Die Chroniken von Leonsk - Alexej Parin - E-Book

Die Chroniken von Leonsk E-Book

Alexej Parin

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Beschreibung

Mit einer klugen Parabel auf das heutige Russland legt der Kritiker und Dichter Alexej Parin seinen ersten Roman vor. Die russische Stadt Leonsk blickt auf eine eindrucksvolle Geschichte zurück: Einst von venezianischen Adelsfamilien gegründet, entwickelte sie sich zu einer Hochburg der Kunst, Musik und Bildung. Doch noch etwas zeichnet die märchenhafte Stadt und ihre Bewohner aus: Sie haben Zwerglöwen aus Venedig mitgebracht, die in Leonsk heimisch geworden sind. Die sanften und intelligenten Leoncini wurden zum Wahrzeichen der Stadt und ein Symbol ihrer Unabhängigkeit. Doch die Zwerglöwen sind in Gefahr – und mit ihnen die Freiheit von Leonsk. Der undurchsichtige Bürgermeister lässt die Statuen der Löwen in der Stadt demontieren, bald darauf kommt es zu einem folgenreichen Anschlag auf die Tiere und ihre Besitzer und in Leonsk bleibt nichts von der einstigen Größe zurück.

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DIE CHRONIKEN VON LEONSK

ALEXEJ PARIN

DIE CHRONIKENVON LEONSK

Roman

Aus dem Russischen von Anastasia Risch

Lektorat: Teresa Profanter

Umschlagbild und Satz: Nikola Stevanović

Hergestellt in der EU

Alexej Parin: Die Chroniken von Leonsk

Aus dem Russischen von Anastasia Risch

Originaltitel:

Алексей Парин: Хроника города Леонска

©Novoe Literaturnoe Obozrenie, Moskau, 2015

Die Übersetzung wurde dankenswerterweise von Tatjana Schischkina großzügig unterstützt.

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2016

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-332-4

MARIK UND CINO

Cino1 knurrte im Schlaf auf: ein kurzer, abgehackter Laut. Seine dunkelgelbe Mähne lag ausgebreitet auf dem Boden; sie war nach der letzten Mode mit gepflegten Löckchen versehen, und die Sonnenstrahlen glänzten darin wie in den üppigen Locken einer Blondine. Cino träumte von einer Verfolgungsjagd. Er rannte mit atemberaubender Geschwindigkeit einer Antilope in der Wüste nach, und sein kurzes, schlaftrunkenes Knurren war ein Ausdruck von Rage. Da war sie, diese wunderbare, geheimnisvolle Kreatur, so hinreißend in ihrer Eleganz. Er war ihr auf den Fersen. Plötzlich stolperte sie und fiel hin. Er musste abrupt anhalten und wäre selbst fast gestürzt. Sie schaute, auf dem Boden liegend, fasziniert zu ihm auf. Er rührte sich nicht vom Fleck. Plötzlich begann er, ihr in einer Art rasender Verzückung die Schnauze zu lecken. Da wachte er auf.

Cino lag auf der großen Terrasse. Marik spielte neben ihm mit seinen Autos. Kaum hatte sich Cino bewegt, stürmte Marik auf ihn zu, ungestüm, wie nur ein feuriger Fünfjähriger sein kann. „Klein-Cino, warum hast du geknurrt? Hat dir jemand was getan? Denen werde ich es zeigen!“ Marik fiel über Cinos Rücken her und knuddelte ihn, so selbstverständlich und familiär, als wären sie beste Freunde. Und das waren sie auch – Freunde, so eng und innig, wie man es sich nur vorstellen kann. Für alle Wolkow-Wulfs war Cino ein Familienmitglied – nicht mehr und nicht weniger. Er war so groß wie ein deutscher Schäferhund und hatte damit genau die richtige Größe für einen Fünfjährigen. Manche Familien in Leonsk ließen ihren Tieren die Krallen schneiden, damit sie die Möbel nicht zerkratzten. Aber Cino hatte von Geburt an einen zauberhaften Charakter: Von allen Eigenheiten eines Löwen hatte er sich nur sein königliches Knurren bewahrt, aber auch dieses entwich ihm höchstens im Schlaf.

