Die drei magischen Worte - David Michie - E-Book
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Die drei magischen Worte E-Book

David Michie

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Beschreibung

Die Lieblingsgeschichten der kleinen Katze berühren Herz und Seele
»Es war einmal ...«: Nur drei kleine Worte – und schon tauchen wir ein in eine Welt der Magie und Fantasie. Im Kloster des Dalai Lama spitzt die Katze Seiner Heiligkeit ganz besonders die Ohren, wenn hier die Abenteuer von Mönchen oder auch von Menschen wie du und ich erzählt werden. Die schönsten dieser Geschichten präsentiert die »Kleine Schneelöwin« in diesem Buch – Geschichten voller Humor und Lebensweisheit, die uns wieder an Wunder glauben lassen, die uns dazu inspirieren, die Welt mit anderen Augen zu sehen, und uns zeigen, wie wir zu einem achtsamen, glücklichen Leben finden.

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Seitenzahl: 259

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Die drei magischen Worte

Als Katze des Dalai Lama, die mit Seiner Heiligkeit unter einem Dach lebt, trifft man nicht nur ständig auf faszinierende Persönlichkeiten, sondern hört auch viele spannende Geschichten. Aus dieser Fülle eine passende Auswahl für ein Buch zu treffen, fällt der „kleinen Schneelöwin“ nicht leicht und doch hat sie es geschafft … Lassen wir uns also von ihr entführen zu der Juweleninsel, wo erstaunliche Abenteuer auf uns warten, zu den vier Damen eines Buchclubs, die auf wundersame Weise etwas über ihre früheren Leben erfahren oder zu Yonten, dem zahnlosen alten Bauern, der doch noch die Erleuchtung erlangt.

Eine wunderbare Sammlung von Erzählungen, die die Lebensweisheit des Buddhismus auf ebenso inspirierende wie vergnügliche Weise vermittelt und wertvolle Impulse für das eigene Leben schenkt.

David Michie

Die drei magischen Worte

Buddhistische Weisheitsgeschichten, die das Leben wandeln können

Mit einem Vor- und Nachwort von der Katze des Dalai Lama

Aus dem Englischen übersetzt

von Kurt Lang

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »The Astral Traveler’s Handbook and other Tales« im Verlag Conch Books, an imprint of Mosaic Reputation Management, Ltd.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Lotos Verlag

Lotos ist ein Verlag der Verlagsgruppe Random House GmbH.

ISBN 978-3-641-24377-7V001

Copyright © 2018 by Mosaic Reputation Management (Pty) Ltd

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Lotos Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Annegret Scholz

Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany.

Einbandgestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung eines Motivs von © MariyaL /Shutterstock

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

www.ansata-integral-lotos.de

www.facebook.com/Integral.Lotos.AnsataInhalt

Inhalt

Vorwort von der Katze des Dalai Lama

Die Geschichte vom zahnlosen alten Bauern

Der Sera-Street-Lesekreis

Das Handbuch für den Astralreisenden

Wenn sie doch nur sprechen könnten

Erwachen in der Leichenhalle

Eine Herzensangelegenheit

Genau so

Die Juweleninsel

Die vier Unermesslichen

Nachwort von der Katze des Dalai Lama

Vorwort

von der Katze des Dalai Lama

An einem wunderschönen Morgen im Himalaja kam mir eine großartige Idee. Ich lag gerade auf meinem Lieblingsplatz – der Fensterbank im Empfangszimmer des Dalai Lama. Hier verbringe ich viel Zeit damit, die Sonne zu genießen und dem Treiben im Innenhof einen Stock tiefer zuzusehen. Und natürlich den hochinteressanten Gesprächen zu lauschen, die in diesem Raum geführt werden.

An besagtem Morgen also bekam Seine Heiligkeit Besuch von einem der einflussreichsten Regisseure Hollywoods. Da ich als Katze Seiner Heiligkeit höchsten Wert auf Diskretion lege, werde ich euch selbstverständlich nicht verraten, um wen es sich dabei handelte. Einige kleine Hinweise müssen genügen.

Wenn ihr jemals Mitleid mit einem kleinen Außerirdischen hattet, einen vor Dinosauriern wimmelnden Vergnügungspark bestaunt oder an der Jagd nach verlorenen Schätzen teilgenommen habt, könnt ihr euch womöglich denken, um wen es sich bei diesem Besucher handelte. Ihr wisst schon, der Mann mit dem Bart und der Brille. Genau der!

Ich verbrachte geraume Zeit in angenehmem Halbschlaf, träumte vor mich hin, schnurrte leise und hörte den beiden Männern nur mit halbem Ohr zu. Sie unterhielten sich darüber, dass die Sprache die Macht hat, uns an Orte zu bringen, die wir auf anderem Wege niemals erreichen können. Bestimmte Phrasen und Redewendungen seien diesbezüglich besonders wirkungsvoll, behauptete unser Gast. »Denken wir nur an die magischsten Worte überhaupt …«, sagte er.

