Die Chronik der Herzlosen - Katharina Jach - E-Book
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Die Chronik der Herzlosen E-Book

Katharina Jach

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Beschreibung

FÜNF SCHICKSALE. EINE BESTIMMUNG. Eine Gefangene, die auf Rache sinnt. Ein Dichter auf der Suche nach Ruhm und Reichtum. Ein Arbeiter, der die Stimme der Geister hört. Ein Sohn von altem Adel, der vom Tod verfolgt wird. Eine Kriegerin mit einer besonderen Aufgabe. Gemeinsam sind sie die Herzlosen und wo sie auftauchen, verbreiten sich Tod und Zerstörung. Denn der dunkle Gott Sarduk ist ihr Meister. Ihm allein verdanken sie die magischen Fähigkeiten, mit denen sie ihre Feinde in die Knie zwingen. Doch dafür mussten sie ihrem neuen Herrn zuerst ein schreckliches Opfer erbringen. »Die Chronik der Herzlosen« umfasst erstmals alle Kurzromane sowie Kurzgeschichten der Reihe in einem Band.

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ÜBER DAS BUCH

Im Auftrag ihres Herrn Sarduk durchstreifen die sogenannten »Herzlosen« die Welt von Mesembra, um sein Werk zu verrichten. Doch bevor sie zu den Geschöpfen des Dunklen Gottes wurden, mussten sie alle ein Opfer erbringen, das sie für immer veränderte.

»Die Chronik der Herzlosen« enthält erstmals alle Geschichten der Reihe in einem Band. Du kannst sie in jeder beliebigen Reihenfolge lesen.

Die Stimme der VergeltungCerise hat sich auf der Flucht vor Sklavenhändlern mit den falschen Leuten eingelassen. Jetzt sitzt sie hinter den Mauern der Festung von Firnten und kennt nur noch einen Gedanken: Sie will dem Gefängnis entkommen – koste es, was es wolle.

Die Poesie der NachtPeponna ist die Heimat der Feinen Künste. Für den jungen Dichter Chaucer ist sie auch der Ort, an dem er um sein Auskommen kämpft. Zumindest in der Liebe scheint der Glück zu haben – wenn sein Liebster nicht auch sein größter Rivale wäre.

Das Blut der SterneWie tausende andere Zharen arbeitet Xander in den Minen von Silbers Ende un fügt sich in sein tragisches Schicksal. Als dann ein Schacht einstürzt und ihn samt seines Trupps einschließt, bekommt er die Chance, sein Leben entscheidend zu verändern.

Die Zeit der AscheAls Sohn eines alten Adelsgeschlechts soll Rhennon das Erbe seines Vaters antreten. Er fühlt sich dafür allerdings noch nicht bereit. Er würde sich lieber seinen Studien widmen – während sein Bruder Lucan hinter seinem Rücken Ränke schmiedet.

Der Segen der SonneIhr Leben lang wünschte sich Elani nichts mehr, als ihrem Clan als Kriegerin zu dienen. Als ihre Mutter ihr jedoch eröffnet, dass ihr von der Göttin der Nemeia eine besondere Aufgabe zugeteilt wurde, wird ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt.

Für alle, die jeden Tag mit ihren Dämonen kämpfen und niemals aufgeben

FÜNF SCHICKSALE. EINE BESTIMMUNG.

DARK FANTASY

INHALT

Die Stimme der Vergeltung

Die Poesie der Nacht

Das Blut der Sterne

Die Zeit der Asche

Der Segen der Sonne

Danksagung

Über die Autorin

DIE STIMME DERVERGELTUNG

I

Sie konnte den Wärter selbst von der anderen Seite der Zelle aus riechen. Er stank nach Schweiß und schalem Bier und einer langen Nacht in einer verrauchten Kneipe. Die nachtblaue Weste seiner Uniform, die an den Säumen mit gelbgoldenen Bordüren abgesetzt war, wies zahlreiche Löcher auf und war an einigen Stellen bereits mehrfach geflickt worden. Das Gleiche galt für die weiten Kniebundhosen, die ihrerseits in Lederstiefeln steckten, an denen der Dreck eines ganzen Jahrhunderts zu kleben schien.

Cerise rollte sich auf die Seite und sah sich in der Zelle um. Der Raum war schmal und abgesehen von den Gitterstäben zum Korridor hin zu drei Seiten von nackten Steinwänden umgeben. Zwei Metallbetten mit flachen Strohmatten waren der einzige Luxus, den man den beiden Insassinnen zugestand. Den Nachttopf, der in einer Ecke stand, mussten sie sich hingegen teilen. Über ein schmales Fenster, das über Kopfhöhe in die Wand eingelassen war, strömte ein Hauch warmer Luft hinein. Cerise reckte den Hals und meinte durch die Öffnungen einen feinen Lichtstreifen erspähen zu können. Der erste Bote eines neuen Tages.

Ihr Blick wanderte zu der Frau, die sich die Zelle mit ihr teilte. Sie war eine Zharen, groß und muskulös, mit der typisch aschgrauen Haut und spitz zulaufenden Ohren ihres Volkes. Sie lag so steif da, als hätte man sie für eine Totenwache aufgebahrt. Ihr weißes Haar hing zu zwei Seiten über den Rand ihrer Pritsche und ihre Brust hob und senkte sich unter langen, gleichmäßigen Atemzügen.

»Psst, Cafreen«, zischte Cerise. »Bist du wach?«

Die Zharen zuckte und stieß ein unverständliches Murmeln aus. »Schlaf weiter, Ohkin«, knurrte sie und fuchtelte mit einer Hand in der Luft. Ihre Augen blieben geschlossen.

»Ich kann aber nicht schlafen.«

»Nicht mein Problem.« Und damit rollte sie sich auf die andere Seite, mit dem Gesicht zur Wand.

Cerise unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf. Sie konnte einfach nicht aufhören, darüber nachzudenken, was an diesem Tag passieren würde.

Erinnerungen an ihre Ankunft in der Festung fluteten ihren Geist. Das Knirschen der schweren Tore, als der Gefangenentransport in den Innenhof einfuhr. Die grimmigen Wachleute, die sie von Kopf bis Fuß gemustert hatten. Der Schreiberling, der ihren Namen und ihre Geschichte mit einem Ausdruck der Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen und niedergeschrieben hatte. All das hatte sie mit einem kalten Entsetzen erfüllt, das sie einfach nicht loslassen wollte. Nachdem sich die Zellentür hinter ihr geschlossen hatte, hatte Cerise solange geschrien und an den Gitterstäben gerüttelt, bis sie entkräftet auf dem Boden zusammengesunken war. »Lasst mich raus. Ich bin unschuldig! Lasst mich raus!«

Alles wird gut werden, sagte sie sich und hoffte vergebens darauf, dass ihr Herz aufhörte, wie verrückt gegen ihren Brustkorb zu schlagen. Wenn der Richter deine Geschichte gehört hat, wird er verstehen, dass das alles ein riesiges Missverständnis ist.

Letzten Endes blieb ihr ohnehin nicht viel mehr übrig, als zu warten. Also zeichnete sie mit ihren Blicken die Umrisse der Schimmelflecken nach, die sich auf dem kalten Stein an der Decke gebildet hatten, und spürte, wie Müdigkeit an ihr zu nagen begann.

»Du!«, bellte eine Wache und klapperte mit dem Schlagstock gegen die Gitterstäbe. »Aufstehen!«

»W-was?«, keuchte sie benommen und rappelte sich auf. Für einen Moment raubte Schwindel ihr die Sicht. Der Raum drehte sich um sie, gebadet in das gleißende Licht des Morgens.

Verdammter Mist. Sie musste eingeschlafen sein und fühlte sich nun erschöpfter als zuvor. Das war gar nicht gut. Wenn sie einen guten Eindruck auf den Richter machen wollte, musste sie hellwach und auf der Hut sein.

Schwere Schlüssel drehten sich im Zellenschloss und die Tür schwang mit einem metallenen Quietschen auf.

»Richter Uron will dich sehen«, blaffte der Wärter. Erst jetzt bemerkte Cerise, dass es ein anderer Mann war als jener, der in der Nacht vor ihrer Zelle Wache gehalten hatte.

»Darf ich mich noch frischmachen?«, fragte Cerise, während sie die Beine über die Bettkante schwang. Ihr blondes Haar war matt und verfilzt und der Staub von mindestens einer Woche hatte sich als Kruste auf ihrer Haut abgesetzt.

»Wozu? Damit der Richter deinem unwiderstehlichen Charme erliegt?« Der Wachmann lachte über seinen eigenen Witz. »Los jetzt. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ihre Aufregung verdichtete sich zu einem Klumpen in ihrer Magengrube. Am liebsten hätte sie sich übergeben, doch diese Blöße würde sie sich nicht geben. Es war schlimm genug zu wissen, dass sie wie eine dahergelaufene Vogelscheuche aussah, verdreckt und halb verhungert. Sie musste nicht auch noch den letzten Rest ihrer Würde verlieren.

Sie strich sich die fettigen Strähnen aus dem Gesicht und versuchte, sie zu etwas Ähnlichem wie einer Frisur zu ordnen. Dann straffte sie die Schultern, hob das Kinn und trat auf den Gang vor der Zelle, als beträte sie einen Speisesaal voller Gäste, die auf ihre Ankunft warteten.

Die Wache band ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und stieß sie vorwärts. »Bringen wir es hinter uns.«

Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Cafreen sich in ihrem Bett aufsetzte und ihr nachblickte.