Ich merke gerade, dass ich es verpasst habe, Ihnen das Wichtigste zu erklären, indem ich mich unvermittelt ins Geschehen stürzte. Ich habe nun mal keine Erfahrung mit Prosa. Bisher verfasste ich nur von Zeit zu Zeit Gedichte und führte technische Übersetzungen aus. Wenn ich es nun mit Prosa versuche, dann nur deshalb, weil ich der Einzige bin, der Ihnen diese Geschichte glaubwürdig erzählen kann. Das Wichtigste nämlich besteht darin, dass Cino ein Zwerglöwe ist. Ich werde in einem separaten Kapitel berichten, wie die Zwerglöwen in die Stadt Leonsk an der Wolga kamen. Zwerglöwen sind Löwen, nur kleiner, von der Größe eines Schäferhundes. Sie sind zahm, nichts als prächtige, große Hauskatzen, und vom Charakter her sogar einfacher als Hauskatzen – eher wie Hunde. Man kann sie mit Kuscheltieren vergleichen, so gutmütig und liebenswürdig sind sie. Kinder tollen mit ihnen liebend gern stundenlang am Boden herum. Kennen Sie Neufundländer, diese riesigen, üppig behaarten, zotteligen Bündel an Gutmütigkeit? Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mich seinerzeit im Hause eines berühmten Übersetzers mit zwei solchen Hunden am Boden herumwälzte und vor Glück überzuschnappen drohte. Später sah ich einmal auf der Straße einen solchen Hund und wollte ihn streicheln – worauf er mir fast die Hand abgebissen hätte. Ich trug für den Rest meines Lebens einen Schrecken davon. Zwerglöwen hatten allerdings nichts Aggressives oder gar Blutrünstiges an sich: In Leonsk wurden sie seit dem 18.Jahrhundert als Haustiere gehalten und hätten nicht beliebter sein können. Manche Familien ließen sie sogar auf ihre Kinder aufpassen, wie Babysitter.

Cino und Marik alberten selbstvergessen auf dem Boden herum.

„Zeit für den Deutschunterricht!“

Es war Mariks Großmutter, die die Idylle unterbrach, die Ordnungshüterin Valeria Petrowna, von ihrem Enkelkind stur Valja genannt. Anfang September, wenn die Sonne so mild und wärmend scheint, lässt sich kein Kind gern vom Spielen ablenken. Aber Marik war ein braves Kind – und sprang sogleich auf.

„Ich wasche mir nur rasch die Hände.“

In der Familie waren es alle gewohnt, dass Marik, der nie besonders streng erzogen wurde, ausgesprochen reinlich war und sich wie ein Schöngeist gebärdete.

„Fräulein Frieda ist schon da. Beeil dich.“

Die Wolkow-Wulfs stammten von einer der Familien ab, die auf Einladung Katharinas der Großen im 18.Jahrhundert an die Wolga gekommen waren und einen Großteil der ursprünglichen Bevölkerung von Leonsk bildeten. Sie selbst kamen aus Freiburg, aber nebst Deutschen gab es unter den ersten Siedlern auch viele Italiener aus Venedig. Sie waren es auch, die die ersten Zwerglöwen nach Leonsk brachten, welche mit der Zeit zum Wahrzeichen der Wolga-Stadt wurden.

Marik ließ es sich nicht nehmen, ein wenig herumzuplanschen, aber danach beseitigte er die Wasserspritzer mit der Gründlichkeit eines Erwachsenen. Vor der jungen und sachkundigen Lehrerin namens Olga Wassiljewna Kranz, der die aristokratische Valeria Petrowna im Andenken an ihre eigene Hauslehrerin den Spitznamen ‚Fräulein Frieda‘ gegeben hatte, pflanzte sich ein Junge mit rosigen Wangen und neugierig glänzenden Augen auf.

