Die Ehrlichs - Simson Jakob Kreutner - E-Book

Die Ehrlichs E-Book

Simson Jakob Kreutner

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Beschreibung

Im Frühjahr 1898 kommt Salomon Ehrlich, jüngster Sohn einer jüdischen Familie aus Galizien, dem Armenhaus der Habsburgermonarchie, nach Leipzig, um im Textilgeschäft seines Onkels mitzuarbeiten. Nach wenigen Jahren harter Arbeit hat er es geschafft. Er heiratet Rosa, noch stehen die Zeichen günstig für die junge Familie, und Leipzig wird beiden zur neuen Heimat. Eine Leipziger Familiengeschichte – von den chassidischen Wurzeln bis zum gutbürgerlichen Leben in den »Goldenen Zwanzigern« und zum heraufziehenden Nationalsozialismus. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 230

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Die Ehrlichs

Die Geschichte einer jüdischen Familie

FISCHER Digital

Inhalt

I IntegrationJakob Ehrlich, Nachfahre von [...]Solange die Züge in [...]Am Dienstagmorgen begab sich [...]Trotz des herzlichen Empfangs, [...]Salomon und Rosa feierten [...]Hirsch Gans, in seiner [...]II Ansturm von außenDer Krieg war zu [...]In einer Sitzung des [...]Josef Ehrlich, der Bruder [...]Das bevorstehende Ende der [...]Der gespannten Lage im [...]Nur vier Monate nach [...]III Unterm HakenkreuzIn der Nacht vom [...]Bei einer Unterhaltung erinnerte [...]An den beiden Abenden [...]Der Verbindungsmann von David [...]Nachbemerkung

I Integration

Jakob Ehrlich, Nachfahre von Rabbinern des Städtchens Potok, in dem die Ehrlichs seit vielen Generationen lebten, galt für die Verhältnisse einer galizischen Kleinstadt als wohlhabend. Er besaß ein Stoffgeschäft, das er von seinem Vater geerbt hatte und das sowohl erstklassige Tuche, Seide und Kunstseide für die österreichischen Offiziere der Garnison und deren Frauen führte als auch einfache Stoffe, Baumwolle und ähnliche Waren für die Bauern der Umgebung, Polen und Ukrainer. Wie die meisten Bewohner der Kleinstadt lebte Jakob Ehrlich nach den Regeln uralten jüdischen Brauchtums. Er trug die traditionelle Kleidung der Juden, den langen schwarzen Rock, und am Sabbat eine Pelzmütze von der Art, wie sie zu früheren Zeiten von russischen und türkischen Machthabern benutzt wurde. Sein Bart, von brauner Farbe, war wohlgepflegt; seine Schläfenlocken, die er hinter die Ohren wand, ebenso. Er wirkte angenehm, etwas robust. Seine Erziehung hatte er im Cheder genossen, der traditionellen Kleinkinderschule der orthodoxen Juden, in welcher der Pentateuch und die anderen Bücher der Bibel gelehrt wurden. Später besuchte er das Lehrhaus, wo der Talmud und die Werke seiner Kommentatoren den Hauptlehrstoff bildeten. Jakob hatte seinerzeit nach der Vorschrift mit achtzehn geheiratet. Auch seine Frau Rachel entstammte einem Rabbinergeschlecht und war im großen und ganzen dessen Gepflogenheiten und Brauchtum treu geblieben. In den ersten acht Jahren ihrer Ehe wurden den beiden vier Söhne und eine Tochter geboren.

Obwohl das Haus Ehrlich vorbildlich geführt, die Kinder im Sinne der Tradition erzogen wurden, gab es doch Anpassungen an die Zeit. Schließlich schrieb man die letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts. Jetzt studierten die Kinder nicht nur im Cheder, sondern besuchten auch eine allgemeine Schule. Dort wurden Deutsch, Polnisch und Ukrainisch, das Letztere nannte man auch Ruthenisch, gelehrt. Allerdings endete für die Knaben die Schulzeit schon nach sechs Klassen. Sobald sie ins dreizehnte Lebensjahr kamen, mußten sie sich auf ihre Konfirmation vorbereiten, denn mit dreizehn tritt ein jüdischer Knabe in die Welt der Gesetze ein; er wird Bar-Mitzwa, das heißt: ein Sohn des Gesetzes, sein Träger. Von den fünf Kindern der Jakob und Rachel Ehrlich besuchte nur die Tochter Leah volle acht Jahre die allgemeine Schule.

Natürlich wurde im Hause Ehrlich jiddisch gesprochen.