»Viel Glück, Ohkin«, rief sie. »Du wirst es brauchen.«

* * *

Der Saal, in den man Cerise führte, unterschied sich in fast allen Belangen von den Teilen der Festung, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatte. Während die meisten Räume in Firnten gedrungen, karg und dunkel waren, nahm sich der Verhörsaal im Gegensatz geradezu großzügig aus. Er war annähernd quadratisch und zu drei Seiten mit Sitzreihen umschlossen, die zum Mittelpunkt des Raums abfielen, wo sich ein einzelnes hölzernes Podest befand. Aus Fenstern, die hoch in der Steinwand eingelassen war, strömte goldenes Morgenlicht. Unter anderen Umständen hätte der Saal vielleicht sogar einladend auf sie gewirkt.

»Rauf da«, sagte der Wärter und schubste Cerise in Richtung Saalmitte.

Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. Er hatte keinen Grund, so rüpelhaft mit ihr umzuspringen. Andererseits wusste sie besser als die meisten, dass die Menschen keine Gründe brauchten, um grauenhafte Dinge zu tun.

Cerise stieg auf das Podest, die Hände noch immer hinter dem Rücken gefesselt, und ließ ihren Blick über die Sitzreihen wandern. Obwohl der Raum leer war, fühlte sie sich allein, ausgeliefert. Wie ein seltenes Exponat in einer Ausstellung, dessen einziger Zweck es war, von anderen begafft zu werden.

Am oberen Absatz der Sitzreihen, gegenüber von Cerise und dem Wärter, schwang eine Tür auf und Direktorin Peirol betrat den Raum. Obwohl Cerise der Frau bisher noch nie persönlich begegnet war, eilte ihr Ruf ihr voraus. Die anderen Gefangenen hatten sie als verbittert und erbarmungslos beschrieben, mit einem Gesicht, das Wein in Essig verwandeln konnte. Selbst die Wachen senkten die Stimmen, wenn sie über Peirol sprachen.

Die Direktorin trug eine Ledermappe unter dem Arm und hatte ihr graues Haar an diesem Tag streng nach hinten gebunden, wodurch die tiefen Linien, die sich mit den Jahren in die Haut um ihren Mund gegraben hatten, noch stärker hervortraten. Sie wurde von einem jungen Mann begleitet, der einen Stoß Pergamente und einige Schreibutensilien unterm Arm trug. Ihr Schreiber, wie Cerise erkannte. Anders als Peirol hatte sie ihn tatsächlich schon einmal getroffen. Bei ihrer Ankunft hatte er ihre Personalien aufgenommen und dabei einen Ausdruck distanzierter Geschäftsmäßigkeit gewahrt, als wäre sie gewöhnliche Ware, die vor der Lagerung inspiziert werden musste.

Cerise hatte ihn vom ersten Augenblick an verabscheut.

Nach Peirol und ihrem Schreiber trat ein weiterer Mann in den Raum, dessen Anblick Cerise einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Wie die Direktorin strahlte auch er eine unbeugsame Autorität aus, doch ihm fehlte der verkniffene Zug um die Mundwinkel herum. Er wirkte wie ein Mann, der sich seiner Macht nur allzu bewusst war und sie in vollen Zügen genoss.

Die drei stiegen die Stufen zwischen den Sitzreihen hinab und sprachen dabei leise miteinander. Unten angekommen hustete der Richter ausgiebig und zwängte sich anschließend auf einen der Stühle in der ersten Reihe. Die Direktorin setzte sich neben ihn und legte ihm die schwere Ledermappe vor.

»Nun«, brummte er und zog die Mappe zu sich heran. Die darin enthaltenen Papiere knisterten leise, als er sie umblätterte. »Wen haben wir hier?«

Während Uron die Unterlagen studierte, hatte Peirols Schreiber einen Platz in der zweiten Reihe gefunden und seine Arbeitsutensilien um sich herum ausgebreitet. Die Spitze seiner Feder brachte das kleine Tintenfass zum Klingen, als er den Gänsekiel in die dunkle Flüssigkeit tauchte und die Spitze am Rand des Glases abklopfte.

Der Richter räusperte sich und begann zu sprechen. »Hiermit eröffne ich das Verfahren der Republik Pourponien gegen Cerise Malory. Den Vorsitz führt der Ehrwürdige Richter Mahor Uron im Auftrag des Obersten Strafgerichts. Zeugin der Anhörung ist Direktorin Engrid Peirol. Protokolliert wird die Anhörung von Finjas Foules.«

Die Feder des Schreibers kratzte hastig übers Pergament.

Cerise hielt den Atem an und versuchte, sich an das Wenige zu erinnern, das sie über die Rechtsprechung in der Republik wusste. Das Oberste Strafgericht war einer der drei großen Gerichtshöfe und befasste sich mit allen Straftaten, von einfachem Diebstahl bis zu blutigem Mord. Den Angehörigen dieses Gerichts oblag die Pflicht, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten, wodurch sie unschätzbares Ansehen unter den Bürgerinnen und Bürgern der Republik genossen. Sie galten allgemein als unparteiisch und unbestechlich. Ob dies auch für die Verurteilung einer Fremden wie ihr galt, würde sie nun herausfinden.

»Wer wird die Verteidigung übernehmen?«, fragte der Richter.

Cerise hob das Kinn und versuchte, selbstsicherer zu klingen, als sie sich fühlte. »Niemand, Euer Exzellenz. Ich verteidige mich selbst.«

»Euer Ehren.«

»Wie bitte?«

»Es heißt Euer Ehren«, wiederholte der Richter und schlug dabei einen Ton an, als spräche er mit einem kleinen Kind. »Euer Exzellenz ist eine veraltete Anrede für den Kaiser und die Mitglieder seiner Familie. Ich hätte vermutet, dass ein Mädchen aus den Grafschaften derlei wüsste. Die alte Etikette wird dort doch weiterhin hochgehalten oder etwa nicht?«

Cerise biss sich auf die Zunge. Sicherlich, es gab viele Leute in den Grafschaften, die auch vierzig Jahre nach dem Zerfall des Kaiserreichs an den alten Wegen festhielten und sich den Glanz vergangener Tage herbeisehnten. Sie hingegen hatte sich gerade genug Manieren angeeignet, um im Haushalt von Graf Silthus nicht aufzufallen. Die Verehrung eines toten Monarchen hatte ihr ohnehin nicht viel Glück gebracht. Wenn überhaupt war dieser blinde Gehorsam der eigentliche Grund für die Misere, die sie ihr Leben nannte. Die Adeligen mochten Loblieder auf ihn singen und ihre Macht daraus ableiten, doch wenn es nach ihr ging, konnte ihr der Kaiser und sein verlorenes Reich gestohlen bleiben.

All das konnte sie dem Richter allerdings nicht sagen. Es war von größter Wichtigkeit, dass der Mann ihr gewogen blieb. Daher schlug sie die Augen nieder und sagte nur: »Bitte verzeiht mir, Euer Ehren. Es war ein Versehen.«

Der Richter befeuchtete den Zeigefinger mit der Zunge und schlug die nächste Seite in der Mappe auf.

»Cerise Malory«, las er. »Ihr seid angeklagt, widerrechtlich in das Hoheitsgebiet der Republik eingereist zu sein. Ferner wird Euch vorgeworfen, Beihilfe zu einem Raubüberfall auf die örtliche Niederlassung der Republikanischen Bank in Aventin geleistet zu haben. Zudem sollt Ihr Euch einer kriminellen Vereinigung angeschlossen haben, in der Absicht, weitere Straftaten zu begehen.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause. »Möchtet Ihr Euch zu diesen Vorwürfen äußern?«

»Ja, Euer Ehren«, sagte Cerise. »Ich will nicht abstreiten, dass ich ohne gültige Papiere aus dem Norden nach Pourponien gekommen bin, doch ich tat es, weil mir keine andere Wahl blieb. Ich bin aus meiner Heimat geflohen, um in der Republik Schutz zu suchen. Es war nie meine Absicht, gegen geltende Gesetze zu verstoßen.«

»Aha.« Der Richter betrachtete eines der Pergamente in der Ledermappe. »Wie kommt es dann, dass Ihr Euch mit der Frau namens Sara Caelian zusammengetan habt?«

»Ich habe aus der Not heraus gehandelt, Euer Ehren«, erwiderte Cerise rasch. »Sie sagte, sie würde mir helfen und ich dachte mir nichts Böses dabei. Sie bot mir Schutz und die Sicherheit, als ich sie am dringendsten brauchte, und ich war verzweifelt genug, mich darauf einzulassen. Und am Ende hat sie mich genauso hinters Licht geführt wie alle anderen auch.«

Peirol gab ein ungläubiges Schnauben von sich. »Glaubst du allen Ernstes, du wärst die erste arme Seele, die behauptet, sie trüge keine Schuld an den Verbrechen, die sie verübt hat?«, rief sie und versprühte Gift und Galle mit jeder Silbe. »Dass sie bloß das Opfer ist?«

»Aber es ist wahr!«, widersprach Cerise.

»In Ordnung«, sagte der Richter und lehnte sich zurück, die Hände vor sich auf dem Tisch gefaltet. »Dann unterhaltet uns mit Eurer Version der Geschichte.«

Cerise holte tief Luft. Da war der Moment, auf den sie seit ihrer Ankunft hier gewartet hatte. Der Moment, den sie in der vergangenen Nacht tausendfach in ihren Gedanken durchgespielt hatte.

