlacht bei Bouvines geschlagen wurde. Das dramatischste Unternehmen war in der Mitte des 14. Jahrhunderts die Expedition des ältesten Sohnes König Eduards III., genannt der Schwarze Prinz, nach Spanien, um Frankreich von Süden zu bedrohen. Politisch am spektakulärsten war im Jahr 1257 die Wahl Richards von Cornwall, des Bruders Heinrichs III., zum »König der Römer« und damit zum Anwärter auf den Kaiserthron des Heiligen Römischen Reichs. Mit diesem Schritt, der riesige Kosten verursachte, da eine Mehrheit der deutschen Kurfürsten, denen die Kaiserwahl oblag, durch Bestechung für Richard gewonnen werden musste (der das Geld allerdings zum großen Teil aus seinem Privatvermögen aufbrachte), sollte ein jüngerer Prinz versorgt und gleichzeitig eine erfolgreiche französische Kandidatur verhindert werden. Richard hat nie als Kaiser geherrscht. Es wäre allerdings eine interessante kontrafaktische Spekulation, sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte. Seinem zweiten Sohn, Edmund, versuchte Heinrich III. den sizilianischen Thron zu verschaffen. Der effektivste englische Verbündete war lange Zeit das Herzogtum Burgund, das Frankreich von Osten bedrohte. Am dauerhaftesten war jedoch die territoriale Beziehung zu Flandern, das für England enorme wirtschaftliche Bedeutung besaß und, was noch wichtiger war, die beste Ausgangsbasis für einen Angriff auf Paris von Norden bot. Kurzum, Englands strategischer Horizont reichte während des gesamten Mittelalters tief in den Kontinent hinein, bezog sich aber stets zurück auf die Sicherheit der Heimatinsel.

Dieses europäische Engagement prägte die Sichtweise der englischen Könige auf die Britischen Inseln. Zum einen betrachteten sie Schottland, Wales und Irland als potentielle Quellen, um Männer und Geld für Feldzüge auf dem Kontinent zu rekrutieren; Irland zum Beispiel war im 13. Jahrhundert ein bedeutender Einzahler in die englische Staatskasse. Zum anderen befürchteten sie, dass ihre europäischen Feinde diese peripheren Regionen als »Hintertür« nach England benutzen könnten. Dass die Gefahr einer derartigen Zangenbewegung bestand, hatte sich 1066 gezeigt, als sich England zwei Feinden gegenübersah, Harald dem Harten im Norden und Wilhelm dem Eroberer im Süden. In den Jahren 1174 und 1216 gab es französisch-schottische Angriffe auf England. 1295 schlossen Frankreich und Schottland einen förmlichen Vertrag, der als »Auld Alliance« in die Geschichtsbücher einging.18 Danach war die Einkreisung durch Schotten im Norden und Franzosen im Süden eine ständige Sorge der englischen Gesamtstrategie. 1346 zum Beispiel unternahmen die Schotten einen Angriff, um den in Bedrängnis geratenen Franzosen zu helfen. 1385 wurde England einmal mehr in die Zange genommen, indem im Norden ein schottisch-französisches Heer über den Tweed übersetzte und im Süden französische Truppen über den Kanal hinweg angriff. 1402 marschierte ein französisches Heer über Wales in England ein. Trotz des verbreiteten Gefühls einer durch Geographie und Vorsehung bestimmten gemeinsamen »britischen« Identität fiel es den vier Völkern des späteren Vereinigten Königreichs schwer, auf ihrem Archipel miteinander zu leben.19

Den mittelalterlichen englischen Königen standen drei Möglichkeiten offen, das Problem mit Schottland, Wales und Irland zu lösen. Die erste, Beschwichtigung, konnte in Zukunft zu Problemen führen; außerdem bestand die Gefahr, ein Vakuum zu erzeugen, das durch Anarchie oder ausländische Mächte oder beides gefüllt werden konnte. Die zweite Möglichkeit, Abschreckung, wurde üblicherweise ergriffen, mit der Folge, dass Generationen von Engländern dazu verdammt waren, an den Grenzen von Schottland, Wales und Irland erbitterte Abnutzungskriege zu führen. Die effektivste Lösung war die Eroberung. Irland wurde im 12. Jahrhundert eingenommen, obwohl die englische Herrschaft auf den Osten und Süden der Insel begrenzt war. Wales wurde im späten 13. Jahrhundert erobert und seit den 1280er Jahren kolonisiert und nach englischem Vorbild verwaltet. Bis zum frühen 15. Jahrhundert, darauf sei hier allerdings hingewiesen, brachen regelmäßig große Rebellionen aus. Auch Schottland wurde für längere Perioden besetzt, jedoch zu erheblichen Kosten, da die eroberten Gebiete offenbar nicht zu halten waren. Dies lag an den geographischen Gegebenheiten – der Norden Schottlands blieb für eine Eroberung unzugänglich –, aber auch an schlechter englischer Verwaltung. Die Besetzung erwies sich aber auch deshalb als schwierig, weil der englische Staat für seine Feldzüge auf dem Kontinent regelmäßig auf Ressourcen der Nachbarländer zurückzugriff, was dort auf Widerstand stieß, etwa in Form der Revolte von William Wallace im späten 13. Jahrhundert. Hinzu kam, dass die Randvölker eigene repräsentative Strukturen besaßen oder entwickelten; so gab es im Spätmittelalter in Schottland und Irland ein Parlament und eine eigenständige nationale Identität. Für Schottland fand dies in der 1320 beschlossenen Deklaration von Arbroath seinen Ausdruck, in der beschworen wurde, man könne die Schotten »niemals, zu welchen Bedingungen auch immer, unter englische Herrschaft zwingen«, denn sie kämpften »nicht für Ruhm, nicht für Reichtümer oder Ehren, sondern … einzig für die Freiheit, die kein ehrenhafter Mann aufgibt, wenn nicht zugleich mit seinem Leben«. Solange England diese Gefühle sowohl der Schotten als auch der Waliser und Iren nicht für eigene Zwecke oder eine gemeinsame Sache einzuspannen vermochte, musste es nicht nur Angriffe im Westen und Norden fürchten, sondern war auch nicht in der Lage, seine Stellung auf dem Kontinent mit dem vollen Potential der Britischen Inseln zu verteidigen.