„Guten Tag, Fräulein Frieda!“

„Guten Tag, mein lieber Marik!“

Valeria Petrowna nickte fröhlich.

„Marik, sei fleißig!“

Dann verließ sie das Studierzimmer im Erdgeschoss des Hauses. Und auch wenn es durchaus spannend wäre, Mariks Deutschunterricht beizuwohnen, lassen Sie uns das Zimmer ebenfalls verlassen. Wir setzen uns auf die Terrasse hinaus, auf das Sofa mit den Zierkissen, und widmen uns an diesem warmen Septembertag der Herkunft unserer wundervollen Zwerglöwen.

DIE HERKUNFTDER ZWERGLÖWEN

Die Zwerglöwen wurden aus Venedig importiert. Dreizehn venezianische Familien waren 1790 nach Leonsk gekommen, als die Stadt bereits ein einheitliches Ganzes bildete. Leonsk gehörte nämlich zu den deutschen Siedlungen, die in den 1770er-Jahren unweit von Astrachan entstanden waren. Die Stadt hatte von Anfang an einen Sonderstatus: Hier siedelten sich in erster Linie Intellektuelle an, die im Sinn hatten, etwas nie Dagewesenes zu erschaffen. Es heißt, hier hätten seinerzeit die bedeutendsten Architekten gewirkt, und das glaubt man gern. Sehen Sie sich in der Stadt um – und Sie werden die Logik einer tadellos durchdachten Stadtplanung erkennen. So zahlreich waren die hochstirnigen Deutschen, die sich hier niedergelassen hatten, gar nicht – nur etwa 600; darunter waren aber solche Namen, dass ihnen die besten Köpfe aus ganz Russland und auch aus Osteuropa nach Leonsk gefolgt waren, ungeachtet des angestammten Russlandhasses von Polen und anderen unterjochten Völkern. Die Stadt wurde ungewöhnlich schnell errichtet und zählte schon sehr bald um die hunderttausend Einwohner. Es entstand eine kleine Universität und ein Theater, in dem Dramen und Opern aufgeführt wurden. An der Wolga prangte eine hohe Promenade, an der abends beinahe alle Bewohner entlangspazierten. Unterschiedliche Sprachen waren zu hören, denn die Familien zollten ihrer jeweiligen Herkunft weiterhin Tribut; aber es war Russisch, das einvernehmlich zur gemeinsamen und verbindlichen Sprache gewählt wurde. Und so gaben sich alle Zuwanderer Mühe, es gut genug zu erlernen.

Was die Venezianer angeht, so waren es die besten Familien, welche nach Leonsk übersiedelten, weil ihnen der Sturm auf die Bastille einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Die Panik breitete sich damals über Europa aus wie eine riesige Welle, und viele flohen Hals über Kopf in verschiedene Richtungen. Die schönste der Städte fristete sowieso ein ziemlich elendes Dasein, nachdem sie ihre Vorrangstellung im internationalen Handel verloren hatte, und erwartete gleichsam willenlos ihren staatsrechtlichen Untergang. Und so machte sich die Grimaldi-Familie auf den weiten Weg, überredet durch Goldmund Reineke, der in irgendeinem wissenschaftlichen Auftrag für eine Woche aus Leonsk nach Europa gekommen war. Man konnte Goldmund vertrauen; er war in den 1770er-Jahren ein häufiger Gast in Venedig, galt als Kenner der Glasherstellungskunst, kannte alle Glasbläser in Murano und wurde für seinen gesunden Menschenverstand geschätzt. Seine Lobpreisungen auf Katharina die Zweite mit ihrem deutschen Verstand und der russischen Großzügigkeit waren so eloquent und seine Schilderungen von Leonsk so malerisch, dass sich der charismatische Enzo Grimaldi, ein sechzigjähriger Aristokrat, verständiger Bücherfreund, fürsorglicher Vater und zärtlicher Großvater, zu einer überstürzten Flucht vor den Krallen der französischen Aufständischen entschloss. Innerhalb einer Woche waren die Vorbereitungen erledigt – und Sie können sich sicherlich vorstellen, was eine Familie mit zweiundzwanzig Mitgliedern und vierunddreißig Bediensteten alles einpacken musste! Als wäre das nicht genug, hatte Grimaldi seine besten Freunde, allesamt venezianische Patrizier, zu einem Abendessen geladen, bei dem Reineke immer mal wieder einen Satz über Russland einstreute, das sich gerade aus seiner untergeordneten Stellung erhob, über das freie deutsche Leben an der Wolga, über das Leonsker Theater, an dem Opern von Traetta und Piccinni gegeben wurden, über die Universität, an welcher der junge Fichte Gastvorlesungen hielt. Die seit langer Zeit in Patrizierwürde erstarrten Gesichter von Morosini und Contarini, Dandolo und Gradenigo erröteten vor Aufregung; die schweren Lider über ihren erloschenen Augen schienen auf einmal all ihr Gewicht verloren zu haben, und die Augen selbst wurden feucht und bekamen einen seltsamen, lilafarbenen Glanz. Kurzum: Eine Woche später verließen dreizehn der nobelsten venezianischen Familien ihre Heimatstadt, jeweils im Abstand von ein bis zwei Tagen, um kein Aufsehen zu erregen, und segelten zum Schwarzen Meer hin.