»Als ich in Aventin ankam, versuchte ich als Allererstes eine Unterkunft zu finden«, erzählte sie. »Aber ohne Papiere, mit denen ich mich hätte ausweisen können, wurde ich überall abgewiesen. Also ging ich tagelang von Haus zu Haus und bat die Leute um etwas zu Essen, Geld oder ein Dach über dem Kopf. Niemand wollte mir helfen. Ich war schon kurz davor, alle Hoffnung aufgeben, als eine Frau auf mich zukam.« Cerise schluckte schwer und versuchte, die Bitterkeit aus ihrer Stimme zu verbannen. »Sara fand mich auf dem Hof hinter der Rote Färse, einem Gasthaus beim Pferdemarkt, und hörte sich meine Geschichte an. Danach versprach sie, mir zu helfen und mich vor den Leuten zu beschützen, vor denen ich auf der Flucht war.«

Der Richter runzelte die Stirn. »Vor wem seid Ihr geflohen, dass Ihr so dringend nach Schutz suchen musstet?«

»Wie Euer Ehren den Unterlagen entnehmen können, wurde ich in der Grafschaft Belind geboren«, erklärte Cerise. »Ich kam als Kind in den Haushalt von Graf Silthus und war viele Jahre bei ihm angestellt. Ich kenne jeden, der ihm in den letzten zwölf Jahren gedient hat, ebenso wie alle Männer und Frauen von Edlem Blut, die er in seinem Haus willkommen hieß.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Letzten Sommer teilte der Graf uns mit, dass er einen besonderen Gast erwarte, und wollte ein Bankett für ihn veranstalten. Immer wieder sprach er davon, wie wichtig dieser Besuch für den Erfolg seiner Geschäfte sei. Also brachten wir das feinste Essen auf den Tisch. Wir glaubten, dass es sich bei dem Besucher um ein Mitglied eines Hohen Hauses handeln musste, mit dem unser Herr ein Bündnis schmieden wollte. Doch der Mann, der am Mittsommerabend eintraf, war kein Adeliger. Nicht mal ein Edelmann.«

Für einen Moment schloss sie die Augen und rief sich die Bilder jenes Abends wieder ins Gedächtnis: Graf Silthus, ein Ebenbild des Reichtums und der Eleganz, und neben ihm an der Abendtafel der Mann, der ihr Leben ruiniert hatte.

»Der Name des Mannes ist Parros Pantas«, sagte sie mit Grabesstimme. »Euer Ehren haben sicher schon von ihm gehört.«

Zufrieden stellte sie fest, wie sich Urons Gesicht verhärtete. Selbst die Direktorin richtete sich bei der Erwähnung des Namens in ihrem Sitz auf.

In der Tat gab es nur wenige Männer, die einen so großen Schatten warfen wie Parros Pantas. Er selbst hätte sich wohl als Geschäftsmann bezeichnet. Allerdings handelte er nicht mit Waren oder Dienstleistungen. Er kaufte Menschen und verfrachtete sie auf Schiffe, damit sie in den entferntesten Winkeln der Welt für ihn arbeiteten. In den Grafschaften mochte man dies dulden – oft war der Verkauf eines Arbeitskontrakts die einzige Möglichkeit, überflüssiges Personal loszuwerden –, doch in der Republik verstieß Pantas mit seinem Handeln gegen geltendes Gesetz. Selbst Cerise wusste das. Und ganz gleich, wie oft sich jemand versuchte, Pantas endlich dingfest zu machen, der Mann verschwand stets in der Dunkelheit. Neben ihm nahm sich eine Kleinkriminelle wie Sara Caelian wie eine gemeine Beutelschneiderin aus.

Der Richter rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her. »Seid Ihr Euch sicher?«, fragte er ungläubig.

»Ja. Ich erkannte ihn an dem Feuermal an seinem Hals«, sagte Cerise und reckte unwillkürlich das Kinn. »Als ich es sah, erinnerte ich mich an all die grausamen Geschichten, die man sich über diesen Mann erzählt.«

Der Richter warf Peirol neben sich einen vielsagenden Blick zu. »Und warum seid Ihr vor diesem Mann geflohen?«, fragte er wieder an Cerise gewandt.

»Ich gehörte zu den Bediensteten, die dem Grafen und seinem Gast aufwarteten«, erklärte Cerise, doch diesmal blieben ihr die Worte beinahe im Hals stecken. Dies war der Teil der Geschichte, vor der ihr am meisten graute.

Es muss sein, dachte sie und fuhr fort.

»Ich weiß nicht, wie ich seine Aufmerksamkeit auf mich zog, doch ich tat es. Er machte mir Komplimente und suchte den ganzen Abend über Vorwände, um mich zu berühren. Noch beim Abendessen unterbreitete er meinem Herrn ein Angebot. Er wollte ihm den Dienstvertrag abkaufen, der mich seit meiner Jugend an das Haus des Grafen band. Der Graf zögerte nicht lange und stimmte zu. Pantas ließ mir Zeit bis zum Morgen, um meine Sachen zu packen, dann verließen wir Belind mit einer berittenen Truppe, die uns auf der Reise begleitete. Wir machten nahe der Grenze Halt und schlugen ein Lager auf. In jener Nacht …« Cerise holte tief Luft. »Nun, mein Vertrag war nicht der einzige, den Pantas gekauft hatte. Im Lager gab es Dutzende Frauen und Männer, deren Dienstverträge er in Narbo erworben hatte. Reiche Beute, wie seine Söldner sagten. Sie behandelten die jungen Mädchen nicht besonders gut. Über eine machten sie besonders üble Witze und begannen, sie herumzuschubsen, bis Pantas sich persönlich einmischte. Dadurch waren sie alle in einen solchen Streit verwickelt, dass es niemandem auffiel, als ich meine Hände frei bekam. Ich weiß selbst nicht mehr, wie mir das gelungen ist. Ich weiß nur, dass ich floh, solange niemand auf mich achtete. Ich war mir sicher, dass Pantas und seine Leute früher oder später nach mir suchen würden, und ich wusste, dass ich etwas brauchen würde, um mich zu verteidigen. Weil die Grenze nahe war, machte ich mich auf den Weg dorthin. Ich rannte und rannte, bis Aventin am Horizont auftauchte. Ich betrat die Stadt und suchte nach Hilfe, um mich vor Pantas schützen zu können, sollte er in Aventin auftauchen. Was dann geschah, wisst Ihr ja bereits. Und nun bin ich hier.«

Schweigen erfüllte den Raum. Das Blut rauschte Cerise derart in den Ohren, dass es selbst das eilige Geschreibsel des Sekretärs übertönte.

Der Richter erhob sich von seinem Platz, klemmte sich die Ledermappe unter den Arm und kam langsam auf sie zu. Die Amtsrobe aus dunkelblauem Samt bauschte sich um ihn wie eine Sturmwolke.

»Vielen Dank für diese anrührende Geschichte. Das war wirklich äußerst … interessant«, erklärte er, doch sein Tonfall strafte seine Worte Lügen. »Allerdings komme ich nicht umhin, dass Ihr ein wesentliches Detail in Eurer Geschichte ausgelassen habt. Nehmen wir einmal an, dass es stimmt, was Ihr über Parros Pantas gesagt habt – denn mehr können wir nicht, da uns die Beweise für Eure Behauptungen fehlen –, und Ihr seid als Geflüchtete in dieses Land gekommen. Wieso habt Ihr zugestimmt, Caelians Bande beim Überfall auf die Bank von Aventin zu helfen?«

Cerise biss sich auf die Lippe. »Jeder Mensch, der einem anderen Schutz bietet, verlangt einen Preis. Das war Saras: Ein kleines Ablenkungsmanöver, damit die Wachen im richtigen Moment in die falsche Richtung blickten. Mehr nicht. Ich war nie direkt am Überfall auf die Bank beteiligt.«

»Und doch habt Ihr davon gewusst«, sagte Uron und musterte sie von Kopf bis Fuß. »Mehr noch, Ihr habt bereitwillig dabei geholfen und Euch anschließend mit ihrer Bande getroffen, um Euch Euren Anteil an der Beute zu sichern. War es nicht so?«

»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«, schnappte Cerise. »Allein hätte ich gegen Pantas und seine Leute keine Chance gehabt. Ich brauchte Geld, Verbündete! Es wäre ungerecht –«

Der Blick des Richters wurde hart. »Es gibt andere Wege, um in diesem Land Schutz zu finden. Wir sind schließlich keine Unmenschen.« Er deutete mit dem Finger auf Cerise. »Ihr hingegen habt Euch allzu bereitwillig jenem Gesindel zugewandt, das zu hassen Ihr vorgebt. Parros Pantas mag ein Schurke allererster Güte sein, aber Eure Verbündeten, wie Ihr sie nennt, haben das Potential, zu einer ebenso großen Gefahr für die allgemeine Ordnung zu werden. Der Überfall in Aventin ist dafür Beweis genug. Selbst wenn Ihr aus Not gehandelt habt, könnt Ihr diese Wahrheit nicht verleugnen. Im Gegenteil. Ihr habt Euch trotz dieses Wissens entschieden, gegen das Gesetz zu verstoßen.«

Cerise sank das Herz. »Aber …«

»Es ist natürlich äußerst unglücklich, dass nur Ihr und nicht auch der Rest der Bande an jenem Tag gefasst wurdet«, fuhr der Richter fort und sah ein weiteres Mal auf die Ledermappe hinab. »Dem Bericht zufolge fand man Euch bewusstlos in jenem Unterschlupf, in dem sich die Bande nach der Tat versteckt halten wollte. Offenbar nutzen Caelian und ihre Leute Eure Verhaftung, um den Wachen zu entgehen und unterzutauchen. So gesehen seid Ihr ein Opfer der Umstände, aber …« Er machte eine scharfe Bewegung mit der Hand, als Cerise erneut zum Sprechen ansetzte, und schnitt ihr damit das Wort ab. »Die Tatsache bleibt bestehen, dass Ihr Caelian willentlich geholfen habt. Daher glaube ich, dass Ihr in Firnten vorerst gut aufgehoben seid. Euer Aufenthalt wird Euch Gelegenheit geben, Euch darüber klar zu werden, was Ihr getan habt. Vielleicht versteht Ihr dann eines Tages, was wahre Rechtschaffenheit bedeutet.«

Cerise schnappte nach Luft. Verzweiflung stieg in ihr auf, raubte ihr die Sicht. Ihre Beine fühlten sich mit einmal weich wie geronnene Butter an. »Das kann nicht Euer Ernst sein!«

Der Richter beachtete sie nicht. »Wir sind hier fertig«, sagte er zu Peirol.