Jiddisch war die allgemeine Umgangssprache der Juden im Osten Europas. Es hatte sich aus dem Mittelhochdeutsch entwickelt, welches die Juden der Rheingegend und anderer deutscher Gebiete sprachen, ehe sie vor den Judenmassakern und Verfolgungen der Kreuzzüge, der schwarzen Pest und anderen Bedrohungen nach Polen entflohen. Die polnischen Könige und Adligen nahmen die Flüchtlinge gern auf, da sie von ihnen Entwicklung und Auftrieb ihres unterentwickelten Landes erhofften. Über Jahrhunderte blieben die Juden Osteuropas der Sprache ihrer Vorfahren treu, bereicherten sie aber durch hebräische und aramäische Worte aus der Sprache des Lehrhauses und durch slawische Ausdrücke, die in der Umgebung gebräuchlich waren.

Das Jiddisch der galizischen Juden unterschied sich beträchtlich von demjenigen, das die im russischen Reich lebenden Juden sprachen; es ähnelte vielmehr dem modernen Deutsch, was damit zusammenhängt, daß in der österreichischen Verwaltung Galiziens deutsch gesprochen wurde und auch bei den Jugendlichen die deutsche Sprache lebendig blieb.

Der Stellungsbefehl für Salomon Ehrlich, den jüngsten Sohn des Kaufmannes Jakob Ehrlich, traf in der galizischen Kleinstadt Potok ein, als Salomon gerade siebzehn geworden war. Man bestellte ihn zu einer medizinischen Untersuchung, gab deren Datum an und erteilte Informationen über die bevorstehende Einreihung in das kaiserliche und königliche Heer. Im Hause Ehrlich hatte es schon drei solcher Befehle gegeben, jeweils nach dem siebzehnten Geburtstag der älteren Brüder Salomons. Alle drei hatten ihren Dienst absolviert. Jetzt, da Salomon an die Reihe kam, waren zwei bereits Familienväter, beim dritten stand die Hochzeit unmittelbar bevor. Die Ehevermittler hatten keine Ruhe gegeben, denn ein jüdischer junger Mann soll nach dem Talmud mit achtzehn heiraten. Unvermeidliche Verzögerungen, wie sie das Leben im Exil und der damit verbundene Militärdienst mit sich brachten, durften nicht länger als unbedingt notwendig ausgedehnt werden.

Jakob Ehrlich, der nicht nur das Geschäft seines Vaters geerbt hatte, sondern auch dessen Amt als Vorsteher der jüdischen Gemeinschaft von Potok, dachte fortwährend über den Stellungsbefehl für seinen jüngsten Sohn nach. In der Gemeindestube war die Frage des Militärdienstes der Jugend oft heiß diskutiert worden. Einige Väter fanden es unangebracht, daß ihre Söhne dem Studium des Talmuds für längere Zeit entrissen und der Gefahr der Verletzung der Speisegesetze und des Sabbats ausgesetzt werden sollten. Man erinnerte an das Vorgehen so mancher junger Juden im russischen Reich, die dem Militärdienst entgingen, indem sie sich durch langes Fasten, ja sogar durch Selbstverstümmelung dienstuntauglich machten. Sollte die Gemeinde eine positive Stellung zu einem solchen Vorgehen einnehmen und betroffenen Söhnen ihre Hilfe gewähren? Jakob Ehrlich war stets absolut und ohne Vorbehalt dagegen gewesen. »Galizien ist nicht Rußland«, hatte er in der Gemeindestube gedonnert. »Der Kaiser gewährleistet unsere Freiheit und schützt uns vor Ausschreitungen polnischer und ruthenischer Hasser unseres Volkes, während der Zar antijüdische Gesetze erläßt und Ausschreitungen gegen seine jüdischen Untertanen gutheißt und unterstützt.«

Weiter hatte er argumentiert, daß seine eigenen Söhne selbstverständlich Militärdienst geleistet hatten und leisten werden. »Sie haben ihre Pflicht erfüllt; ihr Judentum ist dabeinicht zu Schaden gekommen.«

In der Tat hatten seine drei ältesten Söhne den Militärdienst ordnungsgemäß absolviert, jedoch waren sie jeweils schon kurz nach ihrer Rekrutierung in Bekleidungsdepots abgeordnet worden. Ihre Offiziere waren Kunden im Geschäft des Vaters; sie kannten die jungen Rekruten von ihren Einkäufen und hielten es für angebrachter, jüdische Experten in den Bekleidungsdepots dienen zu lassen, als sie im Militärdrill abzurichten.

