Endlich Platz im Nest - Uwe Bork - E-Book

Endlich Platz im Nest E-Book

Uwe Bork

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Beschreibung

Die Kinder sind ausgezogen: Bittersüß sind die Gefühle, durchaus merkwürdig die Situationen, in die man als Vater plötzlich gerät. Erst haut der geliebte Kater Karlo ab, dann sind auch die Kinder weg. Wie das Leben neu einrichten? Die leeren Plätze am Frühstückstisch geraten nun zur Grundsatzfrage nach dem Platz im Leben. Amüsant und pointiert erzählt Uwe Bork über die Situationen und Gefühle die Eltern umtreiben und von der unterschiedlichen Wahrnehmung von Müttern und Vätern.

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Seitenzahl: 190

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Uwe Bork
Endlich Platz im Nest
Wenn Eltern flügge werden
Für Bruni. Auf uns wartet noch so viel.
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung und Konzeption: Agentur R.M.E
Eschlbeck / Hanel / Gober
Umschlagmotiv: © Mauritius Images
Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book) 978-3-451-33686-7
ISBN (Buch) 978-3-451-61012-7

KAPITEL 1

oder
Lerne loszulassen, das ist der Schlüssel zum Glück.
Siddharta Gautama

Neu angefangen haben wir, als uns unser Kater endgültig verlassen hat. Treulos und launisch ist dieses Tier ja schon immer gewesen, kein Vergleich mit den süßen Kätzchen, die in früheren Jahren unser Sofa und unsere Sessel zerfetzt hatten. Karlo ist anders. Katzenflüsterer würden sagen, er hat Charakter.

Egal. Jetzt ist er weg, abgewandert zu unseren Nachbarn, die eine allzeit offene Katzenklappe in ihrer Tür, einen verlässlich vollen Fressnapf in ihrer Küche und einen abgrundtief hässlichen Kratzbaum in ihrem Wohnzimmer zu bieten haben. Nicht zu vergessen vier eigene Katzen mit ausgewiesener Abneigung gegen Katzenklos und ebenso ausgewiesener Vorliebe für Reihenhausgärten mit halbwilder Vegetation und trittfesten Rasenflächen. Wie unserem.

Geahnt hatten wir es sowieso schon lange: Unser Kater ist nun einmal ein Macho. Wäre er ein Mann, würde er Goldkettchen tragen, einen frisierten GTI fahren und im Stehen pinkeln.

Unsere Nachbarin Gisa, Ehefrau eines aufstrebenden und körperlich wie geistig meist abwesenden Mitglieds des mittleren Managements, stört das anscheinend nicht im geringsten. Sonst würde sie nicht eines Sommerabends vor unserer Haustür stehen und uns ein betörendes Angebot machen: »Ich wollte nur mal fragen«, beginnt sie und dreht dabei verlegen den Hausschlüssel in ihren Händen. »Ich wollte nur mal fragen, ob ihr uns vielleicht euren Kater überlassen würdet. Wir würden ihn gern adoptieren. Gewissermaßen.«

Die Frau, mit der ich seit einem sonnigen Freitag irgendwann in den Achtzigern Tisch, Bett und Leben teile, stößt mir ihren Ellenbogen äußerst heftig in die empfindlichen Weichteile zwischen Hüftknochen und Rippenbogen. Ich keuche kurz und heftig und wende mich ihr zu, wobei ich gezwungenermaßen immer noch die leichte Klappmesserhaltung eines Schmerzensmannes einnehme. Die Augen meines Schatzes strahlen wie damals, als uns ein offensichtlich von ihrem Charme hingerissener Autohändler für unseren siechen Cinquecento nicht nur das kostenlose Abschleppen zum nächsten Schrottplatz geboten hatte, sondern darüber hinaus auch einen überaus vorteilhaften Ratenvertrag für einen Neuwagen. Vorteilhaft für ihn, nicht für uns, wie sich später herausstellte.

Verwirrt drehe ich meinen Kopf wieder Gisa zu.

