Die "Christliche Identität" - formen, bewahren und sprachfähig machen - Rüdiger Halder - E-Book

Die "Christliche Identität" - formen, bewahren und sprachfähig machen E-Book

Rüdiger Halder

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Beschreibung

Wir leben in einer Zeit, in der viele Vertreter des Christentums sich anschicken, die christliche Theologie zu "zerlegen" und ihre Glaubensaussagen gründlichst hinterfragen. Dies mag insofern sinnvoll erscheinen, weil biblische Erkenntnis grundsätzlich ein Stückwerk darstellt. Außerdem sind theologische Aussagen immer auch mehr oder weniger kulturgebunden. Das Problem dabei ist jedoch, dass all diese klugen Köpfe es am Ende missen lassen, die Teile wieder zusammenzubauen. "Man muss die Dinge einfach mal so stehen lassen und die Spannung darin aushalten können", so ihre Ansicht. Vielleicht muss dieser Weg auf diese Weise beschritten werden, weil sich sonst auf der anderen Seite eine eingefahrene, dogmatische Totenstarre nicht anders beleben lässt. Das Tragische ist jedoch, dass so die "Christliche Identität" droht, sich in diesem Scherbenhaufen zu verlieren. Letztlich sind es die Gläubigen, denen die Glaubensgrundlage entzogen wird und sie damit mehr und mehr die Orientierung verlieren. Die Ironie dabei ist ebenso, dass in unserer pluralistischen Gesellschaft (Wahrheitsvielfalt) viele Menschen ganz besonders auf der Suche nach einer tragfähigen Identität sind und sie diese eigentlich im Christentum finden sollten. "Christliche Identität – formen, bewahren und sprachfähig machen" ist ein Buch, welches manche Ansichten zu Theologie, Glauben und Gemeinde kritisch beleuchtet. Vor allem steht es aber für die Frage ein, wie die Systematische Theologie dazu beitragen kann, christliche Theologie zu beleben und damit Glauben neu in Bewegung zu bringen – ohne seine christliche Identität preiszugeben.

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Forum Theologie & Gemeinde

Systematisch-theologische Beiträge

Band 1

Die „Christliche Identität“

formen, bewahren

und sprachfähig machen

Eine Einführung in die Systematische Theologie

von Rüdiger Halder

Der Autor

Rüdiger Halder ist Pastor im BFP und langjähriges Mitglied im FThG-Leitungsteam. Als freier Dozent und Kompetenztrainer lehrt er an unterschiedlichen Akademien. Als Theologe und Autor liegt ihm die Systematische Theologie allgemein sowie deren Alltagsrelevanz insbesondere am Herzen: „Eine Theologie um ihrer selbst willen hat keine Daseinsberechtigung. Sie muss die Offenbarung Gottes dem Menschen nahbar machen - als eine verständliche und für die Glaubenspraxis ergreifbare Lehre!“

© 2016 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG) im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen

Bibelstellen sind aus dem Grundtext übersetzt oder, wenn nicht anders angegeben, der Revidierten Elberfelder Bibel, © 1985/1991/2006 SCM R. Brockhaus, Witten, entnommen.

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen in Form von Kopien einzelner Seiten oder Ausdrucken einzelner Abschnitte (digitale Version) sind nur für den privaten Gebrauch bzw. innerhalb einer Ortsgemeinde gestattet. Alle anderen Formen der Vervielfältigung (Mikrofilm, andere Verfahren oder die Verarbeitung durch elektronische Systeme) sind ohne schriftliche Einwilligung durch das Forum Theologie & Gemeinde nicht gestattet.

Layout, Umschlag u. Realisierung E-Book: admida-Verlagsservice, Erzhausen

Umschlaggestaltung unter Verwendung von Bildern von © fotolia.com.