Sofort fingen meine Schnurrhaare vor Neugierde an zu zittern. Wir Anhänger des tibetischen Buddhismus haben ja ein Faible für magische Worte. Offenbar wollte uns der Regisseur ein ganz besonderes Mantra verraten, das das Schicksal eines jeden, der es hörte, zum Positiven veränderte.

Dabei glaubte ich schon erraten zu haben, wie diese Worte lauteten. Eigentlich war es kinderleicht, weil ich sie Tag und Nacht von den Mönchen und unseren Besuchern aus dem Westen mit großer Inbrunst vorgetragen hörte: Om mani padme hum.

Es war ein Mantra der Liebe und des Mitgefühls. Wenn man es mit wachsendem Verständnis und zunehmender Überzeugung wiederholt, haben diese Worte so gut wie immer eine magische Wirkung – selbst wenn man diese nicht sofort bemerkt.

Eine frische Brise von den eisbedeckten Gipfeln trug den Duft der Himalaja-Kiefer in meine Nase. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich derlei Dinge wusste. Ich war wirklich eine mit enormer Weisheit gesegnete Katze.

Die Kunstpause, die der Regisseur nach seinen letzten Worten gemacht hatte, zog sich scheinbar endlos in die Länge. Er war kurz davor, die magischen Worte zu äußern, doch er machte es spannend. Obwohl ich mir ja schon sicher war, um welche Worte es sich handelte, wollte ich sie trotzdem aus seinem Munde hören!

Doch dann kam etwas völlig Unerwartetes. Etwas, womit ich offen gestanden nicht gerechnet hatte.

»Es war einmal«, sagte er.

Ich hob den Kopf und sah ihn an. War der Mann von Sinnen?

»Es war einmal?«, wiederholte Seine Heiligkeit mit seiner sanften, melodischen Stimme.

»Diese Wendung gibt es auch in vielen anderen Sprachen«, fuhr unser Gast zu meiner wachsenden Unzufriedenheit fort. »Bei den Franzosen heißt es beispielsweise ›Il ètait une fois‹ und bei den Spaniern ›Érase una vez‹. Im Lauf der Zeit findet man sie in vielen Sprachen und Kulturen, auch im Chinesischen und im Sanskrit.«

Ach, wirklich? Das war mir neu.

»Und wieso sind diese drei Worte so magisch?«, fragte Seine Heiligkeit.

Ja, warum? Genau diese Frage stellte ich mir auch.

»Weil wir schon als Kinder lernen, dass sie am Anfang einer zauberhaften Geschichte stehen. Wenn wir sie hören, öffnet sich unsere Vorstellungskraft den unendlichen Möglichkeiten des Märchens. Und uns Erwachsenen erlauben diese Worte, den gesunden Menschenverstand und alle Konventionen eine Weile lang zu vergessen und wieder Kind zu sein.«

Seine Heiligkeit setzte sich auf, und auch ich, liebe Leser, erhob mich vom Fensterbrett und drehte mich um, so gebannt war ich von dem, was der Regisseur zu sagen hatte.

»Und wenn wir wie die Kinder sind«, bemerkte der Dalai Lama, »sind wir viel empfänglicher für alles.«

Sein Gast nickte.

»Wir lernen auf eine ganz andere Art und Weise.«

»Mit der rechten Gehirnhälfte«, sagte sein Gegenüber. »Wo Kreativität und Intuition zu Hause sind.«

Seine Heiligkeit beugte sich vor. »Beides ist im tibetischen Buddhismus von höchster Wichtigkeit.«

»Und deshalb«, fuhr sein Gast fort, »frage ich mich: Wieso hört es irgendwann auf?«

»Was hört auf?«, fragte der Dalai Lama.

»Wenn wir erwachsen werden, haben wir keine Märchen mehr, keine ›Es war einmal‹-Geschichten. Obwohl wir diese als Erwachsene doch am dringendsten brauchen!«

Was unser Gast da von sich gab, fand ich so interessant, dass ich vom Fensterbrett sprang, über den kunstvoll gewebten, reich verzierten indischen Teppich schlich und mich ihm vorsichtig näherte.

Dem Dalai Lama schien dieser Vortrag ebenfalls zu gefallen, denn er lächelte zustimmend und sagte: »In allen Traditionen haben spirituelle Lehrmeister ihre Einsichten und tieferen Weisheiten in Form von Geschichten verbreitet. Eine Geschichte ist nicht an die Grenzen von Vernunft und Logik gebunden. Sie berührt den Geist und« – er hob die rechte Hand an die Brust – »das Herz.«

»Die Macht der Parabel«, pflichtete ihm unser Gast bei.

»Auch die Tageszeit, zu der wir unsere Geschichten erzählen, ist wichtig«, sagte Seine Heiligkeit. »Insbesondere vor dem Schlafengehen kann es sehr segensreich sein, wenn wir uns auf positive Dinge konzentrieren. So verwandeln wir den Schlaf, eine an sich neutrale Aktivität, in etwas sehr Nützliches.«

»Wir machen also aus der Not eine Tugend«, stellte der Regisseur fest.

»Genau!« Seine Heiligkeit strahlte.

