Ich bin da für Dich - Rüdiger Halder - E-Book

Ich bin da für Dich E-Book

Rüdiger Halder

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Beschreibung

Über Gott, den Schöpfer und Ursprung allen Seins, nachzudenken und diese Gedanken in Worte fassen, ist für den Autor Ansporn und Verant- wortung zu gleich. Er ist sich bewusst: Mit einer Lehre über Gott wird zugleich auch ein Bild von Gott entworfen, welches Einfluss auf die Glaubenspraxis der Christen hat. Aber es lohnt, sich immer wieder auf die Spur zu begeben und neue Einsichten zu gewinnen. Gerade weil es um das Geheimnis "Gottvater" geht, kann selbst das Wissen von der Größe eines Samenkornes so viel bewirken wie eine ganze Bibliothek zu anderen Themen: Es ist in der Lage, ein ganzes Leben zu verändern.

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Forum Theologie & Gemeinde

Systematisch-theologische Beiträge

Band 2

theologisch kompetent – praktisch relevant

 

 

Ich bin da für DICH!

Gedanken zur Lehre über Gottvater

von Rüdiger Halder

 

 

Herausgegeben vom Forum Theologie & Gemeinde des BFP

 

 

 

 

 

 

 

© 2023 Copyright Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

im Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden KdöR, Erzhausen

1. Auflage 2023

 

Bibelstellen sind, wenn nicht anders angegeben, der Luther Bibel 2017, © 2017 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, entnommen.

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigungen in Form von Kopieren einzelner Seiten oder Ausdrucken einzelner Abschnitte (digitale Version) sind nur für den privaten Gebrauch gestattet. Alle anderen Formen der Vervielfältigung (Mikrofilm, andere Verfahren oder die Verarbeitung durch elektronische Systeme) sind ohne schriftliche Einwilligung durch das Forum Theologie & Gemeinde nicht gestattet.

 

 

 

Umschlagbild: „Lauteraarhorn, Suisse“, Sylvain Mauroux by © unsplash.com

Layout, Umschlaggestaltung u. Realisierung E-Book: admida-Verlagsservice, Erzhausen

Druck: winterwork, Borsdorf

ISBN der Printausgabe: 978-3-942001-86-1

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-942001-40-3

Bestell-Nr. BUW047

Forum Theologie & Gemeinde (FThG)

Industriestr. 6–8, 64390 Erzhausen

[email protected] • www.forum-thg.de

 

Inhalt

Das große Geheimnis „Gott“

Teil 1 – Von der Sinnhaftigkeit eines Gottglaubens

An einen Gott glauben?

1 Ist Gott ein Hirngespinst?

2 Ich glaube an Gott, also bin ich vernünftig!

3 Gottes Allmacht und das Leid in dieser Welt sind kein Gegensatz

4 Fazit

5 Vertiefung der Theodizee-Problematik

Teil 2 – Gottes Wesen und seine Eigenschaften

Problemstellung

Ein klarer Ausgangspunkt

6 Gott, der Vater

7 Gottes Liebe, Quelle aller Existenz

8 Gottes Liebe als Quelle seiner Eigenschaften

Teil 3 – Exkurs zur Trinität Gottes

9 Die Dreieinigkeit Gottes

Bibliografie

Über den Herausgeber

 

 

Das große Geheimnis „Gott“

Kann man über Gott verbindliche Aussagen treffen?

Die Lehre über Gott – auch „Gotteslehre“ oder „Eigentliche Theologie“ genannt – ist für mich die Königsdisziplin innerhalb der Systematischen Theologie. Es geht um Gott, den Vater und Schöpfer allen Lebens. Gottes Dasein, seine Existenz, ist ohne Frage ein Geheimnis. Wenn ich über Gott etwas schreiben möchte, dann beginnt die Herausforderung bereits damit, dass ich von mir aus gar keinen Zugang zu Gott besitze. Gott ist weder objektiv und rational, geschweige denn auf methodischem Wege zu begreifen. Anders gesagt: Ich kann Gott nicht einmal annähernd unvoreingenommen und mithilfe meines Verstandes erfassen – und schon gar nicht methodisch messen. Es wäre daher wohl für die wenigsten Leser und Leserinnen eine Überraschung, wenn am Ende mehr Fragen aufgeworfen und unbeantwortet blieben, als ihnen lieb ist. Wozu also ein Buch, an dessen Ende eher das Nichtwissen deutlich überwiegen wird? Und nicht nur das: Hinzu kommt, dass auch der Blick in die einschlägige Literatur zu dem Thema nicht wirklich ermutigend ist. Gleich zu Anfang konfrontiert mich die Religionskritik mit Fragestellungen zu Erkenntnismöglichkeiten, welche schwerlich bis gar nicht zu beantworten sind!1 Somit kann ich mich schon zu Beginn der Frage kaum erwehren, inwieweit es überhaupt einen Sinn ergibt, so etwas wie eine „Lehre über Gottvater“ zu schreiben.2

Doch nicht allein aufgrund der eingeschränkten Erkenntnismöglichkeit von uns Menschen ist eine Lehre über Gottvater anspruchsvoll. Sie zu formulieren, geht zudem mit einer großen Verantwortung einher: Mit einer Gotteslehre wird automatisch ein Gottesbild entworfen, welches die Glaubenspraxis von Christen zutiefst beeinflussen kann. Wer demnach etwas über Gottvater schreiben möchte, sollte sich dieser Verantwortung bewusst sein. Ich stelle mich dieser Herausforderung!

