22,99 €
Das Große Spiel der Mächte - Die Beteiligten - Die geheimen Interessen - Die wahren Schuldigen Der Erste und der Zweite Weltkrieg sind die großen Traumata Deutschlands. Katastrophen, die uns nach wie vor beschäftigen und die die Weltgeschichte bis heute beeinflussen. In der Rückschau scheint eine endlose Folge unglücklicher Umstände zu den Kriegen geführt zu haben. Viele Ereignisse der damaligen Zeit wirken zufällig, aber auch widersprüchlich und rätselhaft. Doch die meisten Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts liefen nicht zufällig ab! Und sie ergeben sehr wohl einen Sinn. Denn wenn Sie einen Blick hinter die Kulissen der Geschichte werfen, erkennen Sie: Ein Großteil dessen, was damals geschah, wurde von Nationen und einzelnen Personen bewusst gesteuert. Andreas von Bülow zeigt Ihnen in dieser umfassenden Chronik, welche Ziele die Staaten und Akteure hatten und welche Logik und Zwanghaftigkeit sie antrieb. Der ehemalige Bundesminister und Bestsellerautor enthüllt gleichzeitig die Lügen, die Propaganda und die falsche Geschichtsschreibung, die den Blick auf die Wahrheit verstellen. Informieren Sie sich in jetzt über das Ränkespiel, das im Verborgenen ablief. Erfahren Sie die Wahrheit über Ereignisse und geschichtliche Wegmarken wie diese: Erster Weltkrieg: Nicht Deutschland, eine andere Nation hat die Saat für den Krieg gelegt. Sie beschloss die Vernichtung Deutschlands. Denn das Kaiserreich bedrohte ihre Vormachtstellung in der Welt. Deshalb bereitete sie systematisch einen Krieg gegen Deutschland vor. Deutschlands Kriegsschuld: Die Siegermächte hielten die Alleinverantwortung des Kaiserreichs im Waffenstillstandsvertrag und im Vertrag von Versailles fest. Sie duldeten keine Diskussion darüber. Dabei ging es ihnen nicht allein um die Verantwortung Deutschlands. Die Alleinschuld diente einem anderen, wesentlich praktischeren Zweck. Der Aufstieg Hitlers: Obwohl die Pläne der Nazis bekannt waren, stellte sich ihnen das Ausland nicht in den Weg. Im Gegenteil: Hitler und seine Partei hatten im Ausland mächtige Förderer und Geldgeber. Denn die Bewegung kam ihren Interessen sehr entgegen. Hitlers Griff nach dem Sudetenland: Die europäischen Nationen hätten die Annexion leicht verhindern können. Aber sie taten es nicht. Dass Hitler die Hand nach Osten ausstreckte, war ganz in ihrem Sinne. Nach dem Krieg: Hochrangige Nazis wurden von ihren ehemaligen Feinden gerettet und ins Ausland gebracht. Lesen Sie jetzt, wer welche Interessen verfolgte. Wer die Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts heimlich steuerte und in zwei furchtbare Kriege führte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2014
Wie konnte Deutschland in die Katastrophe eines Dreißigjährigen Krieges, des Zeitraums der beiden Weltkriege von 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945, und in dessen Verlauf in die vernichtende zwölfjährige Hitler-Diktatur geraten? Wer waren die treibenden Kräfte, die den Mord an einem österreichischen Thronfolger in einen fünf Kontinente einspannenden Ersten Weltkrieg mit je nach Schätzung zwischen 17 und 20 Millionen Toten haben münden lassen? Was und wer hat die Weimarer Republik zum Scheitern und Hitlers Reich des Terrors erst zum Blühen gebracht, um in einem Zweiten Weltkrieg mit mehr als 40 Millionen Toten zu enden? Wie hat es zu dem an Widerwärtigkeit nicht zu steigernden Holocaust kommen können?
Ich kann nicht behaupten, dass für mich, der ich 1937 in die bereits fünf Jahre alte Nazi-Diktatur hineingeboren wurde, das Erleben und Überleben der Bombennacht in Dresden am 13. Februar 1945 den unbedingten Drang verursacht hätte, dieses Buch zu schreiben. Dennoch, das Erlebnis hat mich als Siebenjährigen hellwach in die nun hereinbrechende Epoche großer Veränderungen geworfen. Die Frage nach dem »Wie konnte das überhaupt geschehen?« ist zum Bestandteil meines bewussten Lebens geworden. An der Seite meiner liberalen, nicht nationalsozialistischen Eltern, kaum je in Gegensatz zu ihnen, erlebte ich die Flucht aus dem brennenden Dresden, dann hautnah die letzten Kämpfe zwischen Wehrmacht und US Army vor den Türen und Fenstern des Fluchtquartiers bei Eisenach, das Auftauchen der bislang im Konzentrationslager gehaltenen »Fremdarbeiter«, die Flucht vor der nach Abzug der Amerikaner Thüringen besetzenden Roten Armee, die Aufnahme in einem Pfarrhaus jenseits des neuen Grenzflusses Werra, das Treffen auf die funktionierende Großfamilie im völlig zerstörten Frankfurt. Schließlich das Finden einer beengten Bleibe im unversehrten Heidelberg mit neuen Kontakten zu den bei meinen Eltern in Klavier und Cello Unterricht nehmenden Amerikanern der Besatzungsmacht. Das Treffen der Verwandten und Freunde in Heidelberg, im Existenzkampf ums tägliche Überleben vereint. Das Glück der Familien über die unversehrt aus Krieg und Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Männer. Die tapfer, nur verhalten gezeigte Trauer der Witwen, darunter meiner geliebten Tante, deren Mann von den Nazis wegen seines Wissens um das bevorstehende Attentat des 20. Juli hingerichtet worden war. Dann kamen die von Hitler verjagten Emigranten aus Amerika, Sozialdemokraten, die 1933, von der SA verfolgt, das Land verlassen mussten und nun die amerikanische Militärregierung bei der Schaffung der neuen Bundesrepublik berieten oder Vorlesungen über vergleichende Verfassungsgeschichte Frankreichs, Englands und Deutschlands in der Heidelberger Universität hielten, die ich als Schüler mit 16 Jahren besuchen konnte.
Mich hat diese Zeit geprägt, sie hat meinen wohlwollenden bis kritischen Blick auf Verwandte, Freunde, Mitmenschen und deren Einstellung, Haltung, Charakter geschärft. Früh wollte ich mitwirken, um derartige Katastrophen für die Zukunft auszuschließen.
Die 25 Jahre als Bundestagsabgeordneter eines schwäbischen Wahlkreises haben mich vieltausendfach in den Dialog mit der Bevölkerung gebracht. Wie konnte je ein derart tüchtiges, ehrliches, kreuzbraves Volk nicht nur der Dichter und Denker, sondern fleißiger Handwerker, Arbeiter, Unternehmer, Bauern, Gewerkschafter und Soldaten in derartige Abgründe hineingesteuert werden oder sich hineinsteuern lassen?
In der Politik, als Parlamentarischer Staatssekretär des Bundesministers der Verteidigung, dann als Bundesminister für Forschung und Technologie, danach in der Opposition, bin ich immer wieder auf Problemfelder gestoßen, die bei näherer Analyse ein im kollektiven Wissen und Bewusstsein verankertes, schiefes, ja nicht selten total verkehrtes Bild zeigten. Das gilt auch für die beiden Weltkriege, über deren Entstehungsgeschichte und Auswirkungen nach außen wie innen ich mir durch das Niederschreiben dieses Buches versucht habe, Klarheit zu verschaffen.
In der Öffentlichkeit scheint 100 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges immer noch unklar zu sein, wer die Verantwortung für die das Jahrhundert bestimmende Urkatastrophe Europas trägt. Die Alleinschuld Deutschlands wird inzwischen nur noch selten behauptet. Die europäischen Staatsmänner seien in den Ersten Weltkrieg geschlittert, so lautete eine seit Langem kritische Fragen übertünchende Sprachregelung. Inzwischen wird das Bild von den politischen und militärischen Schlafwandlern ins Spiel gebracht. Ein englischer Historiker spricht vom »Falschen Krieg«, den England geführt habe, statt sich mit Deutschland zu arrangieren.
Das erste Opfer des Krieges sei die Wahrheit, lautet eine jahrtausendealte Weisheit. Wer genau hinschaut, wird beobachten, dass Kriege mit Lügen beginnen. »Im Krieg wird die Wahrheit so kostbar, dass sie allzeit mit einer Leibwache von Lügen umstellt werden muss«, meinte Winston Churchill mit seiner Lebenserfahrung als britischer Premierminister, vormals Lord der Admiralität und Finanzminister, ein Insider in Bezug auf den Ersten wie den Zweiten Weltkrieg und unverdrossener Kämpfer für die Interessen des britischen Weltreichs. Wer aus Geschichte lernen will, muss versuchen, das von Churchill angesprochene und immer mit Raffinesse eingesetzte Lügendickicht der Kriegspropaganda zu durchschauen. Churchills Spruch wird im Übrigen ergänzt durch die Erkenntnis des griechischen Dichters Aischylos, wonach die Wahrheit das erste Opfer des Krieges sei. Napoleon Bonaparte und Voltaire ergänzen die Aussage mit dem für Historiker bedeutsamen Hinweis, Geschichte sei das Bündel von Lügen oder Fabeln, auf die man sich habe verständigen können. Fehlt nur noch die Erkenntnis aus dem Alten Rom, dass Sieger die Geschichte schreiben.
Die Frage nach dem Warum hat mich Zeit meines Lebens begleitet, auch auf den vielen Reisen in die USA, nach Frankreich, England, in die Türkei, nach Israel und Polen, später auch Russland. Ich habe versucht, die Geschichte der besuchten Länder aus deren Erleben zu verstehen, und das oft ganz anders geartete kollektive Gedächtnis beobachten können. Es bleibt die Aufgabe, Logik und Zwanghaftigkeit der jeweils aus ihren politischen und historischen Perspektiven heraus handelnden Personen und Nationen aufzuklären. Grundlage jeder Analyse bleibt das Durchschauen des »Great Game«, ein Begriff, den der das Britische Empire idealisierende Dichter Rudyard Kipling in seinem Roman Kim berühmt gemacht hat und der auf den immerwährenden Kampf um Aufstieg, Sicherung und Abstieg von Mächten anspielt. Nicht ausgeschlossen bleibt, dass sich die eine oder andere Lüge der Churchillschen Leibwache doch noch in die Analyse einschleicht.