Druck: Breitschuh & Kock, Kiel

ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-67-0

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-23-6

Bestell-Nr. buw0332

Inhalt

1 Theologie im Kontext von Glauben und Gemeinde

1.1 Ein persönliches Wort

1.2 Warum Theologie zum Christsein dazugehört

1.2.1 Die Frage ist nicht, ob wir Theologie betreiben sollen, sondern wie!

1.2.2 Die Bibel fordert uns auf zu glauben, aber auch zu denken

1.2.3 Theologie muss dem Volk „auf’s Maul schauen“

1.2.4 Theologie fördert eine gesunde Selbstkritik

1.3 Was Theologie mit unserem Alltag zu tun hat!

1.3.1 Glaubensbekenntnisse und Hinweise auf geistliche Praktiken fallen nicht vom Himmel

1.3.2 Die Überwindung einer Geistvergessenheit

1.3.3 Wir predigen Gnade, aber haben wir sie auch verstanden?

1.3.4 Unsere Taten sollten mit unseren Aussagen übereinstimmen

1.3.5 Wenn Gottesbilder in Glaubenskrisen führen

1.4 Theologie als Jesu Auftrag annehmen lernen

1.5 Zusammenfassung

2 Hinführung zur Thematik

2.1 Zielsetzung des Buches

2.2 Theologische Ausrichtung und Begriffsverwendung

2.3 Inhaltlicher Aufbau

2.4 Systematische Theologie: Eine erste Begriffsbestimmung

2.4.1 Systematische Theologie als Disziplinenbegriff

2.4.2 Systematische Theologie aus evangelischer Sicht

2.4.3 Systematische Theologie aus römisch-katholischer Sicht

2.5 Stellenwert der Systematischen Theologie gegenüber anderen theologischen Fachgebieten

2.6 Zwischenfazit

3 Funktion bzw. Aufgabe der Systematischen Theologie

3.1 Auf Gott geworfen (Existenzielle Funktion)

3.1.1 Systematisch-theologisches Arbeiten ist gläubiges Arbeiten

3.1.2 Systematisch-theologisches Arbeiten ist betendes Arbeiten

3.2 Christliche Identität formen (Reproduktive Funktion)

3.2.1 Säge nicht den Ast ab, auf dem du sitzt

3.2.2 Gesamtschau der Bibel und ihre Entfaltung in Glaubensbekenntnissen

3.3 Christliche Identität bewahren (Apologetische Funktion)

3.3.1 Es gilt Konturen zu schärfen

3.3.2 Im Spannungsfeld zwischen Eingrenzung und Ausgrenzung

3.3.3 Leitgedanken zum Schutz des „Christlichen“

3.4 Christliche Identität sprachfähig machen (Produktive Funktion)

3.5 Die Begründung einer christlichen Identität wissenschaftlich nachvollziehbar machen (Rationale Funktion)

3.6 Christliche Identität als Entwicklungsprozess verstehen

3.7 Zusammenfassung und Resümee

4 Quellen der Systematischen Theologie

4.1 Die Bibel

4.2 Glaubensbekenntnisse

4.3 Nichttheologische Quellen

5 Disziplinen der Systematischen Theologie

5.1 Dogmatik

5.1.1 „Dogma“, ein Reizwort, auch unter Christen

5.1.1.1 Begriffsbestimmung

5.1.1.2 Warum der Begriff „dogmatisch“ negativ besetzt ist

5.1.1.3 „Dogmatisch“ ist eine Frage der richtigen Handhabung

5.1.2 Die Teildisziplinen der Dogmatik

5.1.2.1 Gott (Theologie)

5.1.2.2 Schöpfung (Schöpfungslehre)

5.1.2.3 Mensch (Theologische Anthropologie)

5.1.2.4 Jesus Christus (Christologie)

5.1.2.5 Erlösung (Soteriologie)

5.1.2.6 Heiliger Geist (Pneumatologie)

5.1.2.7 Gemeinde/Kirche (Ekklesiologie)

5.1.2.8 Von den neuen Dingen (Eschatologie)

5.1.2.9 Übergang zum letzten Kapitel

5.2 Theologische Ethik

5.2.1 Warum eine ethische Reflexion für die christliche Glaubenspraxis wichtig ist

5.2.1.1 Ethische Herausforderungen im Hier und Jetzt

5.2.1.2 Wir tragen Verantwortung!

5.2.1.3 Herausforderungen im Gemeindealltag

5.2.2 Die Grundsatzfragen der Ethik (Allgemeine Ethik)

5.2.2.1 Was ist Ethik?

5.2.2.2 Verschiedene ethische Handlungsansätze

5.2.2.3 Theologisch-christliche Ethik

5.2.3 Die Umsetzung der Ethik („Angewandte Ethik“)

5.2.3.1 Begriffsdefinition

5.2.3.2 Biblisch-theologische Anwendungsfelder

5.2.3.3 Bereichsethiken

5.3 Stellenwert der Ethik gegenüber der Dogmatik und die praktischen Konsequenzen

5.3.1 Ethik und Dogmatik im Spannungsfeld

5.3.2 Ethik und Dogmatik aus praktischer Perspektive

6 Was ist Systematische Theologie – eine abschließende Definition

7 Literatur

Über den Herausgeber

1 Theologie im Kontext von Glauben und Gemeinde

1.1 Ein persönliches Wort

Kein Zweifel – als Pastoren, Leiter, Älteste, Lehrer, Gemeinde­mitarbeiter und schlicht als Christen im Alltag sind wir dazu berufen, christliche Identität zu formen, zu bewahren und sprachfähig zu machen. Bei der Erfüllung dieses Auftrags spielt die Systematische Theologie eine ganz wesentliche Rolle. Aus den vielen Seminaren, die ich zu diesem Themengebiet gehalten habe, weiß ich jedoch, dass nicht wenige Christen aufgrund ihrer Vorstellungen, was sich hinter diesem Fach verbirgt, Vorbehalte gegen die Theologie hegen. Nach meiner Erfahrung lösen sich jedoch bis zum Ende dieser Seminare die meisten Bedenken auf. Die Teilnehmer stellen fest, dass es ihnen unter anderem an Hintergrundinformationen gemangelt hat und durch dieses Wissensdefizit Missverständnisse und Irritationen hervorgerufen wurden. Bevor ich also näher auf die Inhalte des Buches eingehe, ist es mir ein persönliches Anliegen, im Vorfeld auf einige dieser Bedenken einzugehen. Wenn Sie zu der Gruppe von Christen gehören, die der Theologie kritisch gegenüberstehen, möchte ich Sie gerne dazu einladen, den Gedanken auf den nächsten Seiten zu folgen. Ich hoffe, dass Sie durch meine Darlegungen Berührungsängste abbauen können und neugierig werden, sich auf die Reise in die Welt der Systematischen Theologie zu begeben.

Sollten Sie jedoch zu den Menschen gehören, die der Theologie ohne nennenswerte Vorbehalte gegenüberstehen, dann dürfen Sie gerne diesen Abschnitt überspringen und direkt bei Kapitel 2 „Hinführung zur Thematik“ einsteigen.

Theologische Literatur gehört für gewöhnlich nicht zum leichten Lesestoff. Ihre Inhalte fordern vom Leser eine hohe Konzentration und ein großes Durchhaltevermögen, bis es zu einer persönlichen, mitunter lebensverändernden Horizonterweiterung kommt. Doch kann nicht nur die Schwierigkeit der Thematik lähmend wirken – bei manchem Christen, wie oben bereits erwähnt, löst allein das Wort „Theologie“ Unbehagen oder gar Abneigung aus. Ich gebe zu, dass es mir selbst lange Zeit nicht anders ging: „Wozu Theologie?“, habe ich mich gefragt. „Ist sie nicht zu verkopft? Wird hier der Glaube nicht dem Diktat der Wissenschaft unterstellt? Mir genügen das Wort Gottes und der Heilige Geist – damit habe ich alles was ich brauche!“, dachte ich lange Zeit. Und zugegeben: Daran ist an sich nichts Falsches! Im Gegenteil. Um Christus nachzufolgen und die Welt mit seinen Augen zu sehen, benötigen wir die Bibel und den Heiligen Geist als unabdingbare Grundlage. Also entwickelte ich auf dieser Basis mein Gottes- und Menschenbild. Ich war davon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Mit meinen Ansichten war ich nicht alleine, denn etliche meiner Geschwister lebten ihren Glauben ähnlich wie ich. Über viele Fragen herrschte also Einmütigkeit und das System von Glaubenssätzen, das wir uns aufgebaut hatten, wurde von niemandem in Zweifel gezogen. Diese Einheit bot mir Sicherheit. Ich hatte mir meine Vorstellungen über Gott und den Menschen so zurechtgerückt, dass ich mich auch bei unbequemen Glaubensfragen (z. B. warum es Leid in der Welt gibt) gut dahinter verstecken konnte. Und so übte ich mich darin, kritische Fragen totzuschweigen und Unstimmigkeiten schönzureden oder sie dem ewigen Ratschluss Gottes zuzuschreiben

Heute frage ich mich, inwieweit meine damaligen Glaubens­überzeugungen tatsächlich aus einem geistgewirkten Bibelstudium erwachsen sind, oder ob ich nicht oft einfach unreflektiert das nachgesprochen habe, was andere, schon länger gläubige Christen vorgegeben haben. Mit den Jahren wurde mir jedoch zunehmend bewusst, wie schwarz-weiß meine Glaubenswelt sich gestaltete, wie einseitig ich Dinge betrachtete und wie oberflächlich meine Antworten auf relevante Glaubensfragen waren. Ich musste mich auch fragen lassen, inwieweit dieser vermeintliche Selbstschutz gegen tiefgründiges Denken nicht auch eine gewisse Arroganz beinhaltete: Wollte ich etwa nicht zugeben, dass ich in vielen Glaubensfragen nur an der Oberfläche kratzte und eigentlich vor ihnen flüchtete, anstatt mich in eine Auseinandersetzung zu begeben?

