Die Christen - Uwe Bork - E-Book

Die Christen E-Book

Uwe Bork

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Beschreibung

Beichtstuhl, Abendmahl, Bibelkreis: Was Christen glauben hat sie im ehemals christlichen Abendland zu Exoten werden lassen. Wer sind diese Menschen, die sich heute noch auf einen Mann berufen, der vor rund 2000 Jahren in Jerusalem hingerichtet wurde? Uwe Bork lädt ein zu einer Expedition ins unbekannte Land des Christentums: Geschichten und Geschichte, Gebote, Gebräuche und Gruppierungen - überraschend und unterhaltsam.

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Seitenzahl: 219

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Uwe Bork

Die Christen

Expedition zu einem unbekannten Volk

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: agentur Idee

Umschlagmotiv: © Ines Dopychai

ISBN (E-Book): 978-3-451-33933-2

ISBN (Buch): 978-3-451-61069-1

Inhaltsübersicht

1. Einladung zur Expedition: Warum Sie dieses Buch lesen sollten

2. Grundlagen: Die Heilige Schrift

Das Alte Testament

Erste Erkenntnisse

Wie alles begann: Schöpfung und so weiter

Das Personal – Große Helden und kleine Lichter

Abraham

Mose

Allerlei Propheten

Das Hohelied der Liebe

Das Neue Testament

Erste Erkenntnisse

Gute Nachrichten aus vier Evangelien

Eins, zwei, drei, zwölf, viele: Die Apostelgeschichte

Post vom Apostel: Die Briefe

Das Ende ist nah: Die Offenbarung

3. Fest- und Feiertage

Der Sonntag

Advent und Weihnachten

Heilige Drei Könige (Epiphanias)

Aschermittwoch

Gründonnerstag

Karfreitag

Ostern

Christi Himmelfahrt

Pfingsten

Fronleichnam

Reformationstag

Allerheiligen, Allerseelen, Ewigkeitssonntag

Buß- und Bettag

4. Im Zeitraffer: Die Geschichte

Von Verfolgten zu Verfolgern

Von Luther bis Marx: Die Jahrhunderte der Kritik

Gegenwart: Totgesagte leben länger

5. Das Unternehmen und seine Töchter

Die Macht in Rom

Konkurrenz aus Konstantinopel: Orthodoxie

Die Reformation und ihre Erben: Protestantismus

6. Spielregeln

Eintritt nur mit Taufschein

Sind wir nicht alle kleine Sünderlein?

Geschieden wird nicht. Oder doch?

7. Gebräuchliches

Styling und Benehmen

Beten & Co.: Körpersprachliches

8. Die Lieder: Viel mehr als nur ein Hallelujah

Erste Erkenntnisse

Die Charts

9. Exotisches Christentum: Feldforschungen

Blumenteppich für die Hostie

Pilgern, wallen, springen

Blasius und andere Segen

Asche, Fasten, Osterlachen

10. Die Bauten: Kleine Kirchenkunde

Erste Erkenntnisse

Eine Navigationshilfe für den Innenraum

Von Haupt-, Seiten- und Querschiffen: Der Grundriss

Zu Tisch: Der Altar

Speakers’ Corner: Die Kanzel

Wasser 1: Das Taufbecken

Sprechstunde: Der Beichtstuhl

Kerzenlicht und Opferstock

Wasser 2: Das Weihwasserbecken

11. ... und kein Schlusswort

Zugaben

Die Zehn Gebote nach dem Kleinen Katechismus Martin Luthers

Das Vaterunser

Das Ave Maria

Das Nizänische Glaubensbekenntnis

Das Apostolische Glaubensbekenntnis

Die Bibel

Für meine Familie

1.Einladung zur Expedition: Warum Sie dieses Buch lesen sollten

Die Situation ist bizarr. Ein junger Inder betritt zum ersten Mal eine Kirche und bekommt einen Kulturschock. Ohne Vorwarnung wird sein Blick von einem Bild angezogen, das ihn aufs Äußerste verwirrt: Es zeigt die Kreuzigung von Golgatha.

Sofort identifiziert der Jugendliche die grausame Szene über dem Altar als realistische Darstellung eines Menschenopfers, mit dem ein wütender Gott besänftigt werden soll. Fremd ist ihm ein derart blutiges Geschehen nicht, denn er kennt Ähnliches aus seiner eigenen Welt der Mythen und Sagen. Ihn erstaunen ganz andere Dinge: Was haben in dieser grausamen Kulisse beispielsweise die Frauen zu suchen, die wie betäubt in einen Himmel starren, in dem »fette Babys mit winzigen Flügeln« umherflattern? Und welche Rolle spielt in dem ganzen Geschehen eigentlich der weiße Vogel, der vom Maler sicher nicht ohne Grund besonders hervorgehoben wurde?