Dem Dalai Lama gelingt es oft, mit wenigen Worten Bedeutung auf vielen verschiedenen Ebenen zu transportieren. Aus vergangenen Unterhaltungen wusste ich, dass dieses »Nützliche«, in das man den Schlaf verwandeln konnte, ein sehr wichtiges und faszinierendes Thema war.

Dann änderte sich der Gesichtsausdruck Seiner Heiligkeit, und er legte die Stirn in Falten. »Heutzutage machen die Menschen vor dem Schlafengehen viel zu viel davon.« Er stellte pantomimisch die Bedienung eines Smartphones dar. »Große Unruhe. Deshalb kann ich nur zustimmen: Wir brauchen mehr Gutenachtgeschichten. Ganz besonders die Erwachsenen!«

Die beiden lachten.

Das hielt ich für den richtigen Zeitpunkt, um auf den Schoß unseres Gastes zu springen.

»Wie hübsch!«, rief er angesichts meines kohlschwarzen Gesichts, meiner großen blauen Augen und des üppigen cremefarbenen Fells überrascht aus. Nun, was sollte ich sagen? Diese anmutige Gestalt ist uns Himalaja-Katzen nun mal zu eigen.

»Ich wusste gar nicht, dass Ihr eine Katze habt!« Der Regisseur war nicht der Erste, der sich über diese Tatsache wunderte. Doch wie ich schon an anderer Stelle bemerkt habe: Wieso sollte der Dalai Lama keine Katze haben? Wobei der Ausdruck »eine Katze haben« unser Verhältnis nur unzureichend wiedergibt.

Ich drehte mich so lange auf seinem Schoß um die eigene Achse, bis ich die optimale Liegeposition gefunden hatte.

»Und wie Sie sehen, ist sie sehr real«, sagte Seine Heiligkeit.

Unser Gast blickte in die Richtung, aus der ich gekommen war, und anscheinend bemerkte er erst jetzt, dass ich die ganze Zeit über hier gewesen war. »Dort auf dem Fensterbrett hat sie sicher schon viele interessante Geschichten gehört«, sagte der Regisseur, während ich es mir auf seinen Knien bequem machte.

»In der Tat«, sagte der Dalai Lama. »Sie hätte wirklich viel zu erzählen.«

In den folgenden Tagen – ganz gleich, ob ich auf der Fensterbank döste oder mich in der Palastküche von unserer Chefköchin Mrs. Trinci verwöhnen ließ – musste ich immer wieder an dieses Gespräch denken: Es war einmal. Verwandle den Schlaf in etwas Nützliches.

Da hatte Seine Heiligkeit schon recht, dachte ich – ich hatte tatsächlich viele faszinierende Geschichten gehört. Von geheimnisvollen Yogis und Mönchen in den Bergen des Himalaja, aber auch von Frauen mittleren Alters oder wissbegierigen jungen Männern aus dem Westen. Die wertvollsten Geschichten enthielten genau wie traditionelle Fabeln ein Körnchen Weisheit, eine lebensverändernde Einsicht, die nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz berührte.

Aber wo anfangen?

Wenn mich das Zusammenleben mit Seiner Heiligkeit eines gelehrt hatte, dann die einfache Tatsache, dass man, wenn man Hilfe egal welcher Art benötigt, einfach nur fragen muss. Sei es Mrs. Trinci, die mir so gerne ihre köstliche gehackte Hühnerleber serviert, oder die Buddhas, die uns inspirieren, wenn wir ein neues kreatives Projekt in Angriff nehmen, wir sind von Wesen umgeben, die uns Glück und Erfüllung wünschen und – was noch wichtiger ist – dabei unterstützen, anderen zu Glück und Erfüllung zu verhelfen. Manchmal können wir diese Wesen deutlich sehen, manchmal sind sie unsichtbar. Ich zum Beispiel muss mich nur in demselben Raum wie der Dalai Lama aufhalten, und schon erfüllen mich seine Güte und Inspiration.

Auch Wochen nach dem Besuch des Hollywoodregisseurs dachte ich noch über die segensreiche Wirkung der Gutenachtgeschichten nach, als etwas Bemerkenswertes geschah. Ich lag im Bett Seiner Heiligkeit, während er vor dem Schlafengehen noch eine Weile las, wobei er mir gelegentlich einen Blick zuwarf und mich streichelte. Da erinnerte ich mich plötzlich wie aus heiterem Himmel an einen Besucher, der eine fesselnde Geschichte vorgetragen hatte. Mit dieser Geschichte im Kopf schlief ich ein. War sie nicht ideal, um sie in eine Sammlung von Gutenachtgeschichten für Erwachsene aufzunehmen?

So ging es mir mit einer Geschichte nach der anderen – weshalb ich mich jeweils gerade zu diesem Zeitpunkt an sie erinnerte, war mir ein Rätsel. War gar die Inspiration der Buddhas die Ursache, liebe Leser? Das sollt ihr selbst entscheiden, denn bald werdet ihr so vertraut mit diesen Menschen und ihren Geschichten sein wie ich – denn sie sind alle in dem Buch versammelt, das ihr gerade in den Händen haltet.