Wer die Katastrophe der zwölfährigen nationalsozialistischen Diktatur von 1933 bis 1945 begreifen will, darf sich nicht nur mit der Person des Diktators Adolf Hitler und dessen Umgebung beschäftigen. Dass ein in äußerster Armut in Österreich aufwachsender Jugendlicher ohne längere Ausbildung sich zum Postkartenmaler emporarbeitet, dann ohne feste Unterkunft in Wien in einem Obdachlosenheim haust, sich bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei der bayerischen Armee als Kriegsfreiwilliger meldet, dort als Botenläufer hinter der Front eingesetzt wird, von seinen Kameraden verachtet, von seinem Vorgesetzten als Psychopath eingeschätzt wurde, dann 1933 nach langem Kampf zum Reichskanzler des Deutschen Reiches ernannt wird, findet in der Geschichte der Völker wohl kaum seinesgleichen. Hitler ist neben Mussolini, Horthy, Franco, Salazar und Pétain einer der faschistischen Diktatoren Europas, die in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg die europäische politische Bühne betreten.
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde 1933 nur möglich durch eine Koalition der rechtsgerichteten Parteien mit Adolf Hitler als Kanzler unter Einschluss des katholischen Zentrums. Diese Koalition verabschiedete mit Zwei-Drittel-Mehrheit das Ermächtigungsgesetz »Zur Behebung der Not von Volk und Reich«, das Demokratie und Rechtsstaat der Weimarer Verfassung beseitigte und dem Terror gegen den linken Teil der Bevölkerung Tür und Tor öffnete. Dem war am Ende der Weltwirtschaftskrise die Flucht eines wesentlichen Teils der bürgerlichen Wähler aus den bürgerlichen Parteien in die Arme der NSDAP vorangegangen. In Reichstagswahlen hatten die Nationalsozialisten selbst nie eine Mehrheit der Wähler hinter sich scharen können. Die höchste Stimmenzahl erzielte die NSDAP bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 mit 37,4 Prozent. Bei der kurz darauf im November desselben Jahres folgenden erneuten Reichstagswahl fiel sie bereits wieder auf knapp 34 Prozent der Stimmen zurück.
Es bedurfte des Reichstagsbrandes, um die Reichstagsfraktionen der Hitler-Koalition einschließlich des Zentrums zur Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes zu treiben.
Noch in der Nacht des Brandanschlags auf den Reichstag begann eine Wochen im Voraus geplante Verhaftungswelle von Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftsfunktionären und zum Teil auch von eher dem Arbeitnehmerflügel zugehörenden Mitgliedern des Zentrums. Es folgten die Konzentrationslager, in die alle Persönlichkeiten Deutschlands gesteckt wurden, denen die Nationalsozialisten die Organisation des Widerstands zutrauten. Die schon nicht mehr freien Wahlen im März 1933 brachten dann immer noch keine Mehrheit für die Vollstrecker der darauffolgenden zwölf Jahre hemmungsloser Diktatur bis 1945. Das Ergebnis der Reichstagswahl nach Verhaftung der kommunistischen Abgeordneten, auch Teilen der Sozialdemokraten, und Beseitigung der Presse- und Versammlungsfreiheit erbrachte nicht mehr als 43 Prozent der abgegebenen Stimmen. Auf die in Wort und Bild öffentlich so stark erscheinende stürmische Begeisterung für Hitler durch große Teile des Volkes in Deutschland wie auch Österreich wird später einzugehen sein. Dass die bürgerlichen Parteien bereit waren, nicht nur Hitler die totale Regierungsgewalt bis zur Ermordung der Gegner im linken Lager zu übertragen, sondern sich als begleitende Garanten der neuen Ordnung selbst aufzulösen und sich damit jedes politischen Einflusses zu berauben, ist letztlich nur zu verstehen vor dem Hintergrund des Scheiterns der Weimarer Republik in der Zeit von 1919 bis 1933.
Doch warum endete die Politik der Regierungen zwischen 1919 und 1933 in der Verzweiflungstat des Ermächtigungsgesetzes mit all seinen grauenhaften Folgen? Es wird vom Scheitern Weimars oder der Weimarer Verfassung gesprochen. Doch es lag nicht an der neuen demokratischen Verfassung und deren Institutionen wie dem Reichstag, dem Reichspräsidenten, dem Reichsrat als Vertretung der Länder. Entscheidend war, dass es den Reichsregierungen, unter welcher Führung auch immer, nicht gelang, nach Kriegsende der Bevölkerung auch nur annähernd materiell gesicherte Lebensverhältnisse zu verschaffen. Rund sechs Millionen Soldaten strömten bei Kriegsende von der West- und Ostfront nach Hause, um ein normales, menschenwürdiges Leben inmitten ihrer Familien aufzunehmen. Sie suchten Arbeitsplätze, die zu großen Teilen nicht oder nicht mehr vorhanden waren. Offiziere fanden keine ihren Fähigkeiten angemessene Beschäftigung. Ganze Jahrgänge der jungen Wehrpflichtigen waren noch ohne Berufsausbildung. Die Kriegswirtschaft musste erst umgestellt werden. Devisen für die Einfuhr von Rohstoffen konnten noch nicht erarbeitet werden. Die Bevölkerung hungerte, weil die Alliierten die seit Kriegsbeginn verhängte Seeblockade selbst Monate nach dem Waffenstillstand bis zur erzwungenen Unterzeichnung des diktierten Vertrages von Versailles noch aufrechterhielten. Die Republik übernahm die gewaltigen, in den vier Kriegsjahren angehäuften Schulden des Kaiserreiches und war bereits damit überfordert. Dazu kamen die jede wirtschaftliche Zukunft verbauenden Reparationsforderungen der Siegermächte. Große Teile des Reichsgebietes, darunter leistungsfähige Industrieregionen, wurden dem Reich und seiner Wirtschaftskraft entzogen. Die Inflation von 1923 vernichtete die Ersparnisse der Bürger, soweit sie nicht in Aktien oder Grund und Boden angelegt waren. Die Altersversorgung großer Teile des Mittelstandes versank in dieser Wertevernichtung, die wiederum auch Folge der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen und des auf Staatskosten finanzierten kollektiven Widerstands der Ruhrbevölkerung war. Nicht zu unterschätzen der Schaden durch massive Wechselkursspekulation einiger deutscher Großindustrieller.
Hinzu kam sechs Jahre später die Weltwirtschaftskrise von 1929ff., die die Bevölkerung mit über sechs Millionen Arbeitslosen aufs Neue in eine schier ausweglose wirtschaftliche Lage brachte. Ein großer Teil der Wähler des sogenannten bürgerlichen Lagers, noch aus der Kaiserzeit skeptisch gegen jedes Funktionieren einer Demokratie in Deutschland erzogen, schob auf der Suche nach Schuldigen und einem Ausweg aus der verzweifelten Lage den demokratischen Parteien die Verantwortung zu. Auch die gutwilligsten Demokraten von 1919 verzweifelten an der Zwangsjacke, in der die neue Republik festgehalten wurde. Ein Großteil der bürgerlichen Wähler wendete sich nun der neuen radikalen Partei zu. Dies waren die Nationalsozialisten, denen auf der linken Seite die ebenso verfassungsfeindlichen Kommunisten gegenüberstanden. Beide, das »Weimarer System« ablehnenden Parteien von links wie rechts erhielten inzwischen bei Wahlen zusammengezählt mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen. Gegen diese sich im Niederreißen des demokratischen Rechtsstaates wechselseitig stützenden Lager der extremen Rechten und Linken anzuregieren war nur noch mithilfe von Notverordnungen des Reichspräsidenten möglich, die allerdings vom Reichstag mit Drei-Viertel-Mehrheit aufgehoben werden konnten.
Erfolg hätten die demokratischen Parteien der Weimarer Republik nur haben können, wenn der Friede nach Beendigung des Ersten Weltkrieges auf der Grundlage der 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Wilson geschlossen worden wäre. In einer totalen Abkehr hiervon setzten die Siegermächte in der Versailler Friedensvertragsregelung durch, dass Deutschland die gesamten aufgelaufenen Kriegskosten aller Siegernationen als Reparationen abzutragen habe. Die Belastung hatte zur Folge, dass Deutschland nur mithilfe kurzfristiger amerikanischer Kredite seine Wirtschaft in Gang bringen, aber auch nur auf Pump die ersten Tranchen der Reparationen bezahlen konnte. Hochzölle der Siegermächte wiederum verhinderten, dass Deutschland auch nur den Ansatz der geforderten Reparationen erwirtschaften konnte. Die Siegermächte verwehrten der jungen Republik nahezu jeden Erfolg, bestraften das deutsche Volk für Taten, die, wenn überhaupt, den abtretenden Führungseliten des Kaiserreiches hätten angelastet werden müssen.
Doch der Dreh- und Angelpunkt der Deutschland nach 1919 niederdrückenden Bestimmungen des Versailler Vertrages war die Klausel über die angeblich alleinige deutsche Kriegsschuld mit der Folge der Überbürdung der Weltkriegskosten aller am Krieg teilnehmenden Nationen auf den deutschen Steuerzahler, der der erst noch zu findenden neuen Staatsform mehrheitlich wohl mehr als skeptisch gegenüberstand. Die Kriegsschuld wurde ohne jede Anhörung und Erörterung der deutschen Delegation einseitig diktiert. Fassungslosigkeit, Enttäuschung, Wut und angedrohte Verweigerung der Unterschrift beantworteten die Alliierten mit der Androhung des Einmarsches ihrer, vor allem französischen, Truppen mit dem Ziel der Besetzung ganz Deutschlands. Der bereits erteilte Befehl an die Truppen zum Einmarsch in das Reichsgebiet sollte 48 Stunden nach Verstreichen der gesetzten Annahmefrist vollzogen werden.