Inzwischen liegt eine lange Wegstecke hinter mir, auf der ich die Theologie schätzen gelernt habe. Zugegeben: Ohne die richtige Einstellung hat sie ihre Schattenseiten (z. B. in der Bibelkritik). Aber selbst wenn sich Christen nur mit der Bibel und dem Heiligen Geist auf den Weg machen, bleiben negative Auswüchse nicht aus (z. B. Gesetzlichkeit). Es soll nicht behauptet werden, dass Theologie auf alle Fragen eine Antwort hat. Vielfach wirft sie viele weitere Fragen auf. Und doch hatte ich auf meiner persönlichen Reise in die Theologie zunehmend das Gefühl, mich weiterbewegen zu können und mit Gott unterwegs zu sein. Ich erkannte immer mehr, dass sich die Denkmöglichkeiten über Gott und den Menschen, ja das tägliche Glaubensleben mit seinen vielfältigen Herausforderungen alles andere als nur schwarz-weiß darstellen. Wenn sie mich fragen würden, was ich durch die Theologie am meisten gelernt habe, dann würde ich eines hervorheben: Demut. Ich musste feststellen, dass die Bibel und der Heilige Geist auf dem Weg, wie ich mich ihnen früher angenähert hatte, nicht dazu führen konnten, dass ich zur Erkenntnis der Wahrheit gelangte. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dies lag weder an der Bibel und erst recht nicht am Heiligen Geist. Nein, es lag an mir, am Christenmenschen, von dem Paulus sagt, seine Erkenntnis sei und bleibe bis zur Wiederkunft Jesu Stückwerk – trotz Bibel und trotz Heiligen Geistes. Und so habe ich die Theologie als Werkzeug des Heiligen Geistes kennengelernt, das mir helfen konnte, meine bruchstückhafte Erkenntnis etwas zu minimieren – zumindest so weit, dass mein Leben positiv verändert wurde. Die Auswirkungen spürte nicht nur ich, sondern auch meine Mitmenschen. Ich lernte, sie mit anderen Augen zu sehen, anders mit ihnen umzugehen.

Die Theologie hat mich dazu gebracht, mit einer demütigen Haltung an das Wort Gottes heranzutreten: Denn weil die Bibel eine solch große Vielfalt an Denk- und Deutungsmöglichkeiten beinhaltet, wäre es arrogant zu meinen, ein Einzelner oder eine Denomination hätte ihre Botschaft endgültig verstanden und sei im Besitz der einen Wahrheit.

Die Theologie hat mich im Umgang mit meinem Nächsten Demut gelehrt. Ich habe erkannt, dass Menschen ihren Glauben unterschiedlich leben und dennoch dasselbe Ziel verfolgen können.

Die Theologie hat mir geholfen, meine christliche Identität zu formen, weil sie – richtig eingesetzt – ein christliches Fundament baut, auf das ich mich stellen kann.

Die Theologie hilft mir, meine Identität gegen Irrlehren abzugrenzen, weil sie sich gegen verzerrte Doktrinen zu wehren weiß.

Die Theologie hat mir beigebracht, Menschen, die in Bedrängnis sind oder kritische Fragen haben, nicht mit frommen Phrasen abzuspeisen. Vielmehr hat sie mir eine Sprache gegeben, wodurch ich den Menschen in Glaubensnöten so begegnen kann, dass sie sich gehört und verstanden fühlen und dadurch einen Rat besser annehmen können.

Ich gebe zu, dies alles sind meine persönlichen Erfahrungen. Ich glaube auch nicht, dass damit alle Vorbehalte gegen Theologie ad acta gelegt sind. Es gibt dahin gehend noch weitere Anfragen und ich habe bisher die Problematiken nur angedeutet. Dennoch hoffe ich, dass ich Sie dafür gewinnen kann, weiter zu lesen und mit mir darüber nachzusinnen, warum die Beschäftigung mit Theologie äußerst lohnend sein kann.

1.2 Warum Theologie zum Christsein dazugehört

Wie bereits angedeutet, gibt es durchaus Anlass zu behaupten, dass freikirchliche Christen zum Teil große Vorbehalte gegenüber einer gewissen Gelehrsamkeit hegen. Vor allem in der pfingstlich-charismatischen Szene, vor deren Hintergrund dieses Buch entstanden ist, herrscht bei vielen Menschen eine gewisse Abneigung gegenüber der Theologie. Hier wäre eine Vielzahl an Gründen zu nennen. Im Folgenden sollen nur einige, auf die pfingstlich-charismatische Bewegung bezogene, mitunter sehr nachvollziehbare Gründe bedacht werden. Dabei sei betont, dass selbst berechtigte Argumente nicht dazu führen dürfen, sich vor einem Weg zu verschließen, der im Grunde genommen zutiefst biblischer Wirklichkeit entspricht. Im Gegenteil: An so manchem Beispiel wird deutlich werden, dass ein Abgrenzen im Grunde nicht unbedingt dem Schutze dient, sondern ein solches Vorgehen auch Gefahren mit sich bringt, die bedacht werden müssen.

1.2.1 Die Frage ist nicht, ob wir Theologie betreiben sollen, sondern wie!

Die unter vielen Christen verbreitete, durchaus berechtigte Vorsicht gegenüber der Theologie lässt sich in ihren Ursprüngen zurückverfolgen bis in die Zeit der Aufklärung1. Im Mittelalter waren Theologie und Philosophie noch die vorherrschenden wissenschaftlichen Lehren gewesen, welche das religiöse Weltbild bestimmt und somit das persönliche Glaubensleben geprägt hatten. Ohne an dieser Stelle in der Tiefe differenzieren zu wollen, lässt sich feststellen, dass Theologie und Glaube (Religiosität) eine Einheit gebildet hatten. So hatte beispielsweise die Glaubenslehre der reformierten Kirche auch das Glaubensleben der protestantischen Christen tief geprägt. Diese Feststellung mag banal erscheinen, doch mit der Aufklärung und den darauf folgenden weiteren Entwicklungen wurde diese scheinbare Selbstverständlichkeit einem dramatischen Wandel preisgegeben: Es setzte sich zunehmend ein neues Weltbild durch, in dem das Wissenschaftliche mehr und mehr die Vorherrschaft gewann. In dem Bestreben, Gott aus der Wissenschaft zu verdrängen (z. B. Nietzsche: Gott ist tot!), waren auch Theologen (Johann Salomo Semler, Ernst Troeltsch) bemüht, diesen neuen Zeitgeist in der Kirche zu etablieren. Sie bewegten die Frage: Wie kann sich die Kirche in einer von der Vernunft geprägten Welt neu positionieren?