Die Direktorin nickte. »Zurück in die Zelle mit ihr«, befahl sie dem Wärter. Ihr Gesicht war von einem grimmigen Lachen halb entstellt.

»Das könnt Ihr nicht tun!«, rief Cerise, als der Wachmann am Hemdkragen packte und sie von dem Podest herunterzog. »Bitte, das könnt Ihr nicht machen!«

Niemand rührte einen Finger, als der Wärter Cerise aus dem Saal zerrte.

II

Der Speisesaal von Firnten war von hungrigem Schweigen erfüllt. Mit gesenkten Köpfen hingen die Gefangenen über ihren Teller und schlangen gierig eine Mahlzeit aus Brot, grauem Haferschleim und gekochten Eiern hinunter. Auch Cafreen aß mit großem Appetit. Nur Cerise rührte ihr Essen nicht an. Nachdem sie eine Weile trübsinnig in den Haferschleim gestarrt hatte, schob sie ihn von sich und stemmte den Kopf auf eine Hand.

Cafreen schluckte den letzten Bissen ihres altbackenen Brots herunter. »Isst du das nicht mehr?«, fragte sie und deutete auf Cerises Abendessen.

Kommentarlos schob Cerise ihr das Essen hin. Ihr war der Appetit gründlich vergangen. »Das ist nicht richtig«, sagte sie leise und raufte sich die Haare. »Ich habe es nicht verdient, hier zu sein!«

»Ich habe dir gesagt, dass diese Leute dir nicht zuhören werden«, meinte Cafreen und tunkte ein Stück Brot in den Haferschleim. »Haben sie dich erst einmal eingesperrt, interessiert es kein Schwein mehr, wer du bist oder was du getan hast.«

So hart Cafreens Worte klangen, Cerise musste zugeben, dass sie nicht Unrecht hatte. Sie hatte alles gesagt, was sie hatte sagen wollen und dabei jedes Wort mit Bedacht gewählt. Dennoch hatte Uron sie verurteilt, ohne mit der Wimper zu zucken. Trotzdem ging ihr diese eine Frage nicht aus dem Kopf: Was war schiefgelaufen?

Seit ihrer Kindheit hatten die Geschichten, die man sich in Belind über den »freien Süden« erzählte, ihren Kopf mit wilden Ideen gefüllt. Cerise hatte sich die Republik als ein Land der Freiheit und Selbstbestimmung ausgemalt. Ein Land, in dem Güte, Gnade und Großzügigkeiten als Tugenden gehandelt wurden. Ein Land, in dem alle so sein konnten, wie sie sein wollten, unabhängig von Herkunft oder gesellschaftlichem Stand. Wie sich zeigte, waren die Geschichten nichts weiter als die Hirngespinste eines Mädchens. Eines kleinen, dummen Mädchens …

»Es gibt andere Wege, um in diesem Land Schutz zu finden«, hatte Uron zu ihr gesagt. Tatsache war jedoch, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, ihr zu helfen, nachdem sie in Aventin angekommen war. Was hätte sie sonst tun können? Sich verkaufen? In diesem Falle hätte sie auch in Pantas’ Obhut bleiben können.

Obwohl der Richter eingesehen hatte, dass Cerise nur ein Opfer der Umstände gewesen war, spendete ihr der Gedanke nur wenig Trost. Vielleicht mochte man in der Republik die Güte und Großzügigkeit in Ehren halten, doch offenbar überlegte man sehr genau, wem diese Dinge zuteilwerden durften. Zudem war Saras Verrat noch frisch in ihrem Gedächtnis. Der Gedanke daran schmerzte beinahe so sehr wie die Erinnerung an Graf Silthus, der sie ohne Zögern verkauft hatte wie ein ungeliebtes Möbelstück.

Sie konnte noch immer die Panik spüren, die sie empfunden hatte, als die Stadtwache von Aventin das Haus umstellt hatte, in dem sich die Bande nach dem Banküberfall verschanzt hatte. »Sie sind hier!«, hatte Cerise gerufen, während Sara gerade dabei gewesen war, ihre Beute in Augenschein zu nehmen. Die ältere Frau hatte das Gold und die Münzen in einen Sack gesteckt, einem ihrer Kumpane zugeworfen und sich mit einem Lächeln an Cerise gewandt. »Tja, das ist wirklich schade, Täubchen«, hatte sie gesagt und ihr liebevoll die Schulter getätschelt. »Nimm’s mir nicht übel, in Ordnung?«

Einen Augenblick später hatte sie Cerise einen derartig üblen Schlag verpasst, dass diese sofort das Bewusstsein verloren hatte und erst wieder aufgewacht war, als die Wachen sie auf den Karren geladen hatten, der sie nach Firnten bringen würde.

Das darf doch alles nicht wahr sein, dachte sie und strich sich übers Haar. Was für ein Albtraum!

Teilnahmslos sah sie dabei zu, wie Cafreen sich den restlichen Haferschleim schmecken ließ. Die Zharen schaufelte das Zeug so gierig in sich hinein, als handelte es sich dabei um eine Delikatesse. Kleine Brocken aus Brei und Brotkrümeln blieben an ihren Mundwinkeln hängen.

Cerise strich sich die Tränen aus den Augen. Sie wurde aus Cafreen einfach nicht schlau. Seit man Cerise zu ihr in die Zelle gesteckt hatte, hatte sie kaum mehr als eine Handvoll Sätze mit ihr gewechselt. Trotzdem war sie immer in der Nähe, wohin sie auch ging, als wäre sie ihr Schatten.

»Schöne Tätowierung«, bemerkte Cerise, hauptsächlich um sich von ihrem eigenen Elend abzulenken, und betrachtete die weißen Linien auf Cafreens Arm. Sie reichten ihr von den Schultern bis zu den Händen und bildeten die Form zweier Speere, die sich scharf gegen die aschfarbene Haut der Zharen abhoben.

Cafreen hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts.

Einer der Wärter schlug eine Glocke und die versammelten Männer und Frauen erhoben sich. Sie warfen das schmutzige Geschirr in die Kisten, die man zu diesem Zweck in der Mitte des Raumes bereitgestellt hatte, und reihten sich entlang der Wände des Speisesaals auf, die Frauen auf der einen, die Männer auf der anderen Seite. Es war ein zähes Schauspiel, da sie alle von den Wachen gründlich durchsucht wurden, um sicherzugehen, dass niemand eine Gabel oder ein Messer unter der Kleidung verbarg. Cerise ließ es über sich ergehen und stellte sich anschließend in die Reihe.

»Die Frauen mit mir«, rief eine Wärterin mit Bürstenhaarschnitt schließlich und blies in eine kleine Pfeife, die an einer Schnur um ihren Hals hing. Auf ihr Signal drehten sich die Frauen nach links und folgten der Wärterin und ihrem Wachtrupp aus dem Speisesaal. Im Gänsemarsch schlichen sie durch die engen Gänge der Festung und erreichten einen großen Waschraum, in dem sechs Badezuber bereitstanden. Sofort stürzten die Frauen los und schöpften mit bloßen Händen Wasser auf ihre schmutzigen Körper. Sie lachten und tratschten, während sie sich die Kleider abstreiften und sich von Kopf bis Fuß wuschen.

Cerise schlang die Arme um den Körper und tapste zu einem der Badezuber hinüber. Sie musste sich zwischen zwei Frauen hindurchzwängen, um die Hand ins Wasser tauchen zu können. Es war so kalt wie der Winter. Den anderen Gefangenen schien dies nichts auszumachen. Im Gegenteil, sie wirkten so ausgelassen wie kleine Kinder auf einem Jahrmarkt. Hielten sie das alles für ein Spiel?

Da fiel ihr auf, dass die anderen Frauen meist in kleinen Gruppen zusammenstanden und sehr vertraut miteinander sprachen. Unter dem höflichen Geplänkel konnte sie allerdings einen Hauch von Feindseligkeit wahrnehmen. Immer wieder warfen sich Frauen der unterschiedlichen Gruppen böse Blicke zu oder lästerten ausgiebig über andere Personen im Raum. Nur eine blieb unbehelligt: Cafreen. Die Frauen huschten zur Seite, wenn sie sich einem der Badezuber näherte und ihr Haar kopfüber unter Wasser tauchte, und beobachten sie argwöhnisch.

