Hitler - Brendan Simms - E-Book

Hitler E-Book

Brendan Simms

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein radikal neuer Blick auf Hitlers Leben, Denken und Handeln

Die wichtigsten Dinge, die wir über Adolf Hitler zu wissen glauben, sind falsch, das zeigt Brendan Simms in dieser umfassend recherchierten und thesenstark argumentierten Biographie. So kreiste Hitlers Denken nicht etwa, wie allgemein angenommen, um den »Bolschewismus«, sein wichtigster Bezugspunkt war vielmehr »Anglo-Amerika«, so Simms. Die Vereinigten Staaten und das Britische Empire galten Hitler als Vorbilder für ein deutsches Weltreich, das sich ebenfalls auf Landgewinn, Rassismus und Gewalt gründen sollte. Der renommierte Historiker zeichnet in seinem Buch nicht nur ein völlig neues Bild von Hitlers Weltanschauung, er zeigt zugleich, warum diese zwangsläufig zu einem Krieg globalen Ausmaßes führen musste: Um zu überleben, musste das deutsche Volk eine mindestens ebenso starke Machtposition erringen wie »Anglo-Amerika«. Und für kurze Zeit schien es sogar möglich, dass Hitler die Herrschaft über die gesamte Welt erringen würde.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1528

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Buch

Viele der wichtigsten Dinge, die wir über Adolf Hitler zu wissen glauben, sind falsch, das zeigt Brendan Simms in dieser Biographie, die Hitlers Leben global einbettet und deutet. So kreiste sein Denken nicht etwa, wie allgemein angenommen, um den »Bolschewismus«, seine größte Sorge galt vielmehr »Anglo-Amerika« und dem internationalen Kapitalismus. Aus der Auseinandersetzung mit diesen beiden Kräften entsprangen Hitlers Antisemitismus und sein Wille, dem deutschen Volk einen »Lebensraum« zu verschaffen. Umfassend recherchiert und thesenstark argumentiert bietet Simms eine radikal andere Sicht auf Hitlers Weltanschauung. Sein Buch lässt viele Entscheidungen und Entwicklungen im »Dritten Reich« in einem neuen Licht erscheinen.

Zum Autor

Brendan Simms ist Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte Europas und die Geschichte Deutschlands im europäischen Kontext. Er ist Autor zahlreicher Bücher, daneben publiziert er in Zeitschriften und Zeitungen zu aktuellen europapolitischen Themen. Auf Deutsch erschienen von ihm unter anderem Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute (2014), Der längste Nachmittag. 400 Deutsche, Napoleon und die Entscheidung von Waterloo (2014) sowie zuletzt Die Briten und Europa. Tausend Jahre Konflikt und Kooperation (2019).

Brendan Simms

Hitler

Eine globale Biographie

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 2019 unter dem Titel Hitler. Onlythe World Was Enough bei Allen Lane, einem Imprint von Penguin Books, London. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 Brendan Simms Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagmotiv: © Bridgeman Images Lektorat: Jonas Wegerer, Freiburg Gesetzt aus der Apollo Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Inhalt

Prolog

Einleitung

TEIL EINSDEMÜTIGUNG

1 Eine Skizze des Diktators als junger Mann

2 Gegen eine »Welt von Feinden«

3 Die »Kolonisierung« Deutschlands

TEIL ZWEIZERSPLITTERUNG

4 Der Kampf um Bayern

5 Anglo-amerikanische Macht und deutsche Ohnmacht

6 Die Rückgewinnung der Kontrolle über die Partei

TEIL DREIVEREINIGUNG

7 Die amerikanische Herausforderung

8 Durchbruch

9 Die »wenigsten Fehler«

TEIL VIERMOBILISIERUNG

10 Das »Märchen«

11 Die »Hebung« des deutschen Volks

12 Kanonen und Butter

TEIL FÜNFKONFRONTATION

13 Lebensstandard und »Lebensraum«

14 »England ist der Motor, der gegen Deutschland treibt«

15 Die »Besitzenden« und die »Habenichtse«

TEIL SECHSVERNICHTUNG

16 Nach Westen schauen, nach Osten marschieren

17 Der Kampf gegen »Angelsachsen« und »Plutokraten«

18 Der Fall der »Festung Europa«

Schlussbetrachtung

Danksagung

Anmerkungen

Bibliographie

Register

Für Katherine

»… am Endelebt der Mensch von der Erde, und die Erde istder Wanderpokal, den die Vorsehung an die Völker gibt, diedafür kämpfen.«

Prolog

Im Juli 1918 wütete der Erste Weltkrieg seit nahezu vier Jahren. Der Gefreite Adolf Hitler vom bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 16 hatte fast von Anfang an in ihm gekämpft. Er hatte miterlebt, wie Deutschland dem mächtigen Bündnis aus den Entente-Reichen Großbritannien, Frankreich und Russland sowie einigen kleineren Ländern trotzte. Gegen Ende des vorangegangenen Jahres war eine der Großmächte, das zaristische Russland, durch eine Kombination von militärischer Niederlage und Revolution in die Knie gezwungen worden. In der Zwischenzeit hatte sich das Deutsche Reich jedoch die Gegnerschaft einer noch weit furchterregenderen Macht zugezogen: der Vereinigten Staaten.

Deutschland befand sich in einem Rennen gegen die Zeit: Es musste Frankreich schlagen und die Briten über den Ärmelkanal zurücktreiben, bevor amerikanische Truppen in größerer Zahl eintreffen würden. Anfangs waren die Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Deutsche Armeen rückten an der Westfront vor, und Adolf Hitler mit ihnen. Er musste dann jedoch miterleben, wie sich in der Zweiten Schlacht an der Marne das Blatt zu wenden begann.

Unverbraucht, zahlreich und von einer Begeisterung beflügelt, welche die fehlende Erfahrung ausglich, brachen amerikanische Truppen in die Reihen der erschöpften bayerischen Reservisten ein. Die Wirkung auf die Moral von Hitlers Kameraden war niederschmetternd und hinterließ einen bleibenden Eindruck bei ihm. Mit mindestens zwei dieser neuen Feinde traf er persönlich zusammen. Am 17. Juli 1918 notierte Regimentsadjutant Fritz Wiedemann: »Durch Gefr[eiten] Hitler wurden zwei amerikanische Gefangene (vom R[eserve Regiment] 16 gefangen genommen) bei 12 b. K. I. Brig. abgeliefert.« 1

Wer diese Männer waren und wie Hitler den Vorfall damals bewertete, ist nicht bekannt. Wir wissen jedoch, wie er ihn später interpretierte, nämlich als entscheidenden Moment in seinem Leben – und damit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er war überzeugt, dass diese »Jungs« Nachkommen deutscher Auswanderer waren, die dem Vaterland wegen mangelnden »Lebensraums« verlorengegangen waren und die nun als Rächer in den Reihen einer unaufhaltbaren feindlichen Armee zurückkehrten. In späteren Reden kam er wiederholt auf diesen Augenblick »im Hochsommer 1918« zu sprechen, »als auf den französischen Schlachtfeldern die ersten amerikanischen Soldaten auftauchten, großgewachsene Menschen, Menschen unseres eigenen Blutes, die wir selbst jahrhundertelang abgeschoben hatten und die jetzt bereit waren, das Mutterland selbst in Grund und Boden hineinzutreten«. 2

Damals begann also alles: die Besessenheit von Deutschlands demographischer Schwäche, die letztlich nur durch »Lebensraum« im Osten behoben werden konnte; der Respekt und die Furcht vor den angelsächsischen Mächten mit ihren offenbar unbegrenzten territorialen, demographischen, natürlichen und ökonomischen Ressourcen; und das Bestreben, einen weiteren – vom »Weltjudentum« angezettelten – »rassischen« Bürgerkrieg zwischen Angelsachsen und Teutonen zu vermeiden – oder zu überstehen, sollte sich eine neuerliche Auseinandersetzung als unvermeidlich erweisen.

Einleitung

Vor zwanzig Jahren zählte ein deutscher Autor über 120 000 Bücher und Aufsätze über Hitler und das »Dritte Reich«, 1 und diese Zahl ist seither noch erheblich angestiegen. In den besten Hitler-Biographien spiegelten sich die Zeitumstände und wissenschaftlichen Trends wider. Alan Bullock zeichnete Hitler in seinem bahnbrechenden Buch Hitler. Eine Studie über Tyrannei, das nur neun Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs erschien, als Vertreter des »Zeitalters unaufgeklärten Despotismus«, aber auch als »völlig prinzipienlosen Opportunisten«. 2 Dies passte, ob gewollt oder nicht, in den breiteren Kontext der Totalitarismustheorie und zur Neigung seines Kollegen A. J. P. Taylor, Zufällen und Fügungen mehr Gewicht beizumessen als tieferen Erklärungsmustern. Zwei Jahrzehnte später verfasste Joachim Fest eine hochgelobte Biographie, die eher literarisch als wissenschaftlich war, aber von vielen Berufshistorikern bewundert wurde. Sie war der erste großangelegte Versuch, in der Vorstellung nachzuvollziehen, wie ein Mann wie Hitler in einem wirtschaftlich fortgeschrittenen und kulturell hochstehenden Land wie Deutschland die Macht erobern und festigen konnte. 3 Fests Buch war ein Meilenstein in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und bildete den Höhepunkt einer fast dreißigjährigen Forschung und Selbstbefragung. Insofern war es ebenso sehr ein Werk über die Deutschen wie über Hitler.