Das vorhandene protestantische (evangelisch-reformierte) Verständnis, welches Theologie und Glaube als Einheit verstanden hatte, passte nicht mehr in das neue Weltbild der Vernunft. Mit Semler kam es gegen Mitte des 18. Jh. schließlich zur entscheidenden Wende. Er läutete den Neuprotestantismus (theologische Entwicklung ab dem 19. Jh.) ein, der sich dann mit Friedrich Schleiermacher vollzog und die Theologie bis ins 20. Jh. maßgeblich geprägt hat: Semler trennte Theologie und Glauben (Religiosität) voneinander. Was vorher eins war, wurde nun unter Berufung auf die Vernunft auseinandergerissen. Theologie sollte von nun an eine Wissenschaft sein, in der man versuchte, mittels Vernunft Erkenntnisse über Gott und die erforschbare Natur zu erlangen.

So geriet der Wahrheitsanspruch der Bibel verstärkt ins Kreuzfeuer, da die Inhalte der Schrift bestimmten wissenschaftlichen Methoden zur Wahrheitsfindung (formgeschichtliche Literaturkritik2) nicht mehr standhielten. Zugleich wurde die Frömmigkeit des Glaubenden ins Privatleben verbannt und von den theologischen Auseinandersetzungen der „Gelehrten“ abgekoppelt. Somit verabschiedete sich die Theologie in ihre eigene Welt, in der sie unter der Berufung auf Wissenschaftlichkeit in aller „Narrenfreiheit“ wirken konnte. Ihre Gelehrten verloren jeden Bezug zur Gemeinde. Das Ergebnis war: Theologie wurde zu einem toten Gedankengebäude aus theoretischen, „klugen“ Aussagen über Gott und Welt, die jedoch mit der alltäglichen Frömmigkeit nichts mehr zu tun hatten.

Mit dem Pietismus wuchs parallel zur Aufklärung eine Bewegung auf, die auf dieses einseitige wissenschaftliche Bestreben zu Recht mit einer Betonung der Wichtigkeit des Glaubens reagierte. Die Pietisten erkannten die Gefahr dieser „kritischen Theologie“ und lehnten sie aus gutem Grund ab. Mit den Jahren verhärteten sich die Fronten immer mehr. Auf der einen Seite sträubte sich die Naturwissenschaft gegen jegliche Spiritualität. Erweckte Christen wiederum verwehrten sich gegen theologische Aussagen, die sich auf die Erkenntnisse der Wissenschaft beriefen. Letztlich versäumte es der Pietismus im Kampf gegen die wissenschaftliche Theologie, einem differenzierteren Blick Raum zu geben. Dass Theologie auch anders betrieben werden kann (wie etwa durch Luther), wurde wenig bis gar nicht berücksichtigt oder schlicht verdrängt. So ist es nicht verwunderlich, dass das Bild von Theologie in vielen Freikirchen – vor allem auch in der Pfingstkirche – damals bis heute recht düster ausfällt.

Meines Erachtens ist die Theologie jedoch zu Unrecht in Misskredit gebracht, und zwar aus folgendem wesentlichen Grund: Die hier entscheidende Fragestellung ist nicht, ob Theologie betrieben werden soll. Vielmehr ist die Frage ausschlaggebend, wie theologisch gearbeitet wird. Mit anderen Worten: Es ist die Haltung, die entscheidet. Die Herzenshaltung bestimmt letztlich mit darüber, zu welchem Ergebnis die gelangen, die studieren und forschen oder schlicht die Bibel lesen. Theologie und Glaube sind nicht zu trennen. Eine theologische Erkenntnis über Gott beeinflusst das Gottesbild und somit den Glauben. Wenn eine historische Wissenschaft die Bibel als Sammlung von rein menschlichen Geschichten betrachtet und vor diesem Hintergrund zu beweisen sucht, dass Christus nicht von den Toten auferstanden sei, hat eine solche Theorie eine unmittelbare Auswirkung auf den Glauben. Fakt ist: Ein Mensch mit einem Herzen, das Jesus Christus als den Auferstandenen bekennt und den Worten Christi, wie sie in der Bibel berichtet werden, Glauben schenkt, wird in der Theologie zu ganz anderen Ergebnissen kommen, als jemand, der all dies nicht glaubt und die Bibel als ein Buch wie jedes andere ansieht. Theologie – mit einer gläubigen, demütigen und gottesfürchtigen Herzenseinstellung betrieben – ist ein wertvolles Instrument, um die Erkenntnis der Wahrheit mehr und mehr zu ergreifen. Eine solche Theologie erhebt sich nicht über den Heiligen Geist, sondern sie ist sein Werkzeug. Geistgewirkte Theologie ist Teil eines stabilen Fundamentes, in dem unsere Identität als Christen wurzelt und das uns in den täglichen Herausforderungen des Glaubens Stabilität und Orientierung gibt.

Hinzu kommt, dass theologische Gelehrsamkeit nicht dem Selbstzweck dient. Davon ist auch die Systematische Theologie nicht ausgenommen. Die Theologie steht nicht über der Gemeinde, vielmehr ist es die Existenz der Gemeinde, welche dem theologischen Arbeiten erst seinen rechten Sinn verleiht.3 Somit ist (systematisch-)theologisches Arbeiten Dienst an der Gemeinde. Locher betont, es gehe

… darum, auf der Basis des Zeugnisses der biblischen Schriften lehrmäßig festzuhalten, was der Inhalt unseres Glaubens, somit auch unseres Bekenntnisses ist und damit verbunden dessen Vollzug in der Praxis der neutestamtlichen Gemeinde sein soll.4

In diesem Buch wird Theologie ausschließlich so verstanden! Glaubensaussagen sollen demnach nicht einfach nach persönlichem Gutdünken oder auf Grundlage von individueller Erfahrung – also rein aus einer gewissen Emotionalität heraus – formuliert und als Lehrmeinungen verbreitet werden. Diese Fundamente des Glaubens bedürfen einer gründlichen biblisch-theologischen Reflexion, um der damit verbundenen Verantwortung gerecht zu werden – zumal sie oft lebensbestimmenden Charakter haben. Dazu gehört, dass sich die Theologie vor der Gemeinschaft der Gläubigen zu verantworten hat, d. h. es braucht die nötige Rückmeldung der Gemeinde, inwieweit die Theologie noch geerdet und glaubensrelevant ist.

