Die Chronik des Eisernen Druiden. Goldedition Bände  6-9 - Kevin Hearne - E-Book

Die Chronik des Eisernen Druiden. Goldedition Bände 6-9 E-Book

Kevin Hearne

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Beschreibung

»Großartig, voll geistreichem Witz« Publishers Weekly Die Hobbit Presse Gold Edition umfasst Teil 5 bis 9 der »Chronik des Eisernen Druiden«. Auch die Bände »Oberons Fälle« und »Überfallen«, mit denen Kevin Hearne die Welt von Atticus und Oberon noch erweitert hat, sind hier enthalten. Diese Limited Edition ist nur begrenzte Zeit verfügbar. Nach zwölf Jahren geheimer Druidenausbildung ist es endlich soweit. Atticus O'Sullivan kann seine Auszubildende Granuile an die Erde binden. Auf diese Weise würde die Anzahl der Druiden auf der Welt auf einen Schlag verdoppelt werden. In den Teilen 5 bis 9 haben Atticus, sein Hund Oberon und Granuile viele gefährliche Begegnungen mit Gottheiten der verschiedensten Kulturen.

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Seitenzahl: 2666

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Kevin Hearne

Die Chronik des Eisernen Druiden – Die Bände 6–9

GOLDEDITION

KLETT-COTTA

Inhalt

Dieses E-Book enthält die folgenden Bände aus der Reihe »Die Chronik des Eisernen Druiden«:

Gejagt (Band 6)

Erschüttert (Band 7)

Aufgespießt (Band 8)

Zerschmettert (Band 9)

Überfallen

Oberons blutige Fälle

KEVIN HEARNE

GEJAGT

DIE CHRONIK DES EISERNEN DRUIDEN 6

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader

Impressum

Für die Verschwörung der Nerds:

AK, Barushka, Alan, Tooth und Pilot John

Die für die Handlung wichtigsten Götternamen sind in VERSALIEN gesetzt.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Hunted«

im Verlag Ballantine Books, New York

© 2013 by Kevin Hearne

Für die deutsche Ausgabe

© 2017 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung der Illustration des Originalverlags © Gene Mollica

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96136-2

E-Book: ISBN 978-3-608-10873-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

1

Schon merkwürdig: Wenn man sich sicher fühlt, fällt einem partout nicht mehr ein, was man eigentlich machen wollte, aber wenn man um sein Leben rennt, erinnert man sich plötzlich an die ganze Liste von Dingen, zu denen man nie gekommen ist.

Zum Beispiel wollte ich mich schon immer mal zusammen mit einem schnurrbärtigen Typen sinnlos besaufen, ihn auf seine Bude schleppen, noch ein paar Gläser mehr kippen, bis die Möglichkeit eines ernsthaften Leberschadens in gefährliche Nähe rückt, und ihm dann, wenn er bewusstlos ist, die Hälfte seines Schnauzers wegrasieren. Vor dem Verschwinden müsste ich noch Spionagekameras einbauen, damit ich seine Reaktion (und seinen Kater) nach dem Aufwachen so richtig auskosten könnte. Und natürlich bräuchte ich für diese Überwachungsaktion einen schwarzen Lieferwagen ohne Fenster, der ein Stück weiter vorn an der Straße parkt. Ich stelle mir vor, dass ein Witze reißender Informatiker vom MIT bei mir im Auto säße, der einmal mit einer verhuschten Physikstudentin fast aufs Ganze gegangen wäre, wenn sie ihn nicht abserviert hätte, weil er ihre Partikel nicht beschleunigte.

Ich weiß nicht mehr, wann ich mir das ausgedacht habe. Wahrscheinlich, nachdem ich True Lies – Wahre Lügen gesehen hatte. Aus naheliegenden Gründen stand dieser Punkt nie besonders weit oben auf meiner Liste, doch die Erinnerung daran holte mich in vollem Technicolor ein, als ich in Rumänien um mein Leben rannte. Das menschliche Bewusstsein ist eben ein Mysterium.

Irgendwo hinter mir hielt die MORRIGAN zwei Göttinnen der Jagd in Schach. ARTEMIS und DIANA waren nämlich der Meinung, dass ich umgebracht gehörte, und die MORRIGAN hatte geschworen, mich vor einem derartigen Schicksal zu bewahren. Oberon lief an meiner linken, Granuaile an meiner rechten Seite. Überall um uns herum bebte lautlos der Wald von dem Pandämonium, mit dem FAUNUS die druidischen Bande nach Tír na nÓg unterbrochen hatte. Ich konnte mich nicht einfach durch einen Wechsel des Gefildes in Sicherheit bringen. Daher blieb mir nichts anderes übrig, als Fersengeld zu geben und die alten griechisch-römischen Götter zu verfluchen.

Im Gegensatz zu den Iren und den altnordischen Völkern – sowie vielen anderen Zivilisationen – stellten sich die Griechen und Römer ihre Götter nicht bloß als ewig jung, sondern auch als immun gegen einen gewaltsamen Tod vor. Natürlich besaßen sie Nektar und Ambrosia, das die Haut faltenfrei und den Körper in Form hielt und ihr Blut in Ichor verwandelte. Das hatte Ähnlichkeit mit den magischen Speisen und Getränken anderer Pantheons – doch das war noch längst nicht alles. Im Fall ihres Ablebens konnten sie sich nämlich komplett regenerieren und waren damit wahrhaft unsterblich. Selbst wenn man sie zerschnipselte wie Machaca und sie mit Guacamole und warmen Tortillas aß, erschienen sie einfach in einem brandneuen Körper auf dem Olymp wieder. Das war auch der Grund, warum PROMETHEUS nie starb, obwohl seine Leber jeden Tag von einem Adler gefressen wurde, dem diese Kost seltsamerweise nie zu eintönig wurde.

Das hieß nicht, dass die griechisch-römischen Götter unbezwingbar waren. Abgesehen davon, dass andere Unsterbliche sie töten können, sind die OLYMPIER wie alle anderen auch an die Zeit gebunden. Ich hatte BACCHUS auf eine Insel mit langsamer Zeit in Tír na nÓg geworfen und ihn damit aus dem Verkehr gezogen. Dummerweise nahmen mir die OLYMPIER das krumm – so krumm, dass sie mir unbedingt ans Leder wollten und dafür sogar auf die Rückkehr von BACCHUS verzichteten.

Ich bildete mir keine Sekunde ein, eine Chance gegen die Jagdgöttinnen zu haben. Zum einen waren sie weitaus geübter im Kampf als ich, zum anderen konnten sie sich gegenseitig Deckung geben bei dem Versuch, mich mit einem gezielten Pfeil niederzustrecken.

»Wohin laufen wir eigentlich?«, keuchte Granuaile.

»Ungefähr nach Norden. Die Situation ist gerade sehr im Fluss.«

›Kann sein, dass bei mir auch was geflossen ist, als vorhin die Pfeile angeflogen kamen‹, bemerkte Oberon. Die MORRIGAN hatte beide Pfeile mit ihrem Schild abgefangen und uns zur Flucht gedrängt.

»Wär mir auch fast so gegangen, Oberon.« Als vollwertige Druidin konnte Granuaile seine Stimme jetzt ebenfalls hören. »Eigentlich hätte ich den Kopf einziehen, Atticus umreißen oder sonst was machen müssen, stattdessen hatte ich bloß damit zu tun, dass ich mir nicht in die Hose mache.«

»Die Pinkelpause muss noch ein bisschen warten«, warf ich ein. »Im Moment brauchen wir vor allem Abstand.«

»Aber Heimlichkeit wohl eher nicht, oder? So, wie wir durch diesen Wald hetzen, wird es kein Problem sein, unsere Spur zu verfolgen.«

»Mit solchen Feinheiten befassen wir uns, sobald wir etwas Distanz gewonnen haben.«

In diesem Moment drängte sich die krächzende Stimme der MORRIGAN in meinen Kopf. Eine Angewohnheit von ihr, die ich nicht besonders schätzte, doch jetzt passte es ganz gut.

Sie jubelte vor Begeisterung. Eine wahrhaft denkwürdige Schlacht! Ach, gäbe es doch nur Zeugen und einen Barden wie Amergin, der sie in seinen Liedern besingen könnte!

MORRIGAN …

Hör zu, Siodhachan. Ich kann sie eine Weile aufhalten. Trotzdem werden sie schon bald wieder Jagd auf dich machen.

Ach, und was ist mit dir?

Ich bin ihnen überlegen. Allerdings nicht unsterblich. Mein Ende naht, ich habe es gesehen. Doch was für ein Ende das sein wird!

Ich bremste abrupt und wandte mich um. Granuaile und Oberon taten es mir nach. Du wirst sterben?

Bleib nicht stehen, du Narr! Lauf, lausche und gönne dir keinen Schlaf. Du weißt, wie du den Schlaf meidest, oder?

Gehorsam nahmen wir die Flucht wieder auf.

Ja. Ich verhindere den Aufbau von Adenosin im Gehirn und …

Genug der neumodischen Worte. Du weißt es. Jetzt musst du entweder eine der alten Türen nach Tír na nÓg finden – eine, die unbewacht ist – oder dich zum Wald von Herne dem Jäger durchschlagen.

Zum Wald von Herne? Du meinst den Windsor Forest? Das ist eine Wahnsinnsstrecke durch ganz Europa!

Möglicherweise ist dir der Tod lieber , bemerkte die MORRIGAN.

Nein, danke. Aber Windsor ist keine Wildnis mehr. Eher ein gepflegter Park. Die Leute trinken dort Tee. Vielleicht spielen sie sogar Krocket. Einen Wald gibt es dort jedenfalls nicht.