»Wie ›adoptieren‹?«, frage ich.

»Ja, ab wann denn?«, fragt meine Frau.

Auch wenn ich es ungern zugebe: Frauen sind in einigen seltenen Ausnahmefällen einfach fixer als wir Männer. Schneller im Begreifen. Und schneller im Entscheiden.

Wie aufs Stichwort taucht jetzt Karlo hinter der Buchsbaumumgrenzung unseres drei Quadratmeter großen parkähnlichen Grundstücks auf und streicht unserer Nachbarin laut schnurrend um die Beine. Lassie hätte sich einen derart würdelosen Partnerwechsel niemals zu Schulden kommen lassen.

»Och, eigentlich könnte er sofort zu uns umziehen. Er ist doch sowieso schon jetzt die meiste Zeit bei uns.«

Stimmt. Unser Trockenfutter ist mittlerweile von einer Staubschicht überzogen und die ›leckere Leber in pikanter Sauce‹ steht unberührt in unserer Küche.

Trotzdem ist aus taktischen Gründen ein leichtes Zögern angesagt.

»Na ja, Gisa, weißt du, irgendwie gehört Karlo doch zu unserer Familie« – manchmal neige ich zugegebenermaßen zu einer Spur Heuchelei – »und außerdem sollten wir vielleicht erst einmal noch mit unserer Tochter …«

Ich lasse das Ende des Satzes betont nachdenklich in der Luft hängen. Unsere Prinzessin ist zwar schon seit über zwei Monaten ausgezogen, um in den blühenden Landschaften des Ostens etwas so zukunftssicheres wie Afrikanistik und Sozialwissenschaften zu studieren, aber mann will schließlich nicht als derjenige in die Geschichte unserer Straße eingehen, der gefühlskalt sein hilfloses Haustier vor die Tür setzt.

Frau kennt diese Bedenken offenbar nicht.

»Warte einen Moment, ich hole eben noch die angebrochene Tüte mit dem Trockenfutter aus der Küche. Die brauchen wir dann ja wohl nicht mehr!«

Das nenne ich Fakten schaffen. Noch ein Schritt weiter und wir würden eine Abwanderungsprämie auszahlen!

»Also dann: Wir wünschen euch viel Spaß mit eurem neuen Mitbewohner!«

So schnell war seit Menschengedenken noch nie jemand in unserem Haus verschwunden und wieder zurück vor der Tür. Gisa bekommt eine noch fast volle Fünf-Kilo-Tüte mit Katzenfutter auf den Arm gedrückt, wir lächeln ihr ein letztes Mal so verlogen zu, als wären wir das Diktatorenpaar einer korrupten Bananenrepublik, das gerade die letzten Oppositionellen ins ferne Exil verabschiedet – und dann werfen wir mit Schwung unsere Haustür ins Schloss. Wir sind allein. Endlich.

In der plötzlichen Einsamkeit unseres Wohnzimmers falle ich rücklings auf unsere Couch und strecke meine Arme Richtung Decke. Geschafft!

Die Frau meines Lebens drückt den Einschaltknopf unseres Radios. Zur hämmernden Klage der Stones, mit Satisfaction sei es bei ihnen schon lange nichts mehr, schießt sie im nächsten Augenblick die Kellertreppe hinab.

Ich stelle grinsend fest, dass Mick Jagger nicht die Bohne Ahnung vom Leben hat und wir alten Säcke sehr wohl noch wissen, was Befriedigung ist. Und jetzt sogar mehr denn je!

Unser Sohn ist als Erster ausgezogen. Schon als er in seinem Zivildienst Fertiggerichte an Rentner verteilte, wollte er nicht mehr zu Hause wohnen.

Wir waren über diese Entscheidung damals nur maßvoll traurig, hatte uns sein zunehmend unabhängiger Lebenswandel doch ebenso zunehmend genervt. Hotel Mama oder Pension Papa: Früher hatten wir das immer für völlig übertriebene Panikpropaganda überforderter Eltern gehalten, die mit ihren älter werdenden Kindern nicht mehr Schritt halten konnten.