Gäbe es auch unendlich viele Bücher über Gott, so wäre die Lehre über ihn doch niemals abgeschlossen. Weil Gott ein Geheimnis darstellt, kennt die Theologie keinen letzten Schluss und darf auch nicht zu ihrem Ende kommen. Sie ist Teil der Suche nach dem Vater. Zugegeben, nicht immer ist alles neu, was über Gott geschrieben wird, auch in diesem Buch nicht. Doch sind dahin gehende Perspektiven und Denkmöglichkeiten so zahlreich, dass es sich lohnt, bisher Dargebotenes neu zu reflektieren und durch eine zeitgemäße Sprache den heutigen Menschen verständlich zu machen. Was mich aber am meisten motiviert, ist, dass in Sachen Gotteserkenntnis schon ein Krümel an weiterer Erkenntnis genügt. Gerade weil es um das Mysterium Gottvater geht, kann selbst das Wissen von der Größe eines Samenkornes so viel bewirken wie eine ganze Bibliothek zu anderen Themen: Es ist in der Lage, ein ganzes Leben zu verändern.

Was und wie rede ich über Gott?

Insgesamt besteht die entscheidende Frage auf dem Weg zur Formulierung einer Gotteslehre nicht so sehr darin, inwieweit es möglich ist, überhaupt etwas über Gott zu schreiben. Denn legt man die Bibel als Offenbarung Gottes zugrunde, dann lüftet Gott selbst zumindest Teile von seinem Geheimnis. Wir können also wenigstens so viel von ihm erkennen, wie er uns über sich selbst mitteilt. Weitere, bedingte Erkenntnisquellen neben der Bibel (Offenbarungserkenntnis)3 sind die Schöpfung (Röm 1,20) und das menschliche Gewissen (Röm 2,15).4 Hinzu kommt, dass ich (in Abgrenzung zum Neuprotestantismus5) unter Gotteserkenntnis „Person-Erkenntnis“ verstehe. Die Bibel selbst zeugt davon, dass Gott sich in der Person Jesu Christi offenbart hat. Somit ist der christliche Gottesglaube entscheidend darauf ausgerichtet, wie Gott in der Person und im Leben Jesu von Nazareth erkennbar wird. Joest erklärt:

Darin, wie Jesus durch sein Tun, Reden und Leiden die Wirklichkeit Gottes unter den Menschen bekundet und vertreten hat, hat Gott sich aufgeschlossen als der, der in Wahrheit ist.6

So scheint es auch Paulus zu begreifen, wenn er Jesus Christus als den bezeichnet, in dem alle Weisheit und Erkenntnis verborgen sind (Kol 2,3). Damit wird mehr als nur angedeutet, dass ein wesentlicher Zugang zur Erkenntnis über Gottvater in der Beziehung zu Jesus Christus zu finden ist.7 Das Geheimnis Gott lässt sich also nicht mit Klugheit allein lüften, sei sie noch so groß. So subjektiv dies auch erscheinen mag: Gotteserkenntnis ist zuerst Begegnungserkenntnis! Gerade die Bibel legt hierüber umfassend Zeugnis ab (2Mo 3). Für mich ist sie zuerst eine Zusammenschau von verschiedenen, oft zusammenhängenden Geschichten, die Gott mit den Menschen geschrieben hat und deren Wege und Erkenntnisse darin den Weg zum Gottvater aufzeigen. Diese unzähligen Erfahrungen lehren uns, dass nicht Wissen an sich Gott bezeugt, sondern Herzen, welche durch die Erlebnisse mit ihm verändert wurden. Auf Gott zu treffen, bleibt nicht ohne Auswirkung – oder aber ich bin ihm gar nicht begegnet!

Es geht also nicht so sehr darum, ob ich etwas Sinnvolles über Gott schreiben kann. Der wesentliche Anspruch und die entscheidende Frage ist: „Wie schreibe ich über Gott?“ Die Bibel gibt hier eindeutig zu verstehen, dass am Anfang der Erkenntnis die Gottesfurcht steht (Spr 1,7). Ebenso sollte die Tatsache, dass all unsere Erkenntnis Stückwerk ist (1Kor 13), uns dahin gehend demütig machen. Die Frage nach dem „Wie?“ ist demnach eine Frage nach der Haltung – der Ruf zu Gottesfurcht und Demut8: Wie viel Gewicht verleihe ich meinen Gedanken über Gott? Bin ich mir der Verantwortung bewusst, dass meine Gedanken andere Menschen beeinflussen können? Bleibe ich darin korrekturfähig? Dienen meine Überlegungen als Inspiration und als Orientierung für die Gläubigen? Fördere ich dadurch einen mündigen Glauben? Oder: Mache ich eine Lehre zum Postulat und verlange von anderen, dieser blind zu folgen? Bevormunde ich Menschen theologisch und entmündige sie?

In der Kirchengeschichte hat Letzteres deutlich überwogen. Möglicherweise ist dies mit ein Grund dafür, warum die Theologie im 21. Jh. so gut wie keine Bedeutung mehr besitzt. Wurde dieser Bevormundung und Entmündigung durch die Kirchen bereits durch die Aufklärung in der säkularen Welt Einhalt geboten, sind auch heute immer weniger Christen gewillt, theologische Aussagen als gegeben hinzunehmen. Im sogenannten Informationszeitalter – oder innerhalb der „vierten industriellen Revolution“9, wie Precht unsere heutige Epoche benennt – kann jeder Mensch sich innerhalb kürzester Zeit über die unterschiedlichsten theologischen Ansichten (z. B. über das Thema „Gott“) informieren und sich selbst eine Meinung bilden. Doch auch wenn es heutzutage zu jeder Ansicht unendlich viele andere Meinungen gibt, auf die jeder zugreifen kann, sind auch wir nicht vor einem Absolutheitsdenken gefeit. Das liegt daran, dass Theologie nie objektiv ist, auch meine nicht! Jeder Theologe wird durch seine individuelle Biografie beeinflusst. Durch diese Prägung neigt er dazu, Sachverhalte auf eine bestimmte Weise zu betrachten, zu durchdenken und absolut zu verstehen.

