Die Brille des Coppelius - Alexej Parin - E-Book

Die Brille des Coppelius E-Book

Alexej Parin

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Beschreibung

Es gibt wenig, worin Alexej Parin nicht brilliert - sei es als Librettist, Übersetzer, Theaterexperte oder Verfasser unzähliger musikwissenschaftlicher Arbeiten.

Mit "Die Brille des Coppelius" gibt der Doyen des Musiktheaters einen ganz besonderen Blick auf sein Leben frei: in fast zärtlichen Schilderungen, nähert sich Parin seiner Familie an, beschreibt Erinnerungen, die geprägt waren vom Umfeld des Moskauer Bürgertums und seinen ersten Reisen in den Westen. So lyrisch und leichtfüßig sich Alexej Parin durch seine Familiengeschichte bewegt, so präzise ist sein Blick, der auch das Schicksalhafte im Leben nicht ausspart: die Inhaftierung seines Vaters als vermeintlichen Spion für die Amerikaner und der ausdauernde Kampf seiner Mutter um das Überleben der fünfköpfigen Familie. Entstanden sind liebevolle Porträts seiner Eltern, die diesen schwierigen Zeiten mit einem starken familiären Zusammenhalt und hingebungsvoller Liebe ihren Kindern gegenüber begegneten. Darüber hinaus lässt die einzigartige Perspektive, die Alexej Parin in der Schilderung seiner ersten Reisen außerhalb der Sowjetunion einnimmt, zeitgeschichtliche Momentaufnahmen von Paris, Wien und Berlin entstehen, die zu Schlüsselmomenten für sein eigenes künstlerisches Schaffen wurden.

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DIE BRILLE DES COPPELIUS

ALEXEJ PARIN

DIE BRILLE DES COPPELIUS

Essays

Aus dem Russischen von Christiane Stachau

Umschlagbild: Johanna Baader

Umschlaggestaltung: Gabriel Fischer

Lektorat: Elvira M.Gross, Maria Deppermann

Layout: Nikola Stevanović

Druck und Bindung: Interpress, Budapest

Alexej Parin: Die Brille des Coppelius

Aus dem Russischen von Christiane Stachau

Titel im Original: Очки Коппелиуса

Die hier versammelten Essays erschienen im Original in: Талисман (Agraf: Moskau 2013)

Published with the support of the Institute for Literary Translation (Russia)

Alle Rechte vorbehalten

© HOLLITZER Verlag, Wien 2015

www.hollitzer.at

ISBN 978-3-99012-231-0 hbk

ISBN 978-3-99012-232-7 pdf

ISBN 978-3-99012-233-4 epub

MEINE ELTERN

VORBEMERKUNG

Diese Aufzeichnungen sind als lyrische Porträts gedacht, und deshalb habe ich eine ausführliche Schilderung der wissenschaftlichen Karriere und des gesellschaftspolitischen Lebens meines Vaters weggelassen. Ich habe sie so geschrieben, als ob sie nur für die Familie bestimmt wären. Aber der unbeteiligte Leser soll wissen, was hinter diesen spontan aufblitzenden Gedanken und Betrachtungen steht.

Mein Vater war ein bedeutender sowjetischer Physiologe und beschäftigte sich vor allem mit dem Blutkreislauf. Er war im Jahr 1944 einer der Begründer der Akademie der medizinischen Wissenschaften und hatte den Posten eines stellvertretenden Gesundheitsministers inne. 1946 wurde er im Rahmen eines wissenschaftlichen Austauschs in die USA geschickt und nach seiner Rückkehr des Verrats von Staatsgeheimnissen beschuldigt (man warf ihm vor, amerikanischen Wissenschaftlern Einzelheiten über das Präparat Crucin mitgeteilt zu haben, das von den Mikrobiologen Klujewa und Roskin für die Krebsbehandlung erforscht wurde) und verhaftet (Februar 1947). Stalin selbst definierte die Situation so: „Diesem Parin traue ich nicht“, und dementsprechend hart fiel das Urteil aus: fünfundzwanzig Jahre Gefängnis. Bald nach der Verurteilung fand im Klub des „Hauses an der Uferstraße“ ein sogenanntes „Ehrengericht“ statt, das Wassilij Wassilijewitsch Parin in der Gesellschaft als amerikanischen Spion und Volksfeind brandmarkte. Der Dramaturg A.Stein schrieb das Theaterstück Das Gesetz der Ehre und das Drehbuch des Films Ehrengericht (ausgezeichnet mit dem Stalinpreis), in dem die schmähliche Geschichte eines sowjetischen Wissenschaftlers geschildert wird, der sich für einen „Füllfederhalter“ verkauft. Die Rolle meiner Mutter in diesem Film spielte Lydia Sucharewskaja.