Nun aber war Salomon an der Reihe, der Jüngste und Andersgeartete. Er war nicht wie seine Brüder mit vierzehn ins Geschäft gegangen. Die Traktate des Talmuds hatten ihn mehr angezogen als die jüdischen, österreichischen, polnischen und ruthenischen Käufer, die in den Laden kamen, jeden Stoff betasteten und prüften und dann lange um den Preis feilschten. Dabei war Salomon keineswegs jemand, der nur im Lehrhaus hockte. Er erging sich im Wald nahe dem Städtchen, schwamm im Fluß, der dem Ort seinen Namen gab, und besuchte zuweilen die in der Nachbarschaft gelegene Kreis- und Garnisonstadt. Er strotzte vor Gesundheit. Der Flaum auf seiner Oberlippe gab seinem angenehmen Gesicht einen besonderen Reiz. Allerdings besaß Salomon eben keinerlei berufliche Qualitäten, und so hatte Vater Jakob wenig Hoffnung, daß die Offiziere seinen Jüngsten ebenso wie dessen ältere Brüder einem Bekleidungsdepot zuteilen würden. Dem Vater war es mehr als unbehaglich, daran zu denken, wie es seinem Jüngsten beim Militär ergehen könnte. Ohne Zweifel würde man ihn einer aktiven Einheit einreihen. Obwohl das Reich in Frieden lebte, gab es in den vielen Ländern, die ihm einverleibt waren, oft Aufstände und militärische Plänkeleien zwischen dem kaiserlich und königlichen Militär und Aufständischen. Einmal waren es die Kroaten, die die österreichische Oberherrschaft abzuschütteln versuchten, ein anderes Mal die Böhmen. Viele Völker und Stämme gab es im Reich, und der gute alte Kaiser Franz Joseph war nicht überall so beliebt und verehrt, wie bei seinen jüdischen Untertanen in Galizien. Was sollte Jakob tun, um zu verhindern, daß seinem eben einberufenen Sohn Salomon, seinem Jüngsten, Schaden zukomme?

Jakob Ehrlich wußte weder Rat, noch hatte er einen ihm nahen Menschen, mit dem er sich besprechen könnte. Vielen, die zu ihm kamen, half er gern mit Ratschlägen. Aber wer würde, wer konnte ihm raten? Seiner Frau teilte er in der Regel nur bereits gefaßte Beschlüsse mit. Allenfalls wenn sie etwas einwand, ging er zuweilen darauf ein. Rat suchte er bei ihr nicht.

Den konnte er nur von einem erwarten: von seinem Jugendfreund Israel, der im gleichen Jahr wie er in Potok zur Welt gekommen war, 1854. Zehn Jahre lang hatten beide als Jungen gemeinsam in Potok gelebt, gelernt und gespielt, dann zog Israel fort. Doch ihre Freundschaft blieb bestehen. Seit nun schon vierunddreißig Jahren trafen sie sich fast jedes Jahr einmal, zuweilen in Israels neuer Heimat, zuweilen in Potok, dem Städtchen der gemeinsamen Kindheit. Dort besaß Israels Vater ein Landgut, auf dem er sich im Sommer mit seiner Familie aufhielt. Bei jedem Treffen erzählten die Jugendfreunde einander die neuesten Ereignisse und Erlebnisse; sie redeten über ihre Eheschließungen und die Geburten der Kinder, über Auf- und Abstiege in ihren beruflichen Unternehmungen, sie berieten sich über alle möglichen bewegenden Probleme und zukünftig geplanten Schritte.