»Du solltest dich waschen, Kleines«, sagte eine ältere Frau, die neben Cerise stand und sie neugierig beobachtete. »Gibt sonst erst in einer Woche wieder die Gelegenheit dazu.«

Cerise sah die Frau an. Ihr fehlten die Schneidezähne und ihre runzlige weiße Haut war von zahlreichen Altersflecken überzogen. Ihr Haar mochte früher einmal blond gewesen sein, doch es war so dünn, dass es wie eine graue Wolke wirkte, die um ihre Schultern tanzte.

»Vielleicht mag sie es ja, wie ein Haufen Pferdemist zu riechen!«, rief eine andere Frau, die einige Armlängen entfernt stand und einer Kameradin das Haar flocht. Die Menge um sie herum brach in hämisches Gelächter aus.

»Was macht das schon für einen Unterschied?«, fragte Cerise und gab dann nach. Sie hatte sich so sehr gewünscht, wieder sauber zu sein. Ein bisschen kaltes Wasser würde sie nicht davon abhalten. Vorsichtig streifte sie die Kleidung ab und tauchte beide Hände in den Badezuber. Den Kopf weit vorgebeugt, träufelte sie das Wasser über ihr langes Haar und spürte eisige Tropfen ihren Hals hinabrinnen. Mit einem Stück Seife versuchte sie, den hartnäckigen Schmutz herauszuwaschen.

Die Frau mit der Zahnlücke beugte sich zu ihr hinunter. Ihr Atem strich Cerise über die nackte Schulter und trug den Geruch von Fäulnis mit sich.

»Kann ich dich was fragen, Kleines?«

»Wenn es sein muss.«

»Stimmt’s, dass du beim Abendessen mit der Zharen geredet hast?«, sagte die Alte mit verschwörerischer Miene.

»Ja, und?«

Die ältere Frau zuckte mit den Achseln. »Nichts ›und‹. Is’ nur ungewöhnlich. Hab sie noch nie mit jemandem reden sehen. Bleibt lieber für sich, weißt du. Muss an ihrer Vergangenheit liegen.«

Cerise hielt in der Bewegung inne und unterdrückte den Impuls, sich nach Cafreen umzusehen. Wenn die Zharen nicht mit ihr sprechen wollte, konnte diese Frau ihr vielleicht mehr über ihre Zellengenossin verraten.

»Was ist denn mit ihrer Vergangenheit?«, fragte sie leise.

Die alte Frau zeichnete mit dem Finger unsichtbare Linien auf ihre Oberarme. »Diese Tätowierungen. Sie war eine vom Weißen Speer!«

»Der Weiße Speer?«

»Du bist noch nicht lange auf republikanischem Boden, was?« Die Alte kicherte. »Der Weiße Speer ist eine Gruppe von Widerstandskämpfern. Haben sich der Befreiung aller Zharen verschrieben.«

»Aber die Zharen sind doch frei. Hier in der Republik, meine ich.«

»Wie man’s nimmt.« Die Alte machte eine vage Handbewegung. »Normalerweise lässt man sie in Ruhe, aber sie haben noch lange nicht die gleichen Rechte wie die Menschen. Und es gibt noch viele Länder, in denen sie nicht frei sind.« Die Alte deutete mit dem Finger auf Cerise. »Du als Kind der Grafschaften müsstest das doch am besten wissen.«

Cerises Wangen wurden heiß. »Keine Ahnung, was du meinst«, sagte sie hastig und kippte kaltes Wasser über ihre Arme und Beine.

Natürlich wusste sie, wovon die Alte sprach. Die Zharen waren ein altes Volk, älter noch als die ersten Stämme der Menschen. Einst hatten sie in kleinen Clans in den Weiten von Mesembra gelebt, im Einklang mit der Natur, und im Laufe der Jahrhunderte unvergleichliches Wissen über die Werkstoffe des Lebens erworben. Seither galt ihre Handwerkskunst als legendär. Als die Menschen sich die Welt schließlich untertan machten, nahmen sie auch die Zharen und ihre Fähigkeiten für sich in Anspruch. Als Sklaven mehrten diese den Ruhm und Reichtum des Kaiserreichs. Erst nach dem Tod des letzten Kaisers, bei dem, wie es hieß, die Zharen ihre Hand im Spiel hatten, waren sie als freie Bürgerinnen und Bürger in die Gemeinschaft der neugegründeten Republik aufgenommen worden. Im Norden jedoch wurden sie weiter mit Dienstverträgen zur Arbeit gezwungen, ganz ähnlich jenem Vertrag, der Cerise an Graf Silthus gebunden hatte, und den dieser später an Parros Pantas verkauft hatte. Und es sah nicht so aus, als würde sich daran in naher Zukunft etwas ändern.

Ein Grund mehr, warum Cerise die Menschen ihrer Heimat verabscheute.

Die alte Frau lachte. »Du musst keine Angst vor mir haben. Ich bin zwar hier gefangen, aber im Herzen stehe ich an der Seite deiner Landsleute.«

Eine Kaisertreue, stellte Cerise fest. Warum überrascht mich das?

»Wie alt bist du, Kleines?«

»Neunzehn.«

»Ha!« Die Alte klatschte in die Hände und widmete sich wieder ihrer Waschung. »Genau mein Alter, als sie mich hier eingesperrt haben.«

Ein kalter Schauer rann Cerises Rücken hinab. Etwas an dieser Frau sagte ihr, dass mit ihr nicht zu spaßen war.

»Wir werden uns prächtig verstehen«, meinte die Alte. »Ich kann dir noch einiges beibringen. Dir zeigen, wie die Dinge hier laufen. Kann ganz schön gefährlich hier drin sein. Aber keine Angst, meine Mädels und ich werden dich beschützen.« Dabei deutete sie auf die Frauen um sie herum.

»Vielen Dank, aber ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte Cerise schnell und begann, sich wieder anzuziehen. Ihre Haut war noch nass, aber sie wollte nicht noch mehr Zeit in der Gegenwart dieser Frau verbringen.

»Offensichtlich nicht«, meinte die Alte, »sonst wärst du nicht hier.«

»Genauso wie du«, erwiderte Cerise.

»Ich habe meinem Kaiser treu gedient. Habe für seine Sache in den Straßen von Olantus gekämpft und dabei alles verloren. Auch die hier.« Sie zog die Lippen auseinander, damit Cerise die Zahnlücken deutlich sehen konnte. »Hat mir ein Rebell ausgeschlagen. Hartnäckiger Drecksack, muss man ihm lassen. Ohne ihn würde ich heute noch gegen sie kämpfen. Jetzt bleibt mir nur noch eine Art des Widerstands.«

Cerise traute sich kaum, zu fragen. »Welchen Widerstand meinst du?«

»Nicht zu sterben«, meinte die Alte, »und der Republik auf der Tasche zu liegen, bis es sich nicht mehr verhindern lässt.«

»Aha«, machte Cerise und wrang ihr nasses Haar aus. Unwillkürlich sah sie zu Cafreen hinüber.

Die alte Frau packte Cerise an der Schulter und zog sie zu sich heran. Ihre dünnen Lippen waren so nah, dass sie beinahe ihr Ohr berührten. Ihr Atem roch nach Haferschleim, altem Brot und einer lang anhaltenden Fäulnis.

»Wenn ich dir einen Rat geben darf: Lass dich nicht mit der ein«, murmelte sie und deutete mit dem Kinn in Cafreens Richtung. Die Zharen hatte ihnen den Rücken zugekehrt und war damit beschäftigt, ihr langes Haar zu dicken Zöpfen zu ordnen. Cerise entging die unausgesprochene Drohung nicht, die in den Worten der Frau mitschwang.

»Früher hätte man einer wie ihr den Kopf abgeschlagen«, erklärte die alte Frau. »Es ist gegen die Ordnung der Natur, dass sie wie ein Mensch behandelt wird.«

Cerise spürte kalten Zorn in sich aufsteigen. Wenn du glaubst, wir stünden auf derselben Seite, dann hast du dich aber gewaltig geschnitten.

Auch wenn sie nie verstehen würde, welchen Schmerz Cafreen empfinden musste, so wusste sie doch, was es bedeutete, wenn das eigene Leben weniger wert war als ein Sack Münzen. Wenn die Menschen nicht mehr in einem sahen als die Dienste, die man für sie erbringen konnte.

»Wie gesagt«, erwiderte Cerise steif, »ich komme schon klar.«

Die alte Frau öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, doch die Wärterin kam ihr zuvor. »Das war’s«, bellte sie. »Seht zu, dass ihr euch wieder anzieht. Es wird Zeit für die Nachtruhe!«

Unter leisem Protest zogen sich die Gefangenen an und ließen sich vom Wachtrupp zurück zu den Zellen führen. Paarweise sperrten die Wachleute die Frauen in ihre engen Verliese und ließen dabei ihre Schlagstöcke klappernd an den Zellengittern entlangfahren, um ihnen Angst einzujagen. Die Prozession bewegte sich langsam durch den Zellentrakt, bis Cerise und Cafreen schließlich an der Reihe waren. Ein Wärter schloss ihre Zelle auf und die Zharen marschierte hinein. Cerise zögerte einen Augenblick, spürte das kalte Entsetzen in ihren Eingeweiden.