Die amtierende deutsche Regierung Scheidemann weigerte sich, das Diktat von Versailles anzunehmen, und trat zurück. Die ihr folgende Regierung nahm unter Protest an und wurde fortan von erheblichen Teilen des alten kaiserlichen Establishments des Landesverrats beschuldigt. In der Zeit zwischen Waffenstillstand und der Annahme des Versailler Vertrages verstärkte sich die bereits bestehende bittere Hungersnot in Deutschland, deren Ende sich das Volk von den Friedensverhandlungen erhofft hatte. Die Kindersterblichkeit schnellte in die Höhe. 1› Hinweis Ein Großteil der Jugend war krank und unterernährt. Der Typhus wütete in nahezu allen Regionen. Ursache war die Aufrechterhaltung der britischen Seeblockade gegen Deutschland, die gleich zu Kriegsbeginn angelegt worden war und ihre militärische wie politische Wirkung gezeigt hatte. Doch nach Kriegsende wirkte sie sich noch verheerender gegen die angefeindete neue Demokratie aus, gab es doch keine die Ernährung Deutschlands sicherstellenden Einfuhren aus ehemals verbündeten oder zwangsweise zur Lieferung herangezogenen Ländern wie Rumänien oder der Ukraine. Die Demokraten der Siegermächte ließen die Demokraten des sich nach westlichen Idealen neu aufstellenden Deutschlands geradezu ins Verderben laufen. Der Versuch des deutschen Brückenschlags hin zur Demokratie wurde nicht honoriert, die Zusagen vor allem des amerikanischen Präsidenten Wilsons erwiesen sich im Nachhinein als schlichte Propaganda, die das Papier nicht wert waren, auf dem die Flugblätter gedruckt und über den Schützengräben der Soldaten abgeworfen worden waren. Die Antwort der Wähler ließ nicht lange auf sich warten. Hatten die Deutschen in den ersten Wahlen nach Kriegsende noch denjenigen Parteien, die den Weg in eine demokratische, rechtstaatliche Verfassung beschreiten wollten, dem Zentrum, der Sozialdemokratie und der Deutschen Volkspartei, die Mehrheit der Sitze verschafft, so ging diese neue Gestaltungsmehrheit bereits sieben Monate danach schon in den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung, noch vor Gründung der Weimarer Republik, wieder verloren.
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen war im Kaiserreich im Sinne der Monarchie erzogen worden, das Offizierskorps, die Polizei, die Richterschaft, ein Großteil der Gelehrten, die Mittelschicht, die protestantischen Pfarrer, die Lehrerschaft. Sie waren, auf ihre anerzogene und eingeübte monarchische Einstellung vertrauend, in ihre Ämter gelangt. Sie standen für die alte kaiserliche, nicht-demokratische Grundordnung. Demokratie war für sie Macht des Pöbels, Parlamente stellten für sie Schwatzbuden dar. Sie hatten Angst vor dem Unbekannten, dem möglichen Abdriften in eine radikale Staatsform wie die der Sowjetunion. Nun fanden sie sich wider Willen in einer Demokratie, die bis zum Ende des Kaiserreichs nur Minderheiten wie die Sozialdemokraten, ein Teil der Liberalen oder auch das katholische Zentrum für erstrebenswert gehalten hatten. Und die aus dieser ehemaligen Minderheit hervorgehende Führung der Weimarer Republik war durch eine bis heute nur als verantwortungslos einzuschätzende Politik der demokratisch gewählten Vertreter der Siegermächte letztlich in den Abgrund unbeherrschbarer Turbulenzen bis hin zur Verzweiflungstat der Ermächtigung eines Psychopathen zum Diktator geschoben worden. Auf die Details wird später einzugehen sein. Was aus dem Verhalten der Siegermächte und den Bestimmungen des Versailler Vertrages an künftigen Gefahren für Europa und die Welt zu erwarten war, wagten bereits damals westliche Beobachter und Kritiker des Alliierten-Lagers zu prophezeien. Der heute noch die wirtschaftspolitische Diskussion beherrschende britische Ökonom Keynes, damals Berater der englischen Regierungsdelegation bei den Verhandlungen in Versailles, hielt das Vorgehen der Alliierten gegen Deutschland aus wirtschaftlichen, finanziellen und allgemein politischen Gründen für verheerend. Er sagte bereits 1919 den Niedergang nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas voraus und forderte den Verzicht der Vereinigten Staaten auf die Rückzahlung der gewaltigen, den europäischen Alliierten gewährten amerikanischen Kredite. Ohne eine derartige Geste seien die Finanzminister Englands wie Frankreichs letztlich gezwungen, den Konkurs ihrer Staaten anzumelden. Nur durch die in den Staatshaushalten der beiden Länder veranschlagten Einnahmen aus deutschen Reparationsleistungen könnten Einnahmen und Ausgaben wenigstens zum Schein ausgeglichen werden. 2› Hinweis Viele Kritiker des Vertragswerkes sahen bereits einen weiteren großen europäischen Krieg voraus, den Deutschland anstrengen müsse, um aus der jeden Wiederaufstieg verhindernden Lage auszubrechen.
Da das Aufsteigen des Österreichers Adolf Hitler zum politischen Führer des monarchischen bis rechtsbürgerlichen Deutschlands unbestritten nicht möglich gewesen wäre ohne den Friedensvertrag von Versailles und dieser wiederum nicht ohne den Ersten Weltkrieg, so liegt in Vorbereitung, Ausbruch und Durchführung dieses Ersten Weltkrieges wiederum das eigentliche, die Welt umgestaltende Jahrhundertereignis. Das weltweite Ringen dieses Krieges stürzte Deutschland ebenso wie Österreich über die Niederlage in eine Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrise, aus der sich ein Großteil der deutschen bürgerlichen und adeligen Eliten wiederum nur über einen Schulterschluss mit dem Faschismus glaubte retten zu können. Doch der Erste Weltkrieg führte auch zur russischen Revolution von 1917 und zu dem Versuch, eine alternative Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsform aus dem Boden zu stampfen, die erst nach 70 Jahren der Erprobung im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts vor den Augen der Weltöffentlichkeit in sich zusammenbrach.
Mit dem Sieg über Deutschland und Österreich verkleinerten die Siegermächte Deutschland etwa um ein Fünftel, zerschlugen das alte Österreich-Ungarn, schufen aus den früheren österreichischen Provinzen die Staaten Polen, Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien. Und sie teilten größte Segmente des ehemaligen Osmanischen Reichs als Beute unter sich auf. Dazu gehörten die Öl besitzenden Länder des Nahen Ostens sowie die nordafrikanischen Provinzen, die nun den Siegermächten zur Ausbeutung anvertraut wurden. Dazu wurde der Traum der zionistischen Bewegung, das Versprechen einer neuen Heimstatt der Juden, der Staat Israel, als Implantat der westlichen Mächte in die arabische Welt, auf den Weg gebracht. Die heute so krisenanfälligen muslimischen Staaten des Nahen Ostens wie der Libanon, der Irak, Kuwait, Saudi-Arabien, Syrien, Abu Dhabi, die Vereinigten Arabischen Emirate, all diese Staatskonstrukte waren die Nachkriegsschöpfung der Siegermächte.
Ein Großteil der heute von Politikern und Politologen mit dem Begriff des gescheiterten Staates, des »failed state«, gekennzeichneten Gebilde geht auf die damaligen Entscheidungen zurück. Das angebliche fundamental-muslimische Terrorgeschehen in diesen Staaten scheint nun immer energischer die westlichen Staaten als die Schöpfer ihres Scheiterns zu bedrohen. Und diese wiederum drohen den meist an ihrer Inhomogenität scheiternden Staaten neuerdings mit militärischer Intervention, mit »regime change«, vermeintlich mit dem Ziel, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum Sieg zu verhelfen.
Über die Entstehungsgeschichte des Ersten Weltkrieges sind Bibliotheken geschrieben, die handelnden Figuren im Lichte der Ereignisse bespiegelt und erörtert worden. Alle wichtigen Mächte haben ihre Weiß-/Grün-/Blau- und Rotbücher aus ihren nationalen Akten zur Entstehungsgeschichte des Krieges veröffentlicht, nicht selten verfälscht durch Weglassen des belastenden Materials.
Besiegte suchen sich zwar vor der Nachwelt zu rechtfertigen, doch letztlich schreiben die Sieger die Geschichte. Diese Erkenntnis gilt mit einiger Sicherheit auch für die beiden Weltkriege, nicht zuletzt den Ersten. Sieger sind nicht nur in der Lage, dem und den Besiegten die Bedingungen des Friedens zu diktieren, sie können auch als Reparationsgläubiger des besiegten Staates noch auf lange Zeit die Auseinandersetzung beeinflussen. So war es kaum verwunderlich, dass die nach der bolschewistischen Revolution von 1917 in Moskau der Weltöffentlichkeit vorgestellten geheimen Abreden der westlichen Siegermächte und des früheren zaristischen Russlands über die nach dem Krieg zu verteilende Beute (Kriegsziele) in der Zeit nach 1919 in Deutschland nicht oder nur unter Pseudonym und äußerst versteckt veröffentlicht werden konnten. Deutschland war nach 1919 auf das Wohlwollen der Westmächte angewiesen, hoffte den finanziellen Würgegriff des Versailler Vertrages mildern und auf Dauer beseitigen zu können. Das Aufdecken der geheim gehaltenen Kriegsziele der Alliierten konnte dem Verhandlungsklima in Sachen Reparation nur schaden.
Um des lieben Friedens willen einigten sich die meisten Zeitgenossen nach dem Ersten Weltkrieg, wie bereits erwähnt, auf die Formel vom angeblichen Hineinschlittern der europäischen Mächte in den zuvor in Entstehung und Ausmaßen nicht voraussehbaren Konflikt. Heute wird das Bild von den Schlafwandlern in die Diskussion geworfen.
Dagegen steht die wohl ehrliche Erkenntnis Franklin D. Roosevelts, des die Vereinigten Staaten von Amerika in den Zweiten Weltkrieg führenden Präsidenten, der meinte, in der Politik geschehe nichts durch Zufall. Was geschehe, darauf könne man setzen, sei, so wie abgelaufen, zuvor auch so geplant worden.
Die Geschichtsschreibung über Ursachen, Schuld und Verantwortung für Ausbruch und Ablauf des Ersten Weltkrieg führt in ein erschlagendes Labyrinth von Zeittafeln, Dokumenten, Memoiren, Zitaten und dicken Büchern. Um sich den Überblick zu verschaffen und diesen in der Detailflut zu erhalten, kommt es im Wesentlichen darauf an, das Gesamtbild der Politik aller am Konflikt beteiligten Staaten zu zeichnen, einen Blick des weiten Winkels anzulegen, dem dann die Vielzahl der Einzelbeobachtungen unterzuordnen ist. Ein aus unendlich vielen Detailbildern zusammengesetzte Gesamtbild kann schnell zu grundlegenden Fehleinschätzungen führen, die sich für die während eines Krieges, aber auch danach noch tobende Propagandaschlacht nutzen lassen.