Damit noch nicht genug: An einer Seitenwand wird das rätselhafte Personal durch eine weitere Darstellung des geschundenen Mannes über dem Altar vervollständigt. Dieses Mal ist er an vielen Stellen seines Körpers mit Blut bedeckt, »rot wie Feuerwehrautos«. Der offensichtlich christlich in keiner Weise vorbelastete Inder kommt angesichts dieser Bilder mehr und mehr ins Grübeln: Was sollen diese offensichtlichen Folterszenen bedeuten? Was haben sie mit dem Glauben der Menschen zu tun, die diese Kirche besuchen?

Lange muss er nicht mit seiner Unsicherheit leben. Im Pfarrhaus nebenan bietet ihm schon wenig später ein freundlicher Pater bei einer Tasse Tee und ein paar Keksen Erklärungen für die merkwürdigen Darstellungen im Gotteshaus. Sie faszinieren den Heranwachsenden so, dass er sich taufen lassen möchte. So, wie er die Sache nun versteht, haben die Christen auf der Erde mit ihrem himmlischen Herrn einen äußerst vorteilhaften Handel abgeschlossen: Sie können hier unten getrost sündigen, denn Gottes Sohn höchstpersönlich zahlt für jeden die Zeche, wie groß sie auch immer sein möge. Das Fazit, das der neugierige junge Mann aus dieser Nachricht zieht, stellt dem Christentum allerdings trotz seines verführerischen Angebotes zur Tilgung aller Schuld ein eher zwiespältiges Zeugnis aus: »Was für eine verrückte Geschichte. Was für eine verquere Psychologie.«

Überzeugte Christen, die bei einer derart ambivalenten Charakterisierung ihres Glaubens schmerzlich zusammenzucken dürften, können sich ein wenig entspannen. Diese spezielle Schilderung einer offensichtlich mit vielen Zweifeln behafteten Erstbegegnung mit den zentralen religiösen Lehren von weit mehr als einer Milliarde Menschen entspringt nicht der Realität. Oder zumindest nicht ohne literarische Umwege.

Zu verdanken haben wir die Geschichte dem in vielen Kontinenten und Kulturen aufgewachsenen Autor Yann Martel. Sie findet sich in seinem preisgekrönten Roman ›Schiffbruch mit Tiger‹, bei dem ein 450Pfund schwerer Tiger mit dem ungewöhnlichen Namen Richard Parker und Pi Patel, der schmächtige Sohn eines südindischen Zoobesitzers, nach dem Untergang eines Frachters zur friedlichen Koexistenz auf einem schwankenden Rettungsboot verdammt sind, wenn sie beide überleben wollen.

Doch ist Pi Patel wirklich ein wohlfeiles Beispiel für religiöse Naivität und Ignoranz? Nur eine von einem Literaten erfundene Figur, der jegliches Wissen über den Glauben anderer Menschen fremd ist? Sind wir wirklich besser?

Der weit gereiste Diplomatensohn Martel lässt seine Handlung in der exotischen Umgebung des indischen Subkontinents beginnen, von dessen religiösem Hintergrund die allermeisten von uns im sogenannten christlichen Abendland auch kaum mehr wissen als uns Bollywood und ein paar bunte Bilder in den Nachrichtensendungen vermitteln. Wer weiß denn tatsächlich mehr vom Glauben der Hindus, als dass für sie Kühe gemeinhin als göttlich gelten und diverse andere ihrer Götter zwar einen menschlichen Leib besitzen, dieser sich aber oft durch Elefanten- oder Affenköpfe sowie eine Vielzahl von Armen und Händen auszeichnet?

Wenn der zentrale Held von Martels Roman also über jene Religion, die zumindest nach den Daten unserer Standesämter noch immer die vorherrschende Glaubensrichtung in unseren Breiten ist, seinerseits ähnlich wenig weiß wie der Durchschnittseuropäer über die Glaubenswelt Indiens, sollte uns das nicht überraschen oder verstimmen. Seine Unkenntnis muss noch nicht einmal an persönlichen Versäumnissen liegen, bietet das Christentum als Religion doch mit dem, was seine Anhänger glauben oder tun, dem unbefangenen Betrachter oft genug ein Bild, das ähnlich zum Staunen anregen könnte wie ein indischer Dämon mit zehn Köpfen und zwanzig Armen.