Bei der Verschiedenheit ihrer Herkunft, ihres Standes, ja des Jiddisch, das sie sprachen, war das keine Selbstverständlichkeit. Israel war Sohn, Enkel und Urenkel von Zaddikim, also von Oberhäuptern chassidischer Gemeinschaften. Seine Vorfahren waren die Bahnbrecher des Chassidismus; sie hatten Tausende und Abertausende von Anhängern. Israel selbst war bestimmt, Nachfolger seines weisen und greisen Vaters, des Rabbi von Czortkow, zu werden. Für Jakob Ehrlich aber war und blieb er der Jugendfreund, auch wenn beide Männer jetzt vierundvierzig waren und sich ihr Äußeres beträchtlich unterschied. Jakobs Bart war von brauner Farbe; Israel trug einen schwarzen. Jakob wirkte etwas korpulent und robust; Israel war schlank und von würdevollem, ja aristokratischem Aussehen. Er glich weniger seinem Vater, der kaum etwas auf sein Aussehen gab, aber dennoch wie ein Heiliger verehrt wurde, sondern vielmehr seinem Großvater. Der, Rabbi Israel von Ruszyn, nach dem der Jugendfreund auch seinen Namen hatte, sprach den geplagten, gedemütigten und verfolgten Juden Rußlands Mut zu, indem er auf das baldige Kommen des Erlösers, des Messias, hinwies. Die Bewahrung der Würde trotz des äußeren Elends, das war seine Botschaft an die Anhänger. Sein fürstliches Gebaren, er wohnte in einem Palast und fuhr in einer vierspännigen Kutsche, sollte den heute in Elend Lebenden einen Abglanz der Würde zeigen, die ihnen morgen zuteil würde. Das kostete ihn die Freiheit. – Ruszyn lag in der Nähe von Kiew, der Hauptstadt der Ukraine, und daß ein König der Juden in seinem Machtbezirk residierte, war für den Generalgouverneur des Landes ganz undenkbar. Der Rabbi wurde verhaftet und fast zwei Jahre lang in der Kiewer Festung gefangen gehalten. Als der Gouverneur ihn frei ließ, geschah dies nur, um ihn nach Sibirien zu verbannen. Aber Rabbi Israel und seine Familie konnten diesem Schicksal entgehen, indem sie ins habsburgische Galizien flüchteten. So kamen der »Ruszyner« und seine Familie nach Potok. Dort bezog die Familie ein Landgut, das einem Anhänger des Rabbi gehörte. Dieser Besitz vereitelte die Forderung der zaristischen Behörden an die österreichischen, den Flüchtling auszuliefern. Denn wer im österreichisch regierten Gebiet Grundbesitz hatte, genoß den Schutz der kaiserlichköniglichen Behörden.

Einer der Söhne des Rabbi Israel von Ruszyn, Rabbi David Moses, blieb in Potok, als der alte Rabbi einige Zeit später in das bukowinische Sadagora zog, das ebenfalls im habsburgischen Reich lag. Rabbi David Moses wurde nach dem Ableben des Vaters in Sadagora von einem Teil der Anhänger des Verstorbenen zum Oberhaupt einer chassidischen Gemeinschaft erhoben. Er residierte einige Jahre in Potok, wo ihm auch sein einziger Sohn, Israel, geboren wurde. Später wurde das Städtchen zu klein für den Andrang von Tausenden Verehrern des neuen Rabbi. Die Anhänger bauten ihm einen Palast und eine prachtvolle Synagoge in Czortkow, und der Rabbi und seine Familie zogen dorthin. In den letzten Jahren reisten viele Chassidim aus aller Welt zum Vater Israels, um dessen Lehren zu hören und seinen Segen und Rat zu empfangen. Sie reisten ebenso zu Israel, weil sie in ihm den Nachfolger und jungen Rabbi sahen. Aber Israel weigerte sich, diese Rolle einzunehmen, und verwies diejenigen, die ihn um seinen Rat ersuchten, stets an den Vater, den Rabbi, den »Rebben«. Nur wenn der Vater ihn anwies, einen Gast zu empfangen und ihm Ratschläge zu erteilen, tat er dies. Anders handelte er seinem Jugendfreund gegenüber. Ihm enthielt er keinen Rat vor; mit ihm beriet er sich sogar selbst.

Jakob Ehrlich erzählte seinem Freund von seinen inneren Kämpfen. »Ich war und bin für den Militärdienst unserer jungen Menschen. Wir schulden es dem Kaiser und seiner Regierung. Drei meiner Söhne haben gedient. Nun aber ist die Reihe am Vierten, dem Jüngsten. Und dieser ist so ganz anders als seine Brüder. Er verabscheut alles, was List benötigt: Handel und Ausnutzung von Beziehungen zum eigenen Vorteil. Er hängt am Studium. Der Rabbiner unseres Städtchens unterweist ihn persönlich im Talmudstudium und lobt ihn bei jeder Gelegenheit. Dabei ist er kräftiger als seine Brüder. Es scheint mir sicher, daß man ihn in eine sogenannte Kampfeinheit einreihen und daß er irgendwo im Reich in Kämpfe mit Aufständischen verwickelt sein wird. Ein Dilemma bedrückt mich. Soll ich schweigend zusehen oder etwas tun? Ich kam zu dir, um deinen Rat einzuholen. Gott hat dir nicht nur die Weisheit deiner Ahnen, sondern auch eigene Vernunft gegeben.«

Israel wehrte das Lob mit einer graziösen Handbewegung ab und begann mit dem Freund ein Gespräch, genau so, wie es sein Vater mit seinen Chassidim zu tun pflegte. »Hast du daran gedacht, ihn ins Ausland zu schicken? Er könnte sich dort bei einer der österreichischen Behörden melden, die oft jungen Menschen im Kriegsdienstalter Aufschub gewähren.«

Jakob verneinte.