1.2.2 Die Bibel fordert uns auf zu glauben, aber auch zu denken

Ein weiterer Grund, weshalb manche Christen eine gewisse Unsicherheit oder gar Abneigung gegenüber theologischer Gelehrsamkeit hegen, liegt darin, dass sie Theologie grundsätzlich als zu intellektuell und infolgedessen mitunter als „ungeistlich“ empfinden. Damit ist gemeint, dass Menschen sich nicht nur gegen die o. g. wissenschaftliche Vorgehensweise verwehren, sondern gegen alle Arten von Gelehrsamkeit, also auch gegen eher freikirchliche, bibeltreue Formen. Nicht mehr nur die Wissenschaft, sondern die Theologie als Ganze wird pauschal verdächtigt. Im Grunde geht es hier um das Verwehren jeder Art von Intellektualismus. Es herrscht das Vorurteil, Theologie sei prinzipiell verstandeslastige, leblose, trockene Theorie ohne Bezug zur Praxis. In dem Maße, in dem die Theologie als zu intellektuell empfunden wird, reagieren viele Christen mit einer Vereinfachung von Lehraussagen, indem sie darauf hinweisen, dass man für den Glauben kein tiefergehendes Nachdenken benötigt. Diese Reaktion offenbart die grundlegende Angst davor, dass Glaube auf die verstandesorientierte Ebene reduziert werden könnte. Die Folge hiervon ist, dass z. B. der Glaube an Wunder und vernünftiges Denken getrennt und als Gegensätze gesehen werden.

Ohne mich zu einer Verallgemeinerung hinreißen lassen zu wollen, behaupte ich, dass große Teile der Pfingstbewegung hinsichtlich ihrer Sozialisation eher von der Arbeiterklasse repräsentiert werden. Das hat zur Folge, dass Christen hier von ihrer Bildung her oft nicht gewohnt sind, mit theologischen Texten umzugehen, und dass auch nur selten jemand da ist, der ihnen hierfür einen Einstieg vermittelt. Viele Geschwister legen daher die Betonung auf die Bibel, weniger auf die Theologie. Hinzu kommt, dass viele Gläubige innerhalb der Pfingstbewegung viel mehr an Aspekten der praktischen Lebensgestaltung interessiert sind, als sich beispielsweise mit den verschiedenen Verstehensaspekten (also der Exegese) eines Bibeltextes auseinanderzusetzen. Ihrer Meinung nach genügen die Bibel und der Heilige Geist, um Gottes Willen zu verstehen. Schriftstellen werden häufig prophetisch gelesen: Sie werden so verstanden, als hätte sie Gott an die Christen im Hier und Heute geschrieben.

Wie ist ein solches Verhalten zu bewerten und was wäre ein wirklich biblischer Weg, mit Gelehrsamkeit umzugehen?

Dem renommierten englischen Neutestamentler N. T. Wright ist beizupflichten, wenn er zu verstehen gibt, dass ein solches Verhalten eigentlich kein christliches, sondern ein aufklärerisches darstellt. Seiner Ansicht nach ist es gerade jenes Denken in der Aufklärung gewesen, das strikte Trennungen vollzogen hat. Einem Christen sei dagegen geboten, sich in der Balance aus vertrauensvollem Handeln (Spr 3,5) auf der einen Seite und klugem und weisem Denken (Spr 4,5) auf der anderen zu bewegen, so Wright weiter.5 Fest steht: Wer die Gelehrsamkeit kritisiert, weil sich Menschen hier allzu oft in Detailfragen verlieren, die kaum noch Bezug zum Leben haben, der muss auf der anderen Seite auch einräumen, dass spirituelle Begeisterung ohne jegliche theologische Reflexion zu Naivität und blinder Arroganz führen kann. Freilich ist das Wort Gottes durch den Geist lebendig und es ist wichtig, dieses Potential durch das prophetische Bibellesen auszuschöpfen.

Dennoch muss sich auch ein jeder Pfingstler hinterfragen lassen, ob er mit einer solchen einseitigen Lesemethode nicht auch oft einen Bibeltext für die jeweiligen Lieblingsthemen vereinnahmt und mehr in die Bibel hineinliest, als wirklich dasteht. Ist das wirklich ein würdiger Umgang mit Gottes Wort? Es ist auch nicht legitim, dass wir uns hinter Bezeichnungen wie „Bibelbewegung“, „Arbeiterbewegung“ oder „soziale Bewegung“ verstecken und damit rechtfertigen, dass wir weniger Anstrengungen unternehmen, um Dinge gründlich zu durchdenken. Fakt ist: Wir haben Verantwortung! Christus sagt: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Hingabe und mit deinem ganzen Verstand!“ (Mt 22,37). Ein gesunder Glaube erfordert Vertrauen ebenso wie Weisheit und Klugheit. Im Grunde kann niemand glauben, ohne zu denken. Glaube ohne Verstand ist nicht möglich, sie sind von der Bibel her keine Gegensätze. Freilich ist der menschliche Verstand seit dem Sündenfall als eingeschränkt anzusehen (Röm 3). Und wenn der Mensch sich selber in den Mittelpunkt stellt und nur noch das glaubt, was er messen und sehen kann, dann lösen Verstand und Vernunft Gott ab (siehe Aufklärung). Hier geht es auch nicht darum, den Verstand mit dem Glauben auf eine Ebene zu stellen. Der Glaube ist der Vernunft übergeordnet! Hier soll verdeutlicht werden, dass Christen ihren Verstand nicht an der „Garderobe“ abgeben. Der Verstand ist eine wichtige Ressource des Menschen, um dem biblischen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren, nachkommen zu können. Daher wertet die Bibel den Verstand auch nicht ab, sondern erkennt seine Wichtigkeit an (Spr 3,13; 4,5). Die Offenbarung biblischer Wahrheit und der Glaube im Herzen eines Menschen wird durch den Heiligen Geist bewirkt. Wollen wir jedoch Rechenschaft über unseren Glauben abgeben, so bedarf es einer Reflexion desselben – und dies geschieht durch den Verstand (1Petr 3,15). Auch wenn die Wissenschaft den Glauben aus ihrem Wirkungskreis verdrängt hat, sollten Christen nicht darauf antworten, indem sie den Verstand aus ihrem Umfeld verbannen. Lasst uns hier nicht einen eigensinnigen Weg gehen, wie es die Wissenschaft tut, sondern den biblischen!

In Bezug auf das Verhältnis von Glaube und Verstand lässt sich also Folgendes festhalten: Unter der Voraussetzung, dass der Glaube an Jesus Christus über alles (theologische) Denken erhaben ist und die Grundlage für das christliche Leben bleibt, ist Theologie für die Nachfolge Jesu von unschätzbarem Wert und eine unumgängliche Notwendigkeit. Eine gegenseitige Abgrenzung von Glaube und Verstand entspricht nicht dem biblischen Weg. Vielmehr sollte ein Christ sich fragen, wie er sich alle von Gott zur Verfügung gestellten Ressourcen (wie z. B. die Fähigkeit zu denken) in der Kraft des Heiligen Geistes zunutze machen kann.