Es dauerte weitere zwanzig Jahre, bis die nächste »klassische« Biographie erschien. Ian Kershaws zweibändige Darstellung, die seither als Standardwerk gilt, spiegelte das beachtliche Ausmaß der Forschung über die NS-Diktatur in den vorangegangenen Jahrzehnten wider. Insbesondere die »Wende« zur Sozialgeschichte und die lange Debatte zwischen »Intentionalisten«, die eine mehr oder weniger gerade Linie von programmatischen Äußerungen in den 1920er Jahren bis zum Ende von Hitlers Herrschaft zogen, und »Strukturalisten«, die institutionelle Rivalitäten und Dynamiken betonten, fanden hier ihren Platz. 4 Fest war vorgeworfen worden, Hitler zu sehr von seiner Umgebung abgekoppelt zu haben. 5 Kershaw stellte ihn nun in den Kontext seiner Zeit. Er sah seine Aufgabe »nicht in der Konzentration auf Hitlers Persönlichkeit, sondern in der Fokussierung auf das Wesen seiner Macht«, zu deren Erklärung man »in erster Linie auf die anderen und nicht auf Hitler selbst schauen« müsse. 6 Auch die »voluntaristische« Wende, die Betonung der aktiven Kollaboration der Bevölkerung an nationalsozialistischen Initiativen, bezog er in seine Darstellung ein. Die fortdauernde Macht von Institutionen und Gruppen wurde berücksichtigt und den großen und kleinen historischen Akteuren eine individuelle Handlungsfähigkeit zugestanden. 7 Kershaw zeigte, dass der den »Führer« umgebende »Mythos« ebenso von anderen wie von ihm selbst geschaffen worden war. 8 Sein Hitler kontrollierte nicht alles, weil er es nicht musste: Die Hauptakteure arbeiteten aus eigenem Antrieb »dem Führer entgegen«. 9 Seine Macht beruhte weniger auf seiner eigenen dämonischen Kraft als vielmehr auf der Mitarbeit der deutschen Eliten und der Bevölkerung insgesamt. So wurde Hitler zurechtgestutzt, auch wenn er weiterhin aus seiner Umgebung herausragte.

Seither sind weitere Biographien und Spezialstudien erschienen. 10 Volker Ullrich hat Hitlers Persönlichkeit in den Vordergrund gestellt. 11 Kurz nach dem Erscheinen des ersten Bandes von Ullrichs Biographie krönte Peter Longerich seine lange Beschäftigung mit dem »Dritten Reich« mit einer eigenen Interpretation, in der er viele der seit dem Erscheinen von Kershaws Biographie veröffentlichten Spezialstudien berücksichtigte. 12 Er zeigte, dass Hitler weit mehr als ein bloßer »Katalysator« schon vorhandener Kräfte in der deutschen Gesellschaft und weit dominanter war, als ihm aus »strukturalistischer« Sicht zugebilligt wurde. Zur selben Zeit bewies Wolfram Pyta, auch wenn sein Buch, streng genommen, keine Biographie ist, dass die »kulturelle« Wende der Geschichtsschreibung neue Erkenntnisse über Hitlers Selbstdarstellung als »Genie« und das »performative« Wesen seiner Herrschaft ermöglichte. 13 In jüngster Zeit hat Hans-Ulrich Thamer in einer knapp gehaltenen Biographie erneut die Bedeutung von Gewalt und Verführung in Hitlers Beziehung zum deutschen Volk hervorgehoben. 14

Das vorliegende Buch kann sich in vieler Hinsicht nicht mit seinen Vorgängern messen. Es ist offensichtlich nicht das erste bedeutende Werk über seinen Gegenstand, noch wird es das letzte Wort sein. Es beansprucht weder Joachim Fests literarisches Flair noch Ian Kershaws Breite und Tiefe, Peter Longerichs profunde Kenntnis des NS-Systems, Wolfram Pytas theoretische Finesse oder Volker Ullrichs psychologischen Tiefblick. Genauso wenig wird versucht werden, das Rad neu zu erfinden. Die umfangreiche Spezialforschung über das »Dritte Reich« wird berücksichtigt, soll aber nicht zusammengefasst werden. 15 Auch kann dieses Buch die tiefe Beziehung zwischen Hitler und den Deutschen nicht erklären. 16 Es handelt nicht von dem Hitler, den sie gewählt, sondern von dem, den sie bekommen haben. Es handelt nicht von dem, was er »erreichte«, sondern von dem, was er beabsichtigte. Schließlich entziehen sich seine Persönlichkeit und sein Privatleben weitgehend dem Blick, obwohl einige Facetten, darunter auch unerwartete, zutage treten werden. Der Autor kann also nicht den »ganzen« Hitler liefern, hofft aber zu zeigen, dass unser Bild von ihm bisher erhebliche Lücken aufweist.

Im Folgenden werden drei große und miteinander verknüpfte neue Behauptungen aufgestellt: erstens, dass Hitlers Hauptaugenmerk während seiner gesamten Laufbahn nicht der Sowjetunion und dem Bolschewismus galt, sondern Anglo-Amerika und dem globalen Kapitalismus; zweitens, dass seine Haltung zum deutschen Volk, auch noch nach der »Säuberung« von Juden und anderen »Unerwünschten«, höchst zwiespältig war und stets von einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den »Angelsachsen« bestimmt wurde; und drittens, dass wir uns, wenn auch aus verständlichen Gründen, zu sehr auf seine mörderische »negative Eugenik« gegen Juden und andere »Unerwünschte« konzentriert und dabei den Blick auf seine »positive Eugenik«, die dazu dienten sollte, das deutsche Volk auf das Niveau seiner britischen und amerikanischen Rivalen zu heben, vernachlässigt haben. 17 Wir haben also bisher übersehen, in welchen Ausmaß Hitler in einem weltweiten Kampf nicht nur mit den Juden, sondern auch mit den Angelsachsen befangen war. Die Absicht des Autors ist daher nicht nur »additiver«, sondern »substitutiver« Art. Wenn seine Behauptungen sich als tragfähig herausstellen, müssten Hitlers Biographie und vielleicht die Geschichte des »Dritten Reichs« insgesamt grundsätzlich neu überdacht werden.

Das vorliegende Buch bricht daher mit vielen verbreiteten Ansichten über Hitler. Er stellte das deutsche Volk nicht auf ein rassisches Podest, sondern lebte stets in der Sorge über seine anhaltende Schwäche. Nach seiner Ansicht waren die Vereinigten Staaten keineswegs durch den Börsenkrach an der Wall Street gelähmt, und sie bildeten, wie schon seit den frühen 1920er Jahren, weiterhin einen zentralen Gegenstand seines Nachdenkens. Der Autor weist auch die verbreitete Überzeugung zurück, Haupttriebkraft seiner Weltanschauung und die Ursache seines scharfen Antisemitismus sei die Furcht vor der Sowjetunion und dem Bolschewismus gewesen. Folglich stellt er auch die zentrale Bedeutung der Ostfront im Zweiten Weltkrieg in Frage. Er entdeckt auf keinem Gebiet der Innen- und Außenpolitik, das Hitler wirklich interessierte, einen wirklichen »konzeptuellen Pluralismus«. Hitler war kein Gefangener irgendwelcher gesellschaftlichen Kräfte oder miteinander konkurrierender Machtzentren. Und wenn sich die deutsche Regierung, wie es häufig der Fall war, in einem »polykratischen Chaos« befand, war es keineswegs das Ergebnis eines bewussten Versuchs des Diktators, die Methode des »Teilens und Herrschens« anzuwenden. Gleichwohl ist keines der zitierten Werke ohne Wert oder rundum falsch, und das vorliegende Buch stimmt in einigen Fragen zweifellos mit den Arbeiten anderer Forscher überein, während es in anderen von ihnen abweicht. Dies spiegelt sich auch im Anmerkungsapparat wider, hier wird in der Regel auf Werke verwiesen, die mit der dargelegten Auffassung übereinstimmen, während Irrtümer für gewöhnlich nur indirekt korrigiert werden.

Tatsächlich stützt sich der Autor in großem Maß auf die Arbeit anderer und wurde von einigen historiographischen Trends der jüngeren Zeit beeinflusst. Als Erstes ist hier die »transnationale Wende« zu nennen, die einen neuen Rahmen für die deutsche Geschichte bereitgestellt hat, in dem die Ereignisse als Teil breiterer und sogar globaler Entwicklungen begriffen werden. 18 Für die Untersuchung der deutsch-amerikanischen Verwicklung, die Hitlers Denken und Laufbahn so stark mitgeprägt hat, besonders wertvoll und anregend ist dabei die histoire croisée.19 Der zweite Trend ist die »Globalisierung«: Der Hitler der vorliegenden Biographie ist, trotz aller Besonderheit, ein Produkt globaler Kräfte. 20 Er passt sich gut in die jüngsten Studien über den Weltkapitalismus ein. 21 Drittens hat die geschichtswissenschaftliche Wende hin zur Umwelt es ermöglicht, Hitler in erster Linie als Malthusianer zu sehen, das heißt als Politiker des Mangels. 22 Viertens haben Arbeiten der global governance, insbesondere das im frühen 20. Jahrhundert entstandene anglo-amerikanische Kartell, den Blick des Autors für Hitlers Revolte gegen diese internationale Ordnung geschärft. 23

Fünftens haben Studien über Migration und Ethnie, insbesondere solche über den anglo-amerikanischen Siedlerkolonialismus, sowie Forschungen über die internationale »Rassenpolitik«, zumal die Hervorhebung des »angelsächsischen Hegemons«, einen Kontext für Hitlers Weltsicht zur Verfügung gestellt. 24 In diesem Kontext kann Deutschland sowohl als kolonisierend als auch als selbst kolonisiert gesehen werden, wie es von einigen Zeitgenossen, einschließlich Hitler, auch gesehen wurde; zu welcher Seite der »globalen Farblinie« es wirklich gehörte, war nicht klar. Das Deutsche Reich war der »Lieferant«, nicht der »Belieferte«, 25 der »Befruchter« – um Hitlers Worte zu benutzen –, nicht der »Befruchtete«. Aimé Césaire wies Mitte der 1950er Jahre darauf hin, dass Hitlers imperiales Projekt in Europa die traditionelle Rassenordnung umkehrte, indem er Weiße auf einen untergeordneten Status erniedrigte, der für gewöhnlich farbigen Völkern vorbehalten war. 26 Sechstens erleichtert die »räumliche Wende« der Geschichtsschreibung das Verständnis dafür, wie Deutschland, nachdem es sich von einem traditionellen Reich in eine Nation gewandelt hatte, erneut als Reich von Weltgeltung gedacht wurde. 27 Schließlich veranlasste der »temporal turn« den Autor, der Zeit, dem Zeitpunkt und insbesondere den Zeitfristen in Hitlers Wahrnehmung besondere Beachtung zu schenken. 28 Extraktion und Kontraktion der Zeit bildeten einen entscheidenden Faktor seines Denkens.