Es wird genügen. Herne ist dort und wird das Gebiet verteidigen. Zusammen mit Freunden. Und, Siodhachan, denk daran,GAIA liebt uns mehr als dieOLYMPIER. In ihrem ganzen langen Leben haben sie ihr nichts zurückgegeben. Selbst in diesem Moment quälen sie sie mit ihrem Pandämonium. Doch nun hab acht: Ich werde ihre Streitwagen auflösen. Das heißt, sie werden eine Weile zu Fuß gehen, bis ihre Schmiedegötter die Wagen wieder zusammengesetzt haben. Mach dir diesen Umstand zunutze und verschaff dir einen möglichst großen Vorsprung.

Irgendetwas kam mir komisch vor. MORRIGAN, wenn du das vorhergesehen hast, warum hast du mich dann nicht gewarnt?

Du bist mit deinem Weib hier.

Mein Weib? Wenn ich Granuaile so nennen würde, müsste ich um meine Zähne fürchten. Sie gehört mir nicht. Man kann einen anderen nicht besitzen.

Diese Lektion habe ich gelernt.

Schön. Was hat das dann mit diesem lächerlichen Kampf gegen dieOLYMPIER zu tun? Das hätte sich doch vermeiden lassen.

Nein. Er war unausweichlich. Es hätte nichts genützt, ihn hinauszuschieben.

Machst du Witze? Den Tod hinausschieben heißt, dass man lebt. Vielleicht solltest du ein Mittel gegen Depressionen nehmen.

Still. Ich habe etwas für dich. Moderne Menschen würden von einem reizenden Abschiedsgeschenk sprechen.

Ich erschauerte bei dem Gedanken daran, was sich die MORRIGAN unter reizend vorstellte. Ein Abschiedsgeschenk?

In Tír na nÓg gibt es eine Zeitinsel mit folgender Adresse. In meinem Kopf erschien das Bild eines kleinen Steinobelisken mit Ogham-Schriftzeichen. Siehst du es?

Ja, aber …

Präge sie dir gut ein. Umkreise die Insel. Wenn du auf der flussaufwärts gelegenen Seite die Baumgrenze absuchst, wirst du jemanden entdecken, den du vielleicht zurückholen möchtest. Falls dies dein Wunsch ist, bitteGOIBHNIU um Hilfe.

Warum,MORRIGAN?

Weil ich hier gefangen bin und weil das der einzige Ausweg ist. Und weil du gewählt hast und gut gewählt hast. Es gibt nichts an ihr auszusetzen.

Als mir die Tragweite ihrer Worte dämmerte, geriet ich leicht außer Tritt, und Granuaile warf mir einen beunruhigten Blick zu. Mit einem Kopfschütteln signalisierte ich ihr, dass alles in Ordnung war. Aber …MORRIGAN, du hast nie etwas gesagt.

Hätte das denn eine Rolle gespielt? Hättest du mich je erwählt?

Das weiß ich nicht. Jedenfalls hatte ich keine Chance dazu.

Jeder Tag war eine Chance, Siodhachan. Jeder Tag in zweitausend Jahren. Du hattest reichlich Gelegenheit, dein Interesse kundzutun. Ich verstehe, warum du es nicht getan hast. Ich mache dir Angst. Ich mache allen Angst, und das ist eine Tatsache, der ich nicht zu entrinnen vermag, und wenn ich mir noch so sehr das Gegenteil wünsche.

Nun … ja. Du schlägst dich gerade mit zwei olympischen Göttinnen und führst gleichzeitig dieses Gespräch. Das ist wirklich beängstigend.

Sie haben sich gut vorbereitet. Ihre Gewänder sind aus Kunststoff. Ich kann sie nicht festbinden. Und sie sind sehr geschickt. Sie wollen mich an der rechten Seite verletzen und dadurch meine Magie stören. Immerhin konnte ich ihre Streitwagen auflösen. Es wird einige Zeit dauern, bis sie sie ersetzt haben.

MORRIGAN, zieh dich doch einfach zurück. Du hast mich gerettet, und wir haben jetzt einen guten Vorsprung.

Nein. Das ist die Entscheidung, die ich getroffen habe. Seit kurzer Zeit – seit duAENGHUSÓG erschlagen hast – habe ich ernsthaft versucht, mich zu ändern, und festgestellt, dass ich es nicht mehr vermag. Freundschaft ist mir verwehrt. Sanftheit ist mir nicht gegeben, es sei denn unter außergewöhnlichen Umständen. Mein Wesen lässt es nicht zu. Ich kann nur ängstigen, verführen und die Schlachtenopfer wählen. Ist das nicht seltsam? Vor langer Zeit war ich eine einfache Druidin, ganz ähnlich wie du, und konnte tun, wonach mir der Sinn stand. Doch als ich zur Göttin wurde, ging die neue Macht mit gewissen Erwartungen einher. Vielleicht sollte ich auch eher von Ketten sprechen. Bemerkt habe ich sie erst, als ich mich befreien wollte. Mein Wesen gehört mir nicht mehr, ich kann nicht mehr frei darüber verfügen. Ich kann nur sein, was mein Volk von mir erwartet.

Das tut mir wirklich leid. Davon wusste ich nichts.

Ich erzähle dir das alles, damit du daraus lernst. Es ist ein verborgenes Gesetz der Göttlichkeit, und wehe der Gottheit, die es entdeckt. Ich habe mich dagegen gesträubt und es geleugnet, doch es hat sich so oft bestätigt, dass ich nicht mehr an seiner Wahrheit zweifeln kann. Dennoch habe ich jetzt Trost gefunden.

Wirklich?

Dies hier ist mein Sieg, Siodhachan. Ich darf kämpfen, und ich brauche keinen Grund. Normalerweise suche ich mir einen, denke mir irgendetwas aus. Doch heute ist es nicht Ruhm oder Ehre, Mordlust oder Rachsucht, die mich antreibt. Heute beflügelt mich … etwas anderes.

Ich verstehe. Sag es trotzdem. Tu mir den Gefallen.

Liebe.

MORRIGAN, ich …

Ich spürte einen leisen Knall im Kopf, als wäre ein straff gespanntes Seil gerissen. Oder eine Bindung. Plötzlich empfand ich Leere und einen alles durchdringenden Schwindel, der so stark war, dass ich über eine Wurzel stolperte und unsanft auf der Nase landete.

MORRIGAN? Die Stille in meinem Kopf ließ nur einen Schluss zu. Unsere geistige Verbindung war wie das leise elektrische Summen eine Küchengeräts oder Computers gewesen, das man erst bemerkt, wenn es verstummt. Mit einem ziemlich schmerzhaften Ritual hatte sie einst mein von einem Dämon verstümmeltes Ohr geheilt. Dabei hatte sie heimlich die Bindung eingeschleust, die ihr den telepathischen Kontakt mit mir ermöglichte. Jetzt war diese Bindung erloschen.

»Atticus, was ist los?« Granuaile half mir auf die Beine und ächzte mitfühlend, als sie meinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Bist du verletzt? Warum weinst du?« Sie ließ meinen Arm los, musste ihn jedoch gleich wieder packen, weil ich schwankte.

Mir war noch immer schwindlig. »Die MORRIGAN ist tot.«

2

»Meinst du, du kannst deine Sachen als Pferd im Maul tragen?« Mit den Handballen rieb ich mir die Tränen aus den Augen.

Granuaile begriff, dass ich nicht über das Geschehene reden wollte. Ihre Stimme klang hohl vor Erschütterung. »Wahrscheinlich schon.«

»Gut. Lass deine Kleider hier.« Ich zog mich aus und holte mehrmals tief Luft, weil ich einen klaren Kopf brauchte. »Wir müssen gut vorankommen. Am besten, wir laufen auf Hufen und holen uns dabei Kraft aus der Erde.«

Granuaile schlüpfte aus ihrem Shirt. Dann fiel ihr etwas ein. »Die MORRIGAN hat doch gesagt, dass die alten Türen eingestürzt oder bewacht sind. Sollen wir uns durchkämpfen, damit wir eine von ihnen benutzen können?«

»Ich glaube eher, dass wir die ganze Strecke nach England zu Fuß zurücklegen müssen. Oder zumindest nach Frankreich, bevor wir über den Ärmelkanal schwimmen.«

»Im Ernst? Wir sollen von Rumänien aus bis dorthin laufen ?«

»Genau.«

»Wir können nicht den Zug nehmen oder irgendwo ein Auto klauen?«

»Nein. Die MORRIGAN hat sich völlig unmissverständlich ausgedrückt. Als einzige Möglichkeit für unser Überleben hat sie vorausgesehen, dass wir rennen.«

»Das ist doch absurd.«

»Wenn es um unser Überleben geht, möchte ich lieber nicht gegen die Prophezeiungen der MORRIGAN wetten. Bei Leben und Tod liegt sie … ich meine, lag sie selten daneben.«

»Ich zweifle ja auch gar nicht an der Wahrheit ihrer Vorhersage. Ich möchte bloß wissen, warum sie wahr ist.«

Ich zuckte die Achseln. »Die Antwort darauf kenne ich noch nicht. Das werden wir unterwegs schon rausfinden. Ich vermute sowieso, dass wir nach und nach so einiges rausfinden werden.«

Nachdem wir uns der Kleider entledigt hatten, wechselten wir in unsere gehufte Tiergestalt – einen Hirsch und eine fuchsfarbene Stute – und hoben die auf dem Boden bereitgelegten Waffen mit dem Maul auf.

›Hey Leute, hoffentlich stoßt ihr nicht auf eine enge Stelle, wo die Bäume wirklich dicht beieinander wachsen‹, meinte Oberon.