Viele Engländer hatten ein weit gefasstes Bild von Europa, das deutlich über die engen Grenzen der Sicherheit des Reichs hinausging. Sie dachten den Kontinent als »Christenheit«, als vom gemeinsamen christlichen Glauben geeinten Raum. Wie die Europäer allgemein befürchteten auch sie, dass sich der wahre Glaube überall auf der Welt im Rückzug befand, insbesondere nachdem Jerusalem im Jahr 1187 an Saladin gefallen war. Aus diesem Blickwinkel sah es aus, als sei die Christenheit von Ungläubigen umzingelt, die sie durch ihre Fruchtbarkeit ausstachen.20 Manche, wie der Philosoph Roger Bacon, der im 13. Jahrhundert lebte, sprachen sich gegen ein militärisches Vorgehen gegen Ungläubige aus. Auf diese Art würde man sie nur in ihrer antichristlichen Einstellung bestärken. Und vor allem würden die christlichen Eroberer, selbst wenn sie siegreich gewesen wären, nach dem Kreuzzug wieder nach Hause zurückkehren, während die einheimische Bevölkerung vor Ort bliebe und sich vermehre, so Bacon.21 Dieses Argument ist seither in vielen Formen vorgebracht worden. Die meisten Engländer unterstützten jedoch die Idee eines Kreuzzugs gegen die Ungläubigen; in dieser Hinsicht unterschieden sie sich nicht von der übrigen Christenheit.22 Manchmal wurden solche Expeditionen auch gegen Ziele innerhalb Europas durchgeführt, etwa gegen die als Ketzer angesehenen Albigenser in Südfrankreich oder die heidnischen Prußen im Osten. An diesen baltischen Kreuzzügen nahm auch der junge Heinrich IV. von England teil. Die Rückeroberung des Heiligen Landes für das Christentum schien den Engländern aber dringlicher. Wie für die mittelalterlichen Europäer allgemein bildete Jerusalem auch für die Engländer den Mittelpunkt nicht nur ihrer Weltanschauung, sondern – wie zeitgenössische Landkarten wie die Mappa Mundi in der Kathedrale von Hereford zeigen – auch ihres geographischen Weltbilds. Die Engländer lebten am Rand der Christenheit, strebten aber danach, in ihrem Zentrum zu stehen. Deshalb nahmen viele von ihnen das Kreuz, wie man damals sagte. Die dramatischsten Beispiele sind Richard I., der in den 1190er Jahren an der Spitze eines Heeres ins Heilige Land zog, und Eduard I., der 1272 während eines Kreuzzugs in Akkon von seiner Thronnachfolge erfuhr.

Die Kreuzzüge hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Stellung Englands in Europa. Ihrem Wesen nach kollektive Unternehmungen, deren Erfolg von der Kooperation mit anderen Europäern abhing,23 warfen sie die Frage auf, ob es anging, dass Engländer gegen Franzosen kämpften, anstatt sich mit ihnen gegen den gemeinsamen ungläubigen Feind zusammenzuschließen. Dies wurde in den 1330er Jahren zu Beginn des Hundertjährigen Krieges ein Thema, als ein geplanter englisch-französischer Kreuzzug abgesagt wurde, da Philipp VI. von Frankreich und Eduard III. von England sich nicht über die Bedingungen einigen konnten. Später im selben Jahrhundert stellte man sich diese Frage angesichts des dramatischen türkischen Vorrückens in Südosteuropa erneut. 1387 eroberten die Türken Saloniki, 1388 unterwarfen sie die Bulgaren, und im Jahr darauf brachten sie den Serben in der Schlacht auf dem Amselfeld eine vernichtende Niederlage bei. Sultan Bayezid I. verkündete triumphierend, er würde weiterreiten bis nach Paris, vorher aber füttere er sein Pferd am Altar des Petersdoms in Rom. Als eine der führenden Nationen Europas betrachtete es England als seine Ehrenpflicht, an einem Kreuzzug teilzunehmen, um verlorenen Boden zurückzugewinnen. Englische Ritter schlossen sich den Truppen an, die als Verstärkung nach Ungarn geschickt wurden, während gleichzeitig Verhandlungen mit Frankreich über ein gemeinsames Vorgehen begannen. Die Verhandlungen blieben ergebnislos, und am Ende führten England und Frankreich, anstatt gegen die Türken, gegeneinander Krieg.

Der Kreuzzugsgedanke blieb jedoch virulent. 1398, nur zwei Jahre nachdem die Türken bei Nikopolis an der Donau einen europäischen Kreuzzug zermalmt hatten, verkündete Johann von Gent, der selbst an Kreuzzügen in Spanien und Portugal teilgenommen hatte, dass »nichts Substantielles für die Wohlfahrt der Christenheit erreicht werden« könne, »wenn die beiden Könige [der englische und der französische] nicht endgültig Frieden schließen«.24 Als der bedrängte byzantinische Kaiser Manuel II. nach Europa reiste, um zur Unterstützung seines Reichs aufzurufen, zeigte sich Heinrich IV. von England über Weihnachten 1400 als überaus großzügiger Gastgeber. Aber mehr als Geld und gute Worte war nicht drin für den Byzantiner, was manche Engländer, die es gern gesehen hätten, wenn man mehr für die Verteidigung der Christenheit getan hätte, beschämend fanden. »Ich dachte bei mir«, schrieb der walisische Chronist Adam von Usk, »wie kummervoll es war, dass diese große christliche Provinz aus dem ferneren Osten in seiner Not, von Ungläubigen dazu getrieben, gezwungen war, die fernen Länder des Westen zu besuchen, um Hilfe gegen sie zu erlangen. Mein Gott! Wo bist du, Roms alter Glanz? Zuschanden ist heute die Größe deines Reichs.«25 Dass die »Christenheit«, das heißt Europa, angesichts einer äußeren Bedrohung, die jeden kleinlichen Streit mit Franzosen, Schotten, Iren und Walisern verblassen ließ, zusammenstehen sollte, war für die Engländer weiterhin ein starker Imperativ.