Wie die nachfolgenden Seiten zeigen werden, ist der Autor vielen Arbeiten über das nationalsozialistische Deutschland aus den letzten zwanzig Jahren verpflichtet. 29 Mark Mazower hat einen Rahmen für das Verständnis des »Dritten Reichs« als europäisches Imperium in Europa geschaffen. 30 Timothy Snyder hat die »Umweltdimension« von Hitlers Denken hervorgehoben, 31 während Adam Tooze gezeigt hat, in welchem Ausmaß die Vereinigten Staaten von Anfang an, besonders aber seit dem Beginn der Produktionsschlacht des Krieges als Hauptbezugspunkt des »Dritten Reichs« gesehen werden müssen. 32 Mary Nolan, Philipp Gassert und Stefan Kühl haben die amerikanische Dimension der Geschichte des 20. Jahrhunderts allgemeiner dargestellt. 33 Johann Chapoutot hat uns an die fortdauernde Bedeutung von Ideen des NS-Projekts erinnert, 34 und Lars Lüdicke hat auf die erstaunliche Beständigkeit von Hitlers Denken in Schlüsselfragen über 25 Jahre hinweg aufmerksam gemacht. 35

Auch von zahlreichen neueren Studien über einzelne Abschnitte oder Aspekte von Hitlers Leben hat die vorliegende Biographie profitiert. Dirk Bavendamm nahm Hitlers Jugend unter die Lupe; Brigitte Hamann untersuchte Hitlers Wiener Zeit und zeigte, dass es keinerlei Belege für eine antisemitische Einstellung aus diesen Jahren gibt. 36 Hitlers Weg begann vielmehr, wie Anton Joachimsthaler dargelegt hat, in München. 37 Thomas Weber beleuchtete Hitlers Erlebnisse im Ersten Weltkrieg und befasste sich ebenso wie Othmar Plöckinger mit den entscheidenden Jahren unmittelbar nach dem Krieg in München. 38 Plöckinger legte außerdem eine eingehende Analyse der Entstehung und Wirkung von Hitlers Mein Kampf vor. 39 Ein vernachlässigtes Gebiet, Hitlers Vorliebe für Innenarchitektur und seine entsprechenden Aktivitäten, hat Despina Stratigakos untersucht. 40 Anna-Maria Sigmund beschäftigte sich als Erste mit der komplizierten Ménage à trois zwischen Hitler, seiner Nichte Geli Raubal und seinem Chauffeur Emil Maurice. 41 Von Heike Görtemaker stammt die erste überzeugende Darstellung von Hitlers Beziehung zu Eva Braun. 42 Timothy Ryback gestattet uns einen Einblick in Hitlers Lesegewohnheiten, während Bill Niven seine filmischen Vorlieben offenlegte. 43 Fritz Redlich unterzog Hitler einer eingehenden psychiatrischen Untersuchung, 44 und Stephen Fritz hat zu begründen versucht, warum Hitler kein militärischer Amateur war. 45

Mehrere wichtige Studien beschäftigten sich mit Hitlers Rolle im »Dritten Reich«. Christian Göschel vollzog die Entwicklung der »faschistischen Allianz« mit Mussolini nach. 46 Kurt Bauer wies nach, dass Hitler eine Hauptrolle bei dem gescheiterten Putsch in Österreich von 1934 spielte. 47 Andreas Krämer zeigte vor dem Hintergrund der Maikrise von 1938 und deren Nachwirkung einen Diktator, der auf äußere Ereignisse reagierte, ohne die Kontrolle über den nationalsozialistischen Sicherheitsapparat abzugeben. 48 Angela Herrmann arbeitete in ihrer Untersuchung der München-Krise und ihrer Folgen heraus, dass es in der nationalsozialistischen Außenpolitik nur auf der Ebene unmittelbar unterhalb des Diktators selbst einen »konzeptuellen Pluralismus« gab. 49 Rolf-Dieter Müller wies überzeugend nach, dass Hitler 1938/39 vorhatte, die Sowjetunion anzugreifen, und nur durch die Ablehnung Polens, sich daran zu beteiligen, davon abgehalten wurde. 50 Die herausragende Bedeutung der amerikanischen Dimension in den Jahren 1940/41 hat Ian Kershaw in seiner Studie über schicksalhafte Entscheidungen herausgearbeitet. 51 Edward Westermann und Carol Kakel haben Hitlers Krieg gegen Russland mit der Eroberung des amerikanischen Westens verglichen. 52 In der quasi-offiziellen deutschen Kriegsgeschichte Das DeutscheReich und der Zweite Weltkrieg (DRZW) wurde die zentrale Rolle Hitlers für den Verlauf des Konflikts dargestellt. Schließlich haben Richard Evans, Peter Longerich und andere David Irvings gegenteilige Behauptung widerlegt und über jeden Zweifel hinaus nachgewiesen, dass Hitler der entscheidende Akteur bei der Ermordung von sechs Millionen Juden war. 53 Magnus Brechtken und Maximilian Becker vom Institut für Zeitgeschichte in München bereiten gegenwärtig eine Ausgabe der Reden vor, die Hitler ab 1933 als Reichskanzler hielt. 54

Die im vorliegenden Buch dargelegten Argumente beruhen auf einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen. Ein großer Teil dieses Materials ist bekannt, anderes ist erstaunlicherweise vernachlässigt worden, und manches ist, soweit dem Autor bekannt, völlig neu. Hauptquelle für die ersten rund dreißig Jahre von Hitlers Leben ist die Gesamtausgabe (HSA) seiner Korrespondenz sowie seiner Schriften und Äußerungen – von denen manche aus zweiter Hand stammen – bis 1924 (unter Ausschluss der inzwischen entdeckten darin enthaltenen Fälschungen). 55 Diese Sammlung enthält reichlich Material aus den Jahren ab 1919, während aus der Zeit davor nur wenig vorhanden ist; so gibt es für die zwölf Monate zwischen August 1908 und August 1909 überhaupt kein Material. 56 Für die Zeit ab Mitte der 1920er Jahre stützt sich der Autor hauptsächlich auf die kritische Edition von Hitlers Mein Kampf (MK), sein »Zweites Buch« (in RSA, IIa) sowie die umfangreiche Ausgabe seiner Reden und Schriften aus den Jahren 1925 bis 1933 (RSA). 57

Wie zu erwarten, nimmt die Zahl der überlieferten Dokumente aus der Zeit nach Hitlers Machtantritt im Jahr 1933 sprunghaft zu. Eine wichtige Quelle für das »Dritte Reich« selbst ist die bahnbrechende Sammlung von Max Domarus (RP), die überwiegend Reden enthält, editorisch allerdings zu wünschen übrig lässt. Eine wesentlich kleinere, aber besser edierte Zusammenstellung von sieben wichtigen Hitler-Reden haben Hildegard von Kotze und Helmut Krausnick herausgegeben (ES). Wertvolle Einblicke in Hitlers Regierungshandeln geben die Akten der Reichskanzlei (RH), und auch die Akten zur deutschen Außenpolitik (ADAP) enthalten viele Äußerungen von ihm. Für die Kriegsjahre liegen mehrere Dokumentensammlungen vor: die von Martin Moll herausgegebene Sammlung der »Führer-Erlasse« (FE); die von Walter Hubatsch herausgegebene Sammlung von Hitlers »Weisungen« für die Kriegführung (HW); die von Willi Boelcke herausgegebene Sammlung von Hitlers Besprechungen mit Albert Speer über die Rüstungsproduktion (RWK); und die von Helmut Heiber herausgegebene Sammlung der noch vorhandenen militärischen Lagebesprechungen Hitlers (LB). Ergänzt werden diese Dokumentenausgaben durch Memoiren, Tagebücher, das jüngst von Harald Sandner zusammengestellte, äußerst wertvolle »Itinerar« und andere gedruckte Quellen. Obwohl der größte Teil der auf den folgenden Seiten zitierten Quellen schon seit geraumer Zeit allgemein zugänglich ist, ist die Bedeutung mancher von ihnen noch nicht erkannt worden. Einige Schlüsselaussagen blieben, obwohl für alle sichtbar, seit Jahrzehnten verborgen.

Wie bei allen historischen Quellen, muss man auch bei denjenigen über Hitler, insbesondere bei Tagebüchern und Erinnerungen, Vorsicht walten lassen. Joseph Goebbels schrieb beispielsweise seine Tagebücher zum größten Teil für eine spätere Veröffentlichung, und der Biograph muss sich vor der Selbstverherrlichung, die er auf diese Weise über das Grab hinaus betreibt, in Acht nehmen. 58 Ähnliches gilt für Albert Speer, der die Ereignisse nicht nur in apologetischer Absicht verzerrte, sondern auch seine besondere Beziehung zu Hitler übertrieb. 59 Manche scheinbar zeitgenössischen Quellen, wie die Aufzeichnungen Otto Wageners (WA) und Gerhard Engels (ET), wurden in Wirklichkeit viele Jahre nach den beschriebenen Ereignissen verfasst; Gegenproben haben jedoch gezeigt, dass sie fast ausnahmslos zuverlässige Quellen sind. 60 Hitlers »Tischgespräche« während des Krieges wiederum entsprechen im großen Ganzen zwar seinen Ansichten, enthalten aber nachweislich Verzerrungen und sind nicht als wörtliche Protokolle zu verstehen. 61 Seine angeblichen Äußerungen bei diesen Gelegenheiten werden im Folgenden nicht in direkter Rede zitiert. Wo es angebracht erscheint, werden jedoch alle diese Quellen benutzt, wenn auch unter Vorbehalt.