Als unsere elterlichen Pflichten irgendwann aber nur noch darin zu bestehen schienen, Berge von Jeans und T-Shirts zu waschen, unseren Kühlschrank stets gut gefüllt zu halten und uns vor allem nicht mehr über die hohe Frequenz wechselnder Schlafgäste beiderlei Geschlechts zu wundern, waren wir umgeschwenkt. Anscheinend lag doch mehr als nur ein Quäntchen Wahrheit in der Rede über die gutmenschlichen Papas und Mamas, die sich von einem Tag auf den anderen zu mehr oder minder unfreiwilligen Hobby-Hoteliers reduziert fanden.

Gefühlt haben wir uns nach dem Auszug unseres umtriebigen Sohnes dann allerdings doch plötzlich wie richtige Hotelbesitzer, denen von einem Tag auf den anderen die Stammgäste wegblieben. Eine gemeinsame Vergangenheit, die auf dem Wickeltisch und mit den ersten mühsam auf babyfreundliches Lauwarm abgekühlten Fläschchen begann, hinterlässt nun einmal Spuren, die tiefer gehen als aller Ärger über Waschzwang und Lieferverpflichtungen im Lebensmittelbereich. Bei unserer Tochter liegt die Sache anders. Einen trotz gelegentlicher Anfälle postpubertärer Zickigkeit überaus süßen Schatz wie sie hätten wir gern noch etwas länger in unseren Räumen verwöhnt – und das sagt nicht nur der immer wieder hilflos um den töchterlichen Finger gewickelte Vater.

Die Fakten wollten es anders: Ein Studienplatz hinter der deutsch-sächsischen Sprachgrenze war einfach ein Argument, gegen das mit Vernunft kaum anzukommen war. Unser gegenseitiger Abschied vor gut zwei Monaten war deshalb auf weiblicher Seite überaus tränenreich ausgefallen, bei der männlichen Hälfte der Erziehungsberechtigten war die Wehmut eher versteckt gewesen.

Doch mittlerweile hat uns nicht zuletzt eine Telefon-Flatrate über den ersten Trennungsschmerz hinweggeholfen. Und es besitzt schließlich ja auch unbestreitbare Vorteile, dieses Leben als Doppelsingle: kein Vor- und Nachbeben mehr rund um die Klassenarbeiten, keine Debatten mehr darüber, ob die Nutzung des familiären Zweitwagens zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehört, und vor allem keine Sorgen mehr, wenn aus den Abenden bei Freunden und Freundinnen immer öfter Nächte werden.

Ich komme ins Träumen und schließe die Augen. Das Lamento der Stones wurde inzwischen abgelöst durch Carlos Santana, der sich mir mit seinem lasziv schlurfenden Samba Pa Ti ins Gehirn schmeichelt. Ich verschränke meine Hände im Nacken und beginne gedankenverloren zu schnurren, als wäre ich eine Art Instant-Ersatz für den entschwundenen Karlo.

Nach ein paar Sekunden werden meine Hände durch ein paar schlanke Finger ersetzt, die zärtlich über den schmalen Streifen zwischen Kragen und Haaransatz streicheln. Ich kenne diese Berührungen, sie lassen sich noch ausbauen.

Gleichzeitig wird mir der Rand eines Glases an die Lippen gedrückt. Ich schnuppere teuren Traubenduft und nippe vorsichtig.

»Hmmm! Guut!«

»Champagner. Habe ich in unserem Keller gefunden. Ich glaube, den haben mir meine Kollegen zu Weihnachten geschenkt.«

Ich unterdrücke die eifersüchtelnde Frage, was wildfremde Männer eigentlich dazu bewegt haben könnte, meiner Ehefrau eine Flasche vermutlich sündhaft teuren Schampus zu verehren, und genieße stattdessen.

»Schatz?«

»Hmmm.« Ich gebe immer noch den verliebten Kater.