Mit dem Kontinent verbunden waren sie aber nicht nur durch die Religion, sondern auch durch familiäre Bande, Handel, Bildung, die lateinische Sprache und allgemein eine gemeinsame Kultur. Sie fuhren über den Ärmelkanal hin und her. Ein sehr bekannter Engländer des 14. Jahrhunderts, Johann von Gent, wurde, wie sein Name besagt, in der flämischen Stadt Gent geboren. Seine Mutter war Philippa von Hennegau, die sein Vater, Eduard III. von England, geheiratet hatte, weil er Flandern als Bündnispartner gegen Frankreich gewinnen wollte. Englands aristokratische Kultur und das gesamte feudalistische Zubehör, wie Manieren, der Kodex der Ritterlichkeit, Turniere, Troubadoure und ein großer Teil der Rechtsvorschriften, stammten – wenngleich das Common Law auch starke angelsächsische Wurzeln hatte – aus Frankreich.26 Zwischen den beiden Seite des Ärmelkanals gab es in dieser Hinsicht wenig Unterschiede, und die Adligen wechselten problemlos von der einen in die andere Gesellschaft. Französisch wurde auf beiden Seiten des Kanals gesprochen. Auch in der Architektur war der europäische Einfluss, aus West wie Ost, allgegenwärtig. Der wichtigste Baumeister der Burgen Eduards I. war der aus Savoyen stammende James of St. George. Eduard I., selbst Kreuzfahrer, begann 1283 mit dem Bau von Caernarfon Castle, um die Waliser in Schach zu halten. Die achteckigen Türme und gestreiften Mauern ahmten das Vorbild der Stadtmauern von Konstantinopel nach, und der Hauptturm besaß drei Türmchen, die als Zeichen der Königsmacht von Adlerskulpturen gekrönt waren.27 Das Ganze war Ausdruck der Solidarität mit dem Kontinent und seinen Herausforderungen.

England war ein europäischer Staat, ragte aber auch heraus. Sein Reichtum war schon lange vor Empire und Industrialisierung beachtlich. Seine Landwirtschaft war aufgrund eines gemäßigten Klimas und eines fruchtbaren Bodens höchst produktiv. Es war der europäische Hauptproduzent von Wolle, die nach Flandern exportiert wurde. London war ein wichtiger Handelsplatz, und England besaß bereits eine umfangreiche Handelsflotte. Es »ist ein starkes und robustes Land und die wohlhabendste Ecke der Welt«, schrieb der Enzyklopädiker Bartholomaeus Anglicus im 13. Jahrhundert, ein in Paris lebender Engländer. Es sei »ein so reiches Land, dass es kaum Hilfe von anderen benötigt«.28 England war, mit den berühmten Worten des Chronisten Robert von Gloucester aus dem späten 13. Jahrhundert, ein »ziemlich gutes Land«, und obwohl es später von der Pest heimgesucht wurde, blieb es ein Gebiet mit großem Wirtschaftspotential, das für die Kriegführung im Ausland genutzt werden konnte. Natürlich gab es in Europa auch andere prosperierende Länder. Frankreich war aufgrund seiner erheblich größeren Fläche und Bevölkerung reicher, allerdings nur in absoluten Zahlen und nicht pro Kopf.

Zwei Dinge machten England jedoch einzigartig. Zum einen der Rechtsgedanke, dass die Freiheit der Untertanen, zumindest theoretisch, über der Königsmacht stehe. Der englische Gesandte, der 1439 zu Friedensverhandlungen nach Frankreich geschickt wurde, erhielt die Anweisung, dem französischen König zu sagen, Gott habe »sein Volk nicht für die Fürsten gemacht, vielmehr hat er die Fürsten für den Dienst an ihrem Volk und dessen Wohlfahrt gemacht«.29 Zum anderen zeichnete sich England durch eine beeindruckende Fähigkeit der Steuererhebung aus, die nicht nur durch die leistungsfähigste säkulare Bürokratie des Kontinents ermöglicht wurde, sondern auch durch die Kooperation der nationalen repräsentativen Versammlung, die als Parlament bekannt werden sollte. Es gab natürlich auch anderswo in Europa repräsentative Versammlungen der einen oder anderen Art, aber die englische war außergewöhnlich. Im Unterschied zu vielen anderen europäischen Monarchien verfügten die englischen Könige nur über begrenzten persönlichen Grundbesitz und waren daher von Geldzuwendungen ihrer Untertanen abhängig. Daher war der englische Adel im Gegensatz zum übrigen Europa nicht von Steuern befreit, auch wenn er seine fiskalische Last die soziale Leiter hinab weiterzureichen pflegte. Schließlich war das englische Parlament, wiederum im Unterschied zu anderen europäischen Ländern, schon sehr früh nicht nur eine regionale, sondern eine nationale Institution.

Das Parlament entstand vor allem wegen Europa. Die Könige von England brauchten Geld, um in Frankreich Krieg führen zu können und ihr Reich gegen Angriffe europäischer Mächte, zumeist von Seiten Frankreichs und seines Verbündeten Schottland, zu verteidigen.30 Anders als der französische Monarch, dem ein kleiner, »geschlossener« Rat zur Seite stand, war derjenige der englischen Könige groß und »offen«. Bedenkt man Zeit und Ort, kann man durchaus von einer umfassenden öffentlichen Beratschlagung politischer Fragen sprechen. Dieser Rat entwickelte sich zum »Parlament«, ein Begriff, der zum ersten Mal 1236 benutzt wurde. Streng genommen, besaß das »Parlament« lediglich beratende Funktion, doch da es finanzielle Mittel zurückhalten oder ihre Bereitstellung hinauszögern konnte, war die Trennlinie zwischen Ratschlag, Überredung und Zustimmung fließend. Die Entwicklung verlief weder geradlinig noch harmonisch, aber mit jedem Krieg und jedem königlichen Zugeständnis als Gegenleistung für die Bereitstellung von Geld, oder auch deren Verweigerung, gewann das Parlament Zug um Zug seine heutigen Kompetenzen. Im Juni 1177 zum Beispiel beherzigte Heinrich II. die Empfehlung des Rats, seine Abreise in die Normandie zu verschieben.31 In einer Klausel der Magna Charta von 1215, in der sich unter anderem der Unmut der Barone über das Scheitern und die enormen Kosten der Versuche König Johanns, die Normandie zurückzuerobern, niederschlug, sagte der Monarch zu, nur Steuern zu erheben, die vom »allgemeinen Rat unseres Reiches« beschlossen worden waren. Laut einem Statut von 1352 durften nur mit Zustimmung des Parlaments Soldaten ausgehoben werden. Kurz, es wurde immer deutlicher, dass der Ratschlag des Parlaments ein Angebot an den König war, das dieser nicht so einfach ablehnen konnte.