Auch ich stehe also in der Gefahr, meine Ansichten als gültige Erkenntnis postulieren zu wollen. Dennoch ist es mein Bestreben, genau dies tunlichst zu vermeiden.10 Jedem theologischen Werk sollte dem­nach Gottesfurcht und Demut zugrunde liegen. Ich sollte den Ab­solutheitsanspruch Jesu („Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“) nicht auf meine reduktive theologische Erkenntnisfähigkeit übertragen. Und sollte ich es in diesem Buch an irgendeiner Stelle daran fehlen lassen, dann können Sie, liebe Leserinnen und Leser, dieses Buch getrost beiseitelegen. Es wäre die Tinte nicht wert, mit der es gedruckt wurde.

Was kann dieses Buch leisten?

Wenn Theologen11 zu einem theologischen Thema ein Fachbuch verfassen möchten, beginnen sie in der Regel als Erstes damit, zu erörtern, welche Fragestellungen dazu in der Theologieforschung relevant sind. Umgekehrt erkennen fachkundige Leser ein Buch auch nur dann gänzlich als einschlägige Literatur an, wenn es zum jeweiligen Thema die wesentlichen Fragestellungen der Kirchen-, Theologie- oder Dogmengeschichte behandelt. Dabei wird erwartet, dass der derzeitige Forschungsstand am besten bis auf internationale Ebene reflektiert wird. So schreiben Theologen in der Regel ganz oft für Theologen.

Ich möchte mit diesem Buch nicht allein bei den theoretischen Überlegungen bleiben, die in Bezug auf das Thema wichtig erscheinen, sondern die Frage nach der Relevanz auch auf den Glaubensalltag ausweiten. Sicher bewege ich mich damit nahe an der Schwelle zur „Praktischen Theologie“.

Ich möchte dazu herausfordern, dass wir uns fragen, wie die Systematische Theologie im Gemeindealltag konkret dienlich sein kann. Mag sein, dass ich damit immer Dagewesenes zu durchbrechen suche. Doch sollte die Systematische Theologie eigentlich nicht genau davon frei sein, damit sie ungehindert arbeiten kann? Mag sein! Doch verwahre ich mich gegen eine dahin gehende Ausschließlichkeit. An vielen Stellen spüre ich der Systematischen Theologie eine gewisse Selbstgefälligkeit ab. Es geht meiner Ansicht nach aber darum, über den Tellerrand zu blicken, will man als Disziplin nicht verschlossen wirken. Theologie sollte nicht dem Selbstzweck dienen oder als Spielwiese für Intellektuelle herhalten. Es muss auch erlaubt sein, zu fragen, welche Relevanz eine Fragstellung für die Glaubenspraxis tatsächlich besitzt. Erfahrungsgemäß klaffen Theorie und Gemeindealltag sichtlich auseinander – und das, obwohl beide Seiten im Grunde dasselbe tun.

Der Systematische Theologe entwirft ein Gottesbild, der einfache gläubige Christ ebenso: Der Fachmann konstruiert sein Bild über Gott auf der Grundlage tiefergehender, philosophischer Gedankengänge in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Quellen (die Bibel, christliche Tradition, nichtbiblische Quellen, Fachbücher von Kollegen usw.). Der Laie hingegen entwickelt sein Gottesbild mitunter aus seiner Erfahrung, aus wörtlich genommenen Bibelstellen, aus Predigten und populistischer Literatur. Das Gottesbild des Ersteren mag reiflich reflektiert und differenziert scheinen. Doch selbst für den gebildeten Christen bleiben diese Darlegungen vielfach unbrauchbar, weil sie zu abgehoben und kompliziert geschrieben sind.12 Andererseits wirkt das Gottesbild des Letzteren mitunter sehr einseitig und meistens wenig zu Ende gedacht. Oft passt die Person das Gottesbild ihrer jeweiligen Lebenssituation an, oder aber sie beharrt so sehr auf ihren Vorstellungen, dass sie je nach Situation (z. B. im Leid) daran zu zerbrechen droht.

Das Forum Theologie & Gemeinde hat den Anspruch, theologisch kompetent und praktisch relevant zu arbeiten. Zugegeben ist dies immer auch ein Spagat und in der Theologie und der Realität werden Theorie und Praxis oft gegeneinander ausgespielt. Andererseits ist der o. g. Zustand für mich so nicht hinnehmbar. Dieses Buch versucht dementsprechend eine Brücke zu schlagen. Es soll systematisch-theologische Gedankengänge für den gebildeten Laien so zugänglich machen, dass er den theoretischen Inhalten gut folgen und gleichzeitig einen Bezug zu seinem Glaubensalltag finden kann. Der gegenwärtige akademische Diskurs zur Gotteslehre umfasst über die klassischen Fragestellungen (z. B. die Gottesbeweise) hinaus ein breites Themenfeld.13 Ich selbst möchte daraus vor allem die Aspekte behandeln, bei denen ich der Ansicht bin, dass meine Darlegungen etwas Gewinnbringendes beitragen können – z. B. indem sie helfen, eigene Prägungen als solche wahrzunehmen, und zu einer konstruktiven Selbstkritik führen. Meine Gedanken sollen also dazu inspirieren, über das eigene, bestehende Gedankengut hinaus zu denken und das eigene Gottesbild zu reflektieren, um eventuelle Einseitigkeiten zu entlarven. Unter praktischer Relevanz verstehe ich also nicht, eine anwendbare Methodik zu liefern – wie etwa ein Programm mit dem Titel: „In zwölf Schritten Gott erkennen!“