Ohne genauere Kenntnis seiner Geschichte und seiner Theologie ließe sich der Glauben an einen göttlichen Vater, seinen Sohn und einen oft als Taube auftretenden Heiligen Geist in der Tat ebenso als Religion der Wunder wie der Wunderlichkeiten charakterisieren. Warum stehen beispielsweise in allen katholischen Kirchen merkwürdige Wandschränke, in denen immer wieder Menschen für ein paar Minuten verschwinden, um in ihrem Innern mit einem in der Regel schwarz gekleideten Mann zu tuscheln? Warum laden evangelische Christen so scheinbar freigiebig zu einem Abendmahl ein, obwohl es dabei in der Tat zwar Wein und Brot für alle gibt, beides aber nur in so geringen Mengen, dass davon allenfalls diejenigen satt werden dürften, die vorher ausgiebig gegessen und getrunken haben?

Und was bringt Katholiken dazu, sich in einer festlichen Zusammenkunft einmal im Jahr ein Aschenkreuz auf die Stirn zeichnen zu lassen, dessen staubige Reste später nur schwer aus Haaren und Kleidung zu entfernen sind?

Drei Beispiele, die sich freilich ohne sonderlich große Mühen vermehren ließen: Sie illustrieren einen Trend, der unsere Gesellschaft nachhaltig verändern könnte. Das Wissen über die immer noch bedeutendste Religion in Europa hat in den vergangenen Jahrzehnten stark abgenommen. Die Christen haben derzeit beste Chancen, nach rund 2000Jahren sogar in den Gebieten der Erde erneut zu Exoten zu werden, für die sonntagsredende Politiker doch allenthalben eine jüdisch-christliche Tradition reklamieren. Obwohl wir Deutschen seit dem April des Jahres 2005 kollektiv das Papst-Amt verwalten, hat sich bei uns das Christentum längst zu einem Glauben entwickelt, der selbst vielen getauften Christen fremd geworden ist. Was sie von ihren Priestern und Pfarrern zu hören bekommen, hat für sie angesichts der Verheißungen von Facebook und YouTube sowie der Orakel von DAX und Dow Jones bestenfalls noch den Charme einer verrauschten Botschaft aus einem kaum mehr funktionsfähigen Röhrenradio.

Doch es ist Änderung in Sicht. Abhilfe könnte sich dabei sogar ausgerechnet aus einer Richtung ergeben, aus der sie nicht so ohne Weiteres zu erwarten war. Im Angesicht eines global immer selbstbewusster auftretenden Islams dürfte ebenfalls weltweit nämlich eine Frage wieder an Bedeutung gewinnen, die über lange Zeit unbedeutend geworden zu sein schien: Was treiben diese Christen da eigentlich, die sich bei ihrer Lebensgestaltung doch allen Ernstes auf einen Mann berufen, der vor rund 2000Jahren wegen Aufruhrs und Gotteslästerung hingerichtet wurde? Zu seiner Zeit haben die Mächtigen ihn einen Terroristen genannt.

Dieses Buch ist quasi das Protokoll einer Expedition zu diesem im Moment noch weithin unbekannten Volk der Christen. Mit unbefangener Neugier nähert es sich dem, was sie in Kapellen und Kathedralen zelebrieren. Es blättert die heiligen Schriften auf, in denen die Grundlagen ihres Glaubens festgehalten sind, informiert über Gebote und Gebete, über Bräuche und über Bauten, von denen viele zum Spektakulärsten gehören, was wir Menschen nach dem missratenen Turm zu Babel gen Himmel wachsen ließen. So ganz nebenbei wird dabei auch mit so manchen lieb gewordenen Vorurteilen aufgeräumt, die Nichtchristen gegenüber ihren gläubigen Mitbürgern hegen.

Ein vollständiges Bild christlichen Lebens und Denkens kann jedoch dieser Expeditionsbericht nicht liefern. Er bleibt erstens im allerbesten Sinne oberflächlich und zweitens unvollständig. Immer bleiben noch Fragen offen, können Themen nur angerissen werden. Dafür bittet Ihr Reiseleiter bereits vorab um Nachsicht.