Ich kann das nicht!

»Rein da«, brummte ein zweiter Wärter und stieß Cerise unsanft in die Zelle. Das metallische Scheppern, mit dem die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, ging ihr durch Mark und Bein.

Ich werde hier drin sterben, dachte sie, als der Trupp weiterzog und sie mit der schweigsamen Cafreen alleine ließ.

III

Die Wochen gingen dahin und die Tage wurden kürzer. Schon bald zog schlechtes Wetter auf und setzte dem Sommer ein jähes Ende. Eine grimmige Kälte hielt in der Festung Einzug und Spinnen krochen zu Hunderten aus den dunklen Rissen zwischen den Steinen hervor und überzogen die Mauern mit ihren Netzen. Der Sturmwind pfiff von der Küste über das Land und heulte des Nachts durch die leeren Korridore von Firnten wie ein Vorbote des Todes.

Dennoch trieben die Wachen die Gefangenen jeden Tag nach dem Frühstück hinaus in den Innenhof, wo sie Regen und Wind ausgesetzt waren. Es sei gut für ihre Gesundheit, scherzten einige Wachleute, wenn sich die Frauen darüber beschwerten, dass ihnen kalt war. Wer dann keine Ruhe gab, holte sich nur allzu oft einen Hieb mit dem Schlagstock oder wurde in Einzelhaft geschickt.

Der Unmut der Gefangenen wuchs von Tag zu Tag und Cerise konnte nicht behaupten, dass sie deswegen besonders traurig war. Auf gewisse Weise war sie sogar erleichtert, denn das Leid der anderen Insassinnen spiegelte ihr eigenes wider.

Trotzdem ging sie den anderen Frauen aus dem Weg. Denn der Zorn der Wachleute war nicht das Einzige, was es in Firnten zu fürchten gab. Die alte Gysel, die versucht hatte, Cerise um den Finger zu wickeln, entpuppte sich als unbarmherzige Rädelsführerin. Eine ganze Schar älterer Frauen gehorchte ihr aufs Wort und drangsalierte die jüngeren, wann immer sich ihnen die Gelegenheit bot. Manchmal nahmen sie ihnen das Essen ab, das ihnen Verwandte und Bekannte geschickt hatten, oder versuchten, sie zu etwas Dummem anzustiften, damit sie sich lächerlich machten oder bestraft wurden. Meistens aber schubsten sie die Frauen einfach herum oder schlugen aus purer Langeweile auf sie ein. Bis die Wachleute dazwischen gingen, waren ihre Opfer meist so übel zugerichtet, dass sie zu einem Heiler gebracht werden mussten. Daher hielt Cerise sich stets abseits der anderen Gefangenen, auch wenn ihr das den Ruf einer merkwürdigen Spinnerin eintrug. Immerhin sorgte er dafür, man sie in Ruhe ließ. Vielleicht lag das aber auch an Cafreen, die ihr weiterhin folgte wie ein Schatten.

Abends weinte Cerise sich in den Schlaf. Anfangs bemühte sie sich noch, das klägliche Schluchzen zu unterdrücken, doch nachdem sich die Stille der Nacht über die Festung gesenkt hatte, gab sie auch diese Mühe auf und ließ ihren Tränen freien Lauf.

Eines Nachts lag sie zusammengerollt auf ihrer knarrenden Pritsche, als Cafreen sich plötzlich aufsetzte und lautstark seufzte. »Nun schlaf endlich!«

Cerise antwortete nicht. Sie zog die Beine enger an den Körper und schniefte.

»Hast du mich gehört, Ohkin?«

»Lass mich in Ruhe«, presste Cerise mit erstickter Stimme hervor. »Ich werde nie wieder frei sein. Ich werde niemals heiraten. Ich werde niemals Kinder haben –«

»Jetzt hör mal zu«, rief Cafreen und stand plötzlich neben Cerises Bett. »Keinen kümmert’s, was dir passiert ist. Also reiß dich zusammen und hör auf zu heulen!«

»Wie kannst du nur so herzlos sein?«, jammerte sie.

»Weil dies eine herzlose Welt ist«, konterte Cafreen.

Cerise lachte freudlos und spürte eine neue Welle Tränen heranrollen. »Wenn jemand verstehen sollte, wie ich mich fühle, dann ja wohl du!«

Cafreen versteifte sich. »Ach ja, wieso das?«

»Die alte Frau mit der Zahnlücke, Gysel«, flüsterte Cerise. »Sie hat gesagt, dass du eine Freiheitskämpferin warst. Aber das muss lange her sein, nicht wahr? Denn jetzt bist du hier und hast sogar aufgehört, für deine eigene Freiheit zu kämpfen. Du lebst in den Tag hinein und tust nichts, einfach gar nichts.«

Die Worte trafen Cafreen offenbar härter, als Cerise beabsichtigt hatte. Selbst in der Dunkelheit konnte sie den Zorn erkennen, der in den eisblauen Augen der Zharen aufblitzte.

»Du hast keine Ahnung, wovon du da redest«, sagte Cafreen in eisigem Ton.

Cerise biss sich auf die Lippe. »Nein, vermutlich nicht«, gestand sie kleinlaut. »Es tut mir leid.«

Cafreens Stimme nahm einen weicheren Klang an. »Es wird nicht immer so sein. Du wirst dich an den Schmerz gewöhnen. Schon morgen wird die Welt ein wenig freundlicher aussehen, du wirst sehen. Versuch einfach, ein wenig zu schlafen, Ohkin.«

Doch am nächsten Tag sah die Welt kein bisschen besser aus, ganz im Gegenteil. Das alte Gemäuer schien enger und der scharfe Geruch nach Schweiß, Blut und Ausscheidungen intensiver geworden zu sein.

* * *

Sieben Wochen nach Cerises Verurteilung erreichten die Herbststürme ihren Höhepunkt. Der Wind heulte, kroch in jede Spalte und trug verdorrte Blätter und abgerissene Zweige in den Hof. Die Gefangenen drängten sich eng zusammen, um dem Wetter zu entgehen. Erst als Donner grollte und Blitze den Himmel erhellten, hatte der Hauptmann der Wache ein Einsehen. Er befahl seinen Leuten, die Insassinnen im Speisesaal zusammenzutreiben, wo sie bis zum Abendessen ausharren sollten.

Erst wollte Cerise sich dem Befehl verweigern, doch als zwei bullige Wärterinnen mit Schlagstöcken auf sie zukamen, stand sie auf und schloss sich dem Strom der Frauen an. Cafreen folgte ihr, huschte dann aber zur Seite weg und verschwand in der Menge. Cerise sah ihr irritiert nach und begann ziellos umherzuwandern. Fast alle Plätze waren besetzt, doch sie wollte sich zu keiner Gruppe setzen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.

Sie drehte eine Runde durch den Saal und blieb schließlich in einer Ecke stehen. Die Luft hier war feucht und modrig, doch immerhin hatte sie hier ein wenig Platz und ihre Ruhe – für eine kleine Weile zumindest. Denn schon bald darauf drängte sich eine Gruppe aus drei Frauen zu ihr in die Ecke, die sie grob beiseiteschoben. Ehe Cerise protestieren konnte, steckten die Gefangenen bereits die Köpfe zusammen und schenkten ihr keine Beachtung mehr.

»Hast du es?«, murmelte eine Frau mit cremefarbener Haut um die Vierzig, die sich ihr schwarzes Haar kurz geschoren hatte. Sie zitterte von Kopf bis Fuß, als würde sie vor Erwartung beinahe umkommen.

»Sprich leiser!«, zischte eine jüngere Frau mit kränklich blasser Haut und schlechten Zähnen. »Oder willst du, dass uns die Wachen erwischen?«

»Nein, natürlich nicht!«

Die dritte im Bunde drängte sich näher heran und spähte auf ein kleines Säckchen, das die junge Frau mit den schlechten Zähnen in der Hand hielt. »Nun spann uns nicht auf die Folter, Frenn. Zeig schon her!«

Die Frau namens Frenn zog die Kordel des Säckchens auf, befeuchtete einen Finger und steckte ihn in den Beutel. Als sie ihn wieder herauszog, war er mit einem weißen Puder überzogen.

»Sieht aus wie Zucker.«

»Quatsch, das ist das echte Zeug!«

»Morgentau …«, flüsterte die ältere Frau gierig und leckte sich die Lippen. »Das ist es!«

Frenn grinste und hob den mit weißem Pulver bestäubten Finger zur Nase.

»Das würde ich nicht tun«, meinte Cerise.

Die drei drehten sich ruckartig zu ihr um.

»Wer hat dich denn gefragt?« Frenn fuchtelte mit dem bestäubten Finger in der Luft herum.

»An deiner Stelle würde ich den Morgentau in Wasser auflösen und trinken, dann hält die Wirkung länger an«, erklärte Cerise. »Am besten wäre es natürlich, die Lösung intravenös zu verabreichen, aber man muss mit dem arbeiten, was man hat, nicht wahr?«

Die Frauen starrten sie für einen Moment entgeistert an. Frenn fand als Erste die Sprache wieder. »Woher weiß eine kleine Ratte wie du von solchen Sachen?«

»Mein ehemaliger Herr hat sich jeden Abend etwas Morgentau von mir bringen lassen«, erklärte Cerise nüchtern. »Ich habe die Lösung in einer Spritze aufgezogen und in sein Arbeitszimmer gebracht. Er meinte, es helfe ihm beim Nachdenken.«

»Und wer war dein Herr, kleine Ratte?«

»Der Graf von Belind«, sagte Cerise und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als Frenns Kinnlade nach unten klappte. Die ältere Frau neben ihr wirkte allerdings alles andere als beeindruckt. Sie machte einen Satz, packte Cerise am Kragen und stieß sie heftig gegen die Wand.