Noch ein weiteres Ereignis war für die Entwicklung der Beziehungen Englands zum Kontinent und die Ausweitung der englischen Freiheit – beides war unauflöslich miteinander verknüpft – von entscheidender Bedeutung. Zunächst einmal standen der Rat des Königs und die Nation als Ganzes royalen Ambitionen in Übersee skeptisch gegenüber. Im 11. Jahrhundert und am Anfang des 12. Jahrhunderts zahlten sie widerstrebend für die Verteidigung der Normandie und die Versuche, sie zurückzuerobern. Im späten 12. Jahrhundert wurde Richard I. wegen seiner Feldzüge im Ausland heftig kritisiert, zum einen aufgrund ihrer Kosten und zum anderen, weil sie seine Abwesenheit von England mit sich brachten.32 Im 13. Jahrhundert löste Heinrich III. mit seinen hochfliegenden Plänen in Europa, die über die Wiederherstellung des kanalüberspannenden Reichs hinaus eine Rolle im Heiligen Römischen Reich, eine Präsenz in Sizilien und sogar einen Kreuzzug nach Palästina umfassten, eine Revolte der Barone aus. 1258 wurde er durch eine Gruppe von Baronen, als deren Anführer später Simon de Montfort hervortreten sollte, gezwungen, ein Parlament in Oxford einzuberufen, das ihn auf den Boden der Tatsachen zurückholen sollte.33 Die Rebellion wurde schließlich niedergeschlagen, aber Heinrichs Hoffnungen auf europäischen Glanz waren geplatzt. In der Herrschaftszeit Eduards I. verkündete ein populäres Lied: »Ein König sollte sein Königreich nicht verlassen, um Krieg zu führen, außer das Parlament seines Landes stimmt dem zu.«34 Ob es ihnen nun gefiel oder nicht, die englischen Könige mussten einsehen, dass sie die politische Öffentlichkeit – also das, was wir heute Nation nennen würden – überzeugen mussten, wenn sie dem Kontinent ihren Stempel aufdrücken wollten.

Im Lauf des 14. Jahrhunderts veränderte sich die nationale Perspektive auf die königlichen Ambitionen in Frankreich. Dies lag zum Teil an den Gelegenheiten, Ruhm und Reichtum zu erlangen. Vor allem unter Heinrich V. siedelten sich Engländer auf dem Kontinent an. Wirtschaftlich bedeutsam war insbesondere die Gascogne, wegen der riesigen Verbrauchssteuereinnahmen, die der dort erzeugte Wein der Krone einbrachte. Der Hauptgrund für das Engagement in Frankreich war jedoch die Sicherheit. Die Engländer ließen sich in zunehmendem Maß von dem Argument des Königs überzeugen. Um England zu Hause verteidigen zu können, so der König, benötige es eine starke Position im Ausland. Nur so sei es in der Lage, dem Feind die Stützpunkte zu versperren, von denen aus er die Süd- und Ostküste Englands angreifen könne. Die Eroberung ihres Landes durch französische Truppen im frühen 13. Jahrhundert, in den letzten Jahren der Herrschaft von Johann Ohneland, war für die Engländer ein traumatisches Erlebnis. Als die Franzosen 1295 Kent überfielen, stärkte dies zweifellos die öffentliche Zustimmung zu dem Krieg, den Eduard I. gegen Frankreich führte.35 1338 war Southampton Ziel eines verheerenden Angriffs, und auch andere Orte an der englischen Südküste wurden erheblich geschädigt. Offenbar hatten die Franzosen noch im selben Jahr eine groß angelegte Invasion geplant. Dies belegte ein schriftlicher Plan, den englische Truppen 1346 in Caen entdeckten und nach England brachten, wo er auf dem Friedhof der St.-Pauls-Kathedrale in London öffentlich verlesen wurde, »um das Volk des Reichs aufzurütteln, damit sie ihrem König untertänig ihre Hochachtung bezeigen und andächtig für das Wohlergehen und den Erfolg seiner Expedition [nach Frankreich] beten«.36 1360 griffen die Franzosen Winchelsea an, und 1377 folgten weitere große Angriffe, die weithin Panik auslösten. Die Schäden waren jedoch weniger physischer oder kommerzieller als vielmehr politischer und psychologischer Art. Die Engländer fühlten sich nicht mehr sicher. Deswegen wurden nun bis hinauf nach Bridlington in Ost-Yorkshire Festungen errichtet. Was immer sie vom Anspruch des Königs auf den französischen Thron, dem königlichen casus belli, hielten, die Engländer waren überzeugt, dass nur die Kontrolle über Nordfrankreich und die dortigen Hafenstädte sie von dieser Geißel befreien könne.

Die Unterstützung von Nation und Parlament war jedoch nicht selbstverständlich und blieb umstritten.37 In einem Gedicht aus dem Jahr 1339, kurz nach dem Beginn des Konflikts, der zum Hundertjährigen Krieg werden sollte, wurden sowohl die Entsendung von Truppen in die Niederlande als auch die Kosten der Auslandsfeldzüge angeprangert. Als das Parlament 1354 gefragt wurde, ob es Frieden wolle, antwortete es mit einem lauten Ja.38 1378 beschloss das Parlament von Gloucester, es würde nur für die Verteidigung des Reichs zahlen, nicht aber für einen Aggressionskrieg in Frankreich. Im Widerspruch dazu pflichtete es aber der Auffassung bei, dass England in Frankreich verteidigt werde. 1381 führten die Kriegskosten zur Erhebung einer Kopfsteuer und zu einem großen Bauernaufstand. Ein Jahr später weigerte sich das Parlament, das Geld für einen Angriff auf Gent bereitzustellen. Mit anderen Worten, das mittelalterliche England erlebte die Anfänge einer bis heute anhaltenden nationalen Debatte darüber, wie das Reich am besten und möglichst kostengünstig geschützt und gestärkt werden könne. Doch das Parlament drehte dem König nie den Geldhahn für die Kriegführung in Frankreich zu, und nach feindlichen Überfällen wie dem auf Winchelsea stellte es eilfertig das nötige Geld zur Verfügung.