»Schatz? Die Kinder sind aus dem Haus, Karlo ist beim Nachbarn, da könnten wir doch …«

Natürlich könnten wir. Auf jeden Fall. Seit ein paar Minuten sind wir schließlich in das Zeitalter unserer zweiten Jugend eingetreten. Wunderbare Zeiten stehen uns bevor.

Ich nehme mein Glas in die Hand und folge der Frau, die für mich nach wie vor die süßeste Versuchung ist, seit mir Schokolade nicht mehr alles geben kann.

Mit unserem Karlo sollte es übrigens kein gutes Ende nehmen. Wenige Tage nach seinem Umzug zu Gisa und ihrem Mann wurde er beim Verfolgen eines revierfremden Katers von einem BMW überrollt, dessen Fahrer die 30-Kilometer-Beschränkung in unserer Straße nur für eine unverbindliche Empfehlung gehalten hatte. Typisch Macho. Auf beiden Seiten …

KAPITEL 2

oder
Es ist durchaus nicht dasselbe, die Wahrheit über sich zu wissen oder sie von anderen hören zu müssen.
Aldous Huxley

Seit ein paar Tagen humpele ich. Mein rechter Fuß schmerzt und meine Zehen sind angeschwollen. Was vor wenigen Jahren noch als ehrenvolles Zeichen für schonungslosen Einsatz auf dem Fußballplatz gewürdigt worden wäre (»An Gott kommt keiner vorbei außer …«) oder als Ausweis angstloser Brachialabfahrten in irgendwelchen versteckten Alpentälern, ist inzwischen eher auf ein Zeichen von Seni- als von Virilität heruntergekommen.

Und leider ist es ja sogar die schnöde Wahrheit: Mein Fuß tut mir so höllisch weh, weil ich ihn mir fürchterlich an unserem neuen Bett gestoßen habe. Mehr nicht.

Wochenlang hatten wir schwere schein-schwedische Kataloge gewälzt und riesige Möbelhäuser in unserer Umgebung unsicher gemacht, bei denen allein auf der Ausstellungsfläche ihrer Schlafzimmerabteilungen die Bevölkerung ganzer vom Versinken bedrohter Südseerepubliken Platz finden könnte. Wir hatten italienische Designerbetten mit schwarz glänzenden Lederbezügen bestaunt, an denen nur noch die stabilen Ösen für heißen Handschellen-Sex zu fehlen schienen, wir hatten dem einlullenden Gluckern von Wasserbetten gelauscht, und wir hatten die knöcherne Härte fernöstlicher Futon-Pritschen kennengelernt. Nur Durchblick hatten wir nicht gewonnen. Als wir uns irgendwann im Wesentlichen nur noch über Länge und Breite unseres Schlafmöbels einig zu sein schienen – allenfalls die rindslederne Dominavariante stieß auf gemeinsame Ablehnung –, fanden wir dann schließlich doch noch ein Bett. Und das ausgerechnet in einem Geschäft, das mit der bescheidenen Behauptung für sich wirbt, es sei weitab vom schnöden Massengeschmack die einzig richtige Adresse für ›Design und Lifestyle‹ in der Stadt. Wenn nicht weit darüber hinaus.

Die vorherrschenden Farben im Inneren dieses Konsumtempels sind tiefes Schwarz oder grelle Neontöne, und in seinen Regalen warten fast ausschließlich Dinge auf Käufer, die geschmacklich eher einfach strukturierte Menschen wie ich entweder nicht brauchen, nicht kennen – oder schlicht nicht bezahlen können.