Mein Vater wurde Ende Oktober 1953 entlassen, anfangs ohne Rehabilitation. Später wurde er voll rehabilitiert. Er arbeitete auf dem Gebiet der Weltraummedizin und wurde in die „große Akademie“, die Akademie der Wissenschaften, gewählt. Er leitete bedeutende wissenschaftliche Institute, reiste zu internationalen Kongressen und veröffentlichte Aufsätze und Bücher. Nachdem er die Kehrseite des sowjetischen Systems kennengelernt hatte, hegte er für den Rest seines Lebens keinerlei Illusionen mehr in Bezug auf die herrschende Macht. Über politische Themen wurde bei uns zuhause offen und ehrlich gesprochen, nur Mama legte manchmal ein Kissen auf das Telefon. Trotzdem wahrte Papa „an der Oberfläche“ eine gewisse Loyalität, obwohl seiner Natur jede irgendwie geartete Unterwürfigkeit fremd war.

Wassilij Wassilijewitsch Parin starb 1971 im Alter von 68

MAMA

Erster Teil – psychologisch

Sie war ein Energiebündel, sogar wenn sie still dasaß, in dunkler Apathie, dann verbarg sich ihre Energie, war aber nicht spurlos verschwunden. Sogar in den letzten Monaten ihres Lebens, als sie schon nicht mehr aus dem Haus ging, brodelte in ihr die Energie eines stürmischen Innenlebens, das sie von einer Unwägbarkeit in die andere warf.

Sie war eine dramatische Natur. Sie bewahrte sich spontane Emotionen, flüchtige Eindrücke und visuelle Vorstellungen, die sie jedes Mal in unveränderter, frischer Form abrufen konnte. Ihre außerordentliche Leidenschaftlichkeit hinderte sie daran, sich selbst und andere zu analysieren. Deshalb veränderten sich ihre früheren Emotionen mit der Zeit unter dem Einfluss ihrer ungestümen, unbändigen Natur.

Ihre geballte Energie drückte sich in ihren umfangreichen und vielfältigen Beschäftigungen aus. Da konnte sie stolz auf sich sein und sich am richtigen Platz fühlen. Wenn sie für Papa als Sekretärin tätig war, hatte sie natürlich alles im Kopf, konnte ihn an alles erinnern, schrieb alles auf der Schreibmaschine, was er mit seiner – nach der Haft – sehr klein gewordenen Handschrift niederschrieb. Aber manchmal sagte sie, dass sie nicht genügend zu tun hätte, sie wäre am liebsten Chefärztin in einem Krankenhaus mit tausend Betten, das wäre das Richtige für sie!

Wenn wir versuchen, uns in die Köpfe und Herzen unserer Eltern hineinzuversetzen, können wir uns natürlich nur von unseren eigenen Gefühlen leiten lassen, von den unmittelbaren Empfindungen, die in uns das ganze Bild eines nahen Menschen wieder hervorbringen mit seiner einzigartigen geistigen Ausstrahlung. Unsere außergewöhnliche Nähe zueinander erlaubt es mir, in die Tiefe der mütterlichen Natur hineinzuschauen. Allein wenn ich an sie denke, steht sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit vor mir. Wir waren uns wirklich ungewöhnlich nah, existierten wie zwei miteinander verbundene Gefäße. Ich öffnete die Wohnungstür – und wusste sofort, in welcher Stimmung Mama war. Unsere innere Struktur hingegen war verschieden. Mama war oft unsicher sich selbst gegenüber, labil, was sie manchmal zu schroff reagieren ließ – mit der Härte ihrer Urteile verteidigte sie sich selbst. Ihr ungestümes Temperament ließ ihr nichts durchgehen – sie stand zu ihren Ansichten, auch wenn der Boden unter ihren Füßen wankte. Und ihre düstere, gedrückte Stimmung war eine Folge nervenaufreibender Ereignisse, während ihre Gedanken in den Erinnerungen umherirrten, minutenlang, wie im Dunkeln, ohne dass sie verstand, was ihre Reaktionen bedeuteten, wie sie alle Empfindungen und Erinnerungen zu einem einheitlichen Ganzen verbinden könnte.

Am Ende ihres Lebens war im Innersten ihrer Persönlichkeit ein Drama herangereift. Sie war sich sicher, dass sie und Papa, nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis, sich hätten scheiden lassen sollen. Denn beide waren sie nicht mehr dieselben wie sieben Jahre vorher, als sie sich trennen mussten. Papa war damals ein angesehener Gentleman auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Schon vor dem Umzug nach Moskau benutzte er einen Spazierstock, der für ihn äußerlich den eleganten Herrn ausmachte, er hatte einen starken Willen und ein unerschütterliches Selbstbewusstsein, einen festen Charakter; seine Zugehörigkeit zum sowjetischen Establishment betrachtete er als nicht wegzudenkenden Teil des eigenen Lebens. Allem gegenüber hatte er eine positive Haltung, er war lebensbejahend und hoffnungsvoll. Mama lebte in gewisser Weise in seinem Schatten, unter der absoluten familiären Vorrangstellung von Papa kam sie freudig allen Verpflichtungen einer Ehegattin (auch das!) nach, wobei sie weitreichende Vollmachten besaß. Und obwohl von ihrer Charakterstärke auch der Umstand zeugt, dass sie als Mutter dreier Kinder auf ihre Universitätsausbildung bestand, und auch ungeachtet der Tatsache, dass sie Papa fast mit Gewalt dazu antrieb, seine wissenschaftlichen Versuche für die Dissertation neben seiner Verwaltungstätigkeit fortzusetzen, wirkte sie, soweit ich das heute beurteilen kann (ich war damals noch nicht geboren), dennoch eher weich und fraulich, zeigte sich nachgiebig und sogar in gewisser Weise gehorsam.