Im Gegensatz dazu blieb eine Reihe »klassischer« Quellen für die vorliegende Biographie völlig unberücksichtigt. In Bezug auf Hitlers frühe Jahre, die in Mein Kampf und in »Erinnerungen« seiner Zeitgenossen verzerrt dargestellt sind, hat sich der Autor für den drastischen Schritt entschieden, nur Quellen aus der damaligen Zeit zu benutzen, was zum Beispiel die Erinnerungen von Hitlers Jugendfreund August Kubizek ausschloss. 62 Auch alles, was Werner Maser geschrieben oder zitiert hat, wurde als unzuverlässig verworfen. 63 Auch Quellen wie die »Breiting-Gespräche« und die Erinnerungen von Hermann Rauschning, die schon lange als zweifelhaft betrachtet wurden, aber hin und wieder immer noch in respektablen Schriften auftauchen, wurden nicht benutzt. 64 Mit erheblichem Widerstreben hat der Autor schließlich auch Hitlers angebliches »Testament« von Anfang 1945 als Quelle ausgeschlossen. Die darin geäußerten Anschauungen entsprechen denjenigen Hitlers und passen sogar zur Aussage dieses Buchs, aber eine forensische Untersuchung hat jüngst zu große Zweifel an der Herkunft des Dokuments geweckt, als dass man seinen Inhalt noch als authentisch betrachten könnte. 65

Die für dieses Buch benutzten neuen Quellen lassen sich in zwei Kategorien unterteilen. Die einen heben bekannte Aspekte von Hitlers Laufbahn hervor oder gehen näher auf diese ein, während die anderen die Hauptargumente dieses Buchs stützen. Im Bayerischen Kriegsarchiv fanden sich neue Dokumente zu Hitlers Erlebnissen im Ersten Weltkrieg, einschließlich solcher über seine prägende Begegnung mit US-Soldaten und über die Kämpfe seines Regiments mit den neuen Feinden. Andere Münchener Archivbestände bestätigten Hitlers tiefe Besorgnis über separatistische Bestrebungen in Bayern. Die Akten des Auswärtigen Amts enthalten wichtiges Material über rückkehrwillige deutsche Emigranten und den Plan, sie gegen ausreisende deutsche Juden »auszutauschen«. Soweit der Autor weiß, ist keines dieser Dokumente in einer anderen Hitler-Biographie erwähnt worden, und es ist unwahrscheinlich, dass deren Autoren sie kannten.

Um alle diese Dokumente zu einer kohärenten Argumentation zu verschmelzen, wurde in diesem Buch eine »Trichtermethode« angewandt. Am Anfang wurden die noch spärlichen Quellen so umfassend wie möglich berücksichtigt. Im weiteren Verlauf, während die Hauptlinien der Interpretation deutlicher zutage treten und das Quellenmaterial umfangreicher wird, verengt sich dann der Fokus. Darin spiegelt sich auch die Tatsache wider, dass Hitler in den frühen Jahren seine Gedanken bemerkenswert offen äußerte, später in dieser Hinsicht jedoch immer vorsichtiger wurde. Im Allgemeinen hat der Autor versucht, mehr zu zeigen, als selbst zu erzählen. Dies erfordert eine ausführliche Exegese und direkte Zitierung von Hitlers Äußerungen. Im Unterschied zu manchen anderen Arbeiten ist die vorliegende Biographie daher »kontextleicht« und »hitler-zentriert«. 66 Hitler gerät nie für mehr als ein oder zwei Absätze aus dem Blick. Dies soll natürlich nicht heißen, dass er ein Denker sui generis war – es ist allgemein bekannt, dass er sich ausgiebig bei anderen bediente –, sondern nur, dass wir uns darauf konzentrieren, was er dachte, und nicht darauf, woher er es genommen hatte. Im Sinn von Richard Evans’ Mahnung werden wir »Analyse, Argumentation und Interpretation« über »die Sprache von Staatsanwälten und Moralaposteln« stellen. 67 Es ist hier nicht der Versuch unternommen worden, Hitler systematisch zu widerlegen, was einerseits den Rahmen dieses Buchs gesprengt und andererseits eine völlig andere Arbeit zum Ergebnis gehabt hätte. Der Leser ist, solange er keinen triftigen Grund hat, das Gegenteil anzunehmen, gut beraten, alles, was Hitler gesagt hat, anzuzweifeln. Und sollte ein »wahrer Kern« in seinen Schriften und Reden vorhanden sei, so wäre dieser doch weniger wichtig als ihre Bedeutung und Intention. Der Autor hat stets versucht, in Hitlers Geist einzudringen, ohne ihn umgekehrt in seinen einzulassen.

Die drei zentralen Behauptungen des vorliegenden Buchs werden von einer Reihe von Argumenten gestützt, von denen selbst dem historischen Laien viele und den Spezialisten auf diesem Gebiet die meisten bekannt sein werden. Andere haben bisher flüchtige Beachtung gefunden, ohne dass ihre volle Bedeutung erkannt wurde. Einige Hauptstränge der Argumentation sind, soweit der Autor sehen kann, völlig neu. Obwohl Hitlers Besessenheit von England kein Geheimnis ist und das Ausmaß seiner Beschäftigung mit den Vereinigten Staaten in jüngerer Zeit Thema mehrerer Studien war, ist den Historikern bisher entgangen, wie stark ihn im Zusammenhang mit der deutschen Auswanderung die Demographie beschäftigte und wie wichtig dies für seine Weltsicht war. Während der Zusammenhang zwischen seinem Antisemitismus und seinem Antikapitalismus häufig erwähnt wird und zum Gegenstand von Spezialstudien geworden ist, hat man dessen zentrale Bedeutung für seine Denkweise und das Ausmaß, in dem er von Anfang bis Ende einen Krieg gegen »internationale Hochfinanz« und »Plutokratie« führte, nicht erkannt. Ebenso wenig wurde erkannt, in welchem Ausmaß er um die rassische Kohärenz des deutschen Volks fürchtete, dessen vermeintliche Schwäche er in jahrhundertelanger politischer und kultureller Zersplitterung begründet sah. Dieses Motiv taucht in verschiedenen Phasen von Hitlers Laufbahn auf: die separatistische Gefahr in Bayern, die Herausforderung der europäischen Integration, die Aussicht auf eine habsburgische Restauration und die »schwarze« (klerikale) Bedrohung; sie alle bedürfen besonderer Beachtung.

Die Darstellung ist in sechs Teile gegliedert. Der erste handelt von Hitlers frühen Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, in denen er zwar zunehmend Anzeichen eines politischen Bewusstseins zeigte, aber nichts auf eine politische Begabung oder Führungspotential hindeutete. Der Krieg stürzte ihn in eine traumatische Begegnung mit der Macht Anglo-Amerikas, das mit seiner militärischen, wirtschaftlichen, finanziellen und demographischen Stärke das Deutsche Reich niederrang und seine Welt zerstörte. Von 1919 bis 1922 wurden die ersten Konturen seiner Weltanschauung sichtbar: die Furcht vor Anglo-Amerika, die mit ihr zusammenhängende Ablehnung des globalen Kapitalismus und des internationalen Judentums sowie die Befürchtung, innere Schwächen wie Sozialismus, Bolschewismus, Massenauswanderung und insbesondere bayerischer Separatismus könnten das Deutsche Reich äußeren Feinden gegenüber ohnmächtig machen. In dieser Phase scheint Hitler von der Annahme ausgegangen zu sein, dass der Wiederaufstieg Deutschlands viele Jahrzehnte, wenn nicht Generationen dauern würde. Im zweiten Teil, der die Jahre 1923 bis 1927 behandelt, sieht man, wie sich für Hitler die Zeit beschleunigte, sowohl in Bezug auf einen offenbar bevorstehenden separatistischen Putsch in Bayern, dem man zuvorkommen musste, als auch im Hinblick auf eine scheinbar günstige innere und internationale Konstellation, die zum eigenen Vorteil genutzt werden konnte. Nachdem sein eigener Putsch gescheitert war, begann Hitler als Antwort auf die angebliche rassische Degeneration des deutschen Volks und insbesondere die Abwanderung so vieler gesunder Menschen nach Amerika sein »Lebensraum«-Konzept zu entwickeln. Dies war zwangsläufig ein langfristiges Projekt, so dass sich die Zeit für ihn wieder verlangsamte.

Im dritten Teil, der die Jahre von 1928 bis 1932 umfasst, sieht man Hitler ein Modernisierungsprojekt ausarbeiten, welches das Reich gegenüber der amerikanischen Herausforderung stärken sollte. Insbesondere der Verlust der »besten« Elemente der deutschen Gesellschaft durch Auswanderung in die Neue Welt sollte aufgehalten und eine Alternative zu der weithin beliebten Idee der europäischen Integration entwickelt werden. Außerdem entwarf Hitler, indem er aus der wirtschaftlichen Notlage aufgrund der Weltwirtschaftskrise seinen Nutzen zog, eine Strategie für eine weit frühere Machtübernahme, als er es bisher erwartet hatte. Im vierten Teil über die Jahre 1933 bis 1936 wird Hitlers soziales, ökonomisches und rassisches Transformationsprojekt dargestellt, durch das »negative« Elemente, wie Juden und Menschen mit Behinderung, aus der deutschen Gesellschaft entfernt und die Entwicklung »positiver« Rasseneigenschaften gefördert werden sollten. Während die »rassische« Uhr naturgemäß auf einen längeren Zeitrahmen eingestellt war, folgten Hitlers Außenpolitik und militärische Vorhaben einem weit engeren Zeitplan. Sein Ziel war nicht die Weltherrschaft, er war lediglich entschlossen, Deutschland territorial so weit zu vergrößern, wie es nach seiner Ansicht nötig war, um in einer Welt globaler Mächte zu überleben.