Mit eurer Erlaubnis will ich euch folgenden Vorschlag machen: Geht heute Abend nicht mit eurem Handy ins Bett. Lasst diesen Quell der Unruhe im Nebenzimmer und nehmt stattdessen das Buch mit – und vielleicht noch eine schöne wärmende Tasse Kakao oder Zitronentee? Schart eure pelzigen Freunde um euch, damit sie euch Gesellschaft leisten, und nehmt euch genügend Zeit – irgendwie habe ich so eine Vorahnung, dass ihr, wenn ihr einmal eine der Geschichten auf den folgenden Seiten angefangen habt, sie auch bis zum Ende lesen wollt.

Und das hoffentlich, ohne die Welt dieser Geschichte anschließend völlig zu vergessen. Sagt euren Lieben nach der Lektüre Gute Nacht, schaltet das Licht aus, und gestattet es eurer Vorstellungskraft, am Ort und in der Zeit der Geschichte zu verweilen.

Liebe Leser, mir bleibt nur noch, euch den folgenden tibetischen Segen mit auf den Weg zu geben: Ich wünsche euch eine gute Nacht, glückliche Träume und einen Blick auf die wahre Natur der Wirklichkeit.

Om mani padme hum!

Die Geschichte vom zahnlosen alten Bauern

Es war einmal ein alter Bauer namens Yonten, der ganz allein in einem entlegenen Tal im nordindischen Ladakh wohnte. Über Yonten war im Dorf nicht viel bekannt. Weder gehörte er zu einer der Dutzend Bauernfamilien, die im Nala-Tal siedelten, noch hatte er etwas mit dem Mönchskloster hoch oben in den Bergen zu tun. Yonten lebte sehr zurückgezogen in seiner Hütte mit zwei Zimmern, kümmerte sich liebevoll um seine kleine Herde aus Yaks und Ziegen und baute Gerste und Kartoffeln an, wie es in diesem Teil der Welt Brauch war.

Nur selten bekam Yonten Besuch von den Einheimischen oder den Mönchen, und nie wurde er zum Essen oder einem geselligen Beisammensein eingeladen. Der Grund dafür war nicht nur, dass er weithin als Eigenbrötler bekannt war und er dementsprechend als nicht sehr unterhaltsam galt, sondern auch, weil niemand bei Tisch sein Gesicht sehen wollte.

Er war alt – wie alt, wusste niemand – und hatte seit Langem keine Zähne mehr, wodurch sein Gesicht merkwürdig eingefallen wirkte. Er hatte Triefaugen, und aus seinen Ohren wuchsen unansehnliche Haarbüschel. Die Bewohner des Tals und die Mönche hielten sich von ihm fern. Kaum, dass sie ihm von Ferne zuwinkten, wenn er wie so oft unter dem Vorsprung eines großen Felsbrockens saß. Dort war er vor den Elementen geschützt, wenn er seine Tiere hütete.

Nur eines wussten alle über Yonten: Wo er auch war und was er gerade tat, ob Tag oder Nacht, stets drehte er seine Gebetsmühle und rezitierte das Mantra von Chenrezig, dem Buddha des Mitgefühls. Om mani padme hum. Om mani padme hum.

Wie viele, die in der Abgeschiedenheit der Berge wohnten, konnte Yonten weder lesen noch schreiben. Über den Buddha des Mitgefühls wusste er nur, was er zu Füßen seines Gurus Lama Palden gelernt hatte, und an vieles davon konnte er sich nicht mehr erinnern.

Er wusste, dass Chenrezig die Verkörperung des Mitgefühls aller Buddhas war. Dass sein strahlendes Weiß Reinheit und Kraft symbolisierte und dass sein Mantra deshalb den Geist reinigte. Durch die ständige Wiederholung des Mantras ließ sich unbegrenzt Tugend sammeln, die eines Tages die jedem innewohnende Buddha-Natur erwecken würde. Außerdem hatte ihm Lama Palden eingeschärft, dass er das Reine Land des Chenrezig mit eigenen Augen sehen würde, wenn er dessen Mantra nur oft genug wiederholte.

Lama Palden war der letzte Abt des Nala-Klosters gewesen. Nach seinem Tod vor dreißig Jahren war es mit dem Kloster zusehends bergab gegangen. Inzwischen wohnten dort nur noch neun Mönche, von denen keiner besondere Lehrqualitäten besaß.

Der Abt war ein beeindruckender Lehrer gewesen und Yonten ein hingebungsvoller Schüler. Und so kam es, dass Yonten auch noch dreißig Jahre nach dem Tod seines Lamas das tat, was dieser ihm aufgetragen hatte – bei jeder nur möglichen Gelegenheit das Mantra des Buddhas des Mitgefühls zu wiederholen.

In den drei Jahrzehnten seit Lama Paldens Dahinscheiden hatten mehrere Lamas das Nala-Kloster besucht, um ihren Segen zu spenden und den Mönchen und Einheimischen Unterricht zu geben. Und jedes Mal hatte Yonten ganz hinten in der kleinen Gönpa Platz genommen und aufmerksam gelauscht.