Ich blieb ihm die Antwort schuldig, aber Granuaile anscheinend nicht, denn Oberon ließ sich in empörtem Ton vernehmen: ›Was? Wirklich? Muss das sein?‹ Offenbar bekräftigte sie, dass es sein musste, denn er fuhr fort: ›Wir müssen Satteltaschen oder so was für euch besorgen.‹ Er hob eines der Schenkelhalfter auf, in denen sie ihre Wurfmesser mit blattförmiger Klinge aufbewahrte. ›Dir ist schon klar, wie lächerlich wir aussehen, oder? Ich kenne einen Pferdeflüsterer, dem werde ich demnächst von dir erzählen.‹

Als wir uns in Bewegung setzten, war ich dankbar dafür, dass das einseitige Gefrotzel offenbar weiterging. Eine Gottheit, deren Gegenwart für mich eine Selbstverständlichkeit gewesen war, hatte ein jähes Ende gefunden, und ich war noch immer fassungslos. Ich hätte Oberons Bemerkungen mit keiner einzigen scherzhaften Entgegnung kontern können, weil ich einfach zu viele andere Dinge auf die Reihe kriegen musste – nicht zuletzt einen Plan, der uns wenigstens den Hauch einer Überlebenschance bot.

Sobald wir die Ausläufer des Apuseni-Gebirges hinter uns gelassen hatten, konnten wir unsere Schnelligkeit ausspielen. Wir kamen am Rand einer kleinen Hochebene vorbei, bis wir schließlich nach dem letzten Stück Wildnis über flaches Kulturland galoppierten. Um nicht von weiteren Erhebungen gebremst zu werden, hielten wir uns in nordwestlicher Richtung. Dabei blieben wir in der Nähe von Weingärten, Luzernen- und Getreidefeldern und machten einen Bogen um die Ortschaften. Wir durchschwammen zwei Flüsse und kreuzten schließlich bei Sonnenuntergang südlich von Oradea nach Ungarn. Über Oberon ließ ich Granuaile wissen, was mir die MORRIGAN mitgeteilt hatte – zumindest den Teil über Hernes Wald.

Ihre Frage erreichte mich auf gleiche Weise: ›Welche Route schlagen wir dorthin ein?‹

Unsere größte Chance lag schlicht in der Geschwindigkeit, außer wir entdeckten irgendwo eine unbeaufsichtige alte Tür nach Tír na nÓg. Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass sie alle bewacht wurden. Die Drahtzieher dieses Plans wollten sicher sein, dass sie uns erwischten, und eine Voraussetzung dafür war, dass wir nicht einfach nach Tír na nÓg und von dort in ein unbekanntes Gefilde wechseln konnten. So waren auch die Römer auf Betreiben der Vampire bei ihrem Versuch vorgegangen, die alten Druiden auszurotten. Als Erstes brannten sie alle heiligen Haine auf dem Kontinent nieder, die damals die einzigen Verbindungen nach Tír na nÓg darstellten; zweitens postierten sie Wächter an sämtlichen alten Türen; und zu guter Letzt machten sie sich MINERVAS Hilfe zunutze, um unsere Tarnung zu durchschauen. Ich war ihnen nur entronnen, weil ich bis über die Grenzen des Römischen Reichs nach Norden geflohen war. Es hätte mich nicht gewundert, wenn MINERVA den Jagdgöttinnen, PAN und FAUNUS erklärt hätte, auf welche Art sie uns verfolgen mussten.

Noch nie zuvor war ich mit solcher Geschwindigkeit quer durch Europa gestürmt. Einmal war ich die Strecke gewandert. Dabei stieg ich in Jugendherbergen ab und hatte Aufnäher am Rucksack, weil ich das witzig fand. Aber damals ließ ich mir Zeit und genoss das Erlebnis des Bergsteigens. In der jetzigen Situation waren Berge für mich eher Hindernisse, außerdem wollte ich nicht vorzeitig unsere Laufrichtung preisgeben. Für den Weg nach Dover hätten wir uns einfach nach Nordwesten wenden können. Doch auf dieser Strecke lagen nicht nur mehrere Gebirgszüge, sondern auch viele stark asphaltierte Städte wie Budapest und Wien. Wir mussten unsere Verfolger in die Irre führen und jederzeit direkten Kontakt zur Erde halten können. Deswegen machte ich an der ungarischen Grenze einen scharfen Schwenk nach Norden. Hatten wir erst die Karpaten hinter uns, ging es bis nach Frankreich nur noch durch Flachland oder schlimmstenfalls durch niedrige Hügel. Auf dem anschließenden Weg nach Nordwesten durch Polen und Deutschland konnten wir so den Eindruck erwecken, dass wir über Dänemark nach Schweden wollten. Für die beste Route, die die Mehrheit der Ortschaften vermied und zugleich unerfreuliche Begegnungen mit Sonderlingen ausschloss, die sich in den Wäldern auf die Apokalypse vorbereiteten, musste ich mich unterwegs mit Elementargeistern beraten. In meinem lateinischen Kopfraum wandte ich mich an den karpatischen Elementargeist, der über mehrere von Menschen gezogene, politische Grenzen hinweg herrschte – diese waren GAIA natürlich gleichgültig.

//Druiden fliehen / Brauchen Weg / Wenn möglich keine Begegnung mit Menschen und Städten//

Nach einigem Hin und Her einigte ich mich mit Karpatia auf eine Strecke, die uns in nördlicher Richtung durch ländliche Gegenden in Ungarn und der Slowakei führen würde, bis wir die Westkarpaten erreichten.

Als der Plan stand und die erste Stunde vergangen war, hatte ich endlich Zeit für Gefühle, und ein großer Teil dieser Gefühle floss mir beim Laufen aus den Augen. Fast mein ganzes Leben hatte ich zur MORRIGAN gebetet, und in den letzten Jahren war die Verbindung noch … inniger geworden. Für mich war sie die Dunkelheit, eine unvermutet schöne Künderin von Unheil und Schmerz, die mich dazu zwang, mich anzustrengen und immer weiter an mir zu arbeiten. Sie war ein notwendiger Ausgleich zu BRIGHID und eine Instanz, die nicht nur Furcht weckte, sondern der vor allem auch Respekt gebührte. So wie BRIGHID uns mit Licht, Handwerkskunst und Poesie beschenkte, hatte die MORRIGAN meinem Leben eine Schärfe und schonungslose Klarheit gegeben, die ich nicht missen wollte.

Im Nachhinein erkannte ich, wie sehr mich die MORRIGAN im Vergleich zu normalen Sterblichen bevorzugt hatte. Vor allem vor sechs Jahren, als sie mich zur Reparatur der Tätowierungen an meinem Handrücken von Granuaile wegbrachte, war sie mir mit völlig untypischer Offenheit begegnet. Damals hatte ich dieses Benehmen darauf zurückgeführt, dass wir uns in einer mit harmoniefördernden Bindezaubern belegten Kammer befanden. Jetzt wurde mir klar, dass ihr unsere Begegnung dort die ganze Zeit nachgegangen war. Sobald wir die Kammer verließen, war sie zu ihrem grausamen Selbst zurückgekehrt, ohne es vielleicht unbedingt zu wollen. Und das war es, woran sie zerbrach: nicht an der Liebe zu irgendeinem Typen, sondern an der inneren Unfreiheit, die es ihr unmöglich machte, ihren wahren Gefühlen zu folgen.

Ich hatte mich bemüht, ihr ein Freund zu sein, aber dadurch wahrscheinlich alles nur noch verschlimmert. Einfach so zum Spaß waren wir zu ein paar Baseballspielen gegangen. Dort ließ sie sich unweigerlich über die Versagensängste und die Schuldgefühle oder die Verzweiflung der Spieler wegen schlechter Leistungen aus und nahm ihre Erfolge nur zur Kenntnis, wenn ich sie darauf hinwies. Dann zuckte sie jedes Mal zusammen und begriff meine Bemerkung als Zurechtweisung. Offenbar war sie der Meinung, dass ihr das ebenfalls hätte auffallen müssen, doch sie hatte einen Filter in ihrem Bewusstsein, der solche Dinge systematisch ausblendete. Bei jedem Stadionbesuch ging sie voller Optimismus in den Abend, überzeugt, dass sie sich diesmal auf einer ganz oberflächlichen Ebene an dem Wettbewerb und an meiner Gesellschaft erfreuen und alle Gefühle ignorieren konnte, auf deren Wahrnehmung sie als Göttin des Todes, des Krieges und der Lust spezialisiert war. Meist war dieser Optimismus spätestens im dritten Inning verflogen, und sie saß schweigend da, weil sie Angst hatte, mit jeder Äußerung nur das Negative zu betonen. Meine Aufmunterungsversuche und fröhlichen Bemerkungen führten ihr lediglich vor Augen, wie grundsätzlich ihr die Fähigkeit zum unbeschwerten Umgang mit anderen fehlte.

Einmal schauten wir uns ein Spiel in St. Louis an, und nach einem kurzen Besuch im Fanartikelshop fiel mir auf, wie anders die MORRIGAN mit Trikot und Mütze der Cardinals wirkte. Sie sah verdammt süß aus – nicht scharf oder verrucht oder sexy, sondern einfach bloß auf eine unschuldige Weise reizend, die den Betrachter mit Freude und Dankbarkeit darüber erfüllte, am Leben zu sein. Aber als ich ihr genau das sagte, verstand sie diese Nuance nicht und konnte auch nach mehreren Erklärungsversuchen nichts damit anfangen. Sie dachte, dass ich Sex wollte, nur um dann festzustellen, dass das nicht der Fall war. Danach waren wir beide frustriert und verlegen. Trotz dieser Schwierigkeiten hatte ich allerdings geglaubt, dass wir Fortschritte erzielten und nach zwei Jahrtausenden einer prekären Allianz gegen AENGHUS ÓG tatsächlich noch zu so etwas wie Freunden wurden. Anscheinend hatte die MORRIGAN jedoch nicht den Eindruck, dass diese Fortschritte groß genug waren oder in die richtige Richtung gingen.