In den Jahren 1937 bis 1940, die im fünften Teil behandelt werden, beschleunigte sich die Zeit erneut, während Hitler auf die Feindschaft Anglo-Amerikas reagierte. Man wird sehen, dass der »Führer«, der ursprünglich nicht auf die Weltherrschaft aus war und noch nicht einmal das europäische Festland erobern wollte, von der Logik von Krieg und Expansion dazu getrieben wurde, den Konflikt immer weiter auszudehnen. Im sechsten Teil schließlich, der die Jahre 1941 bis 1945 umfasst, erreicht Hitlers Laufbahn in der Konfrontation mit Roosevelts Amerika, dem aus ihr folgenden Kampf um »Lebensraum« und der Vernichtung der europäischen Juden ihren Höhepunkt. Als sich die angelsächsischen Mächte gegen ihn verbündeten, gelangte er zu der Überzeugung, dass nur eine wahrhaft globale Politik das Reich gegen seine Feinde wappnen könne. Deutsche Armeen standen jetzt auf zwei Kontinenten und bedrohten einen dritten. Auch gegen die westliche Hemisphäre wollte Hitler vorgehen, zumindest aus der Luft. Für einen kurzen Augenblick schien es, als habe er die ganze Welt im Griff. Aber die Trophäe blieb ihm vorenthalten, und bald darauf begann der unvermeidliche Niedergang, der in der zweiten, noch weit verheerenderen Niederlage gegen, wie Hitler es sah, die Angelsachsen, die Juden und ihre Verbündeten endete.

Teil Eins

Demütigung

Die ersten drei Jahrzehnte von Hitlers Leben waren von Bedeutungslosigkeit und Elend der einen oder anderen Art geprägt. Nachdem er im fernen Westen des Habsburgerreichs in bescheidene, aber nicht arme Verhältnisse hineingeboren worden war, verschlechterte sich seine Lage rasch. Beide Eltern starben, die Mutter nach traumatisierender Krankheit. Hitler verschleuderte sein kleines Erbe, in Wien fand sein künstlerisches Talent keine Anerkennung. Er lebte von der Hand in den Mund, bis er sich aufraffte und nach München zog, damals die zweitgrößte Stadt des Deutschen Reichs. Auch dort kam er gerade so über die Runden. Abgesehen von der expliziten Ablehnung des Habsburgerreichs deutete bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr nichts auf eine Politisierung hin. In den vier Jahren seines Militärdiensts wurde er wie so viele andere Deutsche unter Beschuss genommen, verwundet, ausgezeichnet, geblendet und besiegt. Er ging aus dem Konflikt hervor, wie er in ihn hineingegangen war: als ziemlich einsame Figur am äußeren Rand der deutschen und der Weltgeschichte.

1

Eine Skizze des Diktators als junger Mann

1889–1913

Adolf Hitler wurde am 20. April 1889 aufgrund eines historischen Zufalls als Österreicher geboren. Sein Geburtsort Braunau am Inn hatte jahrhundertelang zum Herzogtum Bayern gehört, bis es 1779 durch den Frieden von Teschen, der den Bayerischen Erbfolgekrieg beendete, in den Besitz der Habsburgermonarchie überging. Während der unruhigen Zeit der Revolutions- und der napoleonischen Kriege wechselte der Ort mehrmals seine Zugehörigkeit, bevor er 1815 endgültig Österreich zugesprochen wurde. Kulturell und ethnisch markierte die am Inn verlaufende Grenze zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn zumindest in Braunau und Umgebung eine Trennung ohne Unterschied. Der deutsche Dialekt und die traditionellen Gebräuche auf beiden Seiten des Flusses hoben sich kaum voneinander ab. Obwohl Hitler bald weiter nach Osten umzog, wo er in einer Reihe anderer Orte lebte, blieb er sprachlich Oberösterreich und damit »Mittelbayern« verhaftet. 1 Er selbst bezeichnete sich später regelmäßig als »Bajuware«. 2

Politisch war die Kluft jedoch riesig. Rund tausend Jahre hatten die Braunauer zum Heiligen Römischen Reich gehört, einem politischen Gemeinwesen, dessen Einwohner bis zu seinem Zusammenbruch im Jahr 1806 die meisten Deutschen waren. Nach 1815 blieb ihre deutsche Orientierung durch die Zugehörigkeit zum Deutschen Bund bestehen. 1866 bis 1871 stieß der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck jedoch Österreich aus und besiegte Frankreich, um die »kleindeutsche« Vereinigung zum zweiten Deutschen Reich durchzusetzen. Die Habsburger reagierten damit, dass sie sich nach Osten und Süden orientierten und einen Kompromiss mit den unbotmäßigen Ungarn anstrebten. Dank des neuen Status der ungarischen Krone wurden die Braunauer nun Untertranen eines multinationalen Reichs statt Untertanen eines ausdrücklich deutschen Gemeinwesens. Die Grenze zum Deutschen Reich verlief nur 300 Meter entfernt bei Simbach am gegenüberliegenden Ufer des Inns. Hitlers Familie muss sie jeden Tag gesehen haben. Der Vater, Alois Hitler, soll mit den Alldeutschen sympathisiert und gleichzeitig einen liberalen oder zumindest freidenkerischen, der katholischen Kirche skeptisch gegenüberstehenden Standpunkt vertreten haben. 3 Es gibt keine verlässlichen Belege dafür, dass er dem Habsburgerreich nicht loyal gegenüberstand oder Antisemit, Alkoholiker oder seinen Kindern gegenüber gewalttätig war.

Adolf war ein jüngeres Kind in einer verzweigten Familie. 4 Er hatte zwei ältere Halbgeschwister, Alois jr. und Angela, aus der ersten Ehe seines Vaters mit Franziska Matzelsberger. Nach deren Tod hatte Alois seine Kusine Klara Pölzl geheiratet, mit der er sechs Kinder hatte, von denen nur zwei überlebten, Adolf und seine jüngere Schwester Paula. Zwei von Adolfs vier Geschwistern waren vor seiner Geburt gestorben und eines, als er knapp zehn Jahre alt war. Eine wichtige Rolle spielte Klaras Schwester Johanna, »Hanitante« genannt. Aufgrund von Alois’ Arbeit zog die Familie von Braunau – Adresse: Salzburger Vorstadt Nr. 15 – ins nahegelegene Hafeld bei Lambach um. Eine Zeitlang arbeitete er auch in der deutschen Grenzstadt Passau. Als Alois in den Ruhestand ging, siedelte sich die Familie schließlich in Leonding an, 5 wo er am 3. Januar 1903 beim Frühschoppen in einem Wirtshaus zusammenbrach und starb.

Die verwitwete Klara zog mit der Familie zuerst nach Linz und dann nach Urfahr auf der anderen Seite der Donau. Hitler ging jedoch weiter auf die K. k. Staats-Realschule Linz, 6 die für ihre deutschnationale und habsburgfeindliche Einstellung bekannt war. Nachdem er sich in den ersten Schuljahren gut geschlagen hatte, wandelte er sich zu einem gleichgültigen Schüler, der regelmäßig fehlte, nur in Zeichnen und Turnen gute Noten erhielt und dessen Betragen nur als »befriedigend« bewertet wurde. 7 Für ein politisches Interesse gibt es keine zeitgenössischen Belege, wohl aber für die Mitgliedschaft in verschiedenen Kulturvereinen in Linz und Urfahr, wie dem Linzer Musikverein, dem Oberösterreichischen Musealverein und dem Oberösterreichischen Volksbildungsverein. 8 Es spricht auch nichts dafür, dass Hitler seinen Mitschüler, den später berühmten Philosophen Ludwig Wittgenstein, kannte. Sicher ist jedoch, dass er ein schlechter Schüler war, der ein Schuljahr wiederholen musste, bevor er schließlich mit 16 Jahren von der Schule abging.

Welche Auswirkungen diese Wechselfälle aus Tod und Veränderung auf Adolf hatten, ist nicht bekannt. Seine Erfahrungen fielen jedoch nicht aus dem Rahmen: Ein solches emotionales und finanzielles Auf und Ab war damals, wie vielleicht zu allen Zeiten, nicht ungewöhnlich. Es trifft zu, dass sowohl der Vater als auch der Sohn, wie sich später herausstellte, Gefühle für eine Kusine hegten, aber auch dies war damals und später auf dem Lande – sowie in Adelskreisen – nichts Ungewöhnliches. Adolf scheint normale Freundschaften unterhalten zu haben, insbesondere mit August Kubizek, einem Wagnerianer wie er, den er bei einer Opernaufführung kennenlernte und der seine künstlerischen Interessen teilte. In Hitlers Kindheit und früher Jugend, über die zugegebenermaßen sehr wenig bekannt ist, gab es nichts, was auf das hindeutete, was später kommen sollte.

Hitlers Hauptsorgen nach dem Abgang von der Schule waren seine finanzielle Sicherheit, sein Gefühlsleben, seine Karriere als Künstler und der Gesundheitszustand seiner Mutter. Der erste bekannte Brief, den er zusammen mit seiner Schwester Paula verfasste, stammt aus dem Februar 1906 und erbat von der Finanzdirektion Linz die Zahlung einer Waisenrente. 9 Er reiste mehrmals nach Wien, bevor er ganz in die Reichshauptstadt umzog. Dort frönte er seiner Vorliebe für die Opern Richard Wagners. Im Sommer 1906 sah er sowohl Tristan und Isolde als auch den Fliegenden Holländer. Auch das Stadttheater besuchte er. Nicht nur die Musik, auch die Architektur faszinierte ihn. Auf einer Postkarte der Wiener Hofoper bekundete er seine Bewunderung für die »Majestät« des Äußeren; das Innere empfand er jedoch als »überladen«. 10

Anfang 1907 wurde bei Hitlers Mutter Krebs diagnostiziert und erfolglos operiert. Sie besaß zwar keine Krankenversicherung, aber die Rechnungen blieben aufgrund der Güte ihres jüdischen Arztes Eduard Bloch niedrig. Hitler half bei der Pflege seiner Mutter, ihr Tod im Dezember 1907 scheint ihn tief erschüttert zu haben. Allerdings nahm er sich auch während der Krankheit seiner Mutter die Zeit, um nach Wien zu fahren, und mietete dort im Frühherbst sogar ein Zimmer. 11 Sicher ist, dass er Bloch wegen des Todes seiner Mutter nie einen Vorwurf machte oder dadurch zum Antisemiten wurde. Er hielt noch für einige Zeit einen freundlichen Kontakt aufrecht und schickte Bloch sogar eine selbstgemalte Neujahrskarte. 12 Viel später ermöglichte er ihm die Flucht aus Österreich unter weit günstigeren Bedingungen, als sie seinen unglücklichen jüdischen Leidensgenossen gewährt wurden.