Dennoch dürfte aber schon nach wenigen Stationen der Expedition zumindest eines klar werden: Die Christen, die sind gar nicht so. Oder müssten es zumindest nicht sein. Weder sexualfeindlich. Noch konservativ. Noch naiv und intolerant.

Es gibt in der Tat einiges zu entdecken. Machen wir uns also auf den Weg.

2.Grundlagen: Die Heilige Schrift

Die Anhänger von Marx bis Mao müssen sich eindeutig geschlagen geben: Ein Sammelband von Werken weithin unbekannter Autoren aus dem Gebiet des heutigen Israels und der Türkei hat auf der Liste der Weltbestseller die Großdenker des Sozialismus und Kommunismus weit hinter sich gelassen.

Während von der jüdisch-christlichen Bibel geschätzt zwei bis drei Milliarden Exemplare verkauft oder verschenkt wurden, bringt es das berühmte ›Rote Buch‹ des Vorsitzenden Mao Zedong nur ungefähr auf die Hälfte dieses Erfolges, das von den beiden Herren Karl Marx und Friedrich Engels verfasste ›Kommunistische Manifest‹ stagniert auf Platz 3 der Weltbestsellerliste bei ungefähr 500Millionen. Zuzugeben ist allerdings, dass die roten Standardwerke für ihren Aufstieg in die Höhen der globalen Charts weit weniger Zeit benötigten als die rund 2000Jahre, die der Bibel dafür zur Verfügung standen.

Eine weltweite Leserschaft verlangt natürlich auch nach Fassungen in unterschiedlichen Sprachen. Aus dem Hebräischen oder Aramäischen, den Ursprachen des Alten Testaments, entstand schon im 2. oder 3.Jahrhundert eine griechische Fassung: die Septuaginta, so benannt nach den rund siebzig Gelehrten, die sich an die Übersetzung gewagt hatten. Die Schriften des Neuen Testaments dürften dagegen gleich direkt auf Griechisch, einer damaligen Weltsprache, verfasst worden sein und allenfalls geringe Teile in Aramäisch, der Sprache Jesu, enthalten haben. Mit einer lateinischen Bibelfassung begann man erst gegen Ende des 2.Jahrhunderts; die sogenannte Vulgata (lateinisch: weit verbreitet) wurde vom Kirchenvater Hieronymus sogar erst rund weitere 200Jahre später begonnen. Für die katholische Kirche war diese Fassung über lange Zeit hinweg quasi die Standardbibel; Martin Luther lehnte sie für seine Übersetzung ins Deutsche wegen ihrer vielen Fehler allerdings ab und griff lieber auf die Urtexte zurück.

Heute steht die Bibel als Ganzes nach Angaben christlicher Bibelgesellschaften in etwa 470Übersetzungen zur Verfügung; Teile ihrer Texte wurden sogar in über 2500 der etwa 6000 bis 7000Sprachen auf der Welt übertragen.

In deren Hauptsprachen können interessierte Leser zudem zwischen mehreren Übersetzungen wählen. Für diejenigen, die Wert auf historische Textgenauigkeit legen, ist damit ebenso gesorgt wie für diejenigen, denen eher die Wortwahl und Verständlichkeit ihrer gewohnten Muttersprache am Herzen liegt.

Welche Texte nun aber eigentlich und offiziell zur Bibel gehören, darüber besteht zwischen den Kirchen keine Einigkeit. Für Katholiken gehören beispielsweise sieben Bücher mehr zum Alten Testament als die von Martin Luther anerkannten 39Schriften. Protestanten bezeichnen sie deshalb als Apokryphen (griechisch: verborgen), das heißt für sie sind es Texte, die zwar in enger Verbindung zur Bibel stehen, aber dennoch nicht zu ihrem ureigenen Bestand gehören.

Das ›Buch der Bücher‹ ist also ganz eindeutig Menschenwerk, ein Stück göttlich inspirierter Literatur. Für Christen bietet sie eine Sammlung mehr oder minder spannend und literarisch hochwertig erzählter Geschichten, die den weiten Zeitraum von der Erschaffung der Welt bis zu den Geschehnissen kurz nach der Kreuzigung des christlichen Heilands abdecken. Zusätzlich bietet sie auch noch einen prophetischen Ausblick auf die ereignisreichen Tage am Ende dieser Welt.

Sie enthält mit den Zehn Geboten eines der grundsätzlichsten Gesetzeswerke auf der Erde, in ihr finden sich einige der eindringlichsten und schönsten Lieder und Gebete der Menschheit, und sie schildert gleich in vier Versionen das Leben und Sterben des Mannes, den Christen für den Sohn Gottes und den Heiland dieser Welt halten: Jesus von Nazareth.