»Dann könntest Du ihn doch nach Leipzig schicken, wo der österreichische Konsul schon manchem Aufschub gewährt hat.«

»Warum Leipzig, Israel?«

»Weil Leipzig zur Zeit viele unserer Menschen aufnimmt; weil, wie mir scheint, du selbst Verwandte dort hast; weil Leipzig und Potok auf irgendeine Weise verbunden sind.«

»Wie gut dein Gedächtnis ist, Israel. Ich selbst habe in den zehn Jahren, seit meine Cousine Salka, die mit Hirsch Gans verheiratet ist, nach Leipzig ging, kaum an die beiden gedacht. Aber auf welche Weise sind, wie du sagst, Leipzig und Potok verbunden?«

»Du hast nicht an Hirsch Gans gedacht, aber am Czortkower Hof empfängt man jedes Jahr Grüße von ihm. Und diese Grüße hängen mit der Verbindung zwischen Leipzig und Potok zusammen. Du weißt doch, daß ein Onkel von mir, der älteste Bruder meines Vater und der Erstgeborene meines Großvater, des Ruszyners, in Leipzig begraben ist. Seine Söhne, meine Cousins, reisen jedes Jahr nach Leipzig, um an seinem Grab zu beten. Hirsch Gans nimmt sich ihrer an. Der Tote lebte, wie alle Söhne des Ruszyners, einige Zeit in Potok. Auf diese Weise sind Leipzig und unsere Heimatstadt verbunden.«

»Man erzählt sich bei uns, daß der alte Rabbi von Apta vorausgesagt hatte, daß dein Onkel in Leipzig sterben würde.«

»Die Sache ging folgendermaßen vor sich. Der Ruszyner stellte dem Apter seine sechs Söhne vor, und der Apter prüfte deren Kenntnisse in der Thora. Aufgrund seiner Bewandertheit lobte der Alte den Erstgeborenen mit dem üblichen Lob für etwas Ausgezeichnetes: ›Leipziger Ware‹. Als dieser Erstgeborene später in Leipzig starb, sagten die Menschen, daß in dem Lob eine Voraussage enthalten war. Wie dem auch sei, es scheint mir, daß auch dein jüngster Sohn das Lob verdient, als ›Leipziger Ware‹ bezeichnet zu werden.«

»Leipzig liegt in Deutschland, und die Juden in Deutschland nehmen es nicht so ernst mit unseren Traditionen, wie wir es tun.«

»Dem mag so sein, aber in Leipzig leben Menschen wie Hirsch Gans, die dafür Sorge tragen, daß auch in Deutschland unsere Traditionen eingehalten werden. Salomon hätte also eine Aufgabe in Leipzig auf diesem Gebiet. Je mehr Menschen mit unseren Traditionen in Leipzig leben werden, desto näher wird uns Leipzig kommen.«

»Darf ich mich auf dich berufen, Israel? Es wäre mir peinlich, wenn mir vorgeworfen würde, daß ich meinen Prinzipien untreu geworden bin.«

»Du darfst es, und du bist deinen Prinzipien nicht untreu. Salomon geht zur Untersuchung in das Kreiskommando und meldet sich beim Konsul in Leipzig. Er drückt sich nicht vom Dienst, und du verhilfst ihm nicht dazu. Ihr überlaßt es Gott und dem Schicksal, wo, wann und ob er seinen Militärdienst leisten wird.«

Das Fragen und Antworten war beendet. Im Zimmer herrschte Schweigen. Jakob war beraten, aber nicht erleichtert. Er ließ den Freund seine Gefühle wissen: »Du weißt, daß ich deinen Rat annehmen werde, aber ich höre schon jetzt und hier die Einwände meiner Frau, die Bemerkungen meiner Kinder, das Geflüster in der Gemeindestube. Wen ich nicht höre, das ist Salomon. Ich muß mich fragen, wie er reagieren wird.«

»Wer in seinen Augen das Richtige tut, soll sich nicht wegen der Kritik der anderen von seinem Weg abbringen lassen. Reise heim! Möge dir die Reise Leben und Frieden und Freude bringen!«

Jakob Ehrlich hatte richtig gehört. Einwände, kritische Bemerkungen und Flüstereien waren die Folge des Beschlusses, den er aufgrund der Ratschläge seines Freundes, Sohn des Rabbi von Czortkow und dessen bestimmter Nachfolger, gefaßt hatte.