Ein ständiger Strom von Nachrichtenblättern und Depeschen aus Frankreich hielt die Nation über den Verlauf des Hundertjährigen Krieges auf dem Laufenden. Die spektakulären militärischen Siege des Schwarzen Prinzen, insbesondere diejenigen bei Crécy und Poitiers, begeisterten die Engländer. Das Parlament betrachtete die Vorposten in Frankreich bald als »Außenwerke des Reichs«, die nicht nur dazu dienten, den Feind auf seiner Seite des Ärmelkanals zu halten, sondern auch »großartige, stattliche Zugänge und Häfen, um [ihm] Kummer zu bereiten«, darstellten.39 Da das Parlament die Mittel und Männer für den Militäreinsatz bewilligte, war Krieg in Frankreich jetzt eine Sache der politischen Nation. Für englische Soldaten und Siedler ging es um Ruhm und Plünderungen. Vor allem jedoch war es ein Sicherheitsanliegen, den Feind auf der anderen Seite des Kanals zu halten. »Sire«, wandte sich ein ergebenes Parlament an Eduard III., »das Haus dankt seinem Lehensherrn, so gut es kann, … und dankt Gott von ganzem Herzen, dass Er ihm einen solchen Herrn und Gebieter gegeben hat, der es von der Knechtschaft anderer Lande und den Abgaben, die diese in der Vergangenheit erhoben, befreit hat.«40 In populären Balladen, Liedern und Mythen wurden der Krieg und die Eroberungen besungen. Der Sieg Heinrichs V. bei Azincourt im Jahr 1415 wurde im ganzen Land gefeiert und ging ins kollektive Gedächtnis ein. Kurz, das Reich in Frankreich wurde zu einem englischen Nationalprojekt. Dies markierte den Übergang von einem rein dynastisch-royalen zu einem »nationalen Interesse«, wie man es heute nennen würde.

Die Unterstützung der durch das Parlament vertretenen Nation stärkte die Stellung des englischen Königs in Europa und versetzte England in die Lage, dort oberhalb der eigenen, ohnehin schon beachtlichen Gewichtsklasse Schläge auszuteilen.41 Der Monarch konnte dank der breiten Unterstützung schneller und in größerem Ausmaß auf die Ressourcen des Landes zugreifen und sie für militärische Zwecke einsetzen. Außerdem verbesserte die Rückendeckung durch das Parlament die Kreditwürdigkeit des Königs, was sich in den folgenden Jahrhunderten als Vorteil von stark zunehmender Bedeutung erweisen sollte. Darüber hinaus erhöhte die Debatte im königlichen Rat oder Parlament die Qualität der englischen Entscheidungsfindung in der Außenpolitik. So wurde ausführlich diskutiert, an welcher Front – in Schottland, Frankreich oder den Niederlanden oder auf der Iberischen Halbinsel – man zuerst vorgehen sollte und in welcher Stärke. 1344 zum Beispiel knüpfte das Parlament seine Mittelbewilligung an die Bedingung, das gesamte Geld für den Krieg auf dem Kontinent einzusetzen und für die Kampagne gegen die Schotten im Norden eingetriebene Abgaben zu verwenden. Darüber hinaus verlangte es, dass der König persönlich nach Frankreich gehen sollte. 1385 kam es zu einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Hof, der Schottland angreifen, und der Opposition, die mehr Truppen nach Frankreich schicken wollte. Letztere dürfte recht gehabt haben, denn eine französische Invasion mit Hilfe einer riesigen Flotte, die in Sluis zusammengezogen worden war, konnte gerade noch rechtzeitig abgewendet werden. Zudem wurde die Entscheidung, nachdem sie einmal getroffen worden war, von der politischen Nation im Parlament unterstützt und bis zum Ende getragen. Andernfalls wäre der sich hinziehende und für lange Zeit siegreiche Krieg in Frankreich nicht möglich gewesen. In keinem anderen europäischen Staat befanden sich die äußeren Erfordernisse und die innere Struktur so früh im Einklang.

All dies hatte jedoch eine gravierende Folge, von der Englands Geschichte geprägt werden sollte. Solange die Monarchie kompetent und geachtet war, stärkten Parlament und Volk die Königsmacht. War dies nicht der Fall, war die Autorität des Monarchen in Gefahr. Im späten 14. Jahrhundert beispielsweise wurde Richard II. vom ersten Parlament seiner Herrschaftszeit darauf hingewiesen, dass England im Grunde von Feinden umgeben sei. Die Beschwichtigungspolitik, die er nach 1383 gegenüber Frankreich verfolgte, schuf keine Sicherheit und wurde innerhalb und außerhalb des Parlaments scharf kritisiert. Die Unzufriedenheit wuchs weiter, als Englands Verbündete zusammenbrachen. Als die Franzosen schließlich in Flandern einmarschierten und von Norden ein französisch-schottisches Heer anrückte, brachte dies das Fass zum Überlaufen. 1386, während die Franzosen in Sluis ein Invasionsheer zusammenzogen, enthob der Große Rat Kanzler Michael de la Pole seines Amts, stellte den König kalt und forderte eine energischere Kriegführung in Frankreich. 1392 lehnte das Parlament den Plan ab, Aquitanien und die Gascogne der französischen Lehensherrschaft zu unterstellen, denn seiner Ansicht nach wäre es »dumm und für den König und seine Krone höchst schädlich, solch vornehme Lordschaften, die so lange dem ererbten Recht gemäß von den Königen von England regiert worden sind, für immer zu entfremden«.42 Gerüchte über einen dauerhaften, schändlichen Frieden in Frankreich genügten, um 1393 in Cheshire eine Revolte von Kriegsveteranen auszulösen. Während früheren Königen, wie Johann Ohneland und Heinrich III., vorgeworfen wurde, sie würden sich zu viel mit Europa beschäftigen, wurden englische Monarchen jetzt zunehmend dafür kritisiert, dass sie in dieser Hinsicht zu wenig taten. Wie damals üblich, wurde die Kritik nicht gegen den König selbst gerichtet, sondern als Angriff auf »böse Berater« getarnt, die Zielrichtung aber war klar.

Im Lauf des Mittelalters nahm Englands militärisches Ansehen in Europa stetig zu. Die Kreuzzugserfolge Richards I. wurden weithin bewundert, und seinen Beinamen »Löwenherz«, Cœur de Lion, erhielt er nicht von seinen englischen Untertanen, sondern von dem französischen Dichter Ambroise.43 Im 14. Jahrhundert waren die Heldentaten der englischen Heere in der Anfangsphase des Hundertjährigen Krieges legendär. »Als der edle Eduard in seiner Jugend England erwarb«, schrieb der flämische Chronist Jean le Bel, »hielt niemand viel von den Engländern. Jetzt sind sie die glänzendsten und kühnsten Krieger, die man kennt.«44 Die chevauchées, bei denen englische Truppen große Teile Frankreichs zerstörten, waren für ihre Brutalität bekannt. Heinrich V. und nach seinem Tod John Talbot, der »englische Achilles«, waren auf dem Kontinent berühmte Figuren. Bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts hatten die Engländer in Europa den Ruf erworben, mit extremer Gewalt vorzugehen (wenn auch für gewöhnlich diszipliniert). Welchen Maßstab man auch anlegte – Wirtschaftskraft, Demographie, militärische Stärke, soziale Widerstandsfähigkeit oder politische Kohärenz –, England war unverkennbar eine Macht, mit der man rechnen musste.