Manchmal sind ihre Texte blutrünstig und grausam, manchmal – etwa in ihren ausführlich dargelegten Stammbäumen biblischen Personals oder der akribischen Auflistung von Gesetzesregelungen – auch nur langweilig und ermüdend. Was die Bibel erzählt, ist nicht frei von Widersprüchen, und wie sie uns den jüdischen und christlichen Herrn zeigt, ergibt kein Bild eines ewigen und unwandelbaren Schöpfers und himmlischen Herrschers. Was in der Bibel steht, muss deshalb immer wieder neu interpretiert und auf die jeweilige Zeit bezogen werden. Nur dann können Christen sie auch mit Fug und Recht für wahr halten, ohne sich dem Vorwurf der Naivität und Gutgläubigkeit auszusetzen. Kurz: Nur wer die Bibel nicht wörtlich versteht, versteht sie richtig.

Das Alte Testament

Erste Erkenntnisse

Die Bezeichnung ist missverständlich: Das sogenannte Alte Testament hat bestenfalls im übertragenen Sinn etwas damit zu tun, dass Gott der Menschheit ein materielles Erbe versprochen oder es ihr sogar schon zu ihrer völlig eigenen Verfügung hinterlassen hat. Was er ihr in diesen Schriften hinterlassen hat, sind allein Worte. Nach dem Verständnis gläubiger Juden und Christen verbergen sich in den Texten allerdings Gottes Worte, und deshalb sind sie nach ihrer Meinung wertvoller als alle greifbaren Rohstoffvorräte dieser Erde zusammengenommen.

Leser, die sachkundig erscheinen wollen, sollten bei dem Begriff Testament deshalb eher an eine Bedeutung denken, die in Richtung eines endgültigen Zeugnisses geht und deshalb mit der Tätigkeit eines Nachlassverwalters nichts mehr zu tun hat. Oder sie schwenken gleich ganz um und verlegen sich auf einen Sinn, der das Testament Gottes als seinen Bund mit den Menschen begreift. Das Alte Testament wäre damit der Alte Bund, wie ihn Gott mit seinem Volk am Berg Sinai schloss, der Neue Bund, über den entsprechend das Neue Testament berichtet, wurde dann dadurch besiegelt, dass Gottes Sohn Mensch wurde, am Kreuz starb, aber am dritten Tag wieder von den Toten auferstand.

Dass es so kommen musste und kommen würde, lesen Christen im Übrigen an vielen Stellen schon aus dem Alten Testament heraus. In ihnen wird etwa durch den Propheten Jesaja das Kommen eines Messias, das heißt eines überweltlichen Retters, angekündigt, auf den die Juden heute immer noch warten, der für die Christen in der Person Jesu aber längst Wirklichkeit geworden ist.

Das Alte Testament, das für Christen somit keineswegs als eine von einer Neufassung überholte Verfügung zu betrachten ist und dessen Namen man deshalb auch nicht als antijüdischen Affront begreifen darf, besteht beileibe nicht nur aus einem einzigen Buch. Nach verbreiteter Zählweise enthält es vielmehr 39 einzelne Bücher und macht damit ungefähr den vierfachen Umfang des weit schmaleren Neuen Testaments aus.

Der hauptsächlich auf Hebräisch und in kleineren Teilen auf Aramäisch geschriebene Text wird meist in drei Teile gegliedert. Am bekanntesten sind dabei sicher die fünf Bücher Mose, die auch als Thora (hebräisch: Gesetz, aber ebenso »Lehre« oder »Unterweisung«) beziehungsweise Pentateuch (vom griechischen »aus fünf Büchern bestehend« abgeleitet) bezeichnet werden. Den zweiten Hauptteil machen die sogenannten prophetischen Schriften aus, zu denen etwa die Bücher der ›großen Propheten‹ Jesaja, Daniel, Jeremia und Hesekiel gerechnet werden. Vervollständigt werden diese beiden Gruppen durch weitere Schriften mit durchaus unterschiedlichen Inhalten. Zu ihnen gehören beispielsweise die »kleinen Propheten« (Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk, Zephanja, Haggai, Sacharja, Maleachi), Geschichtsbücher (Josua, Richter, zwei Samuel, zwei Königsbücher, zwei sogenannte Chroniken), Psalmen, zeitlos gültige Lebensweisheiten, wie sie sich im Buch der Sprüche finden, das Buch Hiob, und außerdem ein höchst erotischer Text wie das Hohelied Salomos.