Papa aber hatte, als er aus dem Gefängnis nach Hause kam, seine ganze Strenge und Härte verloren. In ihm war eine ausgeglichene Sanftheit, mit der er der Welt lächelnd zu begegnen schien, ein feines Verständnis für die menschliche Unvollkommenheit, aus seinen Augen leuchteten unveränderlich Wärme, Großzügigkeit und versöhnendes Verzeihen. In seiner Persönlichkeit hatte er überlebt, nachdem er den Status einer gesellschaftlichen Autorität abgelegt hatte wie ein getragenes Kleidungsstück, wie überflüssigen Tand. Mama dagegen hatte überlebt im Kampf um das Leben ihrer vier Kinder, sie war zu ihrer kindlichen Willenskraft zurückgekehrt, zu der ihr organisch eigenen Klarheit im Handeln und zu ihrer Entscheidungskraft. Sanftmut und Fraulichkeit hatten sich in ihr Innerstes zurückgezogen, geblieben war ihre Charakterfestigkeit; in ihren Augen brannte immer das Feuer eines kühnen Feldherrn, sie fand sich schnell und getreulich mit den gegebenen Umständen zurecht.

Als Papa zurückkam, hatte sie sich bereits ihre eigene Welt geschaffen, die sich selbst genügte, sie bedurfte keiner Ergänzung und vertrug keine Einmischung von außen. Als „Ausgestoßene“ hatte sie eine schwere Demütigung erdulden müssen (als Papa verhaftet wurde, wohnten wir im „Haus an der Uferstraße“, das man damals „Haus der Regierung“ nannte, und die Menschen, die früher gute Bekannte oder auch Freunde waren, gingen bei Mamas Anblick auf die andere Straßenseite, um nicht die Frau eines „Volksfeindes“ grüßen zu müssen), sie erinnerte sich gut an diese Verletzung ihrer Würde, und mit ungeheurer Willenskraft hatte sie sich einen neuen Wirkungskreis geschaffen. Nachdem sie die Stelle einer einfachen Bezirkskinderärztin angenommen hatte, setzte sie ihre angeborene Umgänglichkeit, ihre Hilfsbereitschaft und ihren Charme als Waffe im Kampf gegen die Abscheulichkeit jener Zeit ein und schuf sich damit eine Umgebung, in der man sie vorbehaltlos und offen liebte. Ich erinnere mich, wenn ich mit Mama in dieser Zeit auf der Straße ging (ich war damals etwa sechs, sieben Jahre alt) und sie stehen blieb, um mit einer ihrer Patientinnen zu sprechen (der Mutter eines Kindes), konnte sich das Gespräch unendlich in die Länge ziehen (das schien mir zumindest so), so dass ich ganz ohne Umschweife Mama mit aller Kraft wegzog und dann auch mit Worten die Beendigung des Gesprächs verlangte – bis Mama mir eine Abfuhr erteilte.

Für Mama bedeutete ihre Arbeit sehr viel. Natürlich musste sie Geld verdienen und oft machte sie anderthalb oder zwei Schichten hintereinander, und wir sahen sie zuhause kaum. Aber mir scheint, für sie war diese Arbeit auch Selbstverwirklichung, denn in ihrer Berufstätigkeit fühlte sie sich bestätigt. Oder sie wollte sich so fühlen und versicherte sich auf diese Weise ihrer ärztlichen Eignung. Vielleicht neigte sie deshalb in späteren Jahren so sehr dazu, die Meinung der sie behandelnden Ärzte zu überprüfen, weil damit ihre versteckten Zweifel lebendig wurden, jene frühere Notwendigkeit, vor der Mutter des kranken Kindes so zu tun, als ob man alles im Griff hätte. Absolut sicher fühlte Mama sich auf dem Gebiet des Haushalts. Sie kochte, wenigstens in meiner Erinnerung, immer mit Schwung und der Beherztheit einer Expertin, mit dem Wagemut eines Naturtalents. Und ohne Weiteres gab sie ihre Misserfolge zu, was mit ihrem ausgeprägten Ehrgeiz nicht zusammenpasste. Auf diesem Gebiet fühlte sie sich einfach als absoluter Profi, wie man heute sagt. Sie benutzte keine Rezepte, kochte aus Spontaneität heraus und verließ sich völlig auf ihre Intuition. Und zu sagen, dass ihr die Piroggen heute nicht gelungen seien, bedeutete nicht das Eingestehen eines Misserfolgs, sondern zeigte ihr unumstößliches Selbstvertrauen im ständigen Vergleich mit dem Absoluten. Ein solches haben nur die wirklich Auserwählten.

Zweiter Teil – genealogisch