Salomon war fast der einzige, der den Beschluß ohne Gegenargumente hinnahm. Er vermied sowohl eine Bejahung als auch eine Verneinung des ihm vorgezeichneten Weges. Ebenso vermied er es, auf die Argumente der Kritiker einzugehen. Und solche gab es in Mengen. Warum soll gerade er nicht dienen? Und was soll ein unerfahrener junger Mensch in Leipzig tun? Warum soll er den gesicherten Lebensunterhalt, den ihm das väterliche Geschäft anbietet, aufgeben? Die Brüder haben das Geschäft auf ihre Weise ausgebaut; er könnte es auf seine Weise tun. Und wie soll er in Leipzig, einer Stadt mit Hunderttausenden von Einwohnern und nur etwa fünftausend Juden, eine Braut finden?

Salomon schwieg und begann Abschied zu nehmen, vom Wald und vom Fluß, vom Städtchen und von seinen Menschen. Es galt Abschied zu nehmen von Tanten und Onkeln, Lehrern und Mitschülern, und es galt Abschied zu nehmen vom Gemeinderabbiner, der ihn persönlich im Talmudstudium unterwiesen hatte. Der Rabbiner hielt Salomons Hand lange in der seinen. Er sprach zu ihm Worte der Lehre und forderte ihn auf, sein Studium nie aufzugeben. Dann ließ er Salomons Hand los, ging zu seinem Bücherschrank und nahm einen Folianten heraus. »Dieser Talmudfoliant sei mein Abschiedsgeschenk an dich, Salomon. Vertiefe dich in den darin enthaltenen Traktat auf der langen Reise nach Leipzig. Und eigne dir die weiteren Folianten an, wenn du in Leipzig leben wirst. Studiere sie, allein oder mit anderen. Lasse Lernen deinen ständigen Begleiter sein.«

Der Rabbiner zog ein rotes Schnupftuch aus der Tasche seines Kaftans und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Möge deine Reise dir Leben und Frieden und Freude bringen«, waren seine Abschiedsworte.

Salomon meldete sich zur medizinischen Untersuchung im Kreiskommando, wurde für diensttauglich befunden und zur Musterung in einigen Monaten bestellt. Die Reise nach Leipzig rückte nun näher.

An einem Sonntag fuhr die ganze Familie mit Salomon in einer von Pferden gezogenen Kutsche in die Kreisstadt, um ihn zur Abfahrt mit der Eisenbahn in Richtung Leipzig zu begleiten. Noah, der Kutscher, hatte Mühe, so viele Passagiere und so eine Menge von Paketen und Bündeln in seiner Kutsche unterzubringen. Da waren die weinende Mutter, der würdebewahrende Vater, die Geschwister und zwei Tanten, die weinend die Mutter aufforderten, nicht zu weinen. Und da waren Kleider und Wäsche, Bücher und Reiseproviant. Salomon hielt nur den Talmudfolianten, den er vom Rabbiner als Abschiedsgeschenk bekommen hatte, und seine Gebetskapseln und -riemen in einem schön verzierten Samtbeutel in der Hand.

Die Pakete und Bündel waren im Zug verstaut. Salomon umarmte Mutter und Vater, seine Geschwister und Tanten und stieg ein. Laut weinend sah die Mutter dem Sohn nach, der vom Fenster aus winkte, als der Zug abfuhr. Der Vater wischte sich verschämt die Tränen aus den Augen. Kopfschüttelnd winkten die Geschwister dem Bruder im Zuge nach, der in Richtung Leipzig rollte.

Solange die Züge in Richtung Leipzig durch Galizien fuhren, bildeten Juden die Mehrzahl der ein- und aussteigenden Passagiere. Kaufleute mittlerer und älterer Jahrgänge waren auf Geschäftsreisen, jüngere Juden auf dem Weg zu den Universitäten von Lemberg, Krakau, Wien oder auf der Heimreise von diesen. Chassidim fuhren zu ihren Oberhäuptern, ihren Zaddikim, oder sie kamen gerade von ihnen. Die einen sprachen von Geschäften, die anderen von Studienerfahrungen, und die Chassidim erzählten sich von den Qualitäten und Taten ihrer Zaddikim.

Salomon mußte mehrmals den Zug wechseln; das Bild der Mitreisenden blieb dasselbe. Er hatte mit sich zu kämpfen. Länger als eine halbe Stunde konnte er nicht in den Folianten blicken, den er nicht aus der Hand legte. Die Mitreisenden zogen sein Interesse auf sich. Er beobachtete sie und lauschte ihren Gesprächen. Noch mehr reizte ihn die Landschaft, die der Zug durchquerte. Lange stand er am Fenster. Wälder, Felder, Bauernhöfe, Dörfer, Menschen, Vieh schienen vorbeizuziehen, zu verschwinden und anderen den Platz zu überlassen.