Unterdessen erlitt Hitler in Bezug auf seine künstlerischen Ambitionen einen herben Rückschlag. Anfang September 1907 bewarb er sich neben 111 anderen jungen Leuten an der Wiener Akademie für Bildende Künste. In der ersten Runde wurde ein Drittel von ihnen ausgesiebt, Hitler gehörte nicht zu ihnen. Doch in der nächsten Runde hatte er weniger Glück: Seine Probezeichnungen wurden als »ungenügend« bewertet, so dass er nicht unter den 28 Bewerbern war, die schließlich in die Akademie aufgenommen wurden. 13 Dennoch beschloss er im Februar 1908, ganz nach Wien zu ziehen. Dafür borgte er sich als Ergänzung zu seiner Waisenrente von seiner »Hanitante« einen größeren Geldbetrag. 14 Eine Freundin der Familie, Magdalene Hanisch, versuchte ihm in der Hauptstadt den Weg zu ebnen, indem sie sich an Alfred Roller wandte, einen einflussreichen Professor der Kunstgewerbeschule, den Hitler als »großen Meister der Bühnendekoration« verehrte und dessen Wagner-Bühnenbilder er bewunderte. Hanischs Brief an Johanna Motloch, die als Vermittlerin agierte, ist die einzige zeitgenössische Beschreibung Hitlers, die wir besitzen. »Gern wäre ich dem jungen Menschen behilflich«, schrieb sie, »er hat eben niemand, der ein Wort für ihn einlegt oder ihm mit Rat und Tat beisteht; er kam ganz fremd und allein nach Wien, musste allein, ohne Anleitung, überall hingehen, um aufgenommen zu werden.« 15 Alles, was Hitler in Linz halte, fügte sie hinzu, sei seine Waisenrente. Roller willigte ein, Hitler zu empfangen, der sich seinerseits überschwänglich bei Motloch bedankte. Zu einer Begegnung mit dem Professor kam es jedoch nicht.

Hitlers erste Unterkunft in Wien war ein Zimmer in der Stumpergasse. Die Vermieterin Maria Zakreys war Tschechin und sprach, laut Hitler, nur gebrochen Deutsch. Dessen Interesse galt in dieser Zeit vor allem der Musik und Architektur. Mitte Februar 1908 äußerte er die Absicht, ein Klavier zu kaufen, und als sein Freund Kubizek zwei Monate später ankündigte, seine Bratsche mitzubringen, drohte Hitler scherzhaft damit, für zwei Kronen Baumwolle zu kaufen, um sich die Ohren zu stopfen. Bis zum Hochsommer hatte er seinen Überschwang jedoch weitgehend verloren. Er gestand, von Bettläusen geplagt, wie ein »Einsiedler« zu leben, was noch dadurch verschlimmert werde, dass niemand ihn wecke, da Frau Zakreys nicht da sei. Hitler begann sich für Stadtplanung zu interessieren, insbesondere für die Anlage und Architektur von Linz. 16 Einen Monat später hatte sich seine Stimmung nicht gebessert: Er entschuldige sich bei Kubizek für sein langes Schweigen und fügte hinzu: »… ich habe nichts gewusst, womit ich dir hätte aufwarten können.« Er vertrieb sich die Zeit mit Zeitungslektüre – ein Abonnement wird erwähnt – und Schreiben, offenbar über Stadtplanung und Architektur: »Schreibe jetzt ziemlich viel, gewöhnlich nachmittags und abends.« 17 Sein Niedergeschlagenheit mag zumindest teilweise von Geldmangel verursacht gewesen sein. Tatsächlich scheint er eine Zeitlang in Armut gelebt zu haben, versicherte er Kubizek doch im August 1908: »Butter und Käse brauchst du mir jetzt nicht zu senden. Ich danke dir aber herzlich für den guten Willen.« Aber der Mangel war niemals groß genug, als dass Hitler eine Aufführung von Wagners Lohengrin hätte versäumen müssen. 18

Kurz darauf zog Hitler aus dem Zimmer in der Stumpergasse aus und wurde für mehr als ein Jahr von der Stadt verschluckt. Bis August 1909 wohnte er bei Helene Riedl in der Felberstraße. Seine einzige bekannte Aktivität in dieser Zeit war eine zweite erfolglose Bewerbung an der Kunstakademie. Danach mietete er sich für rund einen Monat bei Antonia Oberlechner in der Sechshauserstraße ein, die er Mitte September 1909 schon wieder verließ. Noch weniger weiß man darüber, was danach geschah. Er durchlebte sicherlich eine wirtschaftliche und psychologische Krise, die zu einem sozialen Abstieg führte. Einige Jahre später, lange bevor er berühmt geworden war, erklärte er gegenüber der Stadtverwaltung von Linz, er habe im Herbst 1909 eine »unendlich bittere Zeit« durchgemacht. 19 Laut einer Aussage bei der Wiener Polizei von Anfang August 1910 wohnte er zeitweise in einem Obdachlosenheim in Meidling. Wie er sich aus dieser Lage herauswand, ist nicht bekannt, aber ab Februar 1910 war er in der Lage, ein Bett in einem etwas respektableren Männerwohnheim in der Meldemannstraße in Wien-Brigittenau zu bezahlen. 20 Dort begann er Postkarten und Bilder zu malen, die sein Kumpan und »Geschäftspartner« Reinhold Hanisch an Händler verkaufte; diese Beziehung erlitt allerdings einen Bruch, als Hitler Hanisch wegen angeblicher Unterschlagung eines Teils der Einnahmen anzeigte. 21

Erneut verschwand Hitler im Getriebe der Stadt. Es gibt zwar sowohl von ihm selbst als auch von Zeitgenossen ausführliche Darstellungen seiner Aktivitäten und Gedanken in dieser Phase, aber sie stammen allesamt aus einer späteren Zeit, als er bereits zur öffentlichen Figur geworden war und sich, insbesondere in Mein Kampf, bemühte, sein eigenes biographisches Narrativ zu formen. Sicher ist lediglich, dass Hitler bis zu seinem vierundzwanzigsten Geburtstag in Österreich-Ungarn ausharren musste, um seine Waisenrente kassieren zu können. Ungünstig für ihn war auch, dass er sich mit seiner Halbschwester Angela Raubal wegen des Erbes überwarf und nach einem Gerichtsauftritt in Wien im März 1911 zum Nachgeben gezwungen war. 22 Ende März 1912 besuchte er möglicherweise eine Veranstaltung des Abenteuerschriftstellers Karl May. 23 Im Frühjahr 1913 empfing er ein letztes Mal seine Waisenrente. Danach hielt ihn nichts mehr in Wien.

Als Hitler im Mai 1913 nach München reiste, passten seine weltlichen Besitztümer in einen kleinen Koffer. Das geistige Gepäck war, soweit bekannt, sogar noch leichter. 24 Es bestand hauptsächlich aus Negativem. Von Antisemitismus war in seinem Verhalten gegenüber Eduard Bloch in Linz keine Spur zu erkennen, ganz im Gegenteil. Später in Wien unterhielt Hitler zu mindestens zwei Juden, denen er seine Bilder verkaufte, freundliche Geschäftsbeziehungen: zu dem mährischen Juden Siegfried Löffner, der im Zusammenhang mit dem Hanisch-Betrug von der Polizei befragt wurde, und dem ungarischen Juden Samuel Morgenstern, der über seine Ankäufe sorgfältig Buch führte. 25 Genauso wenig gibt es zeitgenössische Belege dafür, dass Hitler auf den multinationalen Charakter der österreichisch-ungarischen Hauptstadt ablehnend reagierte. Er lebte fast ein Jahr zufrieden bei einer Tschechin zur Untermiete und scheint sich an ihrem mangelhaften Deutsch nicht im Geringsten gestört zu haben. Dokumentiert ist sein Interesse für Architektur, Stadtplanung und Musik, und insbesondere für die Beziehung zwischen ihnen. Sicherlich ging in seinem Kopf noch vieles mehr vor sich, aber es lässt sich nicht sagen, was.

Hitlers Selbstbeschreibung variierte, aber der gemeinsame Nenner war die Kreativität. In der Stumpergasse meldete er sich Mitte Februar 1908 als »Künstler« an, in der Felberstraße Mitte November desselben Jahres als »Student«, in der Sechshauserstraße Ende August 1909 als »Schriftsteller« und in der Meldemannstraße Anfang Februar und noch einmal Ende Juni 1910 als »Kunstmaler«. 26 Da er sich jedes Mal ordnungsgemäß an- und abmeldete, können die ständigen Wohnungswechsel in dieser Zeit nicht vorrangig mit dem Ziel erfolgt sein, dem Wehrdienst zu entgehen. Für jemanden mit Hitlers Herkunft und Interessen waren sie durchaus typisch. Zwischen Solvenz und Insolvenz zu schwanken und nur dann eine Spur zu hinterlassen, wenn man mit dem Gesetz in Konflikt kam oder sich bei den Behörden meldete, war im Europa der Epoche vor 1914 das Schicksal von Millionen.