Jede dieser Familien führte fünf oder sechs Zwerglöwen mit sich. Zu jener Zeit waren die Zwerglöwen nämlich die wichtigsten, wenn nicht gar die einzigen Haustiere der Venezianer. In Venedig gab es sie seit Urzeiten. Der Überlieferung nach gelangten sie in die Stadt, kurz nachdem die Gebeine des heiligen Markus aus Alexandria entführt und nach Venedig gebracht worden waren. Sie kennen die Geschichte sicherlich: Vor langer Zeit, anno 829, wickelten zwei venezianische Patrioten, die Kaufleute Buono und Rustico, die sterblichen Überreste des Apostels in ein Segel ein und versteckten diese seltsame Fracht unter Schweinekadavern, um zu verhindern, dass muslimische Grenzwächter sie entdeckten. Der Grund, warum die Gebeine unbedingt nach Venedig mussten, war folgender: Der Legende nach hatten Markus und sein Schüler Hermagoras während eines Seesturms an einem Ort Unterschlupf gefunden, wo später die Siedlung Rialto entstehen sollte. So wurde der heilige Markus zum himmlischen Schutzpatron Venedigs, nachdem er seinen Vorgänger, den heiligen Theodor, zuerst in den Schatten gestellt und anschließend gänzlich verdrängt hatte; und Markus’ Symbol, ein geflügelter Löwe, wurde zum Wahrzeichen der Stadt. Ausgerechnet dieser Löwe hatte es einem der späteren Patrioten Venedigs dermaßen angetan, dass er beschloss, seine Heimatstadt brauche ein Haustier, das nirgends sonst auf der Welt zu finden sei.

Der Überlieferung nach trug besagter Patriot den Namen Flabanico (sein Urenkel sollte später zum Dogen von Venedig werden) und war von ungestümem Temperament. Er fuhr nach Byzanz, bereiste halb Asien und landete schließlich in Afrika. Bei einem Pygmäenstamm sah er seltsame Tiere, die genau wie Löwen aussahen, aber deutlich kleiner waren. Flabanico war begeistert und gab seinen Handlangern den Auftrag, zwanzig dieser wundervollen Tiere aus dem Herzen Afrikas zu entführen. Er gab ihnen den italienischen Namen Leoncini und brachte alle zwanzig wohlbehalten in seine heißgeliebte Heimatstadt.