Dies mussten nicht nur die Franzosen einsehen, sondern auch das Papsttum und die Kirche allgemein, die trotz ihrer Spaltungen und Verfehlungen im größten Teil Europas immer noch die Quelle universaler religiöser Autorität darstellte. Königtum und Elite störten sich allerdings an der Macht des Papstes, was zu verschiedenen parlamentarischen Beschlüssen führte, wie dem Statut über Provisoren (1351) und demjenigen über »Praemunire« (1353), die das Recht des Papstes, Steuern zu erheben und Kirchenämter zu besetzen, einschränkten und die königliche Vormachtstellung stärkten. Außerdem entging es den englischen Herrschern, die stets nach Geldmitteln für ihre zahlreichen Kriege suchten, nicht, dass die Kirche unermesslich reich war. Johann von Gent, der die englische Politik in der Spätphase der Herrschaftszeit seines Vaters dominierte, wollte wenigstens einen Teil der kirchlichen Einnahmen in England in die königliche Kasse leiten. 1374 wurde John Wyclif, der Vorstand des Balliol College in Oxford, nach Brügge geschickt, um sich dafür einzusetzen. In seinen späteren Werken hob er stets die Vormachtstellung der königlichen oder staatlichen Macht gegenüber der Kirche hervor. Wyclif wurde schließlich vom Papsttum gebannt. Auch ein Haftbefehl gegen ihn wurde erlassen, aber Oxford hielt zu seinen Leuten. Wyclif blieb bis ans Ende seines Lebens unbehelligt im Schutz der Staatsmacht, obwohl er seine Kirchenkritik zu einer umfassenden theologischen und moralischen Reformbewegung ausweitete, die lange nach seinem Tod die Bezeichnung »Lollardie« erhielt. Nichts davon war einmalig in Europa; die Kritik an der Kirche und die Begehrlichkeit in Bezug auf ihren Reichtum waren weit verbreitet. Wyclifs Anhänger beispielsweise standen in Verbindung und hatten viel gemein mit den von Jan Hus angeführten tschechischen Häretikern am anderen Ende Europas. Der englische Fall war dennoch ungewöhnlich, da er eine frühe Übersetzung der Bibel in die Volkssprache und, damit einhergehend, eine umfangreiche Literatur in Englisch umfasste.45 Außerdem deutete er darauf hin, dass die Forderungen eines englischen Staats, der seine Sicherheit in Europa verteidigte, potentiell geeignet waren, die religiöse Ordnung, die das Land mit dem übrigen Europa verband, zu sprengen.

Auch auf dem Konstanzer Konzil von 1414 bis 1418 wurde die Bedeutung Englands für Europa deutlich. Ziel der vom römisch-deutschen König und späteren Kaiser Sigismund von Luxemburg einberufenen Kirchenversammlung war eine Reform des Papsttums, nicht zuletzt um das Schisma zwischen den verschiedenen Gegenpäpsten zu beseitigen und damit die Grundlage für die Einheit der Christenheit im Kampf gegen die Türken zu schaffen. Es war eine europaweite Versammlung – so etwas wie ein mittelalterliches Pendant zu einem heutigen EU-Gipfel. England und Frankreich waren sich nicht grün; immerhin führten sie Krieg gegeneinander, was dem europäischen Gemeinwohl schadete und die beiden Monarchen von der Teilnahme abhielt. Dennoch wurde England von einer hochkarätigen Delegation vertreten, die eng mit den deutschen Vertretern zusammenarbeitete, um die Kirche zu reformieren. Das Problem lag im Stimmrecht, das die in großer Zahl anwesenden, häufig korrupten italienischen Geistlichen begünstigte. Die englische Delegation schlug vor, nach Nationen abzustimmen, mit gleichem Gewicht für Frankreich, Italien, Deutschland und England. Dies lehnten die Franzosen ab, weil sie es angesichts ihrer größeren und zahlreicheren Kirchen und Diözesen »absurd« fanden, »dass England mit Frankreich mit seinen einhunderteins Diözesen als gleich betrachtet werden solle«.46 Die englische Delegation erwiderte, auf der Grundlage einer vernünftigen Beurteilung der Größe und Stärke der gesamten Britischen Insel sei das »glorreiche Reich von England« sehr wohl als gleich zu betrachten und Frankreich in Bezug auf das »Alter von Glauben, Würde und Ehre« wahrscheinlich sogar überlegen.

In der Mitte des 15. Jahrhunderts stand es jedoch nicht gut um England. In Irland war die englische Herrschaft auf ein »Pale« genanntes Gebiet um Dublin beschränkt. An der Nordgrenze lauerten die Schotten. Heinrich V. starb, bevor er das riesige englische Reich in Frankreich konsolidieren konnte. Sein Sohn und Nachfolger, Heinrich VI., war noch ein Kind, das zu einem geistesschwachen Erwachsenen heranwuchs. Die Situation in England war instabil, was den französischen Widerstand stärkte. Parlament und Volk wurden des langen Abnutzungskriegs in Frankreich müde und wandten sich von dem großen nationalen Projekt jenseits des Ärmelkanals ab. 1431 beklagte das Parlament offen »die Kriegslast, und wie leidvoll und schwer« sie auf dem Land liege, weshalb ein Friedensschluss zwingend erforderlich sei.47 Im Gegensatz dazu erhöhten sich die Steuereinnahmen der französischen Monarchie, was darauf hindeutete, dass eine absolutistische Monarchie zur Mobilisierung einer Nation für den Krieg besser geeignet war als ein repräsentatives System.