Doch in einem der dunkleren Winkel dieses Etablissements wurden wir endlich fündig. Vor uns stand ein einfaches Bett ohne jeden Schnörkel und in gerade noch finanzierbaren Regionen der Preisgestaltung: weißes Massivholz, keine unnützen Rückenlehnen, keine neckischen Konsolen, kein gar nichts. Bauhaus, versicherte uns unser ›Einrichtungsberater‹. Ich hätte eher auf Baukasten getippt, aber egal. Nach kurzem Überlegen war das Ding unser. Und weil in politisch korrekten Designerkreisen der Umgang mit diversen Schraubenziehern oder -schlüsseln anscheinend als angesagte Methode fortgeschrittener Realitätsaneignung gilt, liegen in unserem Schlafzimmer jetzt zwei riesige Pakete auf dem Fußboden. Eine dicke Schaumstoffmatratze lehnt zusätzlich an der Wand und versperrt den Zugang zum Kleiderschrank. Doch beides stört uns im Moment nicht im Mindesten, denn wir selbst sitzen ein Stockwerk tiefer am Esstisch unseres Wohnzimmers, sind erschöpft und wissen nicht einmal in Ansätzen, worauf wir heute Nacht eigentlich schlafen sollen.

Die Frau, ohne die mir notfalls sogar ein Strohsack als Nachtlager ausreichen würde und mit der mir manchmal noch nicht einmal ein Himmelbett angemessen erscheint, diese Frau hat sich angesichts des bei ihr langsam zurückgehenden Entscheidungsdrucks in eine jener Telefonkonversationen mit unserer Tochter vertieft, deren Länge nur durch die Leistungsfähigkeit handelsüblicher Akkus begrenzt zu werden scheint. Einsilbigkeit ist in hundertzehn von hundert Fällen ein reines Problem von uns Männern.

Aktuelles Gesprächsthema von Mutter und Tochter sind Größe und Schnitt von etwas, was ich in meiner beschränkten männlichen Fantasie als T-Shirt bezeichnen würde, für das auf weiblicher Seite aber ähnlich viele Ausdrücke zur Verfügung zu stehen scheinen, wie sie das literarische Fräulein Smilla für den Schnee besitzen soll. Mir selbst wäre es in meiner eigenen Jugend niemals eingefallen, mit meinen Eltern in eine intensive Diskussion über Farbe, Taschenzahl oder Passform jener Jeans einzutreten, die man damals noch treudeutsch als Nietenhosen zu bezeichnen pflegte. Meine Eltern standen sowieso mehr auf Bügelfalten als auf jugendliche Röhren, allenfalls eine Hose aus Cord – bei uns mit der Betonung auf der zweiten Silbe ›Manchester‹ genannt – wäre für sie noch einigermaßen akzeptabel gewesen.

Und heute? Wäre ihr unsere Tochter nicht längst über den Kopf gewachsen, würden meine Frau und mein Kind noch immer munter ihre Klamotten tauschen. Und keine von beiden fände auch nur das geringste dabei.

Von unserem gefühlten Alter sind wir allein gelassene Eltern anscheinend in den besten Jahren stehen geblieben, und die waren nun einmal so um die Vierzig. Knapp nach dem Einrichten im Ernst des Lebens und weit vor der Midlife-Crisis. Ich wundere mich immer wieder, dass unsere Kinder diese von uns selbst erklärte Ablehnung, nach einer nicht unwesentlich verlängerten Jugend irgendwann einmal mit dem Altern anzufangen, so ohne jeden Widerspruch hinnehmen. Statt uns grausam auf die Gruft vorzubereiten sehen sie uns lieber bei unserer durch Turnschuhe, Jeans und T-Shirts optisch unterstrichenen Dauerjugendlichkeit zu. Für einen Sechsjährigen sind alle Zwanzigjährigen Greise, für einen Zwanzigjährigen bildet inzwischen aber selbst das fünfte Lebensjahrzehnt augenscheinlich nicht mehr die Grenze, hinter der unwiderruflich modische, musikalische oder sonstige Demenz beginnen.