Sie ist für mich vielmehr dann gegeben, wenn meine Darlegungen zum Beispiel dazu führen, dass Menschen in der Lage sind, mit ihren Zweifeln ganz anders umzugehen; wenn sie in Krisenzeiten eine bessere Standfestigkeit und größere geistliche Widerstandskraft entwickeln, weil ihr Gottesbild auf breiteren Füßen steht. Praktische Relevanz ist auch ganz konkret dort erfahrbar, wo Seelsorgerinnen und Seelsorger Ratsuchenden neue Perspektiven aufzeigen können, weil sie eine tiefere Erkenntnis über Gottes Wesen und Handeln gewinnen konnten. Über den Wert für die Gläubigen hinausgehend soll das Buch Christen helfen, gerade bei diesen eher schwierigen Themenfeldern nach außen hin sprachfähiger zu werden. Es lädt zu einer gedanklichen Reise zum Gottvater ein. Wie nahe Gott uns an sich herankommen lässt, entscheidet letztlich er selbst. Und doch beginnt unser Weg mit einem Versprechen, dass von Gott selbst ausgeht:

Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, […]14

Schlussendlich dreht sich alles genau um die eine Frage: Begegnet Gott selbst mir zwischen den Zeilen? Darauf habe ich keinen Einfluss. Aber ich wünsche es den Lesern und mir!

Das vorliegende Buch befasst sich mit drei klassischen Themenfeldern der Gotteslehre: Im ersten Teil geht es darum, sich den kritischen Anfragen an die Existenz Gottes zu stellen, die immer wieder an die Theologie herangetragen werden. Auch Christen in ihrem Glaubensalltag sind vor derartigen Fragen nicht gefeit und werden häufig damit konfrontiert, wenn sie mit andersdenkenden Menschen ins Gespräch kommen. Im zweiten Teil befassen wir uns mit den Eigenschaften Gottes. Die Vorstellung darüber, wie Gottes Wesen ist und wie er handelt, prägt den christlichen Glauben am meisten. Den Schluss dieses Buches bildet ein Exkurs zur Trinität Gottes.

1Beispiele sind u. a. die Fragen: Ist Gott eine Illusion? Wie passen seine Allmacht und eine leidvolle Welt zusammen? Zu Bedingungen, die eine Gottes- und Welterkenntnis ermöglichen, siehe Härle: Dogmatik, 198-235; 273-278.

2Auf die Möglichkeit einer Gotteserkenntnis werde ich im ersten Teil, Kapitel 1.2, zu den Gottesbeweisen noch näher eingehen.

3Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass mit dem Begriff „Offenbarungserkenntnis“ hier ausschließlich die Bibel gemeint ist. Jedoch kann auch prophetische Rede Offenbarungserkenntnis sein. Vor allem Härle fasst den Begriff wesentlich weiter. Vgl., Härle: 231.

4Ebenso wäre zu fragen, inwieweit hier auch der Text aus Pred 3,11 eine Rolle spielt, wonach der Mensch wohl eine Ahnung von der Ewigkeit in sich trägt. Demzufolge könnte er durchaus auf den Gedanken kommen, dass er für sein Leben einmal vor jemandem Rechenschaft ablegen muss, der größer ist als er.

5Im Neuprotestantismus (19. Jh.) wurde die Theologie durch Bibelkritik und neuere Denkansätze zunehmend liberalisiert. So wurde unter anderem die Vorstellung von einem persönlichen Gott abgeschafft. Gott war nach neuprotestantischer Vorstellung in allem und jedem zu finden (Natur-Pantheismus, Kosmos-Panentheismus).

6Joest: Dogmatik I: Die Wirklichkeit Gottes, 16.

7Das sind im Kern keine neuen Gedanken. In der Theologie spricht man hier von einer zweifachen Quelle der Gotteserkenntnis: Gotteserkenntnis in Christus und in der Schöpfung. Diese Möglichkeit der allgemeinen Gottesoffenbarung wird von der Alten Kirche (Scholastik) über den Protestantismus bis in die Gegenwart vertreten. Allerdings verwahrte sich Barth gegen die Schöpfungserkenntnis und sah Gotteserkenntnis allein in Christus als möglich an. Vgl. Joest: Dogmatik, 22.

8Demut meint hier nicht ein blindes, unterwürfiges Verhalten. Hier geht es um ein gesundes Maß an Selbsteinschätzung und eine dahin gehende Korrekturfähigkeit. Den Mut zu haben, neue Thesen und Aussagen über Gott zu treffen, bedeutet also nicht gleichzeitig mangelnde Demut.

9Precht: Jäger, Hirten, Kritiker.

10Für nähere Ausführungen zu diesem Thema und vertiefende Gedanken zu den Erkenntnismöglichkeiten im Hinblick auf Glaube, Theologie und Wissenschaft siehe Halder: Christliche Identität – formen, bewahren und sprachfähig machen.Das Buch gibt zumindest im Ansatz die hermeneutische Grundlage (Denkvoraussetzungen) für mein theologisches Arbeiten wieder.

11Selbstverständlich ist in diese Anrede die Theologin gleichermaßen mit hineingenommen.

12Ausnahmen bestätigen die Regel. So führt z. B. Weißenborn relativ verständlich in die christlichen Glaubensfragen ein. Weißenborn: Das Geheimnis der Hoffnung. Auch von Stosch lässt in seinen theologischen Gedankengängen praktische Alltagsfragen mit einfließen. Von Stosch: Einführung in die Systematische Theologie.

13So behandelt beispielsweise Sanders in seiner dahin gehenden Einführung das Themenfeld Gott und Politik, wenn er schreibt: „Wer von Gott reden will, kann dieser Ortsbestimmung zur Politik nicht ausweichen, weil Politik schlichtweg vom Machtgebrauch lebt und Gott zugleich eine Macht ist.“ Sanders: Einführung in die Gotteslehre.

14Jer 29,13-14a. Nach Luther 2017.

 

Teil 1 – Von der Sinnhaftigkeit eines Gottglaubens

 

 

An einen Gott glauben?