Die Weitwinkelbetrachtung muss auch den Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauernden geschichtlichen Vorlauf der Ereignisse einbeziehen. Weltmächte mit ihrer geografischen Lage, ihren über den Globus verteilten Besitztümern, Interessen, Verbündeten, Verbindungswegen und Militärstützpunkten verfolgen mit beeindruckender Stetigkeit ihre im historischen Zusammenhang berechenbare, ja voraussehbare Politik. Dabei folgen die zur Durchsetzung von Macht eingesetzten Instrumente und Methoden fast immer eher den brutalen Regeln des italienischen Fürstenberaters Machiavelli als den Zehn Geboten christlichen Glaubens beziehungsweise den hehren Geboten der jeweiligen Staatsverfassung oder auch des Völkerrechts. »Deep Politics«, dieser moderne Begriff, treibt die über die Generationen miteinander verbundenen Träger des »permanent government« an. Die auf Zeit gewählten Politiker geben durchweg die für den öffentlichen Gebrauch moralverträglichen Erklärungen ab, der auf Stetigkeit und Dauer angelegte Regierungsapparat folgt sehr häufig den das Licht der Öffentlichkeit scheuenden Interessen der Mächtigen des Landes.
Doch zurück zur politisch-historischen Weitwinkelbetrachtung. Dem Anschein nach zunächst rein regional erscheinende Konflikte wie der Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger im Sommer 1914 können nur dann derart einschneidende, mehrere Kontinente der Welt in den Umsturz führende Konflikte auslösen, wenn das Kraftfeld der Machtpolitik dies aus Sicht der einen oder anderen sich gegeneinanderstehenden Partei dringend bis zwingend macht. Nur dann können die über die militärischen, finanziellen, wirtschaftlichen und geopolitischen Mittel verfügenden Akteure es wagen, die Instrumente zum Erringen ihrer Ziele einzusetzen.
In der Folge soll der Machtentwicklung der am Ersten Weltkrieg maßgeblich beteiligten Staaten nachgegangen werden. Dabei können die Abläufe meist nur kursorisch dargestellt werden.
Internationale Spannungen treiben nur dann zum Kriege, wenn das langfristige Kalkül der im Hintergrund agierenden Großmächte die Zeit für gekommen hält. Dabei kommt der Haltung der Nummer eins unter den Großmächten in der Regel die entscheidende Rolle zu. Dies war 1914 ohne Zweifel immer noch Großbritannien, spätestens ab 1918 in dieser Rolle abgelöst von den Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Zur politischen Lagebeurteilung der Ereignisse des Jahres 1914 kann die historische Rückschau auf das Entstehen der ordnenden Kraft britischer Macht hilfreich sein. Dabei sind zu unterscheiden die Entwicklung und der jahrhundertelange Kampf um die unvergleichliche Stellung der Weltmacht und die darauffolgende Phase der Absicherung dieser Rolle gegenüber tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gefährdungen durch konkurrierende Mächte vor allem auf dem europäischen Kontinent.
Bis zum Sieg über das napoleonische Frankreich hatte London sich über Jahrhunderte in Kontinente umspannenden Kriegen sein Weltreich gegen den und die Konkurrenten erkämpft. Im Ergebnis gehörten um 1900 ein Fünftel der Landoberfläche und ein Viertel der Weltbevölkerung dem Britischen Empire an, diesem größten Weltreich aller Zeiten. In der kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich blieb den anderen europäischen Staaten und Machtgebilden nur die gewinnbringende, aber auch höchst gefährliche Rolle eines Zulieferers von Kampfkraft an die politischen und militärischen Strategen Englands. Die Truppen Österreichs, Russlands, Schwedens, Preußens sowie der deutschen und italienischen Kleinstaaten unterhielten ihre Truppen, zum Teil auch ihre Marine, mit Geldern, die jeweils aus den Staatskassen der Machtkonkurrenten in London oder Paris zur Verfügung gestellt wurden.
Die britischen Inseln, vom Festland durch Kanal und Nordsee getrennt, konnten sich über lange Zeiträume auf ihre Inbesitznahmen in Übersee konzentrieren, solange sie mögliche Herausforderer vom Kontinent schwach halten konnten. Ihre weltweiten Interessen verfolgten sie mittels der alle sonstigen Seestreitkräfte überragenden Kriegsflotte. Im Gegensatz zu Frankreich, den Niederlanden und Deutschland hatte England keine Landgrenze gegen benachbarte Staaten zu verteidigen. Die Unterhaltung einer kostspieligen Armee konnte folglich zugunsten der Marine vernachlässigt werden.
Im Windschatten der fortwährenden Kriege der europäischen Staaten auf dem Festland konnte Großbritannien seine Kräfte zu Eroberungen in Übersee nutzen.
Die Machteliten Englands, seine führenden Familien, seine Kaufleute und Bankiers, hatten seit Jahrhunderten unendlichen Gewinn aus dieser sich aufbauenden Machtstellung bezogen. Die Angehörigen der adeligen und aus der Kaufmannschaft aufsteigenden Familien widmeten sich der wirtschaftlichen, finanziellen, militärischen und administrativen Durchsetzung, Erhaltung und Pflege dieser Macht und konnten auf diese Weise beachtliche Vermögen bilden. Den Aufbau einer dynamischen, Europa nahezu beherrschenden Industrie verdankt England der eigenen Tüchtigkeit, allerdings auch den gewaltigen Mitteln, die aus den Kolonien einschließlich des Sklaven- und Drogenhandel gezogen werden konnten. Die Insel verfügte neben der eigenen Kohle weltweit über bedeutende Bodenschätze. Gesellschaftlichen Fortschritt und Großzügigkeit auf nahezu allen Gebieten konnte sich England leisten, die europäischen Kontinentalmächte und deren Gesellschaften schauten mit einem gewissen Neid auf das sich entfaltende Wunder.
Um jedoch als die kleine, Europa vorgelagerte Insel mit Griff auf Kontinente wie Indien, damals noch ungeteilt mit Pakistan und Bangladesch, auf Australien, Südafrika, Nordamerika gegen Gefährdung vom europäischen Kontinent gefeit zu sein, galt für die britische Politik das oberste Gebot, unter allen Umständen auf dem europäischen Kontinent das Entstehen einer England gefährdenden Machtstruktur im Ansatz zu verhindern. Der Albtraum für die über den Tag hinaus denkenden und planenden Eliten war eine für Großbritannien nicht mehr zu beherrschende Kontinentalmacht im Rücken, mit entsprechend großer Bevölkerung, mit der Fähigkeit, ein Riesenheer für Landkriege zu unterhalten, dazu aber auch noch eine Flotte zur Beherrschung der Weltmeere, der Straßen des Welthandels, aufbauen zu können. Eine solche Struktur, erst einmal entstanden, würde England die Herrschaft zur See weltweit streitig machen, die Insel – wie seinerzeit die Normannen aus der Normandie – in Besitz nehmen und sich unterwerfen können. Daher war das stete Ausgleichen der Machtbalance zwischen den sich gegenseitig in Schach haltenden kontinentaleuropäischen Mächten über die Jahrhunderte oberstes Gebot aller englischen Machtpolitik.
Die Revolution von 1789 beseitigte die französische Monarchie, schwächte zunächst die französische Macht infolge der inneren Auseinandersetzungen, brachte dann jedoch die neue Kraftquelle des sich als Nation verstehenden Volkes hervor. Das identifizierte sich mehrheitlich mit den Ergebnissen der Revolution, war bereit, die Errungenschaft gegen Angriffe von außen zu verteidigen. Das zeigte sich eindrucksvoll im ersten Koalitionskrieg, geführt von Preußen und Österreich zur Wiederherstellung der monarchischen Ordnung.
Dem ersten Koalitionskrieg folgten weitere sechs Kriege unter der Führung Napoleons. England konnte auf dem Kontinent russische, österreichische, schwedische und italienische Truppen mieten, die halfen, das französische Weltreich niederzukämpfen. Der Krieg war ein Weltkrieg auf und zwischen mehreren Kontinenten. Dank englischer Finanzierung der eingesetzten Truppen ging mit dem letzten der Koalitionskriege, in Deutschland Befreiungskrieg genannt, die Auseinandersetzung siegreich für die mit England verbündeten Staaten zu Ende. England erreichte den unangefochtenen Status der Weltmacht Nummer eins. Dies nicht zuletzt dank der Seeschlacht von Trafalgar, in der die französisch-spanische Flotte von der englischen unter Admiral Nelson vernichtet wurde. Die Beherrschung der Weltmeere, der Seewege und der Küsten lag in der Folge bei Großbritannien.
Die Folgen der europäischen Machtverschiebungen aufgrund der napoleonischen Niederlage wurden 1815 auf dem neun Monate lang tagenden Wiener Kongress verhandelt und in einem Vertragswerk festgelegt. Nach außen war es der aus dem Rheinland stammende Fürst Metternich, Kanzler des Kaiserreiches Österreich, der die Verhandlungen offiziell führte. Die eigentlichen Fäden hinter den Kulissen jedoch hielten die anwesenden Vertreter der englischen Regierung in der Hand. Zum Erstaunen der politischen Beobachter durfte das besiegte und erschöpfte Frankreich nahezu gleichberechtigt an der Konferenz teilnehmen. Dem Land blieben die vorrevolutionären Grenzen von 1789 erhalten. Frankreich war geschwächt, innerlich zerstritten, ins zweite oder gar dritte Glied europäischer Machtabstufung zurückgetreten. Doch zur Steuerung des Gleichgewichts der Mächte in Europa blieb es ein Trumpf möglicherweise gegen Russland, später aber auch gegen ein zu stark werdendes Deutschland.
Russland, in Anbetracht der für den Kampf gegen die napoleonischen Truppen der mit Abstand wichtigste kontinentale Bündnispartner Englands, erhielt auf dem Kongress als Beute den größten Teil des bislang mit Frankreich verbündeten Polen. Österreich gewann einen kleineren und Preußen den kleinsten Teil des Landes, die Provinz Posen.
Das bislang von einem mit einer württembergischen Prinzessin verheirateten Bruder Napoleons regierte Königreich Westfalen wurde Preußen in wesentlichen Teilen zugeschlagen, das sich nun im Westen bis zur niederländischen und französischen Grenze erstreckte und die Städte Düsseldorf, Aachen, Trier, Saarbrücken und Mainz umfasste. Mit dem Ruhrgebiet und dem Saarland im Westen sowie Schlesien im Osten wurde so die Grundlage für die nach und nach einsetzende, dann hochschnellende Industrialisierung Preußen-Deutschlands geschaffen.