Vielleicht sollten wir ein- bis zweimal pro Tag den Medien danken, die uns in Worten und bewegten Bildern immer wieder neu mit Beispielen für verlängerte Jugendlichkeit beliefern. Es müssen ja nicht immer Jürgen Drews oder Dieter Bohlen sein, die auf allen Kanälen und in allen Partyhöhlen Daueradoleszens demonstrieren wie ein Wunderheiler seine göttlichen Gnadengaben. Auch Harrison Ford und sogar ein für Normalmänner uneinholbarer Frauenschwarm wie George Clooney sind schließlich schon seit einigen Jahren keine Jünglinge mehr. Kim Basinger oder Iris Berben dürften ebenfalls längst dem Girliealter entwachsen sein. Dass sie deswegen jedoch nennenswert an Anziehungskraft oder Ausstrahlung verloren hätten, lässt sich nun wirklich nicht sagen.

Genauso wenig, wie man das von uns behaupten könnte. Von Ihnen, von mir. Und von der Frau an unserem Telefon sowieso nicht.

Ein elektronischer Dreiklang von der Klangqualität eines Handys aus den Anfangstagen der mobilen Kommunikation reißt mich aus meinen philosophischen Grübeleien über die ausbleibende Vergänglichkeit. Es ist unser Sohn, der mit dem Kraftüberschuss eines Mittzwanzigers vergeblich versucht, den Knopf unserer Haustürklingel durch Rauputz und Ziegelmauer zu drücken. Ich öffne.

»’tschuldigung, ich hab meinen Schlüssel in der anderen Hose!«

Genau. Unseren Wohnungsschlüssel hatten wir ihm bei seinem Auszug ja mehr als bereitwillig belassen. Er sollte quasi symbolisch als Anker dienen, um die Lebenswelten von Eltern und Sohn nicht zu sehr und zu schnell auseinanderdriften zu lassen.

»Habt ihr vielleicht noch ein bisschen Brot für mich? Ich bin heute nicht zum Einkaufen gekommen.«

Kinder können sich das erlauben. Eltern nicht. Sie würde man für verantwortungslos halten, für pflichtvergessen und was es sonst noch alles an Schimpfwörtern auf dem Gebiet des moralischen Versagens gibt.

Dennoch freut es mein Vaterherz natürlich unbändig, dass es gebraucht wird und für die Hilfe eines in Not geratenen Nachkommen schlagen kann. Offiziell. Klammheimlich denke ich mir gleichzeitig in unübertrefflicher Bescheidenheit, dass dieser Brotmangel nur einmal mehr beweist, dass wir Väter und Mütter die wesentlichen Dinge des Lebens eben doch besser im Griff haben als unsere Kinder und dass wir deswegen einfach unverzichtbar sind. Zumindest auf absehbare Zeit.

Aber wie gesagt: Das denke ich mir nur in stiller Heimlichkeit. Laut sage ich: »Klar, komm doch rein! Deine Mutter war vorhin zufällig noch beim Bäcker.«

Doch bevor wir uns in der Küche über den Brotkasten hermachen, schiebe ich meinen Sohn erst einmal in unser Wohnzimmer. Seine Mutter soll schließlich nicht verpassen, wer uns mit seinem Besuch beehrt.

In Frauenkreisen scheint man inzwischen das Thema ›Mode‹ verlassen zu haben. In dem Moment, als wir beiden Männer durch die Tür treten, fällt jedenfalls gerade der Satz: »Dein Vater hat uns übrigens ein neues Bett gekauft!«

Vom anderen Ende der Leitung sind aus dem Hörer undefinierbare Geräusche irgendwo in der Mitte zwischen Lustschreien und Schluchzen zu hören. Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und die Mimik meiner Ahnungslosigkeit muss glaubwürdig wirken, denn meine Frau schneidet umgehend den rätselhaften Geräuschteppich aus dem Osten ab: »Augenblick, ich schalte gerade mal auf laut, dann kann dein Vater dich auch hören.«

Will er schließlich auch. Zumindest so lange, bis er verstanden hat, was ihm seine Tochter da eigentlich mitteilen will. Ihre Suada beginnt nämlich mit der an sich überflüssigen Behauptung, ich sei doch nun wirklich nicht mehr der Jüngste – was ich in dieser widerspruchslosen Unbedingtheit ja auch nie behaupten würde –, leitet von diesem strittigen Ausgangspunkt dann bruchlos zu der Einschätzung über, im Gegensatz zu mir sei unser Bett noch wunderbar zu gebrauchen und quasi wie neu – was so absolut nicht stimmt – und gipfelt schließlich in dem überaus angreifbaren Fazit, ein neues Bett und ein alternder Vater passten nicht im Mindesten zusammen.