Als Hitler im späten Mai 1913 in München eintraf, vollführte er seine erste dokumentierte politische Handlung, indem er sich, als er zusammen mit seinem neuen Gefährten Rudolf Häusler bei dem Schneider Josef Popp in der Schleißheimer Straße ein Zimmer mietete, als »staatenlos« eintrug. Damit distanzierte er sich eindeutig von seinem Herkunftsland Österreich-Ungarn. Es mag freilich auch dazu gedient haben, die Behörden der K. k. Monarchie von seiner Spur abzulenken, da er im April 1909 zwanzig Jahre alt und somit wie seine Altersgenossen wehrdienstpflichtig geworden war. Im August 1913 fahndete der Linzer Magistrat tatsächlich wegen des Verdachts der Desertion nach ihm und erhielt im Oktober von seinen Verwandten die Auskunft, dass er nach Wien verzogen sei. Bei den dortigen Behörden hatte er keine Nachsendeadresse hinterlassen, aber Nachforschungen im Wohnheim in der Meldemannstraße ergaben rasch, dass er nach München verzogen war. Es dauerte bis zum Januar 1914, ehe die österreichisch-ungarischen Behörden ihn in der Schleißheimer Straße in München aufgespürt hatten. 27 Bald darauf wurde er aufgefordert, beim Linzer Magistrat vorstellig zu werden. Er reagierte mit einer langen Entschuldigung, in der er auf seine Armut verwies und behauptete, sich im Februar 1910 bereits in Wien zur Musterung gemeldet zu haben. Er wurde schließlich Anfang Februar 1914 in Salzburg gemustert und für körperlich untauglich befunden. 28 Seinen Lebensunterhalt bestritt er in dieser Zeit wie schon in Wien durch den Verkauf von Bildern. 29

Zusammengenommen ergibt all dies eher eine Skizze als ein vollständiges Porträt des jungen Hitler. Sicherlich war er bereits mehr als ein bloßer Niemand; seine künstlerischen Neigungen waren deutlich hervorgetreten, und seine Abneigung gegenüber dem Habsburgerreich war aktenkundig, auch wenn seine Gründe dafür unbekannt waren. Nichts deutete jedoch auf die Ideen und Ambitionen hin, die ihn später umtreiben sollten. 30 Wie hätte es auch anders sein können? Was Hitler in Linz und Wien erlebt hatte, mag seine späteren Ansichten über Innenpolitik, Rasse und Kultur geprägt haben. Aber von dem, was außerhalb des Habsburgerreichs und seines deutschen Verbündeten vorging, hatte er, soweit wir wissen, noch nicht viel wahrgenommen. Es gibt keine zeitgenössischen Belege für ein besonderes Interesse an Frankreich, Russland, dem britischen Weltreich oder den Vereinigten Staaten. Dies sollte sich ändern. Während der Hitler von 1914 noch kaum eine Spur auf der Welt hinterlassen hatte, sollte die Welt ihm schon bald ihre Spuren einprägen.

2

Gegeneine »Welt von Feinden«

1914–1918

Hitler scheint über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs begeistert gewesen zu sein. Eine zeitgenössische Fotografie – die von seinem späteren Gefährten und Propagandisten Heinrich Hoffmann aufgenommen wurde, bevor sie sich kennengelernt hatten – zeigt Hitler am 2. August 1914 in der jubelnden Menge auf dem Münchener Odeonsplatz. 1 Er meldete sich freiwillig zur bayerischen Armee und wurde zwei Wochen später ins Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 16, nach seinem Kommandanten Regiment List genannt, eingezogen. 2 Es war kein reines Freiwilligenregiment, es bestand vielmehr aus Freiwilligen wie Hitler und Wehrpflichtigen, die überwiegend aus Südbayern kamen und einen Querschnitt der dortigen Gesellschaft darstellten. In den folgenden Wochen durchlief das Regiment eine Ausbildung, die überwiegend in München, aber auch im Lager Lechfeld, südlich von Augsburg, stattfand. Die Soldaten erlernten den Gebrauch des Standardgewehrs, bevor sie sich dem deutschen Vormarsch durch Belgien und Nordfrankreich anschlossen. 3 Im August 1914 hatte Hitler nicht nur Österreich-Ungarn endgültig den Rücken gekehrt, sondern sich auch definitiv für Deutschland entschieden. Es war sein erstes großes, dokumentiertes politisches Statement.

Der Hauptfeind, glaubte Hitler, stand jenseits des Ärmelkanals. In dem ersten überlieferten Brief, den er nach seinem Eintritt ins Regiment List schrieb, vertraute er seiner früheren Vermieterin Anna Popp an, er hoffe – vermutlich als Teil eines Invasionsheers –, »nach England« zu kommen. 4 Erstaunlicherweise wandte er sich nicht gegen das Zarenreich im Osten, obwohl es zu diesem Zeitpunkt Ostpreußen bedrohte; tatsächlich erwähnte er die Ostfront, soweit bekannt, während des gesamten Krieges nur ein einziges Mal. 5 Auch den französischen Erzfeind hob er nicht hervor. In seinem Fokus auf England spiegelte sich der damalige »Englandhass« in Deutschland im Allgemeinen und in seinem Regiment im Besonderen wider; vielleicht war er dieser Zeitstimmung sogar voraus gewesen. 6 Eine Woche nach seinem Brief, als das Regiment List im nordfranzösischen Lille eingetroffen war, trat es auf dem Place de Concert an, um Kronprinz Rupprecht von Bayern zu hören, der erklärte: »Wir haben nun das Glück, auch die Engländer vor unserer Front zu haben, die Truppen dieses Volkes, dessen Neid seit Jahren an der Arbeit war, uns mit einem Ring von Feinden zu umgeben, um uns zu erdrosseln.« 7 In jedem Fall war das Verlangen, die Briten in den Griff zu bekommen – das Hitler lange vor der Ankunft an der Front in einer Zeit formulierte, als das britische Expeditionskorps nur einen kleinen Teil der alliierten Truppen ausmachte, die Deutschland im Westen gegenüberstanden –, seine zweite bedeutende politische Äußerung. Diese deutete zudem auf die künftige Entwicklung seiner Weltsicht hin, die zum großen Teil auf Respekt und Furcht vor der britischen Macht beruhen sollte.

Bald traf das Regiment List bei Gheluveld und danach bei Wytschaete und Messines im belgischen Flandern tatsächlich auf britische Truppen. 8 Die Konfrontation des britischen Expeditionskorps mit der großen deutschen Militärmaschine wird gerne als ungleicher Kampf dargestellt. Dies trifft im breiten Sinn zu, aber auf taktischer Ebene muss das Bild weitaus differenzierter gezeichnet werden. Der Zusammenstoß des Regiments List mit Soldaten des Yorkshire Regiment, der legendären Coldstream Guards, der Black Watch, der Grenadier Guards und der Gordon Highlanders war ein Kampf zwischen Amateuren und Profis. Manche der List-Soldaten hatten, wie Hitler selbst, vor dem Krieg keinerlei militärische Erfahrung besessen, und abgesehen von einigen Offizieren war keiner von ihnen Berufssoldat. Dagegen bestand das britische Expeditionskorps aus erfahrenen Soldaten, von denen viele bereits im Kampf gestanden hatten. Die meisten Briten waren bessere und schnellere Schützen als ihre deutschen Gegner. Deshalb war die Erste Flandernschlacht bei Gheluveld ein ausgesprochen ungleiches Gefecht.

Unter den gegebenen Umständen schlug sich das Regiment List gut, aber es erlitt horrende Verluste. Hitler selbst nahm an mehreren Frontalangriffen teil – drei, wenn man seiner eigenen Darstellung Glauben schenken will. Er sprach von »schwersten Kämpfen«, aber letztlich habe man »die Engländer … geschlagen«. Die den Briten beigebrachte »Niederlage« erwies sich jedoch als kurzlebig, da die bayerischen Truppen bald darauf vom Worcestershire Regiment aus Gheluveld vertrieben wurden. Hitler wurde zum Gefreiten befördert und als Meldegänger beim Regimentsstab abkommandiert. »Seitdem«, berichtete er weiter, »habe ich, so darf ich sagen, wohl jeden Tag mein Leben aufs Spiel gesetzt«; in dieser Phase seines Militärdiensts dürfte dies kaum übertrieben gewesen sein. Am 2. Dezember wurde er für seine Dienste mit dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse ausgezeichnet. Für ihn war es »der glücklichste Tag meines Lebens«. Er bat seinen Vermieter, die Zeitung mit der Meldung über seine Auszeichnung aufzuheben, damit er ein Andenken habe, »wenn mir der Herrgott das Leben lässt«. 9

Anfang Februar 1915 dachte Hitler am Ende eines langen Briefs, in dem er seine Fronterlebnisse beschrieb, über die innere und die strategische Lage des Deutschen Reichs nach. 10 Er beklagte die Verluste an Menschenleben in einem Kampf gegen eine »internationale Welt von Feinden« und drückte die Hoffnung aus, dass nicht nur »Deutschlands Feinde im Äußeren«, sondern auch der »innere Internationalismus« besiegt werden würden. Letzteres war möglicherweise antisemitisch gemeint, konnte aber auch gegen die transnationale Loyalität von Katholiken und Sozialdemokraten gerichtet sein. Außerdem prophezeite Hitler: »Mit Österreich wird die Sache kommen, wie ich es immer sagte«, womit er wahrscheinlich den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie meinte. 11 In seinen überlieferten Briefen wird die Ostfront kaum einmal erwähnt, auch die Versenkung der Lusitania, die alliierte Propagandakampagne sowie viele andere wichtige Aspekte des Krieges werden völlig ausgespart.

Hitler diente den Rest des Krieges, streng genommen, nicht an der Front, sondern als Regimentsmeldegänger, was jedoch ziemlich gefährlich war. So beschrieb Hitler in seinem nächsten erhaltenen Brief von Mitte Februar 1915 die Wirkung eines Granateinschlags in seine Stellung. Er sei »[w]ie durch ein Wunder gerettet« worden, aber allmählich werde er »durch das ewige Artilleriefeuer nervös«. Er begrüßte es, dass »jetzt endlich gegen England scharf gemacht« werde, ein erneutes Indiz seiner Besessenheit von Großbritannien. Acht Tage später berichtete er von einer weiteren »furchtbaren Kanonade« und erneuten Gefechten mit den Briten. 12 Tatsächlich wurde das Regiment List von der zunehmenden Zahl britischer Soldaten, die an der Westfront eintrafen, immer weiter in die Defensive gedrängt. Der nächsten großen Schlacht, die Hitler im März 1915 bei Neuve Chapelle erlebte, ging ein äußerst massiver englischer Artilleriebeschuss voraus. Es folgte das erste Zusammentreffen mit Empiretruppen aus Indien. Einen Monat später stieß Hitler bei Fromelles und Aubers Ridge auf weitere Einheiten aus dem Empire, insbesondere Kanadier. Mit der Zeit erhielten die Soldaten des Regiments List durch die Vielzahl unterschiedlicher Kopfbedeckungen in den feindlichen Schützengräben – einschließlich »Turbane, Schlapphüte und Tropenhelme« 13 – einen ehrfurchtgebietenden Eindruck von der Welt, die gegen sie zu den Waffen gegriffen hatte.