Alles in allem hatte England folgende Gewichte zum Ausgleich gebracht: Das bislang gefährliche, das Gleichgewicht Europas stürzende und England bedrohende Frankreich blieb zwar erhalten, konnte fortan jedoch von dem beträchtlich gestärkten Preußen in Schach gehalten werden.
Polen, das als Ausgleichsfaktor englischerseits gegen das mächtiger werdende Russland hätte eingesetzt werden können, wurde aufgeteilt. Dafür wuchs nun Österreich und Preußen eine die weitere Ausdehnung russischer Herrschaft nach Westen eindämmende Rolle zu.
Die begehrten Meerengen des Öresund und des Bosporus waren nicht Gegenstand der Verhandlungen. Über sie konnte die Ausdehnung russischer Seemacht in Richtung Nordsee/Atlantik und Mittelmeer/Atlantik beschränkt werden. Sie blieben im Norden in dänischer, im Süden in osmanischer Hand. Für die britische Beherrschung des Seeverkehrs im Atlantik und Mittelmeer war dies von alles entscheidender Bedeutung. Die Meerengen als Drosselklappen des Handels, aber auch maritimer Macht durften nicht in die Hand starker Staaten fallen. Bis zum heutigen Tage gilt ihnen die ganze Aufmerksamkeit britischer und amerikanischer Geopolitik. An diesen Punkten sicherte englische, dann angelsächsische Politik mit Diplomatie, Militär und Geld ihren Einfluss.
Die Supermacht England konnte sich nach dem Sieg über Frankreich zunächst auf sich selbst und die eigenen Probleme konzentrieren. Schließlich mussten die riesigen Schulden aus den großen europäischen Kriegen erst gegen das monarchische, dann das napoleonische Frankreich bedient, die verauslagten Gelder für den Soldatenhandel mit den kontinentaleuropäischen Fürstenhäusern durch Einnahmen der Staatskasse, Abbau der Schulden und die Bestimmung des entsprechenden Zeitablaufes ausgeglichen werden.
England hatte im Kampf um die Weltmachtstellung bereits einen ersten größeren Rückschlag hinnehmen müssen. Der Abfall der von Frankreich kraftvoll unterstützten nordamerikanischen Kolonien führte zur Entstehung der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Frankreich hatte lange Zeit die Erschließung des amerikanischen Westens jenseits der von Kanada bis zum Golf von Mexiko sich erstreckenden Kolonie Louisiana mit dem Mississippi als größtem Fluss behindern können. Doch Frankreich war im Kampf um die Weltmacht derart geschwächt, dass Napoleon Louisiana an die Vereinigten Staaten von Nordamerika verkaufte. Der Landnahme und Erschließung des Westens und damit der Ausweitung nordamerikanischer Macht in Richtung Pazifik stand nun kein Hindernis mehr im Wege. Die künftige, auf Atlantik wie Pazifik gleichermaßen ausstrahlende Großmacht der USA war auf den Weg gebracht. Das Land jenseits des Mississippis konnte nun unter Verdrängung und Vernichtung der noch steinzeitlich lebenden Indianervölker erschlossen und besiedelt werden. Die Pazifikküste wurde erreicht. Die Industrialisierung des Riesenlandes ließ über die kommenden Jahrzehnte einen Giganten entstehen, der nach und nach Großbritannien als Supermacht ablösen sollte.
Gleichwohl blieb eine starke Gemeinschaft der alten angelsächsischen Machteliten diesseits und jenseits des Atlantiks bestehen. Engste Verbindungen der Vermögen Englands mit den reich und reicher werdenden Latifundien-, Industrie- und Finanzfamilien der amerikanischen Ostküste blieben bestehen. Die mit Sklaven betriebenen Zuckerrohr- und Baumwollplantagen des Südens befanden sich nicht selten in den Händen der in London lebenden Eigentümer. Die Finanzplätze London und New York waren und blieben eng miteinander verbunden, wobei London neben New York bis zum heutigen Tage für die Weltfinanzen bestimmend blieb.
Großbritannien trat 1914 im Bündnis mit Russland in den Ersten Weltkrieg ein. Es ist daher von Interesse, die Geschichte der Politik Englands zum östlichen Partner zu betrachten.
Russland war 1815 und in den darauffolgenden Jahrzehnten eine die Geschicke der europäischen Staaten wesentlich mitbestimmende Macht. England war darauf angewiesen, auf dem Kontinent keine überragende Landmacht entstehen zu lassen, vor allem aber keinen Herausforderer der Herrschaft über die Weltmeere. Das »Britannia rules the waves« durfte nie zur Disposition gestellt werden. England konzentrierte seine Machtmittel auf die überragende Flotte und wollte und konnte sich darüber hinaus eine den Mächten auf dem Kontinent Paroli bietende eigene Armee nicht leisten. Daher der Rückgriff auf Bündnisse und Geldzahlungen an die Mächte des Kontinents, die sich mit Unterstützung Londons gegenseitig in Schach hielten. So war Russland neben Österreich und später Preußen der im Kampf gegen das napoleonische Frankreich und zur Durchsetzung englischer Machtpolitik nützliche, wenn auch etwas groß geratene »Festlandsdegen«.
Das Zarenreich hatte sich im Windschatten der globalen Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich als Landmacht ungehindert in Richtung Asien und hin zur pazifischen Küste, aber auch in Richtung des Osmanischen Reichs und des Iran ausdehnen können. Über mehr als 200 Jahre hinweg eroberten russische Armeen in acht Feldzügen im zeitlichen Abstand von jeweils rund 30 Jahren die Ländereien der sogenannten »Tartarei«, die das osmanische beziehungsweise türkische Reich Jahrhunderte zuvor erobert hatte.
Als propagandistischer Vorwand für die russischen Angriffe diente die Gefährdung der Christen im Osmanischen Reich, nicht zuletzt auf dem Balkan, in Palästina und bei den heiligen Stätten der Christenheit. Hinzu kam im Zuge des damals weltweit um sich greifenden Rassenwahns der Glaube an die Vorzüglichkeit und das Recht auf Herrschaft der slawischen Rasse, die die Inschutznahme der Slawen auf der Balkanhalbinsel durch das Großreich Russland geboten erscheinen ließ. Beide Schutzziele, das der Christen wie das der Slawen, dienten als Vorwand für die Verfolgung der eigentlichen geopolitischen Ziele, des freien Zugangs der russischen Handelsflotte und der Kriegsmarine aus den warmen Schwarzmeerhäfen über Bosporus und Dardanellen ins Mittelmeer und darüber hinaus in den Atlantik.
Allerdings gab es nicht nur militärische, sondern auch gewichtige kommerzielle Gründe. So hatte es London als Börsenplatz und Umschlagzentrum des weltweiten Getreidehandels immer wieder verstanden, Angebot und Nachfrage für sich gewinnbringend zur Deckung zu bringen, indem Schiffsladungen mit Getreide aus der Kornkammer der Ukraine Piratenangriffen entlang der Küsten des Bosporus, der Dardanellen und des Mittelmeeres ausgesetzt wurden, sodass die Durchfahrt nicht mehr sicher beziehungsweise nicht zu zumutbaren Kosten zu versichern war. Das Angebot von Getreide aus den Hauptanbaugebieten an der Londoner Börse konnte so »just in time« manipuliert, der »angemessene Preis« gesichert, ein vernichtender Preisverfall verhindert und der Gewinn auch bei Überschuss produzierenden Ernten garantiert werden. Dann jedoch blieben die Großgrundbesitzer und Bauern der russischen und ukrainischen Kornkammer auf ihrem Getreide sitzen, bitterste Armut in weiten Teilen des Landes war die Folge, was wiederum die innere Stabilität des Zarenreiches auf Jahre erschüttern konnte.
Über die Balkanprovinzen des Osmanischen Reiches versuchte Russland in Richtung Konstantinopel vorzudringen, teils im Zusammenspiel, teils in eifersüchtiger Konkurrenz zur Politik des österreichischen Habsburg, das über Besitzungen entlang der Adriaküste verfügte und sich beiderseits der Donaumündung ins Schwarze Meer Einfluss zu verschaffen suchte. Österreich verband sich mit Ungarn zur sogenannten Doppelmonarchie. Konkurrierend zum Panslawismus Russlands gab es in Wien die, wenn auch sehr umstrittene, Vorstellung, als K.-u.-k.-Monarchie in Konkurrenz zum Zarenreich auf dem Balkan die Rolle der Schutzmacht der dortigen Slawenvölker zu übernehmen.
England musste nach 1815 das über asiatische und europäische Fronten vordringende russische Reich als das mächtigste Imperium auf dem europäischen Kontinent betrachten, das entlang der langen Grenzen die britischen Kolonien in Asien berührte und Indien, dem Hauptausbeutungsland britischer Kolonialpolitik, gefährlich nahe kam. Die russische Expansion hatte in Zeiten der weltweiten Auseinandersetzungen zwischen England und Frankreich den Pazifik erreicht, drängte weiter in Richtung China und Korea, wo es wiederum den Interessen Englands in die Quere kommen musste. Es war daher aus englisch-imperialer Sicht nun an der Zeit, der Expansion Russlands im Interesse des »Gleichgewichts der Mächte« Grenzen zu setzen. Noch in den Napoleonischen Kriegen hatte England die starken Landstreitkräfte des Zarenreichs in Nord- und Süditalien im Kampf gegen die dort versammelten französischen Armeen zum Einsatz bringen können. Die Zeiten hatten sich gründlich geändert.