Ungefähr jedes zweite Jahr besuchte ein hoher Lama das nächste größere Kloster, das sich einen ganzen Tagesmarsch entfernt in Hemis befand. Wenn sich ein solcher Besuch ankündigte, führten die Mönche eine kleine Gruppe Einheimischer durch die Berge dorthin. Sie übernachteten in Hemis, um am nächsten Tag den Lehren des Lamas zu lauschen und an den Zeremonien teilzunehmen.

Da es in Hemis nicht viele Unterbringungsmöglichkeiten gab, war auch die Anzahl der Menschen, die sich den Mönchen anschließen konnten, begrenzt. Der Zug nach Hemis war eine festliche Angelegenheit, und da die Mönche auf die Unterstützung ihrer Verwandten aus dem Nala-Tal angewiesen waren, wurden auch in erster Linie Familienmitglieder als Reisebegleitung ausgewählt.

Jedes Mal, wenn er hörte, dass eine Pilgerfahrt nach Hemis bevorstand, erschien Yonten an der Pforte des Klosters und bat demütigst darum, daran teilnehmen zu dürfen. Mehrmals war es sogar der Dalai Lama persönlich gewesen, der Hemis besucht hatte. Wie viele tibetische Buddhisten glaubte auch Yonten, dass Seine Heiligkeit eine Emanation Chenrezigs war, also jenes Buddhas, dessen Mantra er so ausdauernd wiederholte. Wenn er nur einen winzigen Blick auf dieses heilige Wesen werfen dürfte – es wäre die wohl wichtigste und kostbarste Erfahrung seines Lebens, davon war er überzeugt.

»Wenn Ihr so gütig wärt, mir diese Reise zu gewähren«, flehte er Kalsang an, den einzigen Mönch des Nala-Klosters, der alle Bücher der dortigen Bibliothek gelesen hatte, und warf sich dreimal vor ihm in den Staub, »dann kann ich als glücklicher Mann das Reine Land Chenrezigs betreten.«

Kalsang sagte ihm darauf, dass er seine Bitte in Erwägung ziehen werde – genau wie die Bitten der vielen anderen Einwohner des Tals, die er in Erwägung zu ziehen habe.

»Wenn Ihr so gütig wärt, mir diese Reise zu gewähren«, flehte er Dawa an, den einzigen Mönch des Nala-Klosters, der – wie es hieß – eine außergewöhnliche Stufe der Meditation erreicht hatte, und warf sich dreimal vor ihm in den Staub, »dann könnte ich als glücklicher Mann das Reine Land Chenrezigs betreten.«

Dawa sagte ihm darauf, dass er seine Bitte in Erwägung ziehen werde – genau wie die Bitten der vielen anderen Einwohner des Tals, die er in Erwägung zu ziehen habe.

Doch Yontens Bitte wurde nie nachgegeben.

Bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen die Mönche über Yonten sprachen, äfften sie ihn nach, indem sie seine Worte wiederholten: »Wenn Ihr so gütig wärt, mir diese Reise zu gewähren, dann könnte ich als glücklicher Mann ins Reine Land Chenrezigs eingehen.«

Woraufhin Kalsang kopfschüttelnd zu sagen pflegte: »Der arme alte Yonten. Was der sich nur einbildet. Er kann noch nicht einmal lesen!«

Und Dawa seufzte: »Komischer zahnloser Kauz, er weiß doch noch nicht einmal, wie man richtig meditiert!«

Eines Jahres machte das Gerücht die Runde, dass der Dalai Lama einen todkranken Lama besuchen wolle, mit dem er gut befreundet war. Auf der Reise zu ihm würde er auch durch Hemis kommen, allerdings ohne zu unterrichten oder eine Segnungszeremonie durchzuführen. Nichtsdestotrotz stellte dies eine Gelegenheit dar, einen Blick auf Seine Heiligkeit zu erhaschen.

Wie schon so oft in der Vergangenheit erschien Yonten auch diesmal an der Pforte des Nala-Klosters, warf sich jeweils dreimal vor Kalsang und Dawa in den Staub und flehte sie an, ihn mit auf die Reise zu nehmen.

Und wie schon so oft sagten die Mönche, dass sie seine Bitte in Erwägung ziehen würden und so weiter und so weiter.

Aber ebenfalls wie schon so oft dachten sie auch diesmal nicht im Traum daran, ihn mitzunehmen.

Doch dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Die schwangere Frau eines Pilgers kam unerwartet früh nieder, sodass ihr Mann, ihr Vater und ihr Schwiegervater sich ebenso zum Bleiben entschieden wie ihre Mutter und ihre Schwester. Die Mönche konnten vier der frei gewordenen Plätze schnell vergeben, doch der fünfte blieb unbesetzt.

Niemand war begeistert von der Vorstellung, Yonten mit seinem eingefallenen Gesicht und den Triefaugen mitzunehmen. Überdies hatte er die Angewohnheit, in unregelmäßigen Abständen laut mit dem zahnlosen Mund zu schmatzen – ein Geräusch, das den Ohren ebenso zuwider war wie sein Anblick den Augen.