1435 verdunkelte sich der strategische Himmel in Europa aus englischer Sicht weiter, da der Herzog von Burgund durch den mit Frankreich geschlossenen Vertrag von Arras das Bündnis mit England brach. England stand zunehmend allein da. Im selben Jahr wurden die Isle of Wight und die gesamte Südküste von Invasionsangst erfasst. Manche, wie der Autor der Libelle of English Policy (um 1437), plädierten jetzt dafür, dass England sich zu seinem Schutz anstatt auf die Herrschaft über Nordfrankreich auf die Marine stützen solle. Die Schrift dürfte das älteste »Hochsee«-Manifest der englischen Geschichte sein.48 »Gesegnet sei der Handel«, heißt es darin, »dank dessen wir Herren des Engen Meeres sein können.« Dies war jedoch nicht die Mehrheitsmeinung, und selbst der Autor dieser Schrift wollte Calais behalten. In den folgenden zwanzig Jahren waren die englischen Besitzungen in Frankreich fast ständig Angriffen ausgesetzt, die nur vorübergehend von Waffenstillständen unterbrochen wurden. Eins nach dem anderen fielen die »Außenwerke des Reichs« an Frankreich. Im Februar 1449 teilte der Kommandeur der englischen Truppen in Frankreich, Edmund Beaufort, dem Parlament mit, dass das Ende des jüngsten Waffenstillstands den raschen militärischen Zusammenbruch nach sich ziehen würde. Seine Warnung wurde in den Wind geschlagen, und so nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Im August 1450 berichtete ein Agent von John Paston – Autor und Adressat einer berühmten Briefsammlung der Mitglieder einer Landadelsfamilie aus Norfolk –, er habe die Nachricht erhalten, »dass Cherbourg verloren ist und wir mit keinem Fuß mehr auf dem Territorium der Normandie stehen«. Englands Beziehung zu Europa trat in eine neue Phase ein.

2

»Ein Stück des Kontinents«

Europa und die Entstehung des Vereinigten Königreichs

Erwach’, erwache, Englands Adelsstand!

Lass Trägheit nicht die neuen Ehren dämpfen:

Die Lilien sind gepflückt in eurem Wappen,

Von Englands Schild die Hälfte weggehaun.

Ein Bote in William Shakespeare, HeinrichVI. Erster Teil

Unsere Nation bewohnt eine Insel und ist eine der Hauptnationen Europas; aber um diesen Rang zu behalten, müssen wir die Vorteile dieser Situation nutzen, die wir fast ein halbes Jahrhundert vernachlässigt haben: Wir müssen immer daran denken, dass wir kein Teil des Kontinents sind, und dürfen nie vergessen, dass wir Nachbarn sind.

Henry St. John, 1. Viscount Bolingbroke, zur Verteidigung des 1713 geschlossenen Vertrags von Utrecht

In der Mitte des 15. Jahrhunderts verlor England sein Reich an Frankreich, und noch lange danach suchte es nach seiner Rolle in Europa. Seine Könige versäumten es, ihren Anspruch auf die französische Krone zu bekräftigen, und am Anfang des 16. Jahrhunderts hatten sie ihn praktisch aufgegeben. Gelegentlich spielten sie mit dem Gedanken eines Kreuzzugs gegen die Türken, aber ihr Hauptaugenmerk lag auf West- und Mitteleuropa. Das alte, auf Frankreich ausgerichtete strategische Paradigma wurde durch ein neues, auf die Niederlande und Deutschland gerichtetes ergänzt. Außerdem bildete sich in England ein breiteres Verständnis für die Notwendigkeit heraus, das Gleichgewicht der Mächte auf dem Kontinent generell aufrechtzuerhalten. Wenn es in kontinentale Angelegenheiten verwickelt wurde, dann zumeist wegen des europäischen Gleichgewichts. Begleitet wurde dies nach der Reformation von einem engen ideologischen Engagement in Europa, das auf der Annahme beruhte, der Schutz des Protestantismus und der parlamentarischen Freiheiten im eigenen Land erfordere die Verteidigung der »Freiheiten« Europas auf dem Kontinent. All dies war in England Gegenstand einer leidenschaftlich geführten Debatte, und am Ende des 17. Jahrhunderts konnte man bereits die Konturen des später so vertrauten Streits erkennen zwischen europhilen Whigs, die für Interventionen auf dem Kontinent eintraten, und euroskeptischen Torys, die sich stattdessen auf die maritime und kommerzielle Expansion konzentrieren wollten. Darüber hinaus förderte die englische Verstrickung in kontinentale Angelegenheiten nicht nur die Entstehung des modernen Staats, sondern führte auch zur Schaffung des Vereinigten Königreichs.

Im Juli 1453 endete mit dem entscheidenden französischen Sieg in der Schlacht bei Castillon der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich.1 Das englische Reich in Frankreich war in jeder Hinsicht zerstört.2 Geblieben war nur noch ein kleiner Außenposten um den »Pale« von Calais. Das Ausmaß der Katastrophe ließ sich nicht verschleiern, schon gar nicht an der englischen Südküste. Chronisten berichten von einem »täglichen« Zustrom von »diversen langen Karren mit … Waffen und Bettzeug und Haushaltsgegenständen … und Mitleid erregenden Männern, Frauen und Kindern …, die aus der Normandie vertrieben worden sind«.3 Während die Nation zu begreifen versuchte, wie die großen Siege von Crécy, Poitiers und Azincourt ins Gegenteil verkehrt worden waren, griff ein Gefühl nationaler Demütigung und Verzweiflung um sich. Vor allem verstärkte der Verlust der nordfranzösischen Küste die Verwundbarkeit von England selbst. Der furchtbare Präzedenzfall der französischen Überfälle der 1370er Jahre legte den Verdacht nahe, dass der Feind über kurz oder lang wieder – und diesmal in größerer Stärke – an der englischen Küste auftauchen würde. Bereits jetzt waren die Franzosen, wie John Pastons Ehefrau Margaret beklagte, »so kühn, an Land zu kommen und … sich aufzuführen, als wären sie Engländer«.4 1457 griffen sie die Hafenstadt Sandwich in Kent an. All dies bestärkte die Engländer in der lange gehegten Überzeugung, dass ihr Land nur dann sicher sei, wenn es beide Ufer des Ärmelkanals beherrschte.