Nicht weniger enttäuschend war für sie wohl, dass sie keinen Eisenelementargeist dazu bewegen konnte, ihr bei der Bindung eines kalten Eisenamuletts an ihre Aura zu helfen. Sosehr sie sich auch anstrengte, sie konnte die Schranken ihrer Göttlichkeit nicht überwinden und einfach nur rückhaltlos freundlich sein.

Wahrscheinlich war sie jetzt frei von all diesen Zwängen und – in geringerem Maß – auch von einem hirnlosen Druiden, der ihre wahren Gefühle nie erkannt hatte. Hätte ich sie im magischen Spektrum betrachtet, wären mir diese emotionalen Bande vielleicht aufgefallen, so wie sie Granuaile zwischen uns aufgefallen waren, nachdem sie ihre magische Sicht erlangt hatte. Doch ich hatte es nie gewagt, die MORRIGAN auf diese Weise anzuschauen. Sie hätte es natürlich gemerkt und als Verletzung ihrer Privatsphäre begriffen – und auf solche Verstöße reagierte sie ziemlich schroff.

Auch ich war jetzt wohl frei, allerdings ohne mein Zutun. So lächerlich es schien, ich sehnte mich danach, dass sie mich mit ihren roten Augen anfunkelte und mir meinen drohenden Tod verkündete. Ich sehnte mich danach, mit ihr ein Baseballspiel zu besuchen und sie in der althergebrachten, wenn auch abstoßenden Kunst des Kauens von Sonnenblumenkernen zu unterweisen.

Und, zugegeben, ich sehnte mich nach ihrem Schutz. Sie war die Einzige, die auf mich aufgepasst hatte. Ohne die Obhut der MORRIGAN konnte mich wieder jederzeit ein gewaltsamer Tod ereilen. Natürlich war das in meinem langen Leben fast immer so gewesen, trotzdem vermisste ich schon jetzt die relative Sicherheit der letzten zwölf Jahre. Nach meinem Entschluss, nicht mehr vor AENGHUS ÓG davonzulaufen, hatte die Häufigkeit der Anschläge auf mein Leben drastisch zugenommen, und der Beistand einer Göttin war mir ein großer Trost gewesen. Auch wenn sie mir nur sporadisch und nie ohne Schmerzen geholfen hatte – ohne ihren Rückhalt wäre ich schon längst tot gewesen. Jetzt war sie nicht mehr da, und zwei Unsterbliche saßen mir im Nacken. Vielleicht neigte sich der Sand in meinem Stundenglas doch allmählich dem Ende zu.

Bald fanden wir heraus, dass es unpraktisch war, wenn wir alle drei verborgen liefen. Wir verloren einander aus den Augen und teilten uns unabsichtlich auf, oder wir stießen zusammen. Schließlich machte ich mich wieder sichtbar, weil ein über die Felder springender Hirsch nicht besonders auffällig war und keinen Anlass zur Beunruhigung bot. Bei Granuaile als Pferd hingegen hätte jemand auf die Idee kommen können, sie einzufangen, und bei Oberon war zu befürchten, dass er als herrenlos gemeldet wurde. Am einfachsten war es, wenn Granuaile völlig unsichtbar und Oberon getarnt blieb und sie mir auf diese Weise folgten.

Selbst ohne Magie waren wir in der Regel ziemlich schnell. Jeder von uns erreichte bis zu fünfundvierzig Stundenkilometer und konnte dieses Tempo bis zu fünf Kilometer ohne Unterbrechung durchhalten. Mit GAIAS Unterstützung schafften wir sogar sechzig oder siebzig Stundenkilometer und mussten keine Pausen einlegen, weil wir die erschöpften Muskeln unterwegs aufladen konnten.

Die Osthälfte der Slowakei ist überwiegend ländlich, und wir kamen mühelos voran, vor allem wenn die Leute am Abend heimgekehrt waren. Gelegentlich bremsten wir beim Überqueren einer Straße oder Überspringen eines Zauns, doch ansonsten liefen wir schweigend dahin und hofften, den Abstand zu den Jägerinnen so sehr zu vergrößern, dass sie nicht mehr aufholen konnten. Auf die ersten Probleme stießen wir nördlich eines Sees namens Vel’ká Domaša.

Der Domaša erstreckt sich ungefähr fünfzehn Kilometer weit von Norden nach Süden und verdankt sich dem Bau einer Staumauer im Fluss Ondava. Seine silbrig vom Mond beschienene Oberfläche war links an uns vorbeigezogen, als wir durch die bewaldeten Hügel auf der Ostseite trabten. Es war ein älterer Forst, der Menschen ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, weil das Unterholz verdrängt oder gezähmt worden war und keine menschenfressenden Raubtiere verbergen konnte. Stattdessen wanderten die Leute darin herum und suchten nach Pilzen.

Nachdem wir ein winziges Kaff mit vielleicht fünfhundert Einwohnern passiert hatten – es hieß Turany nad Ondavou, wie ich später erfuhr –, bewegten wir uns aus den Hügeln nach unten Richtung See.

In diesem Augenblick nahm Oberons Nase die Witterung von etwas auf. ›Hey, Atticus. Entweder da ist was tot, oder hier treibt sich irgendwo ein Vampir rum.‹

›Ja, ich rieche es‹, antwortete ich.

›Das schlaue Mädchen auch.‹

›Gut, wir warten hier kurz. Sag ihr, sie soll sich nicht bewegen. Wenn sie sich in einen Menschen zurückverwandelt, kann der Vampir sie wahrnehmen.‹

›Und jetzt nimmt er uns nicht wahr?‹

›Im Moment sind wir harmlose Tiere, und er sucht wahrscheinlich eher nach Menschen.‹

Vor uns lag eine Straße, die zu einem Grenzübergang führte – also zu einem Pass durch die Karpaten. Wir hatten vor, in etwa seiner Ostseite zu folgen. In nördlicher Richtung konnte ich auf der Straße nichts erkennen, doch als ich den Blick zurück nach Süden in Richtung des Dorfs wandte, fielen mir vier Gestalten auf, je zwei auf einer Straßenseite. Offenbar warteten sie auf etwas, denn sie spähten gespannt nach Süden. Sie trugen Jeans und hatten die Kapuzen ihrer Shirts über die Köpfe gezogen. Die Hände steckten in den Taschen.

Mit der magischen Sicht bemerkte ich, dass eine der drei Gestalten die verräterische graue Aura eines Vampirs hatte. Weitaus gefährlicher fand ich allerdings die drei anderen. ›Dunkelelfen.‹

›Granuaile schlägt vor, dass wir sie anzünden.‹

Ich stieß eine Art mentales Prusten aus. Dafür blieben die Dunkelelfen nicht lang genug in festem Zustand. ›Vielleicht sollte ich an dieser Stelle auf das alte Sprichwort verweisen, dass man Rache am besten kalt genießt.‹

›Das musst du mir bei Gelegenheit mal erklären. Du betonst es, als wäre es was Schlimmes, aber ich denke dabei an Eiscreme, weil man die auch am besten kalt genießt. Wahrscheinlich wären überhaupt mehr Leute auf Rache aus, wenn sie mit Eis serviert würde. Oder meinetwegen auch mit Softeis oder Frozen Yogurt, allerdings nicht mit der Sorte, wo Obst drin ist, weil …‹

›Oberon.‹

›Ja?‹

›Frag Granuaile, ob sie sie wirklich beseitigen oder nicht doch lieber weiterlaufen will.‹

Erst nach einer kurzen Pause kam die Antwort. ›Sie meint, beseitigen wäre besser. Sie möchte nicht, dass diese Kerle mit den Göttinnen gemeinsame Sache gegen uns machen. Aber falls wir uns dazu entschließen, müssen wir schnell sein.‹

Mit Letzterem hatte sie absolut recht. Die Jägerinnen waren unterwegs, und wir konnten uns keinen Zeitverlust erlauben. Vielleicht hatten die Elfen sowieso nur die Aufgabe, uns ein wenig aufzuhalten.

Unsere letzte Begegnung mit Dunkelelfen hatten wir in Thessaloniki erlebt, und wir waren nur mit knapper Not entronnen. Allerdings waren es diesmal nicht so viele, und Granuaile war inzwischen eine richtige Druidin mit Kräften, auf die sie wahrscheinlich nicht gefasst waren.

Wusste der Vampir, was wir mit ihm anstellen konnten? Vielleicht war er jung und hatte keine Ahnung von druidischen Kräften. Für die Gruppe war er dennoch von Nutzen, weil er ihr Sensorium darstellte. Wir konnten uns nicht unbemerkt anschleichen. Er würde uns lange vorher wittern oder hören.

›Zuerst löse ich den Vampir auf, dann greife ich von hier aus offen an. Granuaile soll unsichtbar bleiben und den Dunkelelfen in die Flanke fallen. Mit magischer Sicht kann sie ihren Bewegungen folgen, wenn sie sich in Rauch verwandeln.‹

Granuaile wechselte die Gestalt, blieb jedoch unsichtbar. Offenbar beschwerte sie sich, als sie Oberon um ihre Messer bat, denn mein Hund erwiderte: ›Sabber gehört zu den vielen großartigen Serviceleistungen, die ich gratis anbiete.‹

›Oberon, bleib bitte hier. Bei denen gibt’s für dich nichts zu beißen.‹

›In Ordnung, ist mir recht. Ich wollte sowieso schon länger intensive Wartungsarbeiten an meinem Fahrgestell vornehmen, wenn du verstehst, was ich meine, aber ihr flippt ja immer aus, wenn ich damit anfange.‹

›Sag Granuaile, sie kann losziehen. Ich löse jetzt den Vampir auf.‹

Ich wechselte in menschliche Gestalt und sprach, auf den Vampir konzentriert, die Worte, die ihn in Kohlenstoff, Wasser und Spurenelemente zersetzen würden. Ohne ihn waren die Dunkelelfen auf ihre eigenen Sinne beschränkt. Ich hörte, wie Granuailes Schritte auf dem Hang hinunter zur Straße verhallten. Sie sollte sie von Norden überraschen, während ich aus dem Nordosten kam.