Doch es war nun einmal unumstößliche Tatsache, dass ein weiterer Rücken gebraucht wurde, um auf dem Hinweg den Reiseproviant und auf dem Rückweg die Schriftrollen und anderen Gegenstände zu tragen, die die Mönche aus Hemis mitnehmen wollten. Yonten war zwar alt, doch sein Körper war drahtig und er hatte die Ausdauer einer Bergziege.

Außerdem waren die Mönche nicht so kaltherzig, dass ihnen völlig entgangen wäre, wie viel dem alten Mann die Reise bedeutete. Sie ließen ihn also ins Kloster rufen und teilten ihm in all ihrer Großzügigkeit mit, dass er sich der Reisegruppe anschließen dürfe, woraufhin Yonten vor Freude in stumme Tränen ausbrach.

»Hast du schon einmal ein Bild von Seiner Heiligkeit gesehen?«, fragte Kalsang, nachdem Yonten die Fassung wiedererlangt hatte.

»Einmal, glaube ich. Ich war noch ein Kind«, antwortete der Alte und fügte nach kurzer Bedenkzeit hinzu: »Wahrscheinlich war das noch der dreizehnte Dalai Lama.«

Kalsang griff in eine Schublade und nahm ein Brustbild Seiner Heiligkeit heraus. »Ein Geschenk. Du darfst es behalten.«

Yonten nahm das Bild mit beiden Händen entgegen und betrachtete es mit andächtigster Hingabe. »Heute hat mir der Buddha seinen Segen gegeben«, sagte er.

Zwei Tage später erschien Yonten noch vor Tagesanbruch am Kloster. Er wurde beladen wie ein Packpferd. In den Leinwandrucksack auf seinem Rücken waren so viele Metallschüsseln und Thermoskannen voll Buttertee gestopft, dass er beinahe hintenüberfiel. Es war ein Wunder, dass er unter dem Gewicht nicht zusammenbrach, geschweige denn noch gehen konnte. Doch er beschwerte sich nicht, und falls ihm auffiel, dass mehrere jüngere und kräftigere Mönche eine geringere Last trugen, so ließ er sich nichts anmerken. Wie er so durch die Berge stapfte, erinnerte seine Silhouette an eine aufrecht gehende Schildkröte. Und doch gelang es ihm dabei noch, die Gebetsmühle zu drehen und das Mantra zu murmeln, wie er es seit Jahr und Tag auf all seinen Wegen zu tun pflegte.

Die zwanzigköpfige Reisegruppe marschierte strammen Schrittes, um Hemis vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen. Gelegentlich machten sie an einer Gebirgsquelle halt, um von dem frischen Wasser zu trinken. Gegen Mittag, zur Essenszeit, legten sie eine längere Rast ein.

Yonten nahm den Rucksack ab, setzte sich an den Rand der Gruppe und aß das karge Mahl, das er sich für die Reise eingepackt hatte: eine gekochte Kartoffel, etwas Käse und Chilis. Gegen den Durst genügte ihm Wasser aus einem nahe gelegenen Bach.

Währenddessen taten sich die Mönche und Dorfbewohner an dem Essen gütlich, das er auf seinem Rücken getragen hatte. Die Klosterküche und die Familien des Dorfes hatten dafür Sorge getragen, dass es den Pilgern auf ihrem langen Weg an keiner Köstlichkeit mangelte. Die Reisenden ließen sich im Schatten der Bäume neben den von Leckerbissen übervollen Tellern nieder und tranken den Buttertee in großen Schlucken.

Beim Essen fragte ein Dorfbewohner den Ehrenwerten Kalsang, ob das Nirwana ebenso wie Samsara ein tatsächlicher Ort sei. Der Mönch antwortete mit folgender Erklärung:

»Samsara und Nirwana sind keine tatsächlichen Orte, sondern Geisteszustände. Wir mögen der Meinung sein, dass wir im Samsara leben, weil wir Unzufriedenheit erfahren. Doch die Unzufriedenheit ist weder dem harten Leben in den Bergen noch den klirrend kalten Winterstürmen geschuldet, die wir überstehen müssen; sie entstammt allein unserem Verstand, wenn wir diese Dinge als Quellen des Leids betrachten. Ein anderer erlebt dieselben Phänomene wie wir, doch für ihn sind sie Grund zur Freude. Betrachten wir beispielsweise diesen Buttertee hier. Für uns ist es ein leckeres, erfrischendes Getränk, für den westlichen Geschmack dagegen eine ekelerregende, widerwärtige Brühe. Einem Hungergeist käme der Tee wie Eiter vor, einer Kreatur aus dem Reich der Devas wie Nektar. Was sagt uns das?«

»Dass die Hungergeister westliche Gaumen haben?«, rief einer der Reisenden, was für allgemeine Erheiterung sorgte.