Meine Frau wirft mir einen vielsagenden Blick zu und zuckt nachsichtig mit den Schultern. Wenn mir hier mein Alter vorgeworfen wird, trifft sie das immerhin genauso. Uns trennen nicht mehr als zehn knappe Monate.

»Also hör mal«, versuche ich einzuhaken, bevor von töchterlicher Seite womöglich noch das bittere Wort vom ›Lustgreis‹ auf mich niedergeht, »also hör mal …« Keine Chance. »Papa, du bist peinlich!«, tönt es quäkend aus dem Hörer und lässt keinen Widerspruch mehr zu. Vorbei die Scheintoleranz von vorhin, die friedliche Koexistenz zwischen den Altersstufen! Sie mag sich noch auf den gemeinsam genutzten Kleiderschrank beziehen oder darauf, dass niemand von uns musikalisch je bis in die mit Silbereisen überzogenen Tiefen der deutschen Volksmusik abgesunken ist: Wenn es aber darum geht, als Vater und Mutter ein selbstbestimmtes Leben jenseits der bloßen Elternschaft für sich zu reklamieren, hört sie plötzlich auf, die Gemütlichkeit. Eltern haben Eltern zu bleiben, und wehe, sie wollen noch einmal ein neues Kapitel für sich aufschlagen!

»Hör mal …« Ein letzter Versuch.

Er geht unter in einem atemlosen Wortschwall, dem ich unter anderem die mir ohnehin bekannte Tatsache entnehmen kann, ich sei doch nun wirklich keine Zwanzig mehr, und wenn sie – also unsere gerade volljährige Tochter – ihrerseits Wert auf ein breites und bequemes Bett legen würde, dann sei das selbstverständlich etwas völlig anderes, als wenn wir als ihre augenscheinlich mit einem Schlag um Jahrzehnte gealterten Eltern …

In einer gewissen Lebensphase scheinen die Begriffe ›Bett‹ und ›Sex‹ weitgehend deckungsgleich verwendet werden zu können und fernab jener Vorstellung zu liegen, dass manche Wirbelsäulen auf eine solide Unterstützung durch eine feste Matratze und einen flexiblen Lattenrost ausgesprochen dankbar reagieren. Ganz abgesehen davon, dass auch in nicht mehr ganz taufrischen Körpern in der Regel noch eine gewisse Glut lodert: nicht mehr ganz so hoch aufflammend wie in den Strohfeuern der jungen Jahre, aber dafür beständiger und von einer überaus angenehmen dauernden Wärme. Wenn Sie verstehen, was ich meine.

Ich fühle mich völlig falsch beurteilt, zucke jetzt ebenfalls mit den Schultern und trete ohne ein weiteres Wort ins Telefon den geordneten Rückzug an. Ich hätte sowieso keine Insel im Redefluss gefunden. Meinen Sohn ziehe ich hinter mir her. Jenseits fruchtloser Diskussionen am Telefon wartet genau das auf uns, was unsere eigentliche Männlichkeit ausmacht. Wir werden etwas aus dem Nichts erschaffen. Will sagen: Dieses verdammte Bett muss schließlich noch aufgebaut werden!

Im Schlafzimmer stürzen wir uns ohne jedes Zögern auf die beiden Pakete, die wie gestrandete Wale auf dem Parkett liegen. Natürlich, wir könnten die Verpackungen auch fein säuberlich mit einer Schere oder einem Packmesser öffnen und in ihrem Inhalt nach der Aufbauanleitung suchen. Aber haben die Mammutjäger der Steinzeit etwa nach einem Jagdschein gefragt, oder sind die berühmten Höhlenbilder von Lascaux etwa nach den Vorlagen des Grundkurses ›Malen nach Zahlen‹ entstanden? Sehen Sie!