Alarmiert durch eine Wahrnehmung, fuhr der Vampir herum und deutete mit ausgestrecktem Arm in meine Richtung. Im nächsten Moment aktivierte ich die Auflösung. Er zerfiel in seiner Kleidung, und aus der nach unten rutschenden Jeans quoll eine Art roter Brei. Ich hob die Tarnung auf, zog Fragarach und stürmte nackt und schreiend auf die Gruppe zu, so wie wir Kelten es in der guten alten Zeit immer gemacht hatten.

Auch die Dunkelelfen fanden es jetzt nicht mehr nötig, sich als Menschen auszugeben. Beim Abgang des Vampirs wandten sie prompt den ersten Trick ihres Drehbuchs mit dem Titel Sigr af Reykr an, die Kriegskunst Sieg durch Rauch. Anders ausgedrückt, sie wurden körperlos und entzogen sich so allen Angriffen mit Stich- und Schusswaffen. Eine fabelhafte Taktik gegen jemanden, der keinen Blick ins magische Spektrum werfen konnte: Für ihn wären sie einfach spurlos in der Nacht verschwunden. Doch ich sah sie deutlich als Wolken weißer Energie – und wusste außerdem, dass sie ihre Rauchgestalt höchstens fünf Sekunden beibehielten. Dann mussten sie für mindestens eine Sekunde wieder menschliche Gestalt annehmen, ehe sie sich abermals in Rauch auflösen konnten. In dieser einen Sekunde waren sie anfällig, und wenn ich mit meiner Vermutung richtig lag, konnten sie mit einer Verletzung nicht wieder zu Rauch werden.

Jeder von ihnen verfügte über ein schwarzes Messer, das sich zusammen mit seinem Körper auflöste und verfestigte, aber als magische Waffe meine Aura nicht durchdringen konnte. Granuaile und Oberon hingegen waren gegen diese Messer anfällig, und daraus ergab sich mein Plan, dass die Dunkelelfen mich nach Belieben durchlöcherten, während Granuaile sie aus dem Hinterhalt überrumpelte.

Ich raste den Hügel hinunter und überquerte das Feld, das noch zwischen mir und den Dunkelelfen lag. Dabei fiel mir auf, dass sie nicht auf die Bäume neben der Straße zusteuerten oder eine mir zugewandte Formation bildeten. Stattdessen verfestigten sie sich kurz und wurden wieder zu Rauch, ohne ihre Positionen zu verlassen.

Merkwürdig. In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken, und ich hielt schlagartig den Mund. Angestrengt überlegte ich, was da los war. Zwar entdeckte ich keine Anzeichen einer magischen Falle, aber vielleicht hatten sie sich etwas Banaleres ausgedacht. Möglicherweise hatten sie um ihre Stellung herum Minen gelegt und warteten jetzt in aller Ruhe darauf, dass ich in die Luft flog.

Oberon, sag Granuaile, sie soll sich auf der Straße nähern. Das Gelände daneben ist vielleicht vermint.

Dann wandte ich mich an Karpatia. //Anfrage: Flach vergrabenes Metall auf Weg vor mir?//

//Ja//

Ich stoppte ab. //Zeig es mir//

Kurz darauf flackerten Bilder in meinen Kopf. Zu beiden Seiten der Straße umgab ein Gürtel von Antipersonenminen M16A2 in einem Abstand von mindestens zweihundert Metern die Stellung der Dunkelelfen. Ein amerikanischer Bautyp, den man überall im Nahen Osten und in Asien antreffen konnte. Wenn man auf eine trat und den Fuß wieder wegnahm, schnellte die Mine ungefähr einen Meter weit aus dem Boden, ehe sie detonierte und alles in einem Umkreis von dreißig Metern mit Granatsplittern durchlöcherte. Aus Sicht meiner Gegner wäre es schlauer gewesen, moderne Minen mit geringem Metallanteil zu verwenden. Vermutlich verließen sie sich einfach auf meine Dummheit. Ich befand mich immer noch in sicherer Entfernung und konnte die Minen aus der Ferne sprengen. Zwar gehört das Bewegen von Erde nicht gerade zu meinen Stärken, aber bei Bedarf kann ich schon ein wenig Humusschicht verschieben.

Oberon, sag Granuaile, sie soll in Deckung gehen.

Ich konzentrierte mich auf ein Stück Grasnarbe in der Nähe und verband es mit dem Deckel der ersten Mine. Die Scholle flog durch die Luft und löste bei der Landung den Springmechanismus aus. Eine krachende Explosion zerriss die nächtliche Luft, und Eisensplitter spritzten nach allen Richtungen, ohne Schaden anzurichten. Diese Übung wiederholte ich so oft, bis sämtliche Minen hochgegangen waren.

Ahnungslose Dunkelelfen. Die Erde hilft den Druiden.

Merkwürdigerweise regten sie sich immer noch nicht. Als sie sich verfestigten, blickten sie in meine Richtung, behielten aber ihre Plätze an der Straße bei. Das hieß, sie verfügten über einen weiteren Schutz und wollten, dass ich sie angriff. Darauf ließ ich mich natürlich nicht ein, denn wenn man tut, was der Feind will, kann man gleich ein Bad mit einem elektrischen Küchengerät nehmen. Vielleicht hatten sie doch noch einen Ring mit Plastikminen gezogen. So etwas war für Karpatia schwer erkennbar, sie hätte darin höchstens falsch plazierte Erdstücke wahrgenommen.

Warne Granuaile, sie soll auf weitere Fallen gefasst sein. Die Kerle wirken viel zu entspannt. Sie soll sie aus größtmöglicher Entfernung erledigen.

›Roger‹, antwortete Oberon.

Ich winkte die Elfen zu mir, doch sobald sie das bemerkt hatten – was bewies, dass sie über ausgezeichnete Nachtsichtfähigkeiten verfügten –, ahmten sie meine Geste mit einem weißen Grinsen im Gesicht nach. Ich lächelte zurück und beobachtete im selben Augenblick, wie einer an der hinteren Seite der Straße ein Wurfmesser in den Hals bekam. Nett von ihm, dass er sich nicht vom Fleck gerührt und Granuaile keine Mühe gemacht hatte. Sein Gegenüber wurde sofort zu Rauch, doch der verbliebene Dunkelelf auf meiner Seite hatte nichts mitbekommen, weil er mir zugewandt war. Ich grinste ihn weiter mit ausladenden Gesten an, und kurz darauf sackte er ebenfalls zu Boden. Nach Ablauf seiner fünf Sekunden verfestigte sich der letzte Dunkelelf in geduckter Haltung, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Doch Granuaile hatte mit diesem Manöver gerechnet und nagelte ihn trotzdem fest. Ihr Wurf, obschon nicht tödlich, traf ihn in die Schulter. Meine Vermutung bestätigte sich: Sobald die Haut verletzt war, konnten Dunkelelfen ihre Substanz nicht mehr auflösen. Auf der Erde kauernd, umklammerte er das Messer und fluchte auf Altnordisch.

Sag Granuaile, sie soll zu dir zurückkehren und die Messer zurücklassen. Wir können ihr unterwegs andere besorgen. Entscheidend ist, dass sie ihn unschädlich gemacht hat, und ich möchte nicht in eine unsichtbare Falle tappen.

Nach einer Pause antwortete Oberon: ›Sie sagt, wer als Letzter beim Hund ist, ist eine lahme Ente.‹

Mit einem Grinsen sprintete ich den Hügel hinauf und ließ den einsamen Dunkelelfen zurück, der zuschauen durfte, wie sich seine Kumpane in schwarzen Teer auflösten. Der regelmäßige Konsum von Immortali-Tee mochte meinen Körper vor dem Altern bewahren, aber dank Granuaile fühlte ich mich auch wieder jung.

3

Wenn sich Dunkelelfen und ein Vampir so lange an dieser Stelle herumgetrieben hatten, dass sie Landminen legen konnten, musste jemand von unserer Route gewusst haben. Das legte zwei mögliche Schlüsse nahe: Entweder hatte der Betreffende einen Tipp von den OLYMPIERN bekommen – was ich eher für unwahrscheinlich hielt, weil sie nicht den vollen Ruhm einheimsen konnten, wenn sie mich von anderen umbringen ließen –, oder jemand folgte der MORRIGAN und hatte geahnt, welchen Weg wir einschlagen würden. Daher war dieser Jemand vermutlich ein Feenwesen. Nur wenige andere hatten die Möglichkeit, sich unbemerkt in den irischen Gefilden zu bewegen.

Ausgehend von der Annahme, dass wir nach Norden wollten, war unsere Route in der Tat nicht sonderlich schwer zu erraten. Durch die Karpaten führten nur wenige Pässe, und ein Fluss bot eine günstige Gelegenheit, einen Verfolger abzuschütteln: Man überquert ihn, man überquert ihn erneut, man tut, als wollte man ihn überqueren, bleibt aber in Wirklichkeit im seichten Wasser und geht dann ein Stück flussaufwärts auf der gleichen Seite wieder an Land. Was lag also näher, als auf den Fluss zu tippen, der mehr oder weniger direkt zu diesem Pass führte?

»Kann sein, dass uns ein Feenwesen auf den Fersen ist«, sagte ich zu Granuaile.

›Und deshalb müssen wir jetzt sozusagen Feengeld geben‹, bemerkte mein Hund philosophisch.