»Eine Ratte und noch dazu ’ne Schlampe aus ’m Norden«, blaffte sie. »Hau bloß ab, bevor ich dich mit ’nem Küchenmesser aufschlitze …«

»Lass gut sein, Tris«, meinte die jüngste der drei Frauen.

Cerise blinzelte. »Es war nur ein gut gemeinter Rat … Ich wollte nicht –«

Die Ohrfeige traf sie unvorbereitet. Sie hörte, wie es knallte, und schon glühte heißer Schmerz auf ihrer Wange.

Die Unterhaltungen um sie herum erstarben.

»Verpiss dich, Schlampe«, zischte Tris und ließ sie los. Cerise rutschte zu Boden, eine Hand auf die brennende Wange gepresst. Ein Schleier aus Tränen nahm ihr die Sicht. Tris wollte mit dem Fuß ausholen, als sich eine dunkle Gestalt hinter ihr aufbaute und sie an der Schulter packte.

»Genug«, sagte Cafreen und riss die Angreiferin zurück. Die ältere Frau taumelte und krachte rücklings in eine Gruppe Gefangene. Lautes Murren hob an, grobe Flüche und Drohungen folgten.

Nun bemerkten auch die Wachen den Tumult und bahnten sich einen Weg durch die Menge auf den Ort des Geschehens zu. Frenn und ihre Begleiterin fackelten nicht lange, machten sich mit eingezogenen Köpfen aus dem Staub und überließen Tris ihrem Schicksal.

»Ich war das nicht«, keifte diese, als zwei Wärter sie in Gewahrsam nahmen und wegschleppten.

Cafreen half Cerise beim Aufstehen. »Alles in Ordnung?«

»Denke schon.«

Ceriseswehrtesichnicht, als die Zharensie zur gegenüberliegenden Seite des Speisesaals führte. Dort setzte sich Cafreen auf den kalten Steinboden und machte es sich bequem. Die umstehenden Frauen rückten augenblicklich beiseite.

Cafreen warf ihr weißes Haar über die Schulter, beugte sich nach hinten und zog etwas aus einem Spalt zwischen zwei Steinen. Es sah aus wie ein kleiner Stapel rechteckige Papiere, die auf dieselbe Größe zurechtgestutzt worden waren.

»Was ist das?«, fragte Cerise, obwohl sie die Antwort gar nicht wissen wollte. Eigentlich wollte sie am liebsten allein sein.

»Ein Kartenspiel«, erklärte Cafreen. »Ich habe es aus den Seiten eines Buches gemacht.«

Cerise runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, wie Cafreen an diesem Ort an ein Buch gelangt war. Andererseits hatte Frenn sich ein Säckchen voll Morgentau besorgen können, ohne dass die Wachen es bemerkt hatten. Mit genug Mut und Einfallsreichtum konnte man die Gesetze von Firnten wohl doch umgehen.

Cafreen hob die oberste Karte vom Stapel und zeigte Cerise die unbeholfene Zeichnung darauf. Das Bild zeigte eine Frau mit dunkler Haut und geflochtenem Haar, die einen Speer trug. Eine Nemeia, wie Cerise feststellte. Eine jener legendären Kriegerinnen, die vor einer halben Ewigkeit Kaiser Corbolan bei der Gründung seines Reichs beigestanden hatten.

»Damit können wir Sieben Sünder spielen«, erklärte Cafreen. »Aber man kann die Bilder auch in Zahlenwerte umdeuten. Wenn du willst, kannst du mir eins der Kartenspiele zeigen, die man in deiner Heimat spielt. Es hilft, die Langeweile zu vertreiben.«

»Was ist ein Sünder?«, fragte Cerise und legte den Kopf schief.

»Im Glauben meines Volkes sind die Sieben Sünden die ursprünglichen Verbrechen gegen die Natur.« Cafreen wedelte mit der Karte. »Die Kriegerin steht für die Sünde des Tötens.« Sie hob die nächsten beiden Karten ab. Eine zeigte einen Händler in feinem Zwirn, der eine Waage in die Höhe hielt, die andere einen buckligen, alten Bergarbeiter, der mit einer Hacke hantierte. »Der Kaufmann ist das Symbol für die Sünde des Betrugs, der Goldgräber beschreibt die Habgier. Die Sünde des Hochmuts wird …«

»Ist das das Einzige, was dich interessiert?«, fragte Cerise. »Ein Kartenspiel?«

»Es ist jedenfalls besser, als herumzusitzen und sich selbst zu bemitleiden«, konterte Cafreen.

Ohne nachzudenken, schlug Cerise der Zharen die Karten aus der Hand. Die Papierfetzen verteilten sich auf dem Steinboden.

»Scheiß auf deine Karten«, fauchte sie.

»Was ist los mit dir, Ohkin?« Cafreens Mundwinkel zogen sich in einem spöttischen Lächeln nach oben. »Hast du ein bisschen Mumm in deinen lebensmüden Knochen gefunden?«

»Ach, verpiss dich!«, sagte Cerise, stand auf und stapfte davon. Um sie herum gafften die Gefangenen, wagten sich aber nicht an sie heran. Es sollte ihr nur recht sein.

Da bemerkte sie, dass die Scham, die sie empfunden hatte, ausgelöscht und durch etwas gänzlich anderes ersetzt worden war. Es war ein Gefühl, das sie schon so lange nicht mehr empfunden hatte, dass es einen Moment dauerte, bis sie es erkannte.

Sie war rasend vor Wut.

IV

Am nächsten Morgen war Cerise auf den Beinen, noch ehe die Wärter durch den Zellentrakt gingen, um die Gefangenen mit einer Glocke aus dem Schlaf zu reißen. Die Wut verlieh ihr neue Kraft und sie tigerte unruhig in der Zelle auf und ab, bis man sie und die übrigen Gefangenen zum Speisesaal brachte.

Auf dem Weg stellte sie fest, dass sich die Wolken verzogen und den Blick auf einen offenen Himmel freigegeben hatten. Sie konnte das strahlende Blau durch die schmalen Fenster sehen, die in die dicken Außenmauern der Festung eingelassen waren.

Vielleicht wird nun alles anders, dachte sie und lächelte.

Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Firnten verschlang sie ihr Frühstück mit dem gleichen Appetit wie die übrigen Frauen. Cafreen beobachtete sie deshalb argwöhnisch, blieb jedoch stumm. Falls sie Cerise ihre Worte vom Vortag übelnahm, ließ sie es sich nicht anmerken.

Tris war an diesem Morgen nicht im Speisesaal erschienen. Cerise vermutete, dass sie die Nacht in Einzelhaft verbracht hatte. Die Wachleute sperrten widerspenstige Gefangene gerne in eine der kleinen, dunklen Zellen im Keller der Festung, damit sie dort wieder zur Vernunft kamen. Bei dem Gedanken daran, wie Tris allein in der Dunkelheit saß und sich die Haare aufgrund dieser Ungerechtigkeit ausriss, breitete sich ein diebisches Lächeln auf ihrem Gesicht aus.

Beim Freigang fühlte sie sich noch immer so energiegeladen, dass sie etliche Runden um den Hof lief, bis ihr der Schweiß vom Kinn tropfte. Dabei machte sie immer wieder wilde Sprünge und warf die Arme in die Luft, erfüllt von einem Hochgefühl, dass oft dann aufkam, wenn man den eigenen Körper bis an seine Grenzen trieb.

Wachen wie Gefangene beobachteten ihr Treiben mit Argwohn und innerhalb weniger Minuten hatte sich eine Traube Schaulustiger gebildet. Einige von ihnen wagten sich sogar in Cafreens Nähe und löcherten sie mit Fragen.

»Ist die jetzt vollkommen durchgeknallt?«, wollte eine Frau wissen.

»Hatte sie was im Essen?«, fragte eine andere.

»Woher soll ich das wissen?«, blaffte Cafreen.

»Du steckst mit ihr in einer Zelle fest«, schaltete sich Frenn ein. Sie stand ein Stück abseits und ließ Cerise keine Sekunde aus den Augen. »Vielleicht ist ihr Wahnsinn ja ansteckend. Könntest auch was abbekommen haben, heimlich, während du schläfst.«

»So ’n Quatsch!«, rief jemand. »Wahnsinn is’ doch nich’ ansteckend.«

»Willst du sagen, ich bin blöd?«

»Klar bist du blöd. Schau dir doch nur mal dein dummes Gesicht an.«

»Glotz dich doch selbst an.«

»Halt dein Maul!«

»Ach, halt du dein Maul!«

Offenbar bin ich nicht die Einzige, die eine scheiß Wut in sich spürt, stellte Cerise zufrieden fest und drehte weiter ihre Runden. Nach einer Weile verloren die Gefangenen die Lust daran, ihr beim Laufen zuzusehen, und gingen ihren üblichen Beschäftigungen nach. Ihr entging allerdings nicht, wie überaus unzufrieden sie dabei wirkten.

»Was ist los mit dir?«, zischte Cafreen, als sie einige Zeit später zum Abendessen in den Speisesaal strömten.