Als er dann doch im Folianten las, spürte er, wie einige der Reisenden ihn wohlwollend betrachteten, besonders die Chassidim. Nach einiger Zeit wurden ihm Fragen gestellt, wohlwollende und ablehnende.

»Wohin reist der junge Mann?« fragte der eine. Kaum hatte Salomon »Leipzig« als sein Reiseziel angegeben, wurde es zum Thema weiterer Fragen. »Zu welchem Zweck? Hat er Familie dort?«

Salomon antwortete kurz und mißmutig: »Ja, ich habe Familie in Leipzig, und die besuche ich.«

Ein junger Mann wollte wissen, wieso er auf einer Reise in eine deutsche Großstadt, berühmt wegen ihrer Universität und Offenheit, den Talmud lese. Ein Chassid lobte sein Lernen auf der Fahrt und fragte, ob es damit eine besondere Bewandtnis hatte. Salomon eröffnete ihm, daß er ein Versprechen dem Manne gegenüber einhalte, der ihm den Folianten als Abschiedsgeschenk überreicht hatte.

Ein anderer Chassid wollte wissen, woher er stamme. Auf Salomons Antwort: »Aus Potok«, reagierte der Fragesteller: »Aus Potok? Dort lebte doch der Ruszyner eine gewisse Zeit nach seiner Flucht.« Er bat Salomon, von seinem Städtchen zu erzählen und was an ihm Besonderes war, daß der sich fürstlich gebärdende Zaddik es zu seiner Residenz gewählt hatte.

Das Bild der Mitreisenden änderte sich drastisch, sobald der Zug in die Nähe der deutschen Grenze kam, erst recht, als er diese überquerte. Die fast frauenlose Reisegesellschaft, die in Galizien die Züge besetzt hatte, wurde durch eine von Frauen und Männern gemischte abgelöst. Es waren nicht mehr Juden, denen Salomon gegenübersaß und die ein- und ausstiegen, sondern deutsche Städterinnen und Städter, Bäuerinnen und Bauern.

Auch Salomon hatte sein Äußeres verändert. Kurz vor der Grenz- und Zollkontrolle vertauschte er seine Kopfbedeckung; er nahm das Käppchen ab und ersetzte es durch eine Schirmmütze, die er aus seinem Kleiderbündel herausnahm. In dieses Bündel legte er auch den Samtbeutel mit den Gebetskapseln und -riemen. Den Folianten hielt er weiterhin unter dem Arm oder in der Hand. Dann kramte Salomon in dem Paket herum, das seinen Reiseproviant enthielt, fand aber nur noch Reste von Weißbrot, zwei hartgekochte Eier und eine Gurke. Er begann zu essen.

Eine Bäuerin, die mit ihrem Mann ihm gegenübersaß, zog aus einem vollen Proviantkorb zwei in Pergamentpapier gewickelte Butterbrote, hielt sie ihm entgegen und sprach ihn an: »Hier, junger Herr, nehmen Sie. Es sind Schinken und Käsebrote. Ein junger Mann wie Sie hat doch nicht genug mit dem, was Sie da essen.«

Die Bäuerin hielt die Brote in ihrer Hand, und ein gutes Lächeln zeigte sich in ihrem von Gesundheit zeugenden Gesicht.

Salomon dankte verschämt.

Der Mann der Bäuerin rügte seine Frau, die die Brote in der Hand behielt: »Siehst Du nicht, daß er Jude ist. Juden essen keinen Schinken. Auch Käsebrote von uns werden sie kaum annehmen.«

Die Bäuerin lächelte verlegen und legte die beiden Brote in den Korb zurück. Salomon, ebenso verlegen lächelnd, bedankte sich nochmals und erklärte verhalten, aber in einem korrekten Deutsch, daß die Israelitischen Speisegesetze ihren Ursprung in der Bibel haben.

Das Eis war gebrochen. Der Bauer sprach von seinem Hof, seinen Feldern und Obstgärten, seinen Kühen und Hühnern. Am Ende seiner Aufzählungen fragte er Salomon, ob er aus der Stadt oder vom Lande sei.