»Da hast du recht, Oberon. Aber wir haben auch noch andere Möglichkeiten.«

›Was zum Beispiel?‹

»Auf jeden Fall müssen wir die Augen offen halten. Anscheinend sind nicht nur die Göttinnen hinter uns her. Wir müssen uns weiter vor Vampiren und Dunkelelfen in Acht nehmen, und ich glaube, sie haben Unterstützung aus Tír na nÓg.«

»Gibt es überhaupt noch Leute, die uns mögen?« Bitterkeit kroch in Granuailes Stimme. »Dann sollten wir nämlich dringend was mit ihnen unternehmen, wenn wir das hier überleben.«

»Ja. Und vielleicht einfach eine Weile aus Europa verschwinden, sobald es geht.«

Mit einem tiefen Atemzug verbannte Granuaile alles Wunschdenken und besann sich aufs Praktische. »Zurück zu unseren Möglichkeiten. Wir müssen aus der Defensive rauskommen. Was meinst du, wäre es eine blöde Idee, auf unserem Weg ein paar Fallen zu bauen?«

»Nein, ganz im Gegenteil. Ich sehe darin sogar eine strategische Notwendigkeit.«

»Alles klar. Selbst wenn sie nicht hineintappen, werden sie danach vorsichtiger sein und nicht mehr so schnell vorrücken. Wir sollten eine Fallgrube mit Spießen am Boden bauen. Du machst die Grube und ich die Spieße.«

Ich grinste sie an. »Du schlägst ein kleines Gemetzel vor? Finde ich spitze .«

Granuaile ließ ihren Stab fallen, trat vor und drückte die Hände flach an meine Brust. Ihr Gesicht zuckte zu einem flüchtigen Kuss vor, wich aber im letzten Moment zurück. Mir blieb nur die Wärme ihres Atems und der Duft ihres Erdbeer-Lipgloss. Dabei trug sie vermutlich gar keinen – Kosmetikprodukte bleiben beim Gestaltwandeln meistens auf der Strecke. Trotzdem roch ich ihn inzwischen immer, denn die Erinnerung daran war unauslöschlich mit dem Anblick ihrer Lippen verbunden. Plötzlich stieß sie mich von sich und wurde zum Pferd. Mit dem Stab im Maul preschte sie in vollem Galopp nach Norden. Verwirrt und sehnsüchtig starrte ich ihr nach.

Wenige Sekunden später erreichte mich ein mentales Ächzen von Oberon. ›Sie sagt, wenn du was von ihr willst, musst du vor ihr auf der anderen Seite der Karpaten ankommen.‹

Mit einem breiten Grinsen ließ ich Fragarach in der Scheide auf den Boden fallen und verwandelte mich in einen Hirsch. ›Dann Tempo!‹, mahnte ich ihn und hob das Schwert mit dem Maul auf.

›Hab ich dir schon mal meine Ansichten über das menschliche Paarungsverhalten mitgeteilt?‹

Es war ein ernstes Rennen, wie mir erst nach einer Weile dämmerte. Ungefähr die halbe Strecke gab ich mich in männlich vernagelter Art dem Wahn hin, sie würde das Tempo drosseln und mich gewinnen lassen. Und als ich endlich den Abstand verkürzen wollte, stellte ich fest, dass sie bisher gar nicht in vollem Galopp gelaufen war und noch in den sechsten und siebten Gang hochschalten konnte.

›Kannst du mir einen umgangssprachlichen Ausdruck erklären, Atticus?‹

›Klar.‹

›Was ihr da gerade veranstaltet, ist das vielleicht ein Quickie?‹

Die Stute vor mir wieherte amüsiert. Ich fand das Ganze weniger lustig, weil ich einfach nicht aufholen konnte. Wir liefen entweder zwischen oder nahe bei den Bäumen an der Ostseite der E371, um nicht die Aufmerksamkeit der Fahrer zu erregen, die die Grenze zwischen der Slowakei und Polen überquerten. Wir befanden uns auf dem Duklapass, dem Schauplatz einer besonders blutigen Schlacht an der Ostfront im Zweiten Weltkrieg. Wie gedrungene Schachfiguren saßen Bauernhöfe und Denkmäler für die Gefallenen auf Rasengevierten zwischen Baumbeständen.

Als sie die Grenze und den Pass hinter sich gelassen hatte, hielt Granuaile mit schadenfroher Miene vor einem Luzernenfeld an. »Da wirst du deine sexuelle Energie wohl in den Bau einer tödlichen Falle für Unsterbliche umlenken müssen.«

›Viel Spaß beim Konstruieren von Unmöglichkeiten im Dunkeln. Ich mach dann mal ein Nickerchen.‹

Ein Nickerchen hätte ich auch nett gefunden, aber dafür blieb keine Zeit. Wenn wir jetzt schliefen, wachten wir vielleicht nie wieder auf. Also konzentrierten wir uns auf unsere Aufgabe.

Normalerweise braucht man für eine Fallgrube viele Stunden und praktisches Werkzeug wie eine Schaufel oder einen Bagger zum Ausheben der Erde. Aber wenn die Erde die ganze Arbeit selbst erledigt, dauert es bei weitem nicht so lang, und es geht auch ganz ohne Werkzeug. Wichtig ist, dass man die Sache schlau anpackt, falls man von zwei erfahrenen Jägerinnen verfolgt wird.

»Wir können es uns nicht leisten, dass du hier Äste abschneidest und zuspitzt«, erklärte ich. »Wenn sie über Nachtsicht verfügen oder nach dem Morgengrauen hier durchkommen, bemerken sie die Falle vielleicht und sind auf der Hut. Ich schlage vor, wir überqueren hier die Wiese auf Hufen und hinterlassen eine klare Spur. Sobald wir drüben sind, graben wir uns in Kaninchenmanier den Weg zurück, was meinst du?«

»Gute Idee.« Sie verwandelte sich in ein Pferd, nahm ihren Stab auf und galoppierte hinüber.

›Ach, dann komme ich wohl nicht zu meinem Nickerchen?‹

»Jedenfalls nicht hier. Auf, übers Feld der Freude. Da, nimm auch noch Fragarach mit. Sag Granuaile, sie soll schon mal anfangen, ich bin gleich wieder bei euch. Zuerst muss ich in der Grenzstation noch ein paar Taschenlampen besorgen.«

Oberon sperrte sein Maul besonders weit auf, damit er meine Scheide und Granuailes restliche Messer tragen konnte. ›Allmählich wird es lächerlich. Zur Linderung meines Traumas fordere ich ein Deluxe-Paket in einem Hundespa.‹

»Schluss mit dem Gejammer.«

›Das ist kein Gejammer, das ist Lobbyarbeit. Ich trete für meine Interessen ein.‹

Getarnt wandte ich mich in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Ob die Jägerinnen meine Fußspuren bemerkten, war mir egal. Sollten sie mir ruhig zur Grenzstation folgen und sich den Kopf zerbrechen, was mich dorthin geführt hatte.

Ich warf kleine Steine an die Fenster des Wachhäuschens. Wenig später traten zwei Posten mit Taschenlampen heraus, die in die Nacht leuchteten. Mit den Händen an den Pistolengriffen riefen sie warnend hinaus ins Dunkel. Schnell entriss ich ihnen die Taschenlampen, schaltete sie aus und belegte sie mit einem Tarnzauber. Aus Sicht der Wachposten waren die Lampen aus ihren Händen gesprungen und hatten sich in Nichts aufgelöst. Sie zogen ihre Pistolen, fanden jedoch kein Ziel, zumal es stockdunkel war. Ich rannte bereits zurück, verfolgt von polnischen Flüchen, die durch den Dopplereffekt bizarrerweise wie »Never Gonna Give You Up« in meinen Ohren klangen. Ich konnte nicht fassen, dass ich mich gerade selbst gerickrollt hatte.

Beim Luzernenfeld angekommen, lief ich gleich auf menschlichen Füßen weiter. Ein Gestaltwandel aus Plausibilitätsgründen war nicht nötig. Mir kam es nur darauf an, dass die Göttinnen auf meiner Fährte blieben. Verborgen unter den Bäumen auf der anderen Seite suchten wir Kontakt zu Karpatia. Granuaile wollte ein wenig Hilfe und die Erlaubnis, lebende Äste zu ernten, während ich die Sache mit dem Stollen und der Grube mitten in der Wiese erklärte, die ausgehoben werden musste, ohne dass die Grasnarbe oben beschädigt wurde. ARTEMIS und DIANA sollten den Streifen niedergetrampelte Luzernen sehen und direkt unserer Spur folgen.

Trotz Karpatias tatkräftiger Unterstützung dauerte der Bau der Falle eine geschlagene Stunde. Das Bewegen der Erde und der verborgenen Steine im Boden war für den Elementargeist kein großes Problem – eine Arbeit von ein paar Minuten –, doch wir mussten ziemlich oft durch den Stollen hin und her, weil wir eine Menge Spieße zu transportieren hatten. Wir konnten immer nur wenige tragen, weil wir auch noch die Taschenlampen hielten – unsere Nachtsicht reichte zwar für draußen, aber nicht für die undurchdringlich Finsternis unter der Erde. Am meisten Zeit beanspruchte das stabile Versenken der Spieße im Grund des Lochs.

Oberon zeigte sich sehr beeindruckt von der sechs Meter tiefen Grube. Für ihn war das eine bautechnische Glanzleistung.