Ist es überhaupt sinnvoll, an einen Gott zu glauben? Sollten wir unsere Überzeugung vom Dasein Gottes mit der Aufklärung nicht schon längst als Illusion ad acta gelegt haben? Seit jeher wurde Gottes Existenz von sogenannten Religionskritikern oder von Wissenschaftlern (dazu gleich Näheres) in Zweifel gezogen. Solche Kritiker durchleuchten den Glauben philosophisch und versuchen darzulegen, dass Religion der Vernunft nicht standhalten kann.

Bestimmt würden viele Menschen – damals wie heute – gar keinen solchen rein rationalen Zugang zu Gott wählen, der allen über den Verstand hinausgehenden Phänomenen keine Berechtigung mehr einräumt. Dies gilt jedoch bei Weitem nicht für alle. Gerade im Zuge des Neu­atheis­mus (z. B. Richard Dawkins)1, gewinnt diese – wenn auch mitunter niveaulos geführte – Diskussion in der säkularen Welt längst wieder an Bedeutung. Hinzu kommt, dass die Wissenschaftsgläubigkeit unter der postmodernen Erlebnisgesellschaft nicht annähernd so sehr gelitten hat, wie in den letzten zwei Jahrzehnten noch vermutet wurde. Der Theologe Tobias Faix hat vor noch nicht allzu langer Zeit mittels einer Studie verdeutlicht, dass in den letzten Jahren viele Christen ihren Glauben u. a. aus Vernunftgründen wieder aufgegeben haben.2 Er spricht diesbezüglich von einer „[…] ,Dekonversion‘, zu Deutsch ,Entkehrung‘ […]“.3

Viele Christen, die mit wachen Augen durch die Welt gehen und mit andersgläubigen Menschen die Begegnung und das Gespräch über den Glauben suchen, kommen immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise mit drei Grundfragen oder Aussagen in Berührung. Um diese Grundfragen soll es im Folgenden gehen. Ich hoffe, dass meine dahin gehenden Gedanken inspirieren und als Veranschaulichung dienen, wie wir mit andersdenkenden Menschen auf Augenhöhe sinnvoll reden und ihnen die Wirklichkeit Gottes ein Stück näher bringen können.

Diese drei Fragen oder Aussagen lauten wie folgt:4

1. Der Religionskritiker mutmaßt: „Ist Gott möglicherweise nur ein Gedankenkonstrukt, eine Wunschvorstellung, ein Spiegel meiner Selbst?“ Hierbei werden die Motive des Gottesglaubens hinterfragt. Seiner Meinung nach sind es persönliche Wünsche und Sehnsüchte, die sich mit einem Gottesglauben verbinden oder ein bestimmter Leidensdruck, der Menschen dazu verleitet, sich einen Gott, einen Erlöser zu konstruieren.5 Und je nach veränderter Lebenslage verändere sich die Gottesvorstellung gleich mit.6 Eine andere Variante der Religionskritik ist, dass Menschen mit unterschiedlichem Glauben sich gegenseitig auf den Prüfstand stellen und erörtern: „Ist der Gott des anderen existent?“ Ich möchte diese verschiedenen Spielarten des Infragestellens mit folgender Frage zusammenfassen: Ist Gott ein Hirngespinst?

2. Der Naturalist sagt: „Unsere Lebenswelt mit all ihren Facetten und den vorhandenen Naturgesetzen lässt sich ohne Gott vernünftig erklären.“ Hier wartet der Gesprächspartner mit konsequent wissenschaftlichem Denken auf. In Fachkreisen spricht man von der „naturalistischen Antithese“. Vielfach werden hier der Glaube bzw. Gott und die Naturwissenschaft gegeneinander ausgespielt. Dieser Thematik möchte ich mit folgender These begegnen: Ich glaube an Gott, also bin ich vernünftig!

3. Der Atheist behauptet: „Einen gütigen und allmächtigen Gott kann es nicht geben, weil ein solcher Gott mit dieser unsäglich leidvollen Welt nicht vereinbar ist.“ Diese Aussage kollidiert vor allem mit dem christlichen Glauben, welcher aus neutestamentlicher Sicht einen liebenden Gottvater vertritt. In Fachkreisen werden solche Aussagen dem sogenannten „Theodizee-Problem“ zugeordnet. Die Theodizee-Problematik ist mitunter das stärkste Argument des sogenannten Protestatheismus. Dieser Aussage möchte ich mit folgender These begegnen: Gottes Allmacht und das Leid in dieser Welt sind kein Gegensatz.

1Dawkins: Der Gotteswahn.

2Faix: Warum ich nicht mehr glaube, 85.

3Ebd., 10.

4Wilfried Härle formuliert diese Fragestellungen ähnlich. Er nennt sie „Infragestellungen der Wirklichkeit Gottes: a. Illusionsverdacht b. Naturalistische Antithese c. Das Theodizee-Problem. In seinen jeweiligen Schlussfolgerungen bzw. Antworten darauf argumentiert Härle, die Kritiker würden letztlich auch keine letztliche Erklärung liefern, denn jedes dieser Argumente könne man auch umkehren. Diese Veranschaulichung Härles ist zwar klug vorgetragen, bleibt jedoch inhaltlich letztlich auch blass. Mehr als ein Remis hat er an dieser Stelle nicht zu bieten. Härle: Dogamtik, 273–278.

5Vgl. Härle: 274.

6Möglicherweise zur Überraschung vieler Mitchristen muss ich an dieser Stelle zugeben: Ich habe Mühe zu glauben, dass wir Christen davon ausgenommen sind. Bei aller Notwendigkeit der Differenzierung findet sich auch in der Religionskritik ein Körnchen Wahrheit. Zwar stellen wir nicht die Existenz Gottes an sich infrage. Doch in Bezug auf die Vorstellung darüber, wie Gott ist, scheiden sich die Geister. Infolgendessen ist es durchaus richtig, zu behaupten, dass auch Christen ihr eigenes Gottesbild konstruieren.