Dort verteilten sich die Leoncini auf mehrere Familien und lebten sich schnell ein. Das venezianische Klima, unheilvoll und heimtückisch, schien ihnen zu bekommen. Bald gab es keine einzige Familie mehr, die nicht einen kleinen Löwen besaß. Kein Fest wurde ohne sie gefeiert; im Handumdrehen waren sie zu vollwertigen Repräsentanten Venedigs aufgestiegen. Selbst an so mancher politischen Aktion waren sie aktiv beteiligt: Ich denke da an den gescheiterten Aufstand von 1310, nachdem der Hochmut des Dogen Pietro Gradenigo der Stadt eine Exkommunikation beschert hatte. Die Aufständischen hatten beschlossen, den Dogen um jeden Preis aus dem Weg zu räumen. Am Morgen vor der Revolte legte einer der Unruhestifter, Baiamonte Tiepolo, in der Merceria einen kurzen Halt unter einem riesigen Holunderbusch ein. Die Einwohner des Sestiere gerieten darob in Rage; hinter den verschlossenen Fenstern schallten üble Flüche hervor. Kaum hatte sich Tiepolo wieder auf den Weg gemacht, lehnte sich die gebrechliche alte Signora Giustina aus dem Fenster und überschüttete die Rebellen mit Schimpfwörtern. In der Hand hielt sie einen Steinmörser, in dem sie Knoblauch zerrieb. Just in jenem Moment zerrte ihr geliebter Leoncino an ihrem Rock, sodass der schwere Mörser aus ihrer Hand glitt, hinunterfiel und den Fahnenträger der Aufständischen mitten am Kopf traf. So nahm die Revolte ein jähes Ende – und der Doge gründete daraufhin den Rat der Zehn, der Venedigs Geschicke bis zu seinem politischen Untergang im Jahre 1797 lenken sollte. Signora Giustina wurde wie eine Heilige gefeiert, und ihr Leoncino Tonino zierte einige Zeitlang alle venezianischen Fresken.

In Leonsk wurden die Leoncini in Zwerglöwen umbenannt. Die zweite Heimat sollte für die wunderlichen Tiere zu einer genauso zärtlichen – obwohl strengen – Mutter werden wie zuvor Venedig. Es galt nämlich lange Zeit als unmöglich, die Leoncini außerhalb der Lagunenstadt anzusiedeln. Ob es die hintersinnigen Venezianer so eingefädelt hatten oder ob das venezianische Klima für die kleinen Löwen tatsächlich das einzig geeignete war – Fakt ist, dass sie in anderen italienischen Städten einfach nicht überlebten. Und auch in Venedig selbst waren die Zwerglöwen nach der Abreise von Grimaldi samt Mitstreitern und dem anschließenden Untergang der Republik mit der Zeit ausgestorben. Alle Versuche, die Tiere aus Leonsk auszuführen, waren wiederum zum Scheitern verurteilt: Auch wenn sich die Moskauer und die Petersburger, die Saratower und die Astrachaner noch so sehr bemühten, die Zwerglöwen in ihren Gegenden heimisch zu machen, wollte es ihnen einfach nicht gelingen. In Leonsk hingegen haben unsere Lieblinge selbst Revolution, Hungersnot und Krieg überstanden. Und auch heute noch bewahren sie die Menschen durch ihre kristallklare Gutmütigkeit selbst in den dunkelsten Stunden vor dem Verzweifeln.