›Wie tief ist die im Vergleich zu der in Sparta, in die sie die persischen Boten schmeißen?‹

»Nicht annähernd so tief.«

›Was würde passieren, wenn ein böser Cyborg, der sich nach Erlösung sehnt, den Imperator mit Blitzfingern dort runterschleudert? Würde es Wuuusch machen, wenn er auf dem Grund landet?‹

»Irgendwas würde es bestimmt machen, wenn auch wahrscheinlich nicht Wuuusch. « Ich hatte Sorge, dass es den Göttinnen irgendwie gelang, den Spießen zu entgehen. Sicher hatten sie Helfer dabei, die zuerst hineinstürzen würden, und möglicherweise landeten die Ladys auf den Helfern und blieben unverletzt. Deshalb sollten sie zumindest nicht einfach wieder hinaushüpfen können, falls sie nicht aufgespießt würden. Nicht einmal ich konnte senkrecht sechs Meter in die Höhe springen.

Und was, wenn ihre Streitwagen über einen Schwebezauber verfügten? Wenn ich mich recht besann, hatte ich, als die Göttinnen ihre Pfeile auf uns abfeuerten, einen kurzen Blick auf die Wagen erhascht und den Eindruck gewonnen, dass diese wie Hovercrafts über den Boden segelten. Ob die Helfer auch schweben konnten, wusste ich nicht. Wenn ja, hatten wir hier eine ganze Stunde vergeudet. Wenn nicht, würden ihre Zugtiere direkt hineinstürmen und die Streitwagen mit in die Tiefe reißen. Vielleicht. Jedenfalls hoffte ich, dass der Sturz in die Grube die Göttinnen auf die eine oder andere Art mindestens eine Stunde kosten und sie danach zwingen würde, das Tempo ihrer Hetzjagd auf uns ein wenig zu drosseln. Die MORRIGAN hatte uns mit ihrem Einschreiten und dem Auflösen der Streitwagen bereits ein paar Stunden Vorsprung verschafft, weil die Jägerinnen warten mussten, bis HEPHAISTOS und VULCANUS neue für sie geschmiedet hatten. Von dieser Zeit zehrten wir gerade. Mit Glück gewannen wir durch die Fallgrube einen halben Tag.

Das Dach der Grube bestand nur aus einem fein gewobenen Teppich von Luzernenwurzeln, der durch eine Bindung in der Mitte verstärkt war, damit er nicht durchhing. Nach unserem Aufbruch verschloss Karpatia hinter uns den Stollen.

Auf Hufen galoppierten wir bergab nach Nordwesten, weil wir die polnische Stadt Jasło im Südwesten umgehen wollten. Wir hatten vor, möglichst in ländlichen Gegenden zu bleiben und uns unterwegs in Dörfern mit dem Nötigsten zu versorgen. Der eingeschlagene Kurs hatte zudem den Vorteil, dass wir alle bergigen Gegenden in Polen und Deutschland vermieden. Nach unserer Ankunft in den Niederlanden konnten wir uns dann in südwestlicher Richtung nach Belgien wenden, bis wir Calais erreichten.

Reisen klingen so einfach, wenn man nacheinander in einem Satz aufzählt, welche Orte man besuchen will. Aber zu Fuß kommt man nicht so leicht nach England.

4

Ich glaube nicht, dass die Genialität der Sciencefiction-Serie Akte X , die die Neunzigerjahre beherrschte, heute noch von vielen Leuten gewürdigt wird. Damals aber setzte sie sich im Kopf des Zuschauers fest. Zumindest in meinem und auf eine Weise, über die ich mir erst später Klarheit verschaffen konnte. Zum Beispiel erfüllen mich rauchende Männer in Anzügen unweigerlich mit Angst. Egal, was ich gerade mache – wenn ich einen sehe, der sich seelenruhig Hunderte von Toxinen in die Lunge saugt, bekomme ich schlagartig das Gefühl, dass er irgendwie mein momentanes Tun bestimmt. Dann muss ich flüchten und mich mit etwas anderem beschäftigen, damit ich nicht mehr das Gefühl habe, eine Marionette in seinem Spiel zu sein. Und reden wir jetzt bitte nicht über Bienen.

Vor allem habe ich aus der Serie gelernt, Silhouetten im offenen Raum zu fürchten, auf die von hinten ein sonderbarer Schein fällt. Deswegen durchzuckte mich ein nervöser Schauder, als ich westlich von Jasło auf einem Zwiebelfeld dreizehn Gestalten bemerkte. Vielleicht hielten sie Mulders Schwester gefangen. Vielleicht konnte man sie nur töten, wenn man ihnen einen spitzen Gegenstand durch den Schädelbasisknochen rammte. Oder vielleicht waren es wieder Dunkelelfen.

Als ich mich näherte, begriff ich, dass das Licht nicht von hinten einfiel, sondern sie in violetten Abstufungen umfloss. Sie wirkten deshalb wie Silhouetten, weil sie Schwarz trugen, und der sie umgebende Schein war mir genauso vertraut wie einige der Gesichter. Ja, das waren Bannzauber, die ich kannte. Sie gehörten den Schwestern der Drei Auroras, dem polnischen Hexenzirkel unter Leitung von Malina Sokolowski, mit dem ich vor Jahren einen Nichtangriffspakt geschlossen hatte.

Malina stand ganz vorn in den buntesten und sicherlich auch mächtigsten Bannzaubern. Ihr langes blondes Haar war noch immer atemberaubend schön. In den letzten zwölf Jahren war sie um keinen Tag gealtert, genauso wenig wie ich. Doch die Umstände hatten sich verändert. Die anderen mir bekannten Mitglieder des Zirkels – Roksana, Klaudia, Kazimiera und Berta – drängten sich dicht um Malina.

Sie verfügte über acht neue Zirkelmitglieder, die den Pakt nicht unterzeichnet hatten, und ich über Granuaile, die ebenfalls nicht unterschrieben hatte. Wenn Malina fies werden wollte, musste sie bloß ihre Stellvertreterinnen vorschicken. Im Gegensatz zu mir war Granuaile nicht vor Zaubern geschützt, allerdings konnte auch sie fies werden, wenn es sein musste.

Über Oberon teilte ich Granuaile mit, dass wir uns in Menschen verwandeln sollten. Sie wechselte gleichzeitig mit mir die Gestalt, und wir näherten uns langsam trabend mit unseren Waffen in der Hand. »Sie kämpfen mit Silbermessern«, flüsterte ich ihr noch rasch zu, bevor wir in Rufnähe kamen. »Sind schneller als Menschen.«

»Verstanden.«

»Und schau ihnen nicht auf die Weichteile. Sie verwenden Lockzauber, um Menschen zu steuern.«

»Wie reizend.«

›Klingt unnötig kompliziert. Mich könnten sie jederzeit mit ein paar Krakauern steuern.‹

Malina wirkte überrascht, als sie sich an mich wandte. Vielleicht nur Verstellung. »Mr O’Sullivan? Was machen Sie denn hier?« Sie verzichtete auf die Ergänzung nackt in einem Zwiebelfeld , aber ihr Ton sprach Bände.

»Diese Frage könnte ich auch Ihnen stellen, Mrs Sokolowski.«

»In Polen heißt das Sokołowska. Wir haben hier Genusendungen für Namen, mit denen ich mich in Amerika nicht aufgehalten habe.«

»Ah, danke für die Aufklärung. Ich muss wirklich Polnisch lernen. Offenbar darf man gratulieren. Ihr Zirkel ist wieder erstarkt.«

»Ja, das sind wir. Und wie es scheint, gibt es auch eine neue Druidin auf der Welt.«

»In der Tat. Malina, darf ich vorstellen: Das ist Granuaile.«

Nach diesem kurzen Austausch von Höflichkeiten kam Malina gewohnt schnell zur Sache. »Durch Hellseherei haben wir eine große drohende Katastrophe erkannt. Ist Ihnen darüber etwas bekannt?«

»Nun, Sie sprechen sicher von Ragnarök.«

Sie schien zu glauben, ich hätte einen Scherz gemacht. »Ich meine es ernst, Mr O’Sullivan.«

»Ich auch. Bei unserem letzten Treffen in der Four Peaks Brewery in Tempe stand ich kurz davor, allen alles zu vermasseln. Und das ist mir auch so ziemlich gelungen. Jetzt versuche ich, das Unheil aufzuhalten oder, wenn ich das nicht schaffe, es zumindest abzumildern. Schätzungsweise haben wir noch ein Jahr, bis die Kacke am Dampfen ist.«

»Warum ein Jahr?«

»LOKI hat sich aus seiner langen Gefangenschaft befreit, und HEL verfügt über ein riesiges Heer, das sie gegen die neun Reiche einsetzen kann. Eigentlich hätte sie schon damit angefangen, aber wir konnten sie mit einem Ablenkungsmanöver, das ihren Stolz verletzt hat, fürs Erste davon abbringen. Außerdem verlasse ich mich auf eine Prophezeiung, die auf das nächste Jahr deutet.«

Malina lachte spöttisch. »Und von wem kommt diese Prophezeiung?«

»Von den Sirenen, die Odysseus anlocken wollten.«

Malina tauschte einen Blick mit Klaudia, der spindeldürren Hexe, die immer so aussah, als hätte sie gerade einige erotische Übungen hinter sich gebracht. Es lag an den Kleidern; sie trug sie auf eine Art, die den Schluss nahelegte, dass sie sie soeben noch nicht getragen hatte. »Die Sirenen haben Odysseus geweissagt, dass Ragnarök nächstes Jahr beginnt?«

Ich zuckte die Achseln. »Nicht direkt, aber es deutet alles darauf hin. Zum Beispiel haben sie gesagt, dass die Welt brennen wird. LOKI ist ein echter Pyromane, und sobald SURT Muspellheim verlässt, wird wohl einiges in Flammen aufgehen. Aber offen gestanden kenne ich den wahren Sinn der Prophezeiung nicht. Vielleicht sind auch bloß starke Waldbrände an einem Sommertag gemeint.«

»Das wage ich zu bezweifeln. Die Sirenen haben Helden nicht wahllos von unwichtigen Ereignissen erzählt.«

»Ach, dann haben Sie also von der Genauigkeit ihrer Weissagungen gehört?«

»Allerdings. Können wir etwas tun? Wir haben nämlich durch unser Ritual erfahren, dass hier bald ein Feuer ausbrechen wird.«

»Wirklich?«

»Ja. Und Sie wissen, dass ich in solchen Dingen nicht scherze.«

»Schon, aber ich habe keine Ahnung, warum ausgerechnet hier ein Feuer … Was ist?« Ich drehte mich zu Granuaile um, die mir auf die Schulter getippt hatte, und bemerkte ihre nach oben deutende Hand. »Oh, jetzt verstehe ich. Im Anflug!«

Aus dem westlichen Himmel schoss in hohem Bogen ein großer Feuerball auf uns zu. Wir wichen zurück und wurden von einer Druckwelle durchgeschüttelt, als der Feuerball auf die Erde krachte.