Nun unterstützte Großbritannien im sogenannten Krimkrieg von 1853 bis 1856 das Osmanische Reich mit eigenen Truppen gegen das vordringende Russland in Richtung Bosporus, Dardanellen und Mittelmeer. Englische und französische Truppen landeten auf der ins Schwarze Meer ragenden Halbinsel Krim. Frankreich konnte nach der Neugestaltung des europäischen Gleichgewichts durch den Wiener Kongress offensichtlich wieder eine Rolle als Partner Englands übernehmen, indem es für den Feldzug eigene Truppenkontingente stellte. Der sogenannte Krimkrieg, der seine Namensgebung, wie so oft irreführend, einem kleinen Landstrich verdankt, war wie schon der Siebenjährige oder Schlesische Krieg nichts anderes als Teil eines Weltkrieges: Die militärischen Auseinandersetzungen zwischen England, unterstützt von dem nun sekundierenden Frankreich, und Russland fanden nicht nur auf der Krim, in und um das Schwarze Meer, sondern mit gewaltigen englischen und französischen Seestreitkräften auch in der Ostsee statt. Dort griff die vereinte Flotte die mit Gibraltar vergleichbare Seefestung des russischen Reiches unmittelbar vor den Toren Helsinkis an, wenige hundert Seemeilen von St. Petersburg entfernt. Die Festung fiel, und so konnte nun sogar die russische Hauptstadt von den Seestreitkräften der Alliierten bedroht werden.
Im Schwarzen Meer gelang es der russischen Marine zwar, die Flotte des Osmanischen Reiches zu vernichten und die Krim für sich zu erobern. Doch die Kämpfe der englischen und russischen Truppen fanden im sibirischen Kamtschatka, in Armenien und dem heutigen Irak statt. Das Vorgehen Englands, sekundiert von Frankreich, kam einem gewaltigen Schuss vor den Bug Russlands gleich. Die zum Teil skandalösen militärischen Pannen auf englischer Seite führten zum Sturz des britischen Kabinetts und zur Reorganisation des englischen Militärs. Die Weltmacht Nummer eins war gezwungen, ihre militärischen Fähigkeiten zu steigern, wenn sie sichergehen wollte, künftige Auseinandersetzungen nicht nur zur See, sondern auch zu Lande bestehen zu können. Der den Krimkrieg besiegelnde Friede wurde in Paris geschlossen. Russland musste die Unversehrtheit der Türkei anerkennen. Die Meerengen und Konstantinopel gelangten nicht in die Hände des Zarenreiches.
England hatte Preußen auf dem Wiener Kongress zu einer größeren Mittelmacht auf dem europäischen Kontinent werden lassen. Dies dürfte die Entlohnung für die nach langem Schwanken auf englischer Seite geleisteten Militärdienste gewesen sein, diente jedoch aus der Sicht britischer Politik vor allem auch dazu, dem unter Napoleon noch gefährlichen Frankreich ebenso wie dem nach Osten wie Westen vordringenden Russland ein Gegengewicht zu bieten. Österreich und Preußen schienen in etwa gleichgewichtet zu sein mit einer leichten Schwächetendenz aufseiten Österreichs, das sowohl militärisch als auch aus finanziellen und politischen Gründen immer weniger mithalten konnte. Schließlich hatte das Land 1811 einen Staatsbankrott zu bewältigen. Der Versuch Wiens, durch Verehelichung einer Tochter des habsburgischen Kaisers mit Napoleon Bonaparte noch einmal in der ersten Weltklasse mitspielen zu können, war durch die Ereignisse überholt. Die Ehe war nicht mehr ebenbürtig. Nach dem Sturz Napoleons verschwand der gemeinsame Sohn in der hochadeligen Versenkung.
Die Schwäche des österreichischen Vielvölkerstaates wiederum ließ durchaus noch Spielraum für eine führende Rolle Preußens im Norddeutschen Bund. Es folgten die drei zur kleindeutschen Einigung unter Preußen führenden Kriege. Der erste war ein Krieg des Deutschen Bundes, den Preußen und Österreich 1864 noch gemeinsam gegen Dänemark führten, um die Zugehörigkeit Schleswig-Holsteins zum Deutschen Bund gegen dänische Ansprüche zu sichern. Zankapfel war Schleswig, das zwar dem dänischen Königshaus zugeordnet war und das Dänemark sich nun einverleiben wollte, obgleich es vertraglich »up ewig ungedeelt« mit Holstein dem Deutschen Bund verbunden war.
Dänemark beherrschte mit dem Öresund, der die Nord- mit der Ostsee verbindenden Meerenge, einen der geopolitischen »Choke Points« der Weltmeere, ebenso wie das Osmanische Reich die Mittelmeer und Schwarzes Meer verbindende Meerengen des Bosporus und der Dardanellen. Beide Engpässe müsste auch heute noch im Konfliktfall die russische Flotte überwinden, um mit Seestreitkräften in den Atlantik zu gelangen, will sie sich nicht nur auf die Häfen von Murmansk oder des pazifischen Wladiwostok verlassen. Dieser geopolitische Drosselpunkt durfte aus englischer Sicht weder in die Hände Russlands noch eines erstarkenden Deutschlands fallen. In den Händen einer schwachen Macht, in der Not abhängig von der Schutzmacht England, bleiben die Meerengen indirekt unter britischer, heute amerikanischer Kontrolle.
Die britische Flotte wiederum hatte im Jahr 1801 die dänische Flotte vor Kopenhagen in Grund und Boden geschossen. Dänemark hatte sich damals infolge fehlender englischer Gelder Frankreich angenähert, wie alle anderen nordischen Staaten. Der Vorgang wiederholte sich 1807, als die neu aufgebaute dänische Flotte nochmals von britischen Seestreitkräften vernichtet wurde. »To copenhagen« heißt seit dieser Zeit der Fachausdruck, der von britischen Marinepolitikern verwandt wird, wenn es um die Vernichtung einer gegnerischen Flotte aus heiterem, scheinbar friedlichem Himmel geht. So schlug der britische Admiral Fisher zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor, die britische Marine könne doch die deutsche Flotte in Kiel einfach »copenhagen«.
Im deutsch-dänischen Konflikt um Schleswig drängten bereits 1863 in der britischen Politik die angeblich um das europäische Gleichgewicht besorgten Freunde Dänemarks auf das Eingreifen Englands. Doch Premierminister Disraeli wehrte im Unterhaus ab und meinte, auf der Welt seien nur drei Menschen in der Lage, die schleswig-holsteinische Frage in ihrer Komplexität zu durchschauen. Der erste, Prinz Albert, habe das Zeitliche gesegnet, der zweite, ein deutscher Professor, sitze im Irrenhaus, und er selbst sehe sich gegenwärtig außerstande, die Gesichtspunkte so zu ordnen, dass ihm eine angemessene Darstellung des Konfliktes gelingen könne. Dennoch, wenn gewollt, wäre der Vorwand für eine britische Intervention schnell zu finden gewesen, zumal die Zarenfamilie, das englische und das dänische Königshaus untereinander versippt und verschwägert waren. Dänemark fühlte sich von England, der Weltmacht Nummer eins, im Stich gelassen. Doch England sah sich nicht zum Engagement veranlasst, zumal Holstein in deutscher Hand keine Beherrschung der Zufahrtswege aus und in die Ostsee mit sich bringen konnte. Diese blieben in den erprobt schwachen Händen Dänemarks. Ein möglicherweise nicht unwesentlicher persönlicher Grund wird dabei gewesen sein, dass die englische Königin Victoria – mit dem deutschen Prinzen Albert von Sachsen-Coburg-Gotha, Bruder des belgischen Königs Leopold, verheiratet – einem massiveren Eingriff in deutsche Angelegenheiten abgeneigt war.
Es folgte 1866 der Krieg Preußens gegen Österreich mit dem Ziel, den bisher unter Österreichs Führung stehenden Deutschen Bund aufzulösen. Die süddeutschen Staaten kämpften aufseiten Österreichs. Die Gelegenheit nutzte das sich vereinigende Italien, um seinerseits Österreich anzugreifen und sich das bislang österreichisch beherrschte Venetien angliedern zu können. Der König von Preußen drängte nach dem Sieg seiner Armee zum Marsch auf die österreichische Hauptstadt Wien. Das konnte Bismarck als preußischer Ministerpräsident verhindern. Großbritannien im Verbund mit Frankreich hätte der sich abzeichnenden großdeutschen Reichseinigung vermutlich widersetzt. Die Tendenz, einen Staat zu errichten, der von der Nord- und Ostsee über die Alpen und die Po-Ebene Teile des Balkans umfasst und bis zur Adria und zum Mittelmeer reicht, hätte das Gleichgewicht der Kräfte auf dem Kontinent aus englischer Sicht viel nachhaltiger berührt als die Einigung der kleinen norddeutschen Staaten unter der Führung Preußens.
Der erste Reichskanzler und preußische Ministerpräsident Bismarck hatte seine Absicht einer kleindeutschen Reichseinigung unter Preußens Führung lange im Voraus dem britischen Premierminister Disraeli dargelegt und von dort keinen Widerspruch erfahren. Da sich England gegen diese politische Entwicklung trotz beachtlicher Opposition eines Teils seiner Machtelite nicht sträubte, fehlte Frankreich und Russland der Partner für eine aussichtsreiche Gegenstrategie.
Auf dem Weg der Umgewichtung der kontinentaleuropäischen Machtverhältnisse folgte 1870/71 der Krieg Preußens unter Gefolgschaft diesmal auch der süddeutschen Staaten gegen Frankreich. Wiederum fehlten Frankreich die europäischen Partner. England hielt sich zurück, Russland und Österreich griffen nicht ein, obgleich das Entstehen des neuen deutschen Staates nach dem Sieg unter preußischer Führung zwangsläufig das Gewicht Deutschlands im europäischen Machtgefüge weiter steigerte, das Frankreichs mit der Niederlage und dem Verlust Elsass-Lothringens hingegen entsprechend verringerte. Österreich war aus dem deutschen Staatenverbund nun endgültig ausgeschieden. Mit der gewaltsamen Besetzung und Abtrennung Elsass-Lothringens schuf sich das preußisch geführte Deutschland den gefährlichen Dauerzankapfel mit dem gedemütigten, als Großmacht angeschlagenen Frankreich.
Infolge der kleindeutschen Lösung ohne die alte deutsche Führungsmacht Österreich entstand ein Reich, in dem Preußen mit 70 Prozent sowohl der Fläche als auch der Bevölkerung, mit den Industriegebieten Schlesiens, der Ruhr und der Saar zwangsläufig die Führung zufiel und das, ergänzt um das wirtschaftlich starke Sachsen, nun seine Stellung als mittlere Großmacht weiter ausbauen konnte.