Schriftlich niedergelegt wurden die ältesten Teile des Alten Testaments vermutlich im 12.Jahrhundert vor der Zeitenwende, als die von Christen die Geburt ihres Heilands Jesus Christus angenommen wird. Die mündlichen Überlieferungen, auf die diese Texte zurückgehen, sind teilweise aber wesentlich älter und gehen bis weit in das 2.Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurück.

Ein begrenzter Expeditionsbericht über Erkundungen beim Volk der Christen kann leider kein vollständiges Bild über den Inhalt des Buches vermitteln, das für sie die Heilige Schrift und die niedergelegte Grundlage ihres Glaubens darstellt.

Die folgenden Abschnitte stellen also nicht mehr dar als Probebohrungen im biblischen Urgestein. Doch selbst diese dürften bereits als Belege dafür ausreichen, welche Vielfalt an Gedanken und Ideen die Bibel enthält. Nicht immer ist sie leicht verständlich, mit manchen ihrer Forderungen für die Gegenwart auch überholt, manchmal ist sie schlicht so langweilig wie das Inventurverzeichnis einer geordneten Haushaltswarenhandlung, unverbindlich bleibt sie jedoch nie. Christen müssen sich mit ihr stets aufs Neue auseinandersetzen. Streit – die Geschichte des Christentums belegt es – ist damit vorprogrammiert.

Wie alles begann: Schöpfung und so weiter

Eigentlich ist die Sache klar, und selbst Christen, die sich nach dem Erstkommunions- oder Konfirmandenunterricht in sicherer Entfernung von jeder Kirche hielten, kennen die Geschichte: Wie die biblische Schöpfungsgeschichte lehrt, erschuf Gott am Anfang aus dem Nichts Himmel und Erde und sein Geist schwebte über den Fluten. Dann ward Licht und Dunkelheit: Tag und Nacht entstanden. Gott stellte fest, dass alles gut war, und schon hatte der erste Tag der Weltgeschichte sein Ende gefunden.

Auch die Fortsetzung der Ereignisse ist nicht nur beim professionellen Bodenpersonal des himmlischen Schöpfers Allgemeingut: Gott erschafft im Laufe von sechs Tagen hintereinander Land und Meer, den Himmel, die Pflanzen und die Tiere. Als Krönung des Geschaffenen entsteht zum Schluss der Mensch. Nachzulesen ist diese Version der Weltenschöpfung im 1.Kapitel des 1.Buches Mose. Es ist auch bekannt als Buch Genesis, Buch des Anfangs.

Da vernehmungsfähige Zeugen für diesen in sich durchaus schlüssigen Anfang des Universums aus verständlichen Gründen nicht zur Verfügung stehen, kann alles jedoch auch ganz anders gewesen sein. Nicht nur christliche Fundamentalisten, die aus der Bibel ohne alle Abstriche Gottes Wort herauslesen, dürfte es beispielsweise in Erklärungsnöte bringen, dass sich sogar nur ein Kapitel weiter in der Genesis eine Variante der Schöpfungsgeschichte findet, die mit der eben in äußerst geraffter Kurzfassung erzählten Version nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Nach dieser nicht nach Tagwerken geordneten Fassung formt Gott schon sehr früh einen Menschen aus Lehm. Er kommt dieses Mal zur Welt, bevor der Schöpfer überhaupt den Garten Eden, gemeinhin auch als Paradies bekannt, angelegt hat und noch weit bevor es mit Tieren besiedelt wurde.

Selbst wenn man den Verfassern des Buches Genesis mit wahrhaft christlichem Großmut alle literarischen Freiheiten jener Welt zubilligen würde, deren Erschaffung sie gerade schildern, bleiben grundlegende Widersprüche zwischen beiden Schöpfungsgeschichten doch bestehen. Sie sind in zentralen Punkten nicht zur Deckung zu bringen, und dazu gehört noch nicht einmal in erster Linie, dass die zweite Fassung den siebenten und nach einer Woche harter Schöpfungsarbeit für den Schöpfer freien Tag nicht der Erwähnung wert findet.

Bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts erklärte die Bibelwissenschaft diese Differenzen noch hauptsächlich dadurch, dass sie von – mindestens – zwei unterschiedlichen Autoren ausging, die den Anfang der Welt beschrieben. Inzwischen wurde diese Hypothese von den meisten Forschern allerdings verworfen. Dass es Doppelungen und Widersprüche gibt, liegt nach dieser Annahme daran, dass die Nachwelt ihre Finger nicht vom Text des faszinierenden Buches Genesis lassen konnte: Sie arbeitete unterschiedliche Überlieferungen in das Manuskript ein und veränderte den Text immer wieder. Die vielen Köche mögen in diesem Fall den Brei nicht verdorben haben, seine eindeutige Geschmacksnote haben sie ihm aber genommen.

Passend zum Remake der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis gibt es dort übrigens auch zwei Varianten, in denen von der Entstehung des Menschen erzählt wird. In der ersten Fassung ging der Schöpfer für die Dauer seiner sechstägigen Arbeitswoche mit himmlischem System vor. Zuerst erschuf er Himmel und Erde, dann ließ er es »Licht werden«: Er richtete Tag und Nacht ein, goss die Wasser zu Meeren zusammen und puzzelte aus einer einzigen Landmasse die Kontinente. Anschließend begrünte er sie mit unterschiedlichen Pflanzen, hängte Sterne ans Firmament und erschuf die Tiere.

Nachdem Erde und Meer nun also nicht mehr wüst und leer waren, schob der Schöpfer einen Moment der Besinnung ein. Vielleicht am späten Vormittag des sechsten Schöpfungstages überlegte er, was an seinem Werk noch fehlen könnte. Er dürfte nicht lange gezögert haben, bevor er sprach: »Nun wollen wir Menschen machen, ein Abbild von uns, das uns ähnlich ist!« (1.Mose 1,26)

Wer jetzt die wohlbekannte Geschichte von Adam und seiner Rippe im Kopf hat, muss stutzen: Gott benutzt die Mehrzahl, nicht die Einzahl! Aber der Text der Bibel formuliert an dieser Stelle zweifelsfrei: »So schuf Gott die Menschen nach seinem Bild, als Gottes Ebenbild schuf er sie und schuf sie als Mann und als Frau.« (1.Mose 1,27)

Mit einer möglichen Rechtfertigung männlicher Überlegenheit durch die Schöpfungsgeschichte ist es also nicht weit her. Mann und Frau wurden gleichzeitig erschaffen. Ein männliches Erstgeburtsrecht gibt es nicht.

Oder doch? Leider gibt es nämlich von der Entstehung des Menschengeschlechts ebenso zwei Fassungen wie von der Erschaffung der Welt überhaupt.

In der zweiten Version der Schöpfungsgeschichte macht sich Gott anders als in Fassung eins daran, einen bis dahin nicht erwähnten Garten Eden anzulegen. Ihn hat er als Domizil für einen einzelnen Bewohner vorgesehen, für Adam. Er entsteht dieses Mal nicht nur durch ein göttliches Wort, dieses Mal wird der Herr mit seinen Händen kreativ, wie es das 1.Buch Mose in seinem 2.Kapitel schildert: »Er nahm Staub von der Erde, formte daraus den Menschen und blies ihm den Lebensatem in die Nase.« (1.Mose 2,7) Von einem Paar Adam und Eva ist zunächst nicht die Rede.

Die beiden können erst zusammenfinden, als Adam sich im Paradies zu langweilen beginnt. Seinem Schöpfer wird nun plötzlich klar, was sich – in der Sprache Martin Luthers – zu einer der wohl bekanntesten Binsenweisheiten der Weltgeschichte entwickelt haben dürfte: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!« (1.Mose 2,18)

Dennoch erschafft Gott nun nicht etwa sofort eine Eva als Gefährtin Adams, sondern versucht zunächst, Adam mit einem tierischen Gefährten abzufinden. Fürsorglich beginnt er ein zweites Mal mit Lehm zu arbeiten und formt mit seinen Händen »die Tiere des Feldes und die Vögel«. Die Ergebnisse seiner Arbeit führt er anschließend Adam vor, damit der ihnen Namen gebe: ein Akt göttlichen Vertrauens und göttlicher Liebe, der nicht zu unterschätzen ist. Gott macht hier Adam quasi zu seinem Geschäftsführer auf Erden.