In seiner Mitte loderte ein vier Meter hoher Irrer und presste begeistert die Hände aneinander. »Da!« LOKIS Gesicht leuchtete vor Freude. »Hhh-hhh-hhhab dich!«

5

Ich riss Fragarach aus der Scheide und griff ihn an – für langes Palaver blieb keine Zeit. Mit einem einzigen Wink konnte er alle in Brand stecken. Mir kam es darauf an, dass er sich auf mich konzentrierte, statt Granuaile und Oberon in Asche zu verwandeln.

Nachdem mich erst neulich ein paar Dunkelelfen abgefackelt hatten, war auch ich ein wenig flammenscheu. Zum Glück war LOKIS Feuer von der magischen Sorte, und ich wusste, dass mich meine kalte Eisenaura davor schützte. Kichernd ließ er seine rechte Hand verschwinden, und im nächsten Augenblick wurde der Armstumpf zum Flammenwerfer. Umtost von Hitze stürzte ich mich auf ihn und hieb mit dem Schwert nach unten. Mit einem schnellen Schritt nach hinten wich er aus, doch ich hatte ihm eine lange Wunde am Oberschenkel beigebracht.

Brüllend stellte LOKI die Flammen ab. Sein Kopf zuckte hin und her, und er stierte mich fassungslos an, weil er nicht begriff, warum er mich nicht in Holzkohle verwandelt hatte.

»Du kannst uns nicht verbrennen, LOKI Feuerschlund«, sagte ich. »Wir sind alle geschützt.«

Du bist nicht geschützt , mahnte ich Oberon schnell. Bring dich mit Granuaile in Sicherheit.

›Alles klar.‹

LOKI wackelte heftig mit dem Finger und kniff die Augen zusammen. »Du bist kk-kkein W-w-werk«, stammelte er. »Z-Z-Zwerge k-k-kennen dich n-n-nicht. Llllügner!«

»Wen interessiert schon, wen die Zwerge kennen oder nicht kennen?« Ich setzte ein möglichst verstörendes Grinsen auf. Dank seiner geistigen Labilität war er vielleicht empfänglich für Einschüchterung. »Dich muss im Moment nur eins interessieren: Ich bin der Mann, der dich erschlagen wird.«

Mit weit aufgerissenen Augen wankte LOKI zwei Schritte zurück, als ich auf ihn zustapfte. Doch dann verschwand plötzlich sein rechter Arm hinter ihm, und er drückte den Rücken ein wenig durch. Kurz darauf tauchte der Arm wieder auf, und er hielt ein verdammt langes Schwert in der Hand, das sich vor meinen Augen von der Parierstange bis zur Spitze entzündete.

Ich runzelte die Stirn. »Wo hast du das denn auf einmal her?« Etwas Ähnliches war mir schon mal mit seiner Tochter HEL passiert, die ihr Messer Hunger zwischen den linken unteren Rippen aufbewahrte. Anscheinend hatte sie den Trick mit dem Körper als Schwertscheide von ihrem lieben Papa übernommen. Als Gestaltwandler brachten sie jedenfalls die nötigen Fähigkeiten dafür mit.

›Da bekommt der Ausdruck sich etwas aus den Rippen leiern auf einmal eine ganz neue Note.‹

Oberon! Granuaile soll mit den Hexen reden. Sie müssenLOKI irgendwie behexen.

›Gut. Trotzdem frage ich mich, wie das in einem Körperscanner am Flughafen kommen würde.‹

LOKIS Augen verdunkelten sich zu tiefer Schwärze, und er riss sein Schwert hoch. Schnell, Oberon! Die flammende Klinge sauste nach unten, aber ich war nicht mehr da. Erneut sprang ich direkt auf ihn los, weil das bei einem Gegner mit überlegener Reichweite die beste Taktik ist. Ich hackte oder stach nicht nach ihm, sondern versetzte ihm einen trockenen Tritt zwischen die Hüften, direkt in den Masseschwerpunkt. Er knickte nach vorn und ließ das Schwert fallen, dann schlug er schwer auf den Boden. Ohne den Blick von LOKI zu wenden, hörte ich, wie hinter mir jemand etwas auf Polnisch murmelte. Vor meinen Augen schrumpfte er zusammen und sprang völlig verwandelt auf: als vedischer Dämon mit blauer Haut, vier Armen und einer Klinge in jeder Hand, die er erneut direkt aus seinem Körper gezogen hatte. Er lächelte mit äußerst scharfen Zähnen und ließ die Schwerter in meine Richtung wirbeln. Erst viel später fand ich Gelegenheit, mich zu fragen, woher er diese besondere Gestalt hatte.

Ich musste mich zusammenreißen, damit ich nicht zurückwich. Mein letzter Übungskampf gegen mehr als zwei Klingen lag schon einige Zeit zurück. In meinen jüngeren Jahren hatten fast alle Leute ein Schwert besessen, und es war wahrscheinlicher, dass man auf so etwas stieß. Heutzutage hatte man eher mehrere Schusswaffen dabei.

Plötzlich richtete LOKI den Blick seiner jetzt pechschwarzen Augen auf einen Punkt über meiner rechten Schulter. Er blinzelte, blinzelte noch einmal, schüttelte den Kopf. Seine Schwerter erstarrten mitten in der Luft. Unverkennbar wollte er sich auf mich konzentrieren, doch seine Augen drifteten erneut weg, und diesmal zuckte er sogar zurück und ließ zwei von seinen Waffen fallen. Mit den freien Händen schlug er nach seinen Augenhöhlen, dann presste er sie darauf. »Nnnein! Nnnicht! A-a-aufhören!« Schließlich konnte er sich so weit überwinden, durch die Finger zu spähen, weil er offenbar Angst hatte, ich könnte ihn in seinem wehrlosen Zustand abstechen.

In diesem Moment trat Malina vor mich und schleuderte ihr Haar nach ihm. Das gab ihm den Rest. Seine Hände sackten nach unten, sein Kiefer ebenso und kurz darauf auch die beiden Hände, die noch Schwerter umklammerten.

»Er ist jetzt verhext«, erklärte Malina, ohne den Blick von LOKI abzuwenden. »Sie können die Sache hinter sich bringen und ihn töten.«

»Wir wollen ihn nicht töten«, erwiderte ich.

»Warum nicht?«

»Wenn wir ihn umbringen, wird HEL es spüren und aus schierer Verzweiflung sofort ihr Heer losschicken. Und das wäre der Beginn von Ragnarök. HEL will LOKI am liebsten bei der Show dabeihaben, verstehen Sie? Sie hat einen Vaterkomplex und möchte nicht ohne seine Anerkennung und Teilnahme gewinnen. Wenn Sie ihn beschäftigen können, wäre das ein echter Vorteil für uns.«

»Woher wissen Sie das?«

»LOKI sucht jetzt ungefähr schon seit vier Monaten nach mir. Na schön, das meiste davon hat er verpennt. Trotzdem. HEL hat in der ganzen Zeit nichts anderes getan, als ihn zu schützen.«

Roksana, die ihre Lockenpracht zu einem straffen Pferdeschwanz gebändigt hatte, warf in ihrer abgehackten Diktion ein: »Er soll für längere Zeit verhext bleiben?«

»Genau.« Ich grinste sie an.

Malina schnaubte. »Dieser Kerl ist äußerst labil. Es erfordert große Anstrengung, ihn ruhigzustellen. Sie haben selbst erlebt, dass wir ihn nur mit vereinten Kräften bändigen konnten. Was bekommen wir für diese Mühen, Mr O’Sullivan?«

»Nun, zunächst mal eine Welt ohne Ragnarök. Und ich kann Ihnen allen ein Paar von diesen schwarzen Hochglanzstiefeletten kaufen, die Sie anscheinend bevorzugen.«

»Darauf lasse ich mich nicht ein. Ich kann ihn gerne gleich wieder losbinden.«

»Sie möchten also mit schuld sein am Ende der Welt?«

»Im Moment geht es ihm anscheinend vor allem um Ihr Ende, Mr O’Sullivan. Nennen Sie mir einen Grund, warum wir ihn nicht befreien sollen.«

»Ich könnte Ihnen als Belohnung Girl Scout Cookies besorgen, die es in Polen nicht gibt. Zum Beispiel die hauchdünnen Schokoplätzchen mit Minzfüllung.«

»Etwas mehr Ernst, wenn ich bitten darf.«

»Oder vielleicht lieber die Samoas mit Karamellüberzug und Vanillefüllung?«

Malina funkelte mich giftig an.

»Also gut«, lenkte ich ein. »Was wollen Sie?«

»Wenn es tatsächlich nicht nur um Ihr Leben, sondern um die ganze Welt geht, erwarten wir mehr als nur ein paar Plätzchen.«

›Ich wusste es. Wenn man einer Hexe ein Plätzchen gibt, will sie gleich noch ein Glas Milch dazu.‹