Innerhalb von wenigen Minuten haben wir zwei Männer also den massivhölzernen Bettrahmen zusammengesteckt. Wie vom Einrichtungsberater versprochen, geht das wirklich ohne eine einzige Schraube. Danach ist es uns ein Leichtes, die zwei Lattenroste innen im Rahmen auszurollen und – jetzt kommen doch noch Schrauben zum Einsatz – auf beiden Seiten an jeweils sechs Punkten fest mit der Außenkonstruktion zu verbinden. Voilà, unsere neue Schlafstatt steht in Rekordzeit!

Ordentlich, wie wir Männer sind, räumen wir nach getaner Arbeit sofort die Verpackungen zusammen, um sie morgen früh ohne weitere Verzögerung im Altpapiercontainer verstauen zu können.

»Du, Papa?« Weiter muss mein Sohn gar nicht reden. Wenn ein junger Mann in der Mitte der Zwanziger seinen Vater mit einem gemurmelten ›Papa‹ anredet, kann es sich dabei nur um einen Moment innigster Gefühle handeln. Oder etwas ist fürchterlich schiefgelaufen.

Sie werden es erraten haben: Variante Eins spielt im Augenblick keine Rolle.

Aber es hat dann wirklich gar nicht mehr so lange gedauert, alle zwölf Schrauben wieder zu lösen und anschließend den zentralen Holzfuß als stabilisierendes Verbindungsglied mit den zwei Lattenrosten zu verschrauben. Irgendwie müssen wir ihn ganz am Anfang ebenso übersehen haben wie die Bauanleitung in der braunen Tüte, die mit breitem Klebeband an ihm festgemacht war.

Jetzt noch die Matratze aus ihrer fingerdicken Plastikhaut gezogen und in den Rahmen gepresst, dann sind wir fertig. Stolz strahlen sich zwei Männer an, die es wieder einmal geschafft haben. Die Natur besiegt. Oder doch wenigstens den hinterlistig die wichtigsten Bauteile unterschlagenden Möbelhandel.

»Schatz!«, rufe ich vom Treppenabsatz hinab in das rund fünfzehn Treppenstufen tiefer liegende Wohnzimmer unseres Reihenhausturmes, »Schatz, willst du dir unser neues Bett ansehen?«

»Oder vielleicht gleich mal probeliegen?« Schon diese nachgeschobene Frage meines Sohnes hätte mich hellhörig machen sollen. Drängte hier nicht etwas in den Vordergrund, was ich lieber irgendwo im Dunkel gelassen hätte? Oder realistischer: im Halbdunkel?

Aber im nächsten Augenblick steht sie auch schon vor uns, meine Frau und seine Mutter. Mit ihrer Hand streicht sie über das glatte Holz des Rahmens und dann … – dann lässt sie sich einfach rücklings fallen und nimmt unser neues Bett in ihren Besitz. So muss man es wohl sagen.

Mein Sohn, den ich schon auf meinen Armen und meinen Schultern getragen habe und der mir so lieb ist wie nur wenige Menschen auf dieser Welt, dieser Sohn sieht mich in diesem Moment an, als wäre er Türsteher in einem zwielichtigen Kiez und hätte gerade mit schmierigen Angeboten ein paar ahnungslose Touristen übertölpelt. Keinen Deut besser als seine Schwester, denke ich mir. Und fühle mich trotzdem ein bisschen ertappt. Für unsere Kinder verhalten wir uns anscheinend irgendwie merkwürdig, geben womöglich gar die komischen Alten ab. Musik und Mode hin oder her.

Und genau das war dann auch der Moment, in dem ich frustriert gegen unser neues Bett getreten habe. Wofür ich bis heute fürchterlich büßen muss. Hoffentlich ist kein Zeh gebrochen …