Der wird dem göttlichen Vertrauen zwar gerecht, das Problem seiner Einsamkeit ist damit aber noch keinesfalls gelöst, denn – wie die Bibel angibt – »unter allen Tieren fand sich keins, das ihm helfen konnte und zu ihm passte«. (1.Mose 2,20)

Erst jetzt verliert in dieser biblischen Erzählung Adam seine Rippe. Vom Ergebnis dieser ersten Operation der Weltgeschichte ist deren erster Mann hell begeistert. Voller Freude ruft er aus: »Endlich! Sie ist’s! Eine wie ich! Sie gehört zu mir, denn von mir ist sie genommen.« (1.Mose 2,23)

Für männliche Überlegenheitsgefühle bleibt aber auch nach dieser zweiten Version der Erschaffung des Menschengeschlechts kein Raum. Nirgendwo lassen sich aus den Schöpfungsgeschichten der Bibel Vorrechte für Männer ableiten. Ganz im Gegenteil. Wörtlich spricht die Bibel davon, dass Mann und Frau »ein Fleisch« sein sollten. Rangabstufungen, Über- oder Unterordnung sind also nicht vorgesehen.

Ob es im Paradies auf Dauer bei einer absoluten Gleichberechtigung geblieben wäre, muss leider im Dunkeln bleiben: Viel Zeit lässt die Bibel den beiden ersten Menschen auf Erden nämlich nicht für ein unbeschwertes Glück. Der Absturz beginnt, als Eva auf die Einflüsterungen des ersten sprechenden Tieres der Weltgeschichte hört. Es sind dies die Worte einer Schlange, von der das Alte Testament fast bewundernd sagt, sie sei »das klügste von allen Tieren des Feldes, die Gott, der Herr, gemacht hatte«. (1.Mose 3,1) Die Gleichsetzung mit dem Teufel, der hier gewissermaßen als Undercover-Agent Gott und die Menschen auseinanderbringen wollte, geschah übrigens erst viel später, und zwar durch christliche Ausleger, im Urtext findet sie sich noch nicht.

Das Reptil geht geschickt vor, indem es das Geltungsbedürfnis Evas ausnützt. Wer lässt sich schon gern sagen, er – oder eben sie – könne über sein Leben nicht allein entscheiden und müsse sich dem Willen eines anderen unterordnen? Scheinbar naiv fragt die Schlange daher Eva: »Hat Gott wirklich gesagt, ihr dürft die Früchte von den Bäumen im Garten nicht essen?« (1.Mose 3,1) Die Frau verneint.

Ohne Beteiligung Adams geht das Gespräch hin und her, bis die Schlange die angebliche Motivation des Schöpfers dafür enthüllt, den Genuss der Früchte vom Baum in der Mitte des Paradieses zu verbieten: »Gott weiß: Sobald ihr davon esst, werden euch die Augen aufgehen; ihr werdet wie Gott sein und wissen, was gut und was schlecht ist. Dann werdet ihr euer Leben selbst in die Hand nehmen können.« (1.Mose 3,5)

Für Eva werden die Früchte – von Äpfeln ist übrigens nirgendwo die Rede – nun noch attraktiver als ohnehin schon. »Die Frau sah den Baum an: Seine Früchte mussten köstlich schmecken, sie anzusehen war eine Augenweide und es war verlockend, dass man davon klug werden sollte!« (1.Mose 3,6) Sie nimmt also davon und gibt auch ihrem Mann etwas ab, der bisher keine Anstalten gemacht hatte, seine Frau etwa von ihrem Verstoß gegen die Gebote ihres Schöpfers abzuhalten.

Eva hat sich mit dieser einen Aktion für große Teile der Nachwelt um ihren Ruf als gehorsames Kind Gottes gebracht und sich zugleich das üble Renommee eingehandelt, am Niedergang des Menschengeschlechts Schuld zu sein.

Gott selbst aber muss dem oberflächlichen Betrachter als humorloser Pedant und Spielverderber gelten. Wie sonst könnte man erklären, dass er seinen Geschöpfen erst einen Baum mit besonders verführerischem Obst vor die Nase pflanzt, um ihnen dann bei Todesstrafe zu verbieten, davon zu essen? Ein »Baum der Erkenntnis«, dessen Früchte den Unterschied zwischen Gut und Böse sichtbar machen: Was kann daran schlecht sein? Ist diese Fähigkeit nicht sogar lebensnotwendig?

Aus theologischer Sicht ist Gottes durch den verbotenen Baumfrevel ruinierter Ruf indes nicht gerechtfertigt. Wissenschaftler, die die Bibel tiefer als auf einer bloß wörtlichen Ebene verstehen, weisen darauf hin, dass es in dieser