Während die Reichsgrenzen über das Meer an die eigene Küste zurückschnellten, verlangten wütende Engländer zu wissen, was schiefgelaufen war und wer die Schuld daran trug.5 Es folgte eine eingehende Untersuchung der Niederlage, eine sich hinziehende nationale Selbstbefragung, die schließlich den gesammten Staatskörper erfasste. Die Obduktion hatte bereits in der Endphase des Krieges nach dem Verlust der Normandie und der kurz darauf verlorengegangenen Gascogne begonnen. Im November 1449 kamen die Lords und Commons in London in übler Stimmung zu einem Parlament zusammen, um über eine vergebliche hundertjährige nationale Anstrengung und die Verschwendung von Geld und Leben nachzudenken. Man war sich allgemein darin einig, dass die Hauptschuld bei William de la Pole lag, dem Herzog von Suffolk, Lord High Steward und Hauptberater König Heinrichs VI. Nur Verrat auf höchster Ebene, so glaubte man, konnte die Katastrophe erklären. Suffolks Amtsenthebung im Februar 1450, die zu seiner Flucht, Gefangennahme, einer Gerichtsfarce und schließlich seiner Ermordung führte, wurde vor allem mit dem Vorwurf begründet, er habe England in Frankreich verraten.6 In Kent machte sich eine Bauernarmee unter Jack Cade auf den Marsch nach London, die nicht nur lokale Missstände beklagte, sondern auch bemängelte, der König habe »falschen Rat erhalten, denn seine Lande sind verloren, sein Handel ist verloren, seine Commons sind zerstört, das Meer ist verloren, Frankreich ist verloren«.7

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die Nachricht vom Fall der Stadt Bordeaux im August 1453 ließ Heinrich VI. – der psychisch nie besonders stabil gewesen war – in eine katatonische Starre verfallen, so dass im Zentrum des Staatswesens ein Vakuum entstand. Darüber hinaus sollte sich der militärische Zusammenbruch als Todesstoß für die Lancaster-Monarchie herausstellen. Das rivalisierende Haus York warf ihr vor, königliche Unfähigkeit habe zum Fall Frankreichs geführt, bezweifelte die Kampfbereitschaft der verbliebenen englischen Stützpunkte, wie Calais, und unterstellte dem Königshaus, sie Frankreich übergeben zu wollen.8 Die anschließenden Rosenkriege, die England in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zerrissen, waren daher zum großen Teil eine Folge des Scheiterns der englischen Gesamtstrategie in Europa.9 Sie sorgten darüber hinaus dafür, dass England zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um nach dem Fall von Konstantinopel mehr zu tun, als diesen zu bedauern und ansonsten dem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der Türken auf dem Balkan im späten 15. Jahrhundert tatenlos zuzuschauen. 1454 verkündete Heinrich VI. in einem klaren Moment, er sei bereit, »die ganze Macht seines Reichs für den katholischen Glauben einzusetzen«, um die Stadt zurückzuerobern, aber letztlich waren solche Aussagen nichts als heiße Luft.10 Die Realität war, dass England in Europa vorerst nichts mehr zählte.

In England beschäftigte man sich jetzt eingehend mit dem nationalen Anliegen im Ausland und den inneren Veränderungen, die nötig waren, um es durchzusetzen. Die Debatte wurde nicht nur im Parlament geführt, sondern auch in handschriftlichen Texten, die weite Verbreitung fanden.11 Viele beschäftigten sich sowohl zum Trost als auch zur Warnung mit dem Beispiel antiker Reiche. William Worcester etwa lobte die römischen Senatoren dafür, dass sie, »den Eigennutz beiseitelassend, dem Gemeinwohl dien[t]en«, womit er implizit das kleinliche Gezänk der englischen Barone kritisierte. Andere waren sich nicht zu fein, vom Feind zu lernen, indem sie zahlreiche reformerische Traktate aus dem Französischen ins Englische übersetzten. Einige der aufmerksamsten Beobachter dieser Debatten waren übrigens Frauen, wie zum Beispiel eine Mutter und ihre Tochter, die eine Übersetzung der Schriften Alain Chartiers, des Dichters und Sekretärs des französischen Königs, lasen und mit Anmerkungen versahen. Ein großer Teil der Diskussion drehte sich um alltägliche Dinge: schlechte Verpflegung, Bezahlung, militärische Disziplin und so weiter. Aber die wichtigsten Punkte behandelten tiefer reichende Probleme des englischen Staats: mangelnde Konsultation, die Erhebung von Steuern zur Kriegsfinanzierung und vor allem die Wichtigkeit von »gutem Rat«.12

Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts bildete sich so etwas wie ein Konsens heraus. Die Mehrheit war sich darin einig, dass das englische Reich in Frankreich zurückerobert werden musste, um zum einen die historischen Rechte des Königs zu verteidigen und zum anderen dem Feind die Ausgangsbasis für Angriffe auf England zu nehmen.13 Dafür müsse man die Fehler der Lancaster-Monarchie beheben. Kulturell müssten die Engländer ihre Verweichlichung überwinden und martialischer werden, eine Forderung, mit der die lange Tradition begründet wurde, Außenpolitik mit moralischer Panik im Innern zu verknüpfen. Steuern müssten rechtzeitig gezahlt werden – anders gesagt, die Nation als Ganze sollte die Verantwortung für die Rückeroberung Frankreichs tragen –, aber im Gegenzug müsse der König auf den Rat des Parlaments und erfahrener Berater hören. Vor allem müssten die Engländer im Innern ihre Reihen schließen – nicht zuletzt dadurch, dass sie sich dem äußeren Feind entgegenstellten. Einen neuen Rosenkrieg, behaupteten einflussreiche Stimmen, könne man am besten durch einen weiteren Krieg mit Frankreich vermeiden.

Unterdessen zeigte die Entwicklung im übrigen Europa in die entgegengesetzte Richtung. Die Franzosen gingen mit der Überzeugung aus dem Hundertjährigen Krieg hervor, dass die nationale Rettung in einer größeren Machtfülle der Krone liege. In Frankreich gab es zwar weiterhin repräsentative Institutionen, aber der Unterschied zu England wurde immer größer. In Deutschland verliefen Bestrebungen, den Reichstag zu einer echten nationalen Versammlung zu machen, die für die gemeinsame Verteidigung und Wohlfahrt verantwortlich wäre, am Ende des 15. Jahrhunderts im Sande, obwohl er ein wichtiges politisches Forum blieb. Anderswo auf dem Kontinent überlebten verschiedene Ständevertretungen, Landtage und andere Institutionen, aber sie sollten in den Kriegen der folgenden zwei Jahrhunderte auf eine harte Probe gestellt und in vielen Fällen zerstört werden. Zeitgenossen waren sich der Ausnahmestellung Englands bewusst. Um 1470 schrieb John Fortescue in seiner Governance of England,