»Was soll schon sein?«, erwiderte Cerise und zuckte mit den Schultern. »Es ist, wie du gesagt hast. Ich habe mich an den Schmerz gewöhnt.«

Die Küche servierte ein steifes Gemisch aus Kartoffeln und Möhren, das von einer geschmacksarmen Brühwurst begleitet wurde. Wie schon am Morgen verschlang Cerise auch diese Portion in Windeseile. Ihr war schwindelig vor Erschöpfung, doch sie bereute nicht, sich verausgabt zu haben. Sie fühlte sich so ausgeglichen wie schon seit Monaten nicht mehr und die aufgeheizte Stimmung unter den Gefangenen hob ihre Laune noch weiter an.

»Die Essenszeit ist vorbei«, rief der Mann, der an diesem Abend die Wachleute anführte. Er blies in seine Pfeife und deutete mit seinem Schlagstock in Richtung Ausgang. »Zurück in eure Zellen.«

Überall im Saal erhoben sich die Gefangenen. Der Reihe nach stellten sie sich an den Wänden entlang auf, kehrten auf Kommando links um und ließen sich von den Wachen abführen.

Während sie durch die zugigen Korridore der Festung zurück zu den Zellentrakten marschierten, betrachtete Cerise die Frauen um sich herum. Sie alle waren aus gutem Grund hier. Doch wie viele warteten auf ihre Revision? Wie viele hofften auf eine zweite Chance? Ihre Wut war wie ein sterbendes Feuer, das nur einem Funken benötigte, um neu entfacht zu werden.

Nur ein Funke, überlegte Cerise.

Abrupt blieb sie stehen und streckte den Fuß zur Seite aus. Einen Herzschlag später tappte ihre Hinterfrau in die Falle. Sie stolperte vorwärts, an Cerise und Cafreen vorbei und riss zwei weitere Frauen mit sich zu Boden.

»Verdammte Scheiße!«, brüllte jemand.

»Pass doch auf!«

»Ich bringe euch um!«

Mehr brauchte es nicht. Die Gefangenen, die sich auf der Erde wandten, traten um sich wie wilde Pferde. Umstehende Insassen sprangen zur Seite oder stürzten ebenfalls zu Boden. Es wurde getreten, gebissen und geschlagen. Wilde Flüche, Schmerzenslaute und Schreie der Wut vermischten sich zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie.

Cafreen drückte sich an die Wand und zog Cerise mit sich. Um Haaresbreite entgingen sie dem Hieb einer muskulösen Frau, die ihre Faust in das Gesicht einer anderen Gefangenen krachen ließ.

»Was hast du getan, Ohkin?«, rief Cafreen über den Lärm hinweg.

»Ich?«, fragte Cerise unschuldig, konnte ihr selbstgefälliges Grinsen jedoch kaum verbergen. »Ich habe gar nichts gemacht!«

»Lasst sie nicht entkommen!«, brüllte der Hauptmann über den Tumult hinweg. Vergeblich versuchten die Wachleute, sich einen Weg durch die Keilerei zu bahnen. Im Gegenzug ließen die Gefangenen voneinander ab und warfen sich ihnen mit lautem Geschrei entgegen. Die Gruppen drängten gegeneinander wie Tiere, die im Kampf aufeinanderprallten. Cafreen und Cerise waren zwischen den Fronten gefangen und wurden von der Menge mitgerissen. Das dichte Gedränge trieb ihnen die Luft aus den Lungen und raubte ihnen für einen Moment die Orientierung.

Ein Schlagstock blitzte auf und sauste auf Gysel nieder, die eine Armlänge entfernt im Gedränge stand. Cerise lachte, als die Frau umfiel wie ein nasser Mehlsack.

Die Wachleute droschen auf die aufständische Meute ein, doch die gebrüllten Befehle des Hauptmanns gingen im allgemeinen Lärm unter. Erst da kam jemand auf die Idee, eine Glocke zu läuten. Das Geräusch hallte von den Wänden wider und kurz darauf eilte ein weiterer Trupp Wachen herbei, um die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Über die Köpfe der Menge hinweg entdeckte Cerise jemanden, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Engrid Peirol war persönlich erschienen, um das Kommando zu übernehmen. Mit scharfen Pfiffen brachte sie ihre Wachleute zur Räson.

»Reißt euch zusammen!«, bellte die Direktorin. »Nun macht schon!«

Danach ging alles sehr schnell. Die Wachen stürzten sich auf die Gefangenen und überwältigten sie, eine nach der anderen. Unter Protestgeschrei schafften sie die Frauen zurück zum Speisesaal, wo sie von zwei weiteren Wachtrupps festgehalten wurden.

Als die Wärter auf sie zukamen, hoben Cafreen und Cerise abwehrend die Hände. Trotzdem versetzten sie ihnen einen kräftigen Hieb mit dem Stock, bevor sie zu den anderen in den Speisesaal gebracht wurden. Viele der Gefangenen hatten Blutergüsse und Platzwunden, manche hielten sich den Arm oder pressten die Hände auf eine Wunde am Bein. Alles in allem befanden sie sich in einem jämmerlichen Zustand. Als Cerise sie so sah, konnte sie nicht anders, als laut zu lachen.

Schlagartig kehrte Stille im Saal ein. Durch ihr eigenes Lachen hindurch bemerkte Cerise, dass sich die Blicke aller Anwesenden auf sie hefteten. Selbst Cafreen starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, als wollte sie fragen: »Hast du jetzt endgültig den Verstand verloren?«

»Hey«, rief Gysel und deutete auf Cerise. »Ich kenne sie! Das ist die Schlampe, die alles angezettelt hat!«

V

Die Handschellen scheuerten ihre Gelenke blutig und verursachten einen scharfen Schmerz, der sie von den Armen bis zu den Schultern durchfuhr und ihr den Schlaf raubte.

Cerise starrte zur Decke ihrer Einzelzelle hinauf und fragte sich, wie sie nur so dumm hatte sein können.

Noch im Speisesaal hatten sich die Wachleute auf sie geworfen und ihr Gesicht auf den schmutzigen Steinboden gedrückt. Sie konnte noch das Gewicht der Wärterin auf sich spüren, die auf ihrem Rücken gesessen und ihr die Eisen angelegt hatte. Die Gefangenen hatten gejubelt, als man sie weggebracht hatte. Der Lärm war Cerise einen Gang entlang, eine Treppe hinunter und hinein in die dunkelsten Winkel der Festung gefolgt. Dort, in einer der düsteren Kellergewölbe, in denen die Wachleute die Gefangenen in Einzelhaft festsetzten, stieß man Cerise in eine der winzigen Zellen, verband ihre Fesseln mit einer eisernen Kette, die an einem Ring in der Wand befestigt war, und warf die Kerkertür hinter ihr zu.

Wie viel Zeit seitdem vergangen war, konnte sie nicht sagen. Es mochten Stunden oder auch Tage gewesen sein. Dank der beständigen Dunkelheit in der Einzelhaft ließ sich dies nur erahnen. In unregelmäßigen Abständen kam jemand, um ihr eine Schale mit Trinkwasser zu bringen. Etwas zu essen gab es nicht. Der Eimer, den man ihr für die Notdurft in einer Ecke bereitgestellt hatte, stand so weit weg, dass sie ihn nicht erreichen konnte.

Cerise machte sich nicht die Mühe, den Wachen irgendwelche Fragen zu stellen. Sie wusste, dass sie ihr keine Antworten geben würden. Ebenso wie sie wusste, dass dies erst der Beginn der Rückzahlung war. Sie hegte keinen Zweifel daran, dass die Direktorin sich eine martialische Strafe ausdenken würde, mit der sie ein Exempel an ihr statuieren konnte.

Cerise schloss die Augen. Ihr Kopf schmerzte und ihre Zunge lag schwer im Mund. Eine Zeit lang hatte sie Trost im Schlaf gefunden, doch auch damit war es vorbei. Die Finsternis war so vollkommen, dass es keinen Unterschied machte, ob sie wach war oder schlief.

Wie es Cafreen gehen mochte? Als die Wachleute Cerise abgeführt hatten, hatte es für einen Augenblick so ausgesehen, als wollte sich die Zharen mit einem lauten Schrei auf die Wachen stürzen. Cerise war froh, dass sie es nicht getan hatte. Cafreen sollte nicht noch mehr leiden müssen, schon gar nicht ihretwegen.

Wenn sie doch nur nicht so wütend auf sich selbst wäre! Sie hatte sich von ihrer Wut zu etwas hinreißen lassen, das nicht nur waghalsig, sondern auch töricht gewesen war, und nun zahlte sie den Preis dafür.

Ich hätte es wie die anderen machen sollen. Mir eine Gruppe suchen, mit der ich Nachrichten und Gefälligkeiten tauschen kann. Vielleicht hätten sie mich von einer solchen Dummheit abgehalten.

Die Zellentür schwang unter metallischem Kreischen auf. Vor der Zelle stand eine Wärterin mit einer Fackel und leuchtete ihr ins Gesicht. Bei ihr war ein Mann, der so klein und hager war, dass er in seinem weißen Kittel zu verschwinden drohte. Finger, so dünn wie Spinnenbeine, hielten einen Arztkoffer umklammert.

Cerise kniff die Augen zusammen und drückte sich an die Wand. Die Art, wie der Mann sie ansah, gefiel ihr ganz und gar nicht.