WER ICH BIN

Nun ist es an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Ich sitze auf der Terrasse meines Hauses im Schwarzwald, bei Freiburg, und betrachte die Lärchen, die unmittelbar vor mir auf der Wiese stehen. Ich weiß nicht, ob sie von einem früheren Besitzer gepflanzt wurden oder von allein gewachsen sind, aber sie bilden eine schnurgerade Linie. Hoch wie Küstentannen. Und jedes Mal, wenn ich sie anschaue, möchte ich wissen, warum sie so unterschiedlich sind. Da, die eine: Neben dem eigentlichen Stamm hat sie einen zweiten, viel dünneren, wobei sich die Stämme direkt bei den Wurzeln entzweien. Bis zur Hälfte seiner Höhe hat der dünne Stamm keine Äste, die sind alle abgefallen, und erst ganz weit oben (ich kann es kaum erkennen, weil es mir schwer fällt, längere Zeit nach oben zu sehen) hat er vollwertige, lange Äste mit langem Nadelkleid, die alle in dieselbe Richtung wachsen. Zwei andere Lärchen, die zweite und die dritte, wenn man von der Terrasse aus zählt, haben jeweils nur einen Stamm; sie sind gleich alt, und dennoch ist die zweite spindeldürr und die dritte vollschlank, man möchte sagen – üppig, sinnlich, wie eine Rubensfrau. Am Ende kommt eine vierte, die aus irgendwelchen Gründen gleich drei Stämme hat; sie teilt sich auf circa zehn Meter Höhe in zwei ebenmäßige Zylinder von gleicher Breite auf, von denen sich einer etwa fünf Meter weiter oben nochmals entzweit. Und es ist offensichtlich, dass sich alle drei Stämme ganz prächtig vertragen. Ich habe eine Tendenz zur Alltagsphilosophie, und wenn ich diese Lärchen anschaue, muss ich jedes Mal darüber nachdenken, dass sie wie Menschen sind und dass auch ihr Leben trotz gleicher Wurzeln völlig unterschiedlich verläuft.

Ich bin Deutscher und neunzig Jahre alt. Geboren wurde ich 1923 als Heinrich Lenroth, mein Kosename ist Hanny. Ich habe diesen Kosenamen von zwei russischen Mädchen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft bekommen und sollte ihn auch später in Deutschland behalten, und es war kein Zufall, wie Sie erfahren werden.

Ich muss bei dieser Gelegenheit zugeben, dass ich auf Deutsch schreibe, weil ich trotz meiner fast zwanzig Jahre in Leonsk nicht sehr gut Russisch kann. Was Sie hier lesen, ist eine Stegreifübersetzung. Sobald ich ein Kapitel fertig geschrieben habe, gebe ich es an einen Freund weiter, der aus Leonsk geflüchtet ist, nachdem dort die ganze schreckliche Geschichte passiert war – so wie ich auch. Er ist Russe, spricht aber Deutsch wie ein Muttersprachler, und ich vertraue ihm voll und ganz. Er heißt Mitja – Dimitrij Bibikow. Er ist Komponist, hat aber eine ausgeprägte literarische Ader. Mir ist bewusst, dass ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert bin, weil ich seine Übersetzung nicht überprüfen kann, aber er versprach mir, nichts an meiner Erzählung zu verändern oder zu korrigieren, obwohl er alles vom Anfang bis zum Ende selbst erlebt hat. Sollten Sie aber dennoch etwas Verdächtiges oder Unpassendes feststellen, behalten Sie bitte stets im Hinterkopf, dass der Text, den Sie da lesen, nicht von mir stammt, sondern von Mitja. In meinem Alter ist es schwierig, jemanden zu finden, der die Übersetzung mit dem Original abgleichen könnte. Das wird erst nach meinem Tod geschehen, und dann hat Mitja gegebenenfalls das Nachsehen.

Warum ich Ende der 1980er-Jahre nach Leonsk gezogen bin? Ihre Frage ist vollkommen berechtigt. Deshalb unterbreche ich meinen Bericht ja auch schon zum zweiten Mal: damit Sie erfahren, wer Ihnen diese wahre Geschichte erzählt und warum keiner sie, wie ich schon sagte, besser erzählen könnte. Die ‚wahre Geschichte‘ ist ein abgewandeltes Zitat: So lautet der Titel eines Versromans des mittelalterlichen Dichters Guillaume de Machaut, der von der Liebe eines alten Mannes zu einem jungen Mädchen handelt, Le Livre du Voir-Dit („Das Buch von der wahren Dichtung“). Es bleibt bis heute unbekannt, ob der alternde Dichter im fernen 14.Jahrhundert diese wundersame Geschichte erfunden – oder aber ein Abenteuer, das er tatsächlich erlebt hatte, kunstvoll in Verse gekleidet hat.