 

1 Ist Gott ein Hirngespinst?

Beginnen wir nun damit, uns mit der ersten Grundfrage vonseiten der Religionskritik zu befassen: Ist Gott ein Hirngespinst? Ich möchte dieser Frage mit zwei Ansätzen begegnen. Der erste Ansatz beschäftigt sich damit, inwieweit der Glaube an Gott überhaupt Sinn ergibt oder nicht. Denn wenn über die Existenz eines Gottes diskutiert werden soll, dann gebietet es die Vernunft zu erklären, wie wir Gläubigen überhaupt zu der Annahme kommen, dass es einen Gott gibt. Wir können Gott schwerlich einfach voraussetzen, er muss gedanklich irgendwo herkommen. Und sollte er uns begegnen wollen, dann brauchen wir die Fähigkeit, ihn auch als solchen zu erkennen. Gibt es also im Menschen etwas wie eine vorhandene Fähigkeit zur Gotteserkenntnis, mit deren Hilfe der Mensch Gott auf die Spur kommt? Oder sucht Gott den Menschen und es braucht gar keine vorherige Erkenntnis? Härle formuliert es ähnlich, wenn er schreibt:

Erkenntnistheoretisch stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll möglich ist, nach Gott zu fragen und zu suchen, wenn dabei nicht bereits eine (und sei es nur rudimentär) Gotteserkenntnis vorausgesetzt wird. Wie sollte ein Mensch Gott erkennen, wenn er nicht schon wüsste, wonach er sucht?1

Wie auch immer es sich genau verhält, es steht fest: Entweder findet der Mensch Gott und kann das sinnvoll erklären, oder Gott findet den Menschen und daher lassen sich sinnvolle Gedanken formen. Sollte sich aber herausstellen, dass keiner dieser beiden Wege einen Sinn ergibt, müssen wir über Gott erst gar nicht mehr reden. Um das herauszufinden, empfinde ich die Gedanken der Religionskritik durchaus hilfreich. Deshalb scheint es mir für den Anfang wichtig, ihre Kritik nicht sofort als Angriff zu werten, sondern sich zum Schärfen der eigenen Gedanken nutzbar zu machen.

Der erste Ansatz, den ich anführe, befasst sich also mit der Frage, unter welchen Bedingungen es überhaupt Sinn ergibt, an einen Gott zu glauben, und wann es einfach abwegig erscheint. Der zweite Ansatz würdigt die in der Kirchengeschichte getätigten Versuche, der Vielzahl an Glaubens- bzw. Religionskritikern mit Überlegungen entgegenzutreten, welche als sogenannte „Gottesbeweise“ in die Kirchengeschichte eingingen.2 Beginnen wir aber zunächst mit der Frage nach dem Sinn des Glaubens an sich.

1.1 Wann ergibt der Glaube an Gott Sinn und wann nicht?

Die Frage nach dem Sinn des Glaubens an einen Gott trifft meiner Ansicht nach den Nerv unserer Zeit. In vielen Diskussionen mit andersdenkenden oder andersgläubigen Menschen habe ich festgestellt, dass die Sinnfrage so gut wie jeden auf die eine oder andere Weise bewegt. Geht es darum, im Leben eine Entscheidung zu treffen, spielt die Frage, wie sinnvoll etwas ist, oft eine ganz wichtige Rolle (z. B. Wozu soll ich ein zweites Auto kaufen?). Was jedoch die Gottesfrage betrifft, stelle ich oft fest, dass sich die wenigsten Menschen Gedanken über die Sinnhaftigkeit des Glaubens machen. „Ich bin damit groß geworden!“ „Ich wurde christlich (oder religiös, muslimisch usw.) erzogen!“ „Irgendwie gehört der Glaube an Gott zum Leben dazu!“ „Irgendwas oder irgendjemand muss es ja wohl geben!“

Solche und noch viele weitere Aussagen lassen erahnen, dass Menschen den Glauben an einen Gott mit in ihrem Leben so nebenbei dazugehörend integriert haben, ohne tiefer darüber nachgedacht zu haben. Wenn ich nachfrage, ob sie mir näher erläutern können, auf was ihr Glaube gegründet ist (z. B. nicht einfach nur auf einer religiösen Erziehung, sondern auf weiterführenden, durchdachten Überzeugungen, die für die Existenz eines Gottes sprechen), dann bleibt in der Regel ein großes Fragezeichen. Doch warum sollte Glauben an einen Gott – wenn auch nur nebenbei – überhaupt einen Sinn ergeben, wenn ich noch nicht einmal geklärt habe, ob die Grundlagen dafür überhaupt gegeben sind.

Persönlich halte ich die Frage „Ergibt Glaube überhaupt Sinn, und wenn ja, weshalb?“ inzwischen für einen klugen Einstieg in Gespräche über Gott. Jedenfalls habe ich mit interessierten Menschen dahingehend gute Erfahrungen gemacht. Ich erinnere mich noch an eine ausführliche Diskussion mit einer aufgeklärten Muslimin, die als akademische Mitarbeiterin tätig ist, und einem wissenschaftlich interessierten jungen Moslem. Diese beiden Gespräche waren deshalb besonders interessant, weil wir einerseits anhand der Sinnfrage Grundsatzfragen zur Existenz Gottes im Allgemeinen diskutierten und insbesondere über die unterschiedlichen Religionen nachdachten.

Die folgenden Darlegungen geben die Zusammenfassung dieser beiden ausführlichen Gespräche und meiner Antworten wieder. Ich will versuchen, hiermit aufzuzeigen, wann Glaube Sinn ergibt und wann nicht und wo letztlich eine Antwort gefunden werden kann. Denn über den Sinn oder Unsinn von Glauben entscheidet Gott, nicht der Mensch. Dabei werden wir auch feststellen, an welcher Stelle die Religionskritik m. E. letztlich Recht hat, an welchen Punkten sie im Irrtum ist und wie man dies unterscheiden kann.