Die aus dem Deutschen Bund herausgedrängte Doppelmonarchie Österreich-Ungarn wandte sich auch aufgrund ihrer Zusammensetzung aus deutschen, ungarischen, polnischen und tschechischen Bevölkerungsteilen nun noch mehr dem Balkan zu, wo ihr auf dem berühmten Berliner Kongress mit Billigung Englands 1878 das Protektorat über die völkerrechtlich immer noch dem Osmanischen Reich zugehörige Provinz Bosnien-Herzegovina zugesprochen wurde. 1908 eignete sich Österreich-Ungarn dann das Protektorat als ureigenstes Staatsgebiet an, ohne sich zuvor um die internationale Zustimmung bemüht zu haben. Allerdings hatte es durchaus positive Absprachen mit Russland gegeben.
Die Politik der den Globus umspannenden englischen Supermacht des 19. Jahrhunderts war mit Sicherheit mit anderen Dingen beschäftigt als mit der Vereinigung einiger süddeutscher Staaten mit Preußen und dessen Norddeutschem Bund. Gleiches musste für die Vereinigung der Kleinstaaterei zu einem modernen Italien gelten. Nach der Neuordnung des europäischen Gleichgewichts durch den Wiener Kongress widmete sich England der Erschließung, vor allem aber Ausbeutung Indiens und richtete seine Blicke auf das verschlossene China. Die dortigen Einnahmequellen und Raubobjekte waren riesig im Vergleich zu dem noch weitgehend ländlich bis handwerklich geprägten Mitteleuropa. So ließ die in London registrierte ostindische Handelskompanie in Indien Mohn zur Herstellung von Opium anbauen und setzte für sich ein Monopol des Opiumhandels durch. Rasant steigende Gewinne wurden in die Kassen der Gesellschaft wie der Kolonialverwaltung gespült. Exportmarkt für die Droge war das bevölkerungsreiche China, dessen Regierung sich gegen die Verseuchung seiner Bewohner mit Einfuhrverboten und hohen Strafen zu wehren begann. Doch England zwang China in den zwei Opiumkriegen von 1839 bis 1842 und 1856 bis 1860, den chinesischen Markt dem englisch/indischen Opiummonopol uneingeschränkt zu öffnen. Der Deal hatte für die Ostindien-Kompanie den Vorteil, die in Europa begehrten chinesischen Waren wie Porzellan (in Englisch »China« genannt), Seide und Tee mit den Einnahmen aus dem Opiumhandel ankaufen und in England beziehungsweise Europa mit hohem Gewinn weiterverkaufen zu können.
England drang in den Kriegen, wiederum unterstützt von französischen Truppen, bis Peking, der Hauptstadt Chinas, vor, besetzte alle wichtigen Hafenstädte entlang der chinesischen Küste, erzwang die Übergabe der chinesischen Hafenstadt Hongkong auf 99 Jahre als Kronkolonie und die Öffnung Chinas für britische Einfuhren.
In Absprache mit England drang auch Russland auf chinesischen Boden vor. All diese Aktivitäten lagen wenige Jahre vor der deutschen Einigung und beschäftigten gerade auch wegen der Ausbeutungschancen in Indien und China die britische Führung und Gesellschaft weit mehr als der weitere Aufstieg des alten, im Weltmaßstab kleinen, potenziellen englischen Bündnispartners Preußen. Englands Aufmerksamkeit war zeitweilig auch gebannt von den Ereignissen in den USA, wo die entfernte Chance bestanden hatte, Nordstaaten und Südstaaten im Zuge des amerikanischen Bürgerkrieges wieder zu teilen und damit den Kontinent im weltweiten Spiel der Kräfte doch noch für das kleine England handhabbar zu machen.
England genoss die Vorzüge seiner unangefochtenen Stellung in der Welt und gönnte sich für längere Zeit eine »Splendid Isolation«, die ja keineswegs ausschloss, hie und da per Intervention wie im Krimkrieg einzugreifen, um den eigenen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen. Eine Seemacht, gestützt auf eine Insel wie England, kann nicht von Land aus mit blitzkriegsartigen Invasionen und Feldzügen bedroht werden, kann folglich den Zeitpunkt des militärisch-maritimen Eingreifens gegen Feinde oft über Jahrzehnte hinweg aufschieben, bis günstige Bedingungen und Machtkonstellationen das Ergreifen der Initiative geboten erscheinen lassen.
Wo die Grenzen britischer Duldsamkeit im Verfolgen des europäischen Gleichgewichts der Mächte in etwa lag, wusste ganz offensichtlich Bismarck, der Konstrukteur der deutschen Einheit. Bereits als Botschafter Preußens am Zarenhof in St. Petersburg wird er sich mit dem Großen Spiel Englands als Weltmacht Nummer eins vertraut gemacht haben, lag doch der Krimkrieg, die gemeinsame Intervention Englands und Frankreichs aufseiten der Türkei gegen das vordringende russische Reich, erst wenige Jahre zurück und beherrschte daher die innerrussische Diskussion um die einzuschlagende Richtung der Außen- und Militärpolitik nach der Niederlage. Bismarck war der Einfluss Englands und Frankreichs auf die deutschen Teilstaaten sehr wohl bewusst, er konnte ermessen, wo die Grenzen Deutschlands im englisch gesteuerten Gleichgewicht der Mächte lagen. Das mag wiederum England bewogen haben, den deutschen Kanzler auf der Berliner Konferenz 1878 zum Vermittler der erneuten Feinsteuerung dieses Gleichgewichts auf dem Balkan zu machen. Die deutsch-preußische Propaganda ließ und lässt Bismarck als den »ehrlichen Makler« erscheinen. In Wirklichkeit wurde jede Sitzung des Berliner Kongresses von deutscher Seite sorgfältig in Rücksprache mit dem englischen Premier Disraeli und der britischen Delegation nach deren Wünschen vorbereitet. Und so fiel dann auch das Ergebnis aus.
Die Türkei in Gestalt des Osmanischen Reiches war über die Jahrhunderte so schwach geworden, dass sie allseits als der »Kranke Mann am Bosporus« bezeichnet wurde. Die an Territorien des Osmanischen Reiches interessierten europäischen Mächte spekulierten auf den Zusammenbruch des Riesengebildes, versuchten sich für den Ernstfall oder schon im Voraus den passenden Teil der Beute zu sichern. Dabei waren die zahllosen Völkerschaften preiswerte Instrumente, die nur mit Waffen und Geld unterstützt werden mussten, um von innen über Aufstände das Zerschlagen des Reiches vorantreiben zu helfen. Das alle Völker erfassende Ideal des Nationalstaates half als Brechstange zur Schwächung und Aufteilung des Reiches, als nützliches Treibmittel für die propagandistische Erregung der Massen. In allen Regionen des Balkans blühten nationalistische, das heißt aus der Sicht des osmanischen Großreiches separatistische, Bewegungen auf. So entstanden Ziele wie die eines Großarmeniens, eines Großgriechenlands, Großbulgariens und Großserbiens, fast durchweg in Landstrichen, die in Wirklichkeit seit alters her von den unterschiedlichsten Ethnien beziehungsweise Nationalitäten besiedelt waren. Das rücksichtslose Durchsetzen eines Nationalstaates unter der Führung meist einer sich als Elite fühlenden Minderheit oder Mehrheit forderte zwangsläufig die hiervon bedrohten Ethnien zum Widerstand heraus. Das Ergebnis waren blutigste Bürgerkriege.
In der weiteren Umsetzung seiner kolonialen Weltmachtinteressen war Großbritannien bestrebt, seine afrikanischen Besitzungen um Ägypten und den Sudan zu vervollständigen und eine Nord-Süd-Verbindung von Kairo zum Kap der Guten Hoffnung zu schaffen. Eisenbahntrassen waren bereits projektiert. Noch wichtiger war, die Schiffsverbindung vom Mittelmeer über den Suezkanal in den Indischen Ozean unter Kontrolle zu bringen und abzusichern. England kaufte Frankreich die Aktien der Suezkanal-Gesellschaft ab. So konnte der für Englands Schifffahrt und Handel extrem wichtige kurze Seeweg nach Indien und China gesichert werden. Die Insel Zypern hatte sich London auf der Berliner Konferenz unter Führung Bismarcks zusprechen lassen, ein weiterer Stützpunkt in der Kette der zahlreichen Kohlestationen für die Dampfschifffahrt nach Asien.
Russland wiederum unterstützte in den osmanischen Provinzen des Balkans die slawischen Unabhängigkeitsbewegungen. Dazu gehörten Serbien, Rumänien, Bosnien und Bulgarien. Die dort angezettelten Aufstände wurden von den osmanischen Truppen niedergeworfen, was das Zarenreich zum Anlass nahm, mit Truppen gegen Istanbul vorzugehen.
Die Ziele Russlands auf dem Balkan lagen im Konflikt mit den Bestrebungen des österreichischen Kaiserhauses. Die K.-u.-k.-Monarchie wollte ihren Einflussbereich nach Süden in Richtung Donaumündung/Schwarzes Meer und Adria erweitern, auch unter der Propagandaformel, die slawischen Völker gegen das unterdrückende und nur langsam weichende muslimische Besatzungsregime des Osmanischen Reiches schützen zu müssen.
Im Krieg von 1877/78, kaum eine Generation nach dem Krimkrieg von 1853 bis 1856, schlugen die russischen Armeen erneut zu, befreiten die aufständischen Völker auf dem Balkan vom Joch der Türkei. Die russischen Truppen erreichten mit ihrer Vorhut gar die Außenbezirke der osmanischen Hauptstadt Istanbul. St. Petersburg hatte nahezu seine Traumziele Konstantinopel und die Beherrschung der Meerengen erreicht.
Der handstreichartige Zugriff Russlands in Richtung Bosporus und Dardanellen erregte erneut, wie aus der bisherigen Geschichte nicht anders zu erwarten, den Widerstand Englands. Dem Riesenreich des Zaren konnte England nur schwerlich die Herrschaft über einen der wichtigen geostrategischen Punkte der Erde zugestehen. In der britischen Politik hatten sich bereits seit längerer Zeit Stimmen zu Wort gemeldet, die dem russischen Vordringen auf die Balkanhalbinsel und in Richtung Türkei Einhalt gebieten wollten. Zu den Drängenden zählten Königin Victoria ebenso wie Premierminister Disraeli, dem allerdings eine starke Opposition in Parlament und Öffentlichkeit gegen größere kriegerische Interventionen entgegenstand. Gladstone, der innenpolitische Herausforderer des britischen Premiers, war deren Wortführer. Doch die Politik Disraelis landete einen genialen Coup. Auf dem bereits erwähnten Berliner Kongress gelang es dem »ehrlichen Makler« Bismarck, Russlands Sieg samt bereits abgeschlossenem Friedensvertrag mit dem Osmanischen Reich nachträglich in eine Niederlage zu verwandeln. Russland musste sich dem Druck der Briten beugen und die eroberten Gebiete räumen. Die Drohung mit einem ins Marmarameer eingelaufenen britischen Flottenverband reichte, um Russland den Rückzug nahezulegen. Das von russischer Seite geplante großbulgarische Reich wurde nicht geschaffen. Die russische Führung, nicht zuletzt der Zar, fühlten sich hereingelegt, hatte doch Bismarck als preußischer Ministerpräsident vor den Kriegen um die deutsche Einheit in Geheimverhandlungen die Zusage russischer Neutralität erreicht. Die Gegenleistung war das Versprechen Bismarcks, die russischen Wünsche in Richtung Konstantinopel, Meerengen und Palästina zu unterstützen.