1.2.3 Theologie muss dem Volk „auf’s Maul schauen“

Dass zwischen der Theologie und dem „Laienchristen“ in seinem Lebens- und Gemeindealltag vielfach ein großer Graben liegt, hat noch einen weiteren Grund: Es wird der Theologie vorgeworfen, dass ihre Lehren für den interessierten Laien oft zu akademisch und infolgedessen zu kompliziert formuliert sind. Als Theologe muss ich eingestehen, dass das Nachdenken über Glaubensinhalte durchaus im Sinne einer menschen- und alltagsfernen Elfenbeinturmtheologie betrieben werden kann und auch wird. Daher ist es mehr als nachvollziehbar, dass viele Christen keinen Zugang zu diesen Denkwelten finden, selbst wenn sie es wollen. Die meisten theologischen Lehrbücher (z. B. Dogmatiken) sind vom denkerischen Anspruch her zu hoch angesetzt. Es ist mindestens eine theologische Ausbildung vonnöten, um allein den Fachbegriffen folgen zu können. Dies mag kein Grund zum Vorwurf sein, denn theologische Lehrbücher müssen nicht zwingend für Laien geschrieben werden. Es spricht an sich nichts dagegen, ein gewisses akademisches Niveau zu pflegen. Wenn ein Vorwurf angebracht ist, dann gilt er der Tatsache, dass seitens der Theologenschaft versäumt wird, all die wertvollen Themen und Inhalte einer Systematischen Theologie ebenso in eine Sprache6 zu gießen, die auch den weniger gebildeten Christen verständlich wird. Denn welchen Nutzen hat theologisches Denken, wenn es nicht irgendwann die Basis erreicht? Dass dies möglich ist, beweist die vereinzelt vorhandene Literatur, die einen solchen Weg beschreitet.7 Insgesamt besteht hier jedoch ein großer Mangel und dringender Handlungsbedarf.

1.2.4 Theologie fördert eine gesunde Selbstkritik

Ein weiterer Grund für die geringe Bedeutung der Theologie, insbesondere unter pfingstlich-charismatischen Christen, ist die Ansicht, dass es weniger auf die Theorie als vielmehr auf die Praxis ankomme. Vor allem spielen Erfahrungen hierbei eine große Rolle. Sie werden vielerorts als autoritativ angesehen, um auf ihnen Lehre zu begründen oder Maßstäbe für den Glauben durch sie zu rechtfertigen. Es handelt sich hierbei um eine sogenannte „Erfahrungstheologie“, einen Weg zur Ableitung von Glaubenssätzen, der in pfingstlich-charismatischen Kreisen weit verbreitet ist. Der Unterschied zwischen Erfahrungstheologie und biblischer Theologie liegt darin, dass Erstere rein auf individuelle Erlebnisse gegründet ist. Damit soll nicht ausgedrückt werden, dass Erfahrungen unwichtig wären – im Gegenteil! Glaube muss im Leben erfahrbar sein! Hier geht es also nicht darum, Erfahrungstheologie an den Pranger zu stellen. Es soll lediglich differenziert werden, wo Erfahrungstheologie biblisch gerechtfertigt ist und wo nicht. Zunächst ist jeder Praktiker auch ein Denker! Selbst der überzeugendste Könner muss zugeben, dass sein Handeln auf Theorien, auf Vorstellungen über Gott, Welt und Gemeinde beruht. Jeder Handelnde agiert aus einer Überzeugung heraus. Diese Grundsätze zeigen, dass Theorie nicht verleugnet werden kann – seien es die eigenen ideellen Annahmen oder die von anderen.

Doch wie können wir mit Erfahrungen umgehen, ohne eine biblisch-theologische Reflexion zu vernachlässigen? Die Bibel beschreibt einen jungen Mann namens Apollos (Apg 18,24-26). Er war von Johannes getauft und in den Schriften sehr versiert, lehrte sorgfältig, was er wusste und war brennend im Geist. Und so ging er freimütig in die Synagoge und gab Zeugnis von seinem Glauben. In der Synagoge waren aber eine Frau namens Priscilla und ein Mann namens Aquila. Ihnen fiel auf, dass es Apollos an theologischem Verständnis mangelte. Und so nahmen sie ihn beiseite und legten ihm den Weg Gottes genauer aus. Dieses Beispiel zeigt, dass es gut ist, brennend im Geist loszugehen und Gott zu dienen. Es offenbart aber auch, dass unser Handeln einer fortlaufenden biblisch-theologischen Reflexion bedarf.

Ein anderes Beispiel lesen wir in der Apostelgeschichte im 15. Kapitel: Paulus und Barnabas widersprachen der Lehre, nach der ein Mann nur dann errettet sei, wenn er sich beschneiden lasse. Nach einem Wortwechsel berichteten Petrus und später auch Paulus und Barnabas von ihren Erfahrungen und den Zeichen und Wundern, die sie erlebt hatten. Unter den Zuhörern war auch ein Mann mit dem Namen Jakobus, der damalige Leiter der Jerusalemer Gemeinde und ein Bruder Jesu. Letztlich oblag es ihm, in der Streitfrage eine Entscheidung zu treffen. Wie reagierte Jakobus in dieser Situation? Ließ er sich von seinen positiven Erfahrungen mit der Tradition der Beschneidung hinreißen, um eine Entscheidung in diesem Konflikt zu fällen? Nein! Er prüfte, inwieweit die vorgebrachten Erfahrungen mit dem Wort Gottes übereinstimmten. Das Wort war das Entscheidungskriterium.8 Wenn also Glaube und Erkenntnisgewinn hauptsächlich auf Erfahrungen beruhen, dann sind sie auf kein solides Fundament gestellt, denn bei Erfahrungen handelt es sich zunächst um nichts anderes als um persönlich gedeutete Erlebnisse. Es bedarf daher einer biblisch-theologischen Reflexion und Einordnung des Erlebten. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass Erlebnisse in die Bibel hineingedeutet werden dürfen, um dann sagen zu können, dass sie biblisch begründet seien. Grundsätzlich gilt: Nicht die Erfahrung bestätigt das Wort, sondern der gesamtbiblische Befund bestätigt die Erfahrung. Zumindest aber stellt eine biblisch–theologische Reflexion sicher, dass eine Erfahrung und ihre Deutung nicht gegen den Grundtenor der Heiligen Schrift verstoßen. Um Missverständnissen vorzubeugen sei betont, dass es nicht darum geht, Gott Handschellen anzulegen und nur das als gültig anzusehen, was sich biblisch einwandfrei verifizieren (überprüfen) lässt. Ohne Frage steht Gott letztlich über allem. Es geht zunächst darum zu erkennen, dass selbst positive geistliche Erfahrungen (z. B. Heilungen) kein Beweis dafür sind, dass daraus geschlussfolgerte Lehren (Erfahrungstheologien) biblisch richtig und gottgewollt sind.