1.1.1 Wie entsteht religiöser Glaube?

Der Schlüssel zu einer Antwort im Hinblick auf die Sinnhaftigkeit des Glaubens an einen Gott liegt zunächst in der Frage nach dem Glauben selbst verborgen. Ich kann m. E. nur dann wirklich einen Sinn erkennen, wenn ich verstanden habe, woher religiöser Glaube kommt und wie Religion überhaupt entsteht bzw. entstanden ist. Nur so kann ich auch den Anfragen der Religionskritik auf Augenhöhe begegnen.

Es gibt in der Menschheitsgeschichte wohl kaum eine Gesellschaft bzw. Kultur, in der Menschen nicht eine Gottesvorstellung oder gar ein religiöses System für sich entwickelt hätten. Religion ist ein zentraler Bestandteil aller menschlichen Kulturen.3 Duffield spricht geradezu von einer „unheilbaren Religiosität“.4 Es vergeht kaum ein Tag, an dem in den Nachrichten nicht das Thema „Religion“ in irgendeiner Weise auftauchen würde. Religion ist beinahe omnipräsent und für die meisten Menschen auf der Erde lebensrelevant. Sie beschäftigt nicht nur Theologen, Soziologen oder Philosophen. Religiosität als Fähigkeit des Menschen ist inzwischen auch zum Forschungsfeld von Biologen, Neurologen und Psychologen geworden. Der Soziobiologe Edward O. Wilson spricht interessanterweise sogar von einer Anlage für einen religiösen Glauben im Menschen und mutmaßt, dieser sei möglicherweise ein unauslöschlicher Teil menschlicher Natur.5 Ich komme später noch einmal auf diesen Gedanken zurück. Wie aber entsteht nun Religion? Hierzu seien zunächst zwei säkulare Ansätze vorgestellt.

� Projektionsthese

In der Theologie wird diese Frage vor dem Hintergrund der sogenannten „funktionalen Religionskritik“6 diskutiert. Ziel einer solchen Kritik ist es, zu fragen, inwieweit einer Religion genetische Motive oder funktionale Gründe (Wozu dient der Glaube?) zugrunde liegen. Zu den bekanntesten Religionskritikern dieser Richtung gehören Feuerbach, Marx, Nietzsche sowie Freud. Der Einfachheit halber fasse ich ihre jeweilige Theorie zur Entstehung von Religion kurz zusammen:

• Sehnsucht nach Liebe, moralischer Güte und ­Verständnis (Feuerbach)

• soziales Leid und die Suche nach Gerechtigkeit (Marx)

• Schwachheit und mangelnde Selbstbestimmung (Nietzsche)

• seelische Entlastung (Freud)

Wenn die o. g. Religionskritiker auch teilweise unterschiedliche Motivationen nennen, sind sie sich doch alle in einer Sache einig: Gott ist letztlich eine Projektion menschlicher Wünsche und Ideale – die Hoffnung auf Erfüllung existenzieller Bedürfnisse. Wir werden gleich erkennen, dass die vorgetragenen Argumente auch aus biblischer Sicht durchaus ihre Berechtigung haben.

� Evolutionsforschung

In der laufenden Evolutionsforschung werden Überlegungen angestellt, inwieweit Religion zum Überleben des sogenannten Homo sapiens beiträgt. Der Kölner Zoologe Professor Wolfgang Walkowiak nennt zwei plausible Gründe für die Entstehung von Religion zur Sicherung der Existenz des Menschen. Dadurch,

dass der Homo Sapiens die Fähigkeit gewonnen hat, sehr weit in die Zukunft zu planen, erkennt er, dass sein Leben endlich ist, und das macht fürchterliche Ängste. Und wenn ich eine Möglichkeit finde, die Natur, die Physik zu überwinden durch Metaphysik, kann das sehr hilfreich sein, die eigene Lebensperspektive sehr viel positiver zu sehen. Der zweite Punkt dabei ist der gesellschaftliche Aspekt. Religion, basierend auf diesen spirituellen Erfahrungen, hat etwas Bindendes. Es hat für die soziale Gemeinschaft große Vorteile, durch Riten, durch das Glauben an ein und dasselbe höhere Wesen den Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu fördern.7

Diesen Aussagen Walkowiaks zufolge können wir kurzum „Angst im Hin­blick auf Endlichkeit“ und „Sehnsucht nach Zusammenhalt“ als Gründe zur Entstehung von Religion festhalten.

� Biblische Perspektive: geistlich-emotionale Veranlagung

Nach Darlegung von Argumenten für die Entstehung von Religion, die sich im säkularen Bereich finden, versuche ich jetzt biblische Gründe zu nennen. Es geht also darum, zu fragen, inwieweit es biblische Aussagen gibt, aus denen man in Bezug auf die Frage nach der Entstehung von Religion Schlussfolgerungen ziehen kann. Wie wir gleich sehen werden, meine ich aus der Schrift erkennen zu können, dass die Fähigkeit zur Religiosität eine Veranlagung des Menschen ist, die ihm vom Schöpfer mitgegeben wurde. Daher halte ich die oben erwähnte Annahme Wilsons, dass Religiosität ein unauslöschlicher Anteil der menschlichen Natur sein könnte, nicht für verkehrt.8

Ich nenne diese Fähigkeit jedoch „geistlich–emotionale Veranlagung“. Die Wahl des Begriffs deutet bereits an, dass ich mich damit von den Begriffen „Religion“ und „Religiosität“ abgrenzen möchte, da sich der christliche Glaube von den Glaubensentwürfen der Weltreligionen meines Erachtens in einem Punkt eklatant unterscheidet. Zu diesem Zeitpunkt ist dies aber noch nicht relevant und würde zu sehr verwirren. Es sei an dieser Stelle ebenfalls nur kurz darauf hingewiesen, dass diese Veranlagung kein Garant für den Menschen ist, letztlich zum Gott der Bibel zu finden! Wie die Menschheitsgeschichte und ihre vielfältigen Glaubensüberzeugungen zeigen, ist eher das Gegenteil der Fall. Und doch ändert dies nichts an der grundsätzlichen Veranlagung an sich.