Wie bereits die weitreichende Auseinandersetzung des Krimkrieges gezeigt hatte, war England bis zur Jahrhundertwende nicht bereit, ein weiteres Vordringen Russlands aus dem Schwarzen Meer in Richtung Mittelmeer, Afrika, Atlantik und Suezkanal zu dulden. Der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs hätte der russischen Politik im Falle des Besitzes der Meerengen ja auch ungeheure zusätzliche Einflussmöglichkeiten in Richtung Kleinasien, Persien, Indien und letztlich auch Nordafrika ermöglicht.
Der Zar war erbittert und sandte Kaiser Wilhelm I., seinem Vetter, den berühmten »Ohrfeigenbrief«, in dem er das Verhalten des deutschen Kanzlers auf der Berliner Konferenz als treu- und absprachewidrig rügte. Russland habe bei allen gefährlichen Wegstrecken Preußens zur deutschen Einigung stillgehalten, erst im deutsch-dänischen, dann im preußisch-österreichischen und schließlich im deutsch-französischen Krieg. Diese Haltung sei jedoch deutscherseits nicht honoriert worden.
Aus britischer Sicht blieb die Bismarcksche Außenpolitik für das neu geschaffene kleinere Deutschland letztlich im Rahmen dessen, was als mit den auf das Gleichgewicht der Mächte in Europa gerichteten Interessen Englands vereinbar schien. Bismarck selbst kannte sich aus in dem von England geleiteten Spiel der Mächte. Das geht unter anderem deutlich aus den sogenannten »Kissinger Protokollen« Bismarcks hervor, in denen er die Einbettung Deutschlands in die Interessensphären Großbritanniens, Russlands und Österreichs erörtert mit dem Ziel, Deutschland angesichts der unterstellten fortgesetzten Rachsucht Frankreichs vor einem Zweifrontenkrieg zu bewahren.
1890, zur Zeit von Bismarcks Entlassung durch Kaiser Wilhelm II., hatte sich an der bisherigen Rangordnung der Mächte in Europa und der Welt wenig geändert. Großbritannien stand nach wie vor unangefochten als die erste Weltmacht an der Spitze und war auf die Sicherung und Ausweitung dieser Stellung bedacht. Jedoch zeichneten sich Entwicklungen ab, die die englische Politik als Gefahr wahrzunehmen begann. Da waren zunächst die Vereinigten Staaten von Nordamerika, wo hinter Schutzzöllen eine gewaltige, den Kontinent bis zum Pazifik erschließende Macht mit einer die Welt beliefernden, neuen Industrie aus dem Boden gestampft wurde. Diese Industrie war drauf und dran, sich aufgrund des Riesenmarktes im eigenen Lande gegenüber der britischen und europäischen Konkurrenz einen gewaltigen Vorsprung in Größe, Technik und Rentabilität zu erarbeiten. Darüber hinaus wuchsen die USA zu einer neuen pazifischen Macht heran. Beide Küsten waren durch leistungsfähige Eisenbahnen miteinander verbunden. Später kam der Panamakanal hinzu, auf einem Gelände erbaut, das im Zuge eines angezettelten Aufstandes 3› Hinweis von Kolumbien abgetrennt werden konnte. Der Kanal ermöglichte die schnelle Verlegung der gewaltig anwachsenden amerikanischen Flotte vom Atlantik in den Pazifik und zurück.
Die Versenkung des amerikanischen Schlachtschiffes Maine im damals spanischen Kolonialhafen von Havanna, die der amerikanische Präsident gegen den Rat des Kapitäns spanischen Minenlegern und damit Spanien in die Schuhe schob, diente zum Vorwand, sich im Krieg von 1898 einen erheblichen Teil der spanischen Kolonien anzueignen. So wurden Kuba, Guam und die Philippinen besetzt. Unter Vertreibung des eingesessenen Königshauses und Einsetzung eines amerikanischen Gouverneurs wurde der Inselstaat Hawaii den USA angegliedert. So entwickelten sich die Vereinigten Staaten um die Jahrhundertwende zu einer auch mitten im Pazifik angesiedelten Macht.
In der britischen Außenpolitik wurde die Frage des Umgangs mit den USA kritisch erörtert. Eine kriegerische Auseinandersetzung vor allem zu Lande wurde als mit britischen Kräften nicht darstellbar angesehen, Bündnispartner hierfür ließen sich weder anwerben noch bezahlen, weder Frankreich noch Deutschland kamen hierfür in Betracht. Doch für solche Lagen hält die angelsächsische politische Klasse die Weisheit bereit: »If You can’t beat them, join them«, »Wen du nicht schlagen kannst, mit dem verbünde dich«. Schließlich waren die angelsächsischen Bindungen zwischen dem ehemaligen Mutterland und der früheren Kolonie nach wie vor auch personell außerordentlich stark. Die englischen politischen, finanziellen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten waren um 1900 nach wie vor eng mit denen der Neuen Welt verflochten. Die wechselseitigen Heiraten in der Oberschicht zeigten dies deutlich. In England waren Töchter aus reichen amerikanische Familien eine hervorragende Partie für den ärmer werdenden Adel der High Society.
England blickte nun auf eine ununterbrochene Erfolgsgeschichte als Supermacht, als Kolonialmacht, als Beherrscherin eines Riesenreiches zurück. Die Transportstraßen der Meere wurden militärisch wie kommerziell beherrscht. »Britannia rules the waves.« Dieses auf die Basis der kleinen britischen Inseln gestützte Riesenreich hatte zwar in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Wirtschaftskrisen zu überstehen, war an den Rand seiner finanziellen Leistungsfähigkeit aus Anlass der weltweiten Auseinandersetzung mit Frankreich und den sich gründenden Vereinigten Staaten gelangt. Dennoch war England um 1900 unstrittig die Nummer eins im Finanzsystem der Welt, die Londoner City war die Adresse zur Finanzierung von Großprojekten auf allen Kontinenten. Großbritannien hatte es hingenommen, dass die USA sich große Teile des spanischen Kolonialreiches angeeignet oder sich als Protektorat unterworfen hatten. Eine weitere Ausdehnung des Britischen Empires in Richtung Lateinamerika war nicht zuletzt mit Rücksicht auf die selbstbewusst und herausfordernd bereits 1823 zur Abschreckung Europas erklärte Monroe-Doktrin ausgeschlossen. Europa hatte in Nord- und Lateinamerika, dem »Hinterhof« der Vereinigten Staaten von Amerika, nach dem Gebot Washingtons und der Wall Street nichts zu suchen.
Doch weitete man den Blick auf das gemeinsame angelsächsische Erbe in den USA wie in Großbritannien und dem Britischen Empire, dann schien offensichtlich zu sein, dass diese angelsächsische Rasse, wie man damals in Amerika wie England formulierte, alles in allem genommen doch im Vergleich zu anderen konkurrierenden Rassen der Welt Achtung gebietend erfolgreich war. Stellten Angelsachsen diesseits wie jenseits des Atlantiks rückwirkend die durchaus ernst gemeinte Frage nach dem Grund für den grandiosen Erfolg, so wurde stets die angeborene, ja geradezu genetisch angelegte Tüchtigkeit ins Feld geführt, die sich unschlagbar nicht nur im Mut der Eroberung und Unterwerfung eines großen Teils der Erde gezeigt habe, sondern gerade auch in der Weisheit des Umgangs mit den ihr zur Unterweisung und Fortbildung anvertrauten beziehungsweise unterworfenen Rassen.
Über sechs Millionen Sklaven waren es, die in Afrika im Tauschhandel eingekauft und den Besitzern der Baumwoll-, Tabak- und Zuckerrohrplantagen der Südstaaten der USA, der Karibik, Mittel- wie Südamerikas mit hohem Gewinn verkauft worden waren. Die Besitzer der Großplantagen legten ihre Gewinne wiederum zu Teilen in New York und London an. Der Sklavenhandel war englischerseits nach der Industrialisierung und dem Aufkommen leistungsfähiger landwirtschaftlicher Maschinen abgeschafft worden. Das hieß allerdings noch lange nicht, dass die Sklaverei in den Betrieben der amerikanischen Südstaaten untersagt war. Dort vermehrten sich die Sklaven auch unter Beimischung der Herrenrasse inzwischen von selbst. Vermutlich drohten den neu erworbenen Kolonien Englands in Afrika nun die schwarzen Arbeitskräfte für das zu kolonialisierende Land auszugehen, falls die Jagd auf Sklaven das Potenzial weiter verminderte. Der Makel des aus Sklaven- oder Opiumhandel erworbenen Wohlstands verflüchtigte sich schnell. Die so gebildeten Vermögen kamen im Zuge der Industrialisierung nun auf anderen Feldern zum Einsatz.
Doch es blieb die Frage nach der moralischen Rechtfertigung der Ausbeutung ganzer Kontinente zulasten der von den besten Böden verjagten, versklavten oder schlecht entlohnten Eingeborenen. Und da war es wieder der letztlich rassisch begründete angebliche Erziehungsauftrag, der das Gewissen der christlichen Ausbeuter beruhigen sollte. Man nannte es seufzend »The white man’s burden«, die Last des weißen Mannes, die dieser sich im Interesse des Fortschritts der Menschheit so selbstlos auferlegt hatte. Unter dem Strich, nach Abzug aller anerkennenswerten Bemühungen, die Infrastruktur, den geistigen, religiösen, technischen Horizont der Menschen in den eroberten und militärisch besetzten Landstrichen zu verbessern, blieb doch die den Wohlstand der englischen Eliten mehrende Ausbeutung die alles entscheidende Größe.