Doch Kalsang schüttelte den Kopf. »Es sagt uns, dass alles nur eine Sache des Verstandes ist. Auch Samsara und Nirwana sind Sache des Verstandes. Ob eine Kreatur als gewöhnlich oder als Buddha wahrgenommen wird, verrät uns mehr über den Geist des Betrachters als den Gegenstand der Betrachtung.«

Während sich die Reisenden angeregt über diese Angelegenheit unterhielten, saß Yonten abseits und lächelte. Er hatte alles aus der Entfernung mitangehört, und nickte beipflichtend, weil Kalsang so wahr und klar gesprochen hatte.

Dann sah ein Junge namens Tashi zu ihm hinüber und schlug vor, dass die Pilger ihr reichhaltiges Mahl und ihren Buttertee mit ihrem Mitreisenden teilen sollten. Alle waren einverstanden, und so löffelten sie die Überreste ihrer Mahlzeit auf einen Teller, den Tashi dem alten Mann brachte.

Yonten aß und trank und schmatzte dabei geräuschvoll. Seine Tischmanieren ließen einiges zu wünschen übrig, doch damit hatten seine Mitreisenden gerechnet.

Als sie am Abend in Hemis ankamen, zeigte Dawa Yonten seine Unterkunft: die Ecke eines Lagerschuppens hinter der Waschstelle des Klosters. Der Raum verfügte weder über Fenster noch über eine Tür. Dawa reichte Yonten zwei Yakfelle, auf die er sich betten sollte.

Erst gegen Mittag des darauffolgenden Tages näherte sich der Konvoi seiner Heiligkeit dem Kloster in Hemis. Die Aufregung wuchs, als sich erst eine Staubwolke in der Entfernung zeigte und dann mehrere Allradfahrzeuge in Sicht kamen. Die Mönche des Klosters und die Bewohner der nahe gelegenen Berge und Täler drängten sich am Straßenrand und hielten weiße Schals, sogenannte Katags, in die Höhe, wie es Brauch war, wenn man einem bedeutenden Lama begegnete.

In der Menge war auch die Gruppe aus dem Nala-Tal. Der zurückhaltende Einsiedler Yonten, der sich nicht vordrängen wollte, musste mit einem Platz in der zweiten Reihe vorliebnehmen und hoffte inständig, zwischen den Köpfen seiner Mitreisenden einen Blick auf den Dalai Lama erhaschen zu können.

Da der Dalai Lama wollte, dass ihn so viele Menschen wie möglich sahen, saß er allein auf der Rückbank eines Fahrzeugs und hatte beide Fenster heruntergelassen. Sobald die Wagenkolonne die wartende Menge erreicht hatte, fuhr sie langsamer als Schrittgeschwindigkeit. Seine Heiligkeit winkte und legte die Hände vor dem Herzen zusammen, sah nach links und rechts und lächelte sein berühmtes glückseliges Lächeln.

Wie überall, wo die Menschen zusammenkommen, um den Dalai Lama zu sehen, wurden sie von einer Kraft berührt, für die es keine Worte gibt. Als könnte Seine Heiligkeit nicht nur ihre Buddha-Natur erkennen, sondern auch die Liebe und das Mitgefühl, das sie in ihrem Herzen trugen, an sie zurückgeben. Und wie immer hatten alle den Eindruck, dass etwas ganz Besonderes geschehen war, dass sie nicht nur einem heiligen Wesen begegnet waren, sondern dass ihnen dieses sogar ihre eigene höchste Natur enthüllt hatte.

Dann war der Konvoi vorübergefahren. Er hinterließ eine Atmosphäre der Begeisterung und Ehrfurcht, der Leichtigkeit und des Wohlbefindens. Mönche und Dorfbewohner blickten einander lachend und voller Freude an.

Niemand schenkte Yonten große Beachtung – bis auf Tashi. Der Junge sah ihn mutterseelen allein mit feuchten Augen und einem entrückten Lächeln am Straßenrand stehen.

»Er ist sehr beeindruckend, findest du nicht auch?«, krähte Tashi mit seiner hohen Stimme.

Yonten schüttelte langsam den Kopf, als könne er nicht glauben, was er da gerade gesehen hatte. »Ich wusste gar nicht, dass der Dalai Lama vier Arme hat«, sagte er.

Tashi wunderte sich sehr. Seine Heiligkeit hatte nur zwei Arme, das hatte er mit eigenen Augen gesehen. Und sehen heißt glauben.

Ob Yonten allmählich senil wurde?

Da es zu spät war, um die Heimreise anzutreten, kamen die Pilger überein, eine weitere Nacht im Kloster von Hemis zu verbringen. Auf dem Weg dorthin schlenderte Tashi neben Kalsang her und berichtete ihm, was Yonten ihm erzählt hatte. Kalsang bedachte ihn mit einem misstrauischen Blick. »Das hat er wirklich gesagt?«, fragte er.

»Aber sicher.«

»Das denkst du dir doch nicht aus, oder?«

»Warum sollte ich?«

Kalsang tätschelte die Schulter des Jungen, dann entfernte er sich mehrere Schritte vom Pfad, um die ganze Gruppe überblicken zu können. Schließlich entdeckte er Yonten, der auf ihn zukam.