Wie komme ich nun zu der Annahme, dass dem Menschen eine geistlich-emotionale Veranlagung innewohnt? Ich möchte diese Prämisse mit fünf Thesen untermauern, welche ich aus biblischen Aussagen abgeleitet habe. Dabei werden wir erkennen, dass den Argumenten seitens der Religionskritik und Evolutionsforschung durchaus etwas abzugewinnen ist, wenn auch ihre Denkvoraussetzungen samt Schlussfolgerungen andere sind.

� These 1: Veranlagung zur Beziehung (1Mo 1-3)

Nach meinem Verständnis ist Gott ein zutiefst auf Beziehung angelegtes Wesen, welches seit jeher selbst in Gemeinschaft lebt (Vater, Sohn und Heiliger Geist). Ich möchte gar behaupten, dass die Dreieinigkeit Gottes einen Liebeskreislauf darstellt, in dem die Liebe hin- und herfließt. Der Mensch wurde von Gott geschaffen, ihm ähnlich zu sein. Somit ist auch der Mensch ein relationales (beziehungsorientiertes) Wesen, das auf Gemeinschaft mit Gott hin angelegt ist. Er ist das Abbild Gottes und spiegelt den Schöpfer wieder. Mit der ersten Zielverfehlung des Menschen und dem darauffolgenden Zerbruch der Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater ging ein schwerer emotionaler Verlust einher, der seither sein Dasein bestimmt. Zwar kann der Mensch durch Beziehungen mit anderen Menschen sein emotionales Bedürfnis nach Gemeinschaft und Nähe stillen. Aber durch den Verlust der Nähe des Vaters entsteht ein emotionales Vakuum, das er nicht durch die Begegnung mit Seinesgleichen füllen kann – eine innere Einsamkeit. Der Mensch hat seine Heimat verloren, sein Zuhause.

In Anlehnung an den Religionskritiker Sigmund Freud kann ich dem Gedanken, dass der Mensch mit Religion seine belastete Seele zu entlasten sucht, durchaus etwas abgewinnen – wenn auch hier eine andere Begründung vertreten wird. Der plötzliche Verlust der Heimat, der Gemeinschaft, der Geborgenheit und der spürbaren Zuneigung des Vaters ist beinahe traumatisch und hinterlässt eine seelische Belastung. Somit passt auch die Sehnsucht nach Liebe, die Feuerbach als Ursache für die Hinwendung des Menschen zur Religion anführt, gut zu dem biblischen Bild. In ähnlicher Weise gilt das auch für das Argument von Professor Walkowiak, der den Wunsch des Menschen nach sozialem Zusammenhalt und das Vertreten gemeinsamer Werte als Grund für Religion nennt.

� These 2: Der Mensch besitzt eine Ahnung der Ewigkeit (Pred 3,11)

Der weise König Salomo gelangt bei seinen Überlegungen zu der Erkenntnis, dass dem Menschen die „Ahnung der Ewigkeit“ ins Herz gelegt ist. Viele Menschen haben ein Vorgefühl, dass das Dasein auf Erden nicht alles gewesen sein kann. Religionskritiker würden dies wohl auf den Wunsch nach ewigem Leben zurückführen. Ich sehe die Ewigkeit als eine Veranlagung des Menschen, im Blick nach vorne ewig zu sein. Dem kann er sich nicht entziehen. Jahwe heißt übersetzt „der Ewige“, und als der Ewige hat er uns Menschen geschaffen – für die Ewigkeit. Denn im Grunde war es für den Menschen nicht vorgesehen, einmal sterben zu müssen. Auch in Bezug auf diese Tatsache lässt sich also den Argumenten der Religionskritik durchaus etwas abgewinnen: Der Mensch versucht mit der Religion seine Sehnsucht nach einer besseren, ewigen Welt zu stillen, in der er nach dem Tod Schicksalsschläge und Leid hinter sich lassen kann.

� These 3: Die Natur spiegelt das Werk Gottes wider (Röm 1,19-20)

Paulus gibt uns im Römerbrief sinngemäß zu verstehen: Das, was man von Gott erkennen kann, ist für den Menschen deutlich sichtbar; er selbst hat es ihnen vor Augen gestellt. Seit der Erschaffung der Welt sind seine Werke ein sichtbarer Hinweis auf ihn, den unsichtbaren Gott, auf seine ewige Macht und sein göttliches Wesen. Als Geschöpfe haben wir eine sehr enge, emotionale Bindung zur restlichen Schöpfung – wir sind Teil von ihr. Die von Gott erschaffene Welt trägt die Handschrift des Schöpfers, und als vernunftbegabte Wesen sind wir in der Lage, in der Natur Gott zu erkennen. Feuerbach nennt diesen Versuch, z. B. Naturphänomene zu verstehen, als einen Grund für Religion. Auch dieser Gedanke ist vor dem Hintergrund der biblischen Aussagen durchaus nachvollziehbar.

� These 4: Dem Menschen steht das Gesetz ins Herz geschrieben (Röm 2,15)

Paulus schreibt sinngemäß: Wenn wir bei Menschen feststellen, dass sie gerecht handeln, obwohl ihnen niemand von den Geboten Gottes erzählt hat, dann beweist dieses Verhalten,

dass das, was das Gesetz fordert, ihnen in ihr Herz geschrieben steht. Das zeigt sich im Urteil ihres Gewissens und am Widerstreit von Anklagen und Rechtfertigungen in ihren Gedanken.