Es wäre fahrlässig, alle Lehren spiritueller Bewegungen (z. B. der „Wort des Glaubens“-Bewegung) als biblisch zu betrachten, nur weil in ihren Reihen Menschen geheilt werden. Durch solche, rein auf Erfahrung gegründete Lehren kann Schaden entstehen (z. B. Leistungsdruck durch Aussagen wie z. B.: „Wenn du nicht geheilt wirst, dann hast du nicht genug gebetet und geglaubt!“) oder aber die Gemeinde wird vielfältiger Möglichkeiten und Segnungen beraubt (z. B. durch Ablehnung bestimmter Geistesgaben oder einen nicht schriftgemäßen Umgang mit ihnen). Sich einer systematisch durchdachten Theologie generell zu verwehren, scheint offenbar kein fruchtbarer Weg zu sein, denn auf diesem Weg ist ein einseitiges Glaubensleben vorprogrammiert! Das Christenleben endet in einer Sackgasse, weil die Vielfalt biblischer Wege von einseitigen menschlichen Erfahrungen überlagert wird und damit die Erschließung der Weisung aus der Schrift ins Hintertreffen gerät. Mit Hilfe der Systematischen Theologie können Christen jedoch ihre Glaubensansichten reflektieren sowie einen ausgeglichenen und damit gesunden Glauben kultivieren (indem sie beispielsweise nicht wie o. g. unter einen Leistungsdruck gelangen). Fakt ist: Unsere Erkenntnis ist – mit den Worten von Paulus ausgedrückt – Stückwerkerkenntnis. Daher bedarf Erfahrung immer gesunder Selbstkritik und Reflexion anhand von bestehender biblisch-theologischer Erkenntnis. Nur so kann Lehre letztlich gewissenhaft weitergegeben und der christliche Alltag lebendig werden. Es bleibt m. E. stets wünschenswert, dass sich jeder Prediger und Bibellehrer dieser Verantwortung bewusst ist und sein Bestes gibt, um ihr gerecht zu werden.

1.3 Was Theologie mit unserem Alltag zu tun hat!

Von allen bisher genannten Vorbehalten gegenüber der Theologie dürfte die Frage nach der Alltagsrelevanz am meisten für sich selbst sprechen: Denn wenn Theologie und Glaube getrennt werden oder Theologie allgemein intellektuell abgehoben betrieben wird und schwer verständlich ist, welche Berührungspunkte ergeben sich dann noch mit dem christlichen Alltag?

In den bisherigen Abschnitten wurden theoretische Argumente angeführt, die verdeutlichen, dass es nicht klug ist, Glauben und Theologie sowie Theorie und Praxis zu trennen bzw. allein auf Erfahrungen zu bauen. Möglicherweise erscheint die o. g. Fürsprache für die Theologie einleuchtend. Dennoch steht die Frage im Raum, warum Christen sich auf neue Wege einlassen sollten, wenn der Glaubensalltag bisher „ohne“ Theologie auch relativ gut funktioniert hat. Mit diesen Gedanken soll sich dieser letzte Abschnitt auseinandersetzen. Es wird deutlich werden, dass wir uns der Theologie eigentlich nicht entziehen können, egal, wie wir uns ihr gegenüber positionieren. Zu meinen, wir hätten mit Theologie nichts zu schaffen, ist eigentlich ein Trugschluss: Unser Gemeindealltag, insbesondere unsere christlichen Lehren und Predigten und infolgedessen auch unser praktisches Handeln sind durchzogen von einer Vielzahl an Themen, die viel mit Theologie zu tun haben.

Die folgenden Darstellungen decken zum einen auf, an welchen Stellen die Systematische Theologie im Alltag besonders auftaucht und wo bzw. wie wir mit ihr (möglicherweise unbewusst) leben. Zum anderen geben sie erste Hinweise, warum es für die Nachfolge und den Bau des Reiches Gottes wichtig ist, auch im Gemeindealltag einem gewissen Maß an Gelehrsamkeit Raum zu geben. Darüber hinaus sollen sie Aufschluss zu dem oben bereits angedeuteten Gedanken geben, warum eine Abgrenzung gegenüber theologischem Reflektieren große Gefahren beinhaltet.

1.3.1 Glaubensbekenntnisse und Hinweise auf geistliche Praktiken fallen nicht vom Himmel

Im Folgenden soll ein Beispiel verdeutlichen, dass geistliche Bekenntnisse, die Christen heute selbstverständlich beten oder in die Praxis umsetzen, das Ergebnis systematisch-theologischen Denkens darstellen.

Mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen wir den Glauben an den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist und sprechen mit derselben Selbstverständlichkeit von der Dreieinigkeit Gottes. Viele Christen übernehmen dieses Bekenntnis aus der Tradition oder schlicht, weil es alle anderen auch glauben. Zu wissen gilt jedoch: Die Lehre von der Dreieinigkeit ist keine biblische, sondern ein kirchliche. Was heute als selbstverständlich angesehen wird, ist das Ergebnis systematisch-theologischen Denkens. Unsere Kirchenväter haben diese Erkenntnis und dieses Bekenntnis über viele Jahrhunderte hindurch geformt, formuliert und verteidigt. Ohne Theologie wäre das christliche Gottesbild möglicherweise ein monotheistisches. Wir würden an einen Gott glauben, wie dies auch im Judaismus üblich ist.

1.3.2 Die Überwindung einer Geistvergessenheit

Die folgende Darstellung betrifft unser Verständnis vom Heiligen Geist.

Dass der Heilige Geist Gott ist und er wie der Vater und der Sohn angebetet werden kann, ist noch vielen Christen eher fremd. Dasselbe gilt für die Kraftwirkungen des Geistes. Was für pfingstlich geprägte Christen unzweifelhaft erscheint, wird andernorts abgelehnt. Bis vor ca. 50 Jahren herrschte bei einem Großteil der Christen weltweit eine regelrechte Geistvergessenheit. Im Jahre 1951 bemerkte der evangelische Theologe Emil Brunner noch, dass der Heilige Geist „… immer mehr oder weniger ein Stiefkind der Theologie … und die Dynamik des Geistes ein Schreckgespenst für die Theologen …“9 gewesen sei. Hier haben wir es der sogenannten Pneumatologie (der Lehre vom Heiligen Geist), einem Teilgebiet der Theologie, zu verdanken, dass wir den Reichtum von Gottes Wesen mehr erfassen und in unser Leben aufnehmen können. Was wäre die Pfingstbewegung ohne die Erkenntnis und den Glauben an die Geisteskraft, die sich in den Geistesgaben manifestiert? Sie wäre lediglich eine christliche Bewegung, der es an vielen Segnungen mangeln würde. Sie wäre – um in einem Bild zu sprechen – ein Vierzylindermotor, der lediglich auf drei Zylindern läuft. Gerade die Pneumatologie ist eine Lehre, mit der die Pfingstbewegung einen wichtigen Beitrag zur systematisch-theologischen Diskussion leisten kann, gar leisten muss.