Wie Kalsang sehr wohl wusste, hatte Chenrezig, der Buddha des Mitgefühls, vier Arme – sie symbolisierten die Liebe, das Mitgefühl, die Mitfreude und den Gleichmut. Wenn Yonten den Dalai Lama, der ja angeblich die lebende Verkörperung Chenrezigs war, in seiner reinsten Form gesehen hatte, dann war er ein Dharmapraktizierender mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die jene der Mönche von Nala und höchstwahrscheinlich auch der von Hemis weit überstiegen!

Kalsang ging dem alten Mann entgegen. »Yonten, hat es dich gefreut, Seine Heiligkeit zu sehen?«

Yonten schüttelte immer noch den Kopf und wiederholte dieselben Worte: »Ich wusste gar nicht, dass der Dalai Lama vier Arme hat.«

»Und das hast du gesehen?«

»Ihr etwa nicht?«

»Wir alle haben Seine Heiligkeit gesehen«, erwiderte Kalsang, dem allmählich bewusst wurde, wie falsch er und seine Mitbrüder den zahnlosen alten Bauern eingeschätzt hatten. Und er bereute von ganzem Herzen die schlechte Behandlung, die er ihm hatte zuteilwerden lassen.

Er erinnerte sich daran, wie sie ihn am Tag zuvor wie einen Packesel beladen hatten. »Es tut mir sehr leid, dass du gestern eine so große Last auf deinem Rücken tragen musstest«, sagte Kalsang.

»War das nicht ein Geschenk, das meiner Reinigung diente?«, fragte Yonten.

Eine Weile lang gingen sie schweigend auf dem Pfad zum Kloster einher. »Und es tut mir leid, dass wir dir nicht mehr von unserem Essen und dem Buttertee abgegeben haben.«

»Aber woher!« Yonten schien überrascht. »Ihr habt mir die auserlesensten Köstlichkeiten und den feinsten Nektar kredenzt. Mehr, als ich jemals hätte essen können.«

Endlich erreichten sie den Lagerschuppen hinter der Waschstelle des Klosters, in dem Yonten weitab von der Unterkunft der anderen die letzte Nacht verbracht hatte. Kalsang sah sich in dem trostlosen Raum um, der weder Tür noch Fenster besaß.

»Es tut mir leid, dass du letzte Nacht hier schlafen musstest. Ich werde sofort einen neuen Platz für dich suchen.«

»Aber hier ist es doch ganz wunderbar!«, rief Yonten freudig. »Ich dachte, Ihr hättet den besten Platz für mich reserviert! Dies ist mein himmlischer Palast. Jetzt kann ich als glücklicher Mann Chenrezigs Reines Land betreten.«

Yontens Begeisterung war so aufrichtig, dass Kalsang die Angelegenheit auf sich beruhen ließ. »Ich hole dich dann später zum Abendessen«, sagte er nur.

Kalsang ging zu den anderen Mönchen aus Nala und erzählte ihnen alles, was Yonten gesagt hatte. »Die Rede des alten Mannes war aufrichtig. Was bedeutet, dass er die wahre Natur all dessen sieht, was um ihn herum ist.«

»Aber wie ist dies einem des Lesens unkundigen Bauern möglich?«, fragte einer der Mönche. »Was weiß er schon vom Dharma?«

»Er ist noch nicht einmal ein Mönch«, gab ein anderer zu bedenken. »Er hat keinen Eid abgelegt und hält sich nicht an unsere Gebote.«

»Was versteht er schon von Meditation?«, fragte ein Dritter. »Weiß er denn überhaupt, wie man Geistesübung betreibt?«

Nach langer Beratschlagung kamen die neun Mönche überein, Yonten vor dem Abendessen einen Besuch abzustatten. Auf diese Weise hatte jeder die Gelegenheit, ihn direkt zu befragen, und sie konnten seine Antworten mit eigenen Ohren hören.

So machten sich die Mönche aus Nala bei Anbruch der Dämmerung auf den Weg zum Lagerschuppen. Die Sonne ging gerade unter, und im reinen Gebirgslicht erschien ihnen der wolkenlose Himmel endlos, strahlend und klar.

Als die kleine Gruppe den Schuppen beinahe erreicht hatte, verlangsamten die Mönche ihre Schritte. Kalsang ging zur Türöffnung hinüber und blieb davor stehen.

»Yonten! Wir wollen dich zum Essen holen!«, rief er hinein.

Er erhielt keine Antwort.

»Lauter!«, drängte ein Mönch hinter ihm.

Kalsang wiederholte seinen Gruß etwas entschiedener.

Wieder erhielt er keine Antwort.

Kalsang trat näher und spähte durch die Türöffnung. Die Ecke des Schuppens, in der die Yakfelle lagen, schien verlassen. Er sah sich um und sogar zur Decke hinauf, um sich zu vergewissern, dass sich der alte Mann nicht irgendwo anders im Schuppen aufhielt. Doch er war nirgendwo zu sehen.

»Er ist nicht da«, rief Kalsang und drehte sich halb zur Gruppe um.