Im folgenden Jahr wurde dieser Eindruck noch verstärkt. Nach einer langen Ruhephase im Regimentshauptquartier in Fournes – in der er viel Zeit mit Malen, Zeichnen und Lesen verbracht zu haben scheint – war Hitler im Mai und Juni 1916 in Fromelles im französischen Flandern wieder im Einsatz. Diesmal bekam es das Regiment List mit Australiern und Neuseeländern zu tun, von denen viele gestählte Gallipoli-Kämpfer waren. Erneut sahen sich die Bayern mit der bedrückenden Tatsache konfrontiert, dass ihnen Männer gegenüberstanden, die von der anderen Seite der Welt herbeigeeilt waren, um in Flandern gegen sie zu kämpfen. Noch schlimmer war, dass einige der Australier deutscher Abstammung waren. So erinnerte sich Hitlers Kamerad Adolf Meyer an einen seiner Gefangenen, »der nicht nur glänzend deutsch sprach, sondern obendrein noch meinen eigenen Namen Meyer trug. Begreiflich: Sein Vater war ein Deutscher, der als Kind mit seinen Eltern nach Australien ausgewandert war und dort später eine Engländerin geheiratet hatte«. 14 Was Hitler selbst in dieser Zeit, in der sein Regiment mit britischen Empiresoldaten kämpfte, tat, ist nicht aktenkundig.

Wenig später wurde das Regiment List in die weit fortgeschrittene Schlacht an der Somme geschickt, in der viele deutsche Soldaten die britische Kampfkraft zu respektieren lernten. 15 Hitler hatte Glück, nicht unmittelbar an der Front eingesetzt zu sein, wo er direktem Beschuss ausgesetzt gewesen wäre, befand sich aber in Reichweite der feindlichen Kanonen. 16 Sein Unterstand wurde von einer britischen Granate getroffen, er erlitt eine Verletzung am rechten Oberschenkel. Die Wunde war nicht lebensbedrohlich, genügte aber für seine Evakuierung. Er kam in ein Lazarett in Beelitz, südwestlich von Berlin. Dort wurde er zum ersten Mal mit den lähmenden Folgen der Blockade der Alliierten konfrontiert, die Anlass für eine leidenschaftliche öffentliche Diskussion in Deutschland war. Den Briten wurde nachgesagt, sie wollten die Deutschen »ausrotten«; von den verheerenden Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und die Volksgesundheit war die Rede, es ginge darum, die »nächste Generation« zu schützen. 17 Aber auch hier gibt es keine zeitgenössischen Belege dafür, wie Hitler auf diese Entwicklungen reagierte.

Nach seiner Genesung wurde er ins Ersatzregiment des Regiments List in München versetzt, wo er sich darüber grämte, nicht zu seiner Einheit zurückkehren zu können. »Ein Transport ging vor ein paar Tagen zum Regiment«, schrieb er Ende Dezember 1916 an seinen Meldegängerkollegen Balthasar Brandmayer. »Kann leider nicht mit. Werden nur alte Quatscher genommen.« 18 Im Januar 1917 teilte er Regimentsadjutant Wiedemann mit, er sei »wieder felddiensttauglich« und habe den »dringenden Wunsch …, wieder … zu meinen alten Kameraden zu kommen.« 19 Max Unold, der Anfang 1917 ebenfalls im Ersatzregiment in der Luisenschule in München stationiert war, bestätigte später, Hitler habe sich »wieder ins Feld gemeldet«. 20 Unold war als expressionistischer Maler und Mitbegründer der 1913 ins Leben gerufenen Münchener Neuen Secession ein ungewöhnlicher Umgang für Hitler.

Im März 1917 konnte Hitler endlich zu seiner Einheit beim Stab des Regiments List zurückkehren. Kurz darauf wurden die Soldaten des Regiments, auch wenn sie nicht direkt beteiligt waren, im Zuge der Schlacht bei Arras Zeugen eines massiven kanadischen Angriffs auf einen Höhenzug bei Vimy. Wenig später sahen sie sich in derselben Schlacht heftigen Angriffen britischer Truppen ausgesetzt. Im Spätsommer 1917 befand sich das Regiment im Rahmen der Dritten Flandernschlacht wieder bei Gheluveld, wo es über eine Woche unter schwerem britischen Artilleriebeschuss stand. Eine Mischung aus Sprengbomben, Schrapnellen und Gas bewirkte furchtbare Verluste. Hitler war unmittelbar an den Kämpfen beteiligt, da der Regimentsstab auf der Vormarschroute der britischen Vorhut am Ypernbogen lag. 21 Wie er diese Erlebnisse damals verarbeitete, ist nicht bekannt, es fehlen zeitgenössischen Belege. Das ausgedünnte Regiment List wurde schließlich von der Front abgezogen und zur Erholung und Auffrischung in die Nähe von Mülhausen (Mulhouse) im Elsass verlegt. Dort standen Hitler und seine Kameraden, nachdem sie drei Jahre lang überwiegend mit britischen, indischen, kanadischen, australischen und neuseeländischen Truppen gekämpft hatten, zum ersten Mal einem überwiegend französischen Feind gegenüber.

Unterdessen waren die Vereinigten Staaten Anfang April 1917 auf alliierter Seite in den Krieg eingetreten, wenn auch eher als »assoziierte« Macht denn als Entente-Mitglied. Im Kriegseintritt sahen viele auf beiden Seiten des Atlantiks eine Geste angelsächsischer Solidarität gegen die »Teutonen«. 22 Millionen von Amerikanern, von denen viele im Ausland geboren waren, bereiteten sich darauf vor, den Atlantik zu überqueren. 23 Eine beachtliche Zahl von ihnen war deutscher Abstammung. Die deutschamerikanische Gemeinde, die bereits seit der Versenkung der Lusitania unter Druck geraten war, stürzte in eine tiefe Krise. In vielerlei Hinsicht glich die Ausgrenzung, die sie durch die amerikanische Propaganda und die Zivilgesellschaft erlebte, der späteren Kommunistenhatz. So waren beispielsweise die Kampagnen für das Alkoholverbot zum Teil von antideutschen Gefühlen motiviert. Um das Stigma des »Bindestrich-Amerikaners« loszuwerden, bemühten sich viele Deutschstämmige, in der vorherrschenden angelsächsischen Kultur aufzugehen. 24 Wie Hitler damals auf diese Entwicklung reagierte, muss aufgrund von fehlenden Belegen offen bleiben; später hatte er indes eine Menge dazu zu sagen.

Nach der vergleichsweise ereignislosen Stationierung im Elsass wurde das Regiment List in der großen deutschen Frühjahrsoffensive von 1918 eingesetzt. 25 Hinter den Sturmeinheiten vorrückend, traf es Ende März auf französische Kolonialtruppen, algerische Zuaven. 26 Mitte Juli stieß es in der Zweiten Marneschlacht bei Reims dann zum ersten Mal auf Amerikaner. Es war zwar zu einem hastigen Rückzug gezwungen, 27 hatte aber vorher einige Gefangene gemacht. Zwei von ihnen lieferte Hitler beim Regimentsstab ab. 28 In einem einen Monat später verfassten Bericht des II. Bataillons des Regiments List über die Marneschlacht heißt es: »Der Feind (Franzosen, Engländer, Amerikaner) zeigte sich in der Abwehr hartnäckig, im Angriff tapfer.« 29 Colin Ross, der damals an der Westfront diente und Hitler später in Bezug auf die Vereinigten Staaten beriet, erinnerte sich nicht nur an die Tapferkeit der US-Soldaten, sondern auch daran, dass viele von ihnen untereinander Deutsch sprachen und an die große Anzahl deutschsprachiger US-Kriegsgefangener. 30

Inzwischen hatten die Blockade, die Luftherrschaft und die zahlenmäßige Überlegenheit der Alliierten begonnen, das Regiment List unwiederbringlich zu schwächen. »Gesundheitszustand und Stimmung der Truppe leidet unter der fortwährend ungenügenden Ernährung«, schrieb der Kommandeur des III. Bataillons im Juli 1918. Ähnliches wurde von anderen Bataillonen vermerkt. Im Kriegstagebuch des II. Bataillons wurde über den »Druck des weit überlegenen Gegners, der immer neue Truppen heranführte«, geklagt. 31 All dies passte zur allgemeinen Lage, die davon geprägt war, dass der deutschen Offensive angesichts der alliierten Übermacht an Männern, Material und schierer Kampfkraft die Luft ausging. General Erich Ludendorff sprach später vom 8. August 1918, dem Tag des Beginns der alliierten Gegenoffensive, als dem »schwarzen Tag des deutschen Heeres«. Aber wiederum wissen wir nicht, wie Hitler damals auf diese Ereignisse reagierte. Die einzige belegte Tatsache ist, dass er Anfang August das Eiserne Kreuz I. Klasse erhielt, und zwar auf Empfehlung seines jüdischen Vorgesetzten, des Leutnants Hugo Gutmann aus Nürnberg, auch wenn er nicht derjenige war, der es ihm an die Brust heftete. 32

Ende August, auf dem Höhepunkt der alliierten Gegenoffensive, wurde Hitler zu einem einwöchigen Lehrgang als Telefonist geschickt, dem im September ein zweieinhalbwöchiger Heimaturlaub folgte. Während seiner Abwesenheit rückten die Alliierten stetig vor. 33