1.3.3 Wir predigen Gnade, aber haben wir sie auch verstanden?

In dieser Veranschaulichung geht es darum aufzuzeigen, dass unsere Glaubensbekenntnisse sich nicht von selbst erklären.

Wann immer das Thema Gnade, Rechtfertigung, Erlösung oder Heiligung in unserem Gemeindealltag auftaucht, befinden wir uns inmitten von systematisch-theologischem Gedankengut. So berufen sich Christen beispielsweise immer wieder auf reformatorische Glaubenslehren, indem sie betonen, dass wir Menschen allein aus Glauben durch Gnade gerettet werden. Gnade wird also sehr viel thematisiert: Diese Botschaft ist aus Predigten oder christlichen Lehren und Liedern nicht wegzudenken. Die Überzeugung von der Errettung allein aus Glauben durch Gnade ist einer der neutestamentlichen Eckpfeiler, die unseren christlichen, reformatorischen Glauben stützen. Hier sei zum einen daran erinnert, dass wir nur deshalb unseren Glauben auf eine solche Aussage bauen können, weil es Menschen gab, die sich systematisch-theologisch mit diesem Thema auseinandergesetzt, darum gerungen und mitunter sogar ihr Leben dafür gelassen haben.10 Dass dieses Glaubensbekenntnis jedoch durchaus weiterer Erklärung bedarf, zeigt das folgende Beispiel einer jungen Frau, die aus ihrem Gemeindealltag erzählt:

„Ich habe mein Leben gelebt und mir nichts weiter dabei gedacht. Dann lernte ich Christen kennen, die mir von Jesus erzählten und davon, wie er mich frei machen wolle. Ich bekehrte mich, doch bald stellte ich fest, dass ich mich gar nicht mehr frei fühlte, sondern mehr und mehr unter das Urteil des Gesetzes geraten war. Ich fühlte mich täglich angeklagt. Nie im Leben habe ich größeren Druck verspürt als seit dem Tag, an dem ich mein Leben Jesus gegeben habe. Als ich noch kein Christ war, hatte ich noch das Gefühl, als Mensch zu genügen – ganz so wie ich bin. Heute habe ich den Eindruck, dass ich vor Jesus niemals bestehen kann!“

An dieser Stelle ist nicht der Raum, um diesen Fall gänzlich zu durchleuchten. Doch das Leid der Christin lässt erahnen, dass in dem Leben dieser Frau die Bedeutung und der Stellenwert von Umkehr und Gnade verdreht worden sind. Dieses Beispiel ist kein Einzelfall: So wie dieser Frau geht es vielen anderen Christen auch. Egal, ob es an der Frau lag, die die Bedeutung von Gnade nicht verstanden hat oder ob der Prediger, der Bibellehrer oder andere Mitchristen die Verursacher waren: Hier wird deutlich, dass unsere Lehren massive Auswirkungen auf das Leben von Menschen haben und deshalb immer auch einer systematisch-theologischen Reflexion bedürfen. Biblische Lehren sind keine Selbstläufer. Um also aus der Lehre von der Gnade die rechten praktischen Konsequenzen ziehen zu können (z. B. sich zu verinnerlichen, dass jeder, der an den Sohn glaubt, gerecht gemacht ist und deshalb vor Jesus bestehen kann), müssen wir Gnade vor allem selbst erst einmal theologisch durchdrungen haben. Diese Reife ist also mehr davon abhängig, ob ein Christ sich intensiv anhand des Wortes mit diesen theologischen Fragestellungen auseinandergesetzt hat, als davon, dass jemand lange Christ oder gar ein Pastor ist: Denn die Realität zeigt leider, dass Letzteres nicht heißt, dass ein Mensch Gnade wirklich verstanden hat.

1.3.4 Unsere Taten sollten mit unseren Aussagen übereinstimmen

Das folgende Beispiel verdeutlicht, dass uns die Glaubensaussagen, die wir uns zurechtgelegt haben, manchmal sehr in Bedrängnis bringen können, weil wir sie z. B. einfach nur übernommen haben.

Wer kennt sie nicht, Aussagen wie: „Gott ist gut! Er hat alles in seiner Hand, er ist es, der alle Geschicke lenkt. Unser Gott ist allmächtig, allwissend, er handelt souverän.“ Wir gehen in dem Glauben durchs Leben, dass alles, was geschieht, Teil des allumfassenden Planes Gottes für uns ist und dass Gottes Plan nicht vereitelt werden kann.

Zunächst darf auch hier klar werden, dass es sich bei diesen bekannten Aussagen – ob nun bewusst oder auch unbewusst – meistens um systematisch-theologische Schlussfolgerungen aus biblischen Aussagen handelt. Diese Glaubensaussagen dienen uns oft als Stärkung, vor allem in schwierigen Zeiten, in denen wir zu Recht darauf vertrauen, dass Gott die Dinge so zusammenspielen lässt, dass sie uns zum Besten dienen. Und das ist auch gut so! Aber es muss genauso zugegeben werden, dass solche Aussagen in vielen Fällen auch schlicht als fromme Floskeln Verwendung finden. Diese „seelenguten“ Wortphrasen sind wiederum oft einfach nur von anderen Christen übernommen worden. Ein Christ hört oder liest sie zufällig und weil alle anderen dasselbe zu sagen scheinen, macht er sich diese „Weisheiten“ selbst auch zu eigen. Wirklich darüber nachgedacht haben jedoch die wenigsten Christen über diese Alltagshypothesen. Die folgende Illustration verdeutlicht die Gefahr, wenn fromme Aussagen einfach übernommen werden, ohne sie auf ihren theologischen Gehalt hin zu reflektieren.

In einer Familie ist der unter den jugendlichen Kindern beliebte Onkel mit erst 40 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben. Verständlicherweise herrscht großes Entsetzen und Ratlosigkeit in der Familie. Ein paar Tage nachdem der erste Schock überwunden ist, fragen die Kinder ihre Eltern, warum ihr Onkel so früh sterben musste. Der Vater verdeutlicht, dass es Gottes Plan gewesen sei, den Onkel so jung nach Hause zu holen. Warum, wüsste er auch nicht. Aber Gott sei souverän, er mache keine Fehler. Niemand sei in der Lage, Gottes Pläne zu beeinflussen, man könne sie nur im Glauben annehmen.