»Ich komme aus einer Kleinstadt«, antwortete der Befragte. »Dort treffen sich Stadt und Land. Bei uns gibt es Kuh- und Hühnerställe, Obst- und Gemüsegärten. Sie versorgen die Einwohner mit ihren Produkten.«

»Und die Besitzer? Sind es Juden wie Sie, junger Herr?«

»Zum größten Teil.«

»Also, das gibt es bei uns in Preußen nicht, Mutter«, wandte sich der Bauer an seine Frau. »Vielleicht gibt es das in Hessen und in Schwaben. Bei uns nicht.«

Das Gespräch ging zu Ende. Der Bauer und seine Frau machten sich an ihren Proviantkorb, Salomon öffnete den Folianten und vertiefte sich in ihn. Er hatte bemerkt, wie der neben ihm sitzende, städtisch aussehende Mann in den Folianten sah und seinen Kopf dabei schüttelte. Nach einiger Zeit sprach der Mann Salomon barsch an: »Was liest er da in seinem jüdischen Buch? Eine Epistel gegen die Christen, die Goyim, wie ihr uns nennt?«

Salomon war verwirrt. Die giftigen und haßerfüllten Worte, die ihm entgegengeschleudert wurden, trafen ihn wie prasselnde Hagelkörner im Freien. Wie sollte er reagieren, fragte er sich. Er konnte den Mann ignorieren oder ihn darauf aufmerksam machen, wie unstatthaft seine Fragen waren. Er beschloß, ihm eine Antwort zu geben, die sowohl würdig war, als auch der Schmähung eine Abfuhr erteilte. »Ich lerne über den gerechten Schadenersatz, welchen der Verantwortliche dem Geschädigten entrichten muß.«

Der Mann wollte wieder etwas sagen, doch der Bauer unterbrach ihn: »Lassen Sie doch den jungen Herrn! Juden sind ebenso Menschen wie wir, wie Sie und ich.«

»Sozusagen«, zischte der Mann und lehnte sich zurück in seinen Sitz. Er blickte nicht mehr in den Folianten, in welchem Salomon weiterlas.

Salomon las zwar von den Schadenersatzzahlungen, die der Besitzer eines Ochsen zahlen mußte wegen eines von seinem Tier verletzten Menschen oder für dessen zu Schaden gekommenes Tier, doch dachte er an das eben Erlebte. Zwei entgegengesetzte Verhaltensweisen Juden gegenüber waren im Abteil zum Ausdruck gekommen; die eine akzeptierte die Andersartigkeit der Juden als legitim und betrachtete sie als vielleicht auch bereichernd für die Umwelt; die andere war ablehnend, sie bestand aus uralten Vorurteilen und dem aus ihnen entstandenen Haß.

In dieser Art hatte Salomon Judenhaß noch nie erlebt. Zu Hause, in Potok, kam es zuweilen während der Weihnachtszeit zu Anpöbeleien von Juden. Bei ihren Festgottesdiensten hörten Polen und Ukrainer aus dem Städtchen und der nahen Umgebung in den Kirchen wie gewöhnlich etwas über die Kreuzigung Jesu durch die Juden, danach tranken sie bei ihrem Feiertagsfestschmaus große Mengen Schnaps und liefen später betrunken durch die Straßen, wobei sie Schimpfworte und Flüche gegen die Juden ausstießen. Jüdische Jugendliche sowie der Polizist des Städtchens und ein bis zwei Soldaten, die zufällig im Städtchen weilten, beruhigten die Schimpfenden und Fluchenden und geleiteten sie in ihre Häuser zurück. Das Städtchen hatte seine Ruhe bis zum nächsten Weihnachtsfest. Nie wäre es den randalierenden Polen und Ukrainern eingefallen, das Lesen in jüdischen Büchern anzugreifen, ihren unfreundlichen Gefühlen den Juden gegenüber auf eine Weise Luft zu machen, wie es der Banknachbar getan hatte.

Die Gegensätze im Verhalten des Bauern und des Städters beschäftigten Salomon. Wie sieht es in dieser Beziehung in Leipzig aus, fragte er sich. Denken die Leipziger wie der Bauer oder teilen sie die Meinung des neben ihm sitzenden Städters? Er beantwortete die Frage, indem er sich sagte, daß alle, die Leipzig kennen, die gute Gesinnung seiner Leute lobten.

Beim Aussteigen an der nächsten Station verabschiedeten sich die Bauern herzlich von Salomon und wünschten ihm Glück. Als der Städter später ausstieg, vermied er es, Salomon auch nur anzublicken.

 

Endlich hielt der Zug in Leipzig, und auch Salomon mußte wie alle anderen Passagiere aussteigen. Er schnürte seine Pakete und Bündel zusammen und stand auf dem Bahnsteig. Er war in Leipzig angekommen.