Die Ei-Geborenen - Michael H. Schenk - E-Book

Die Ei-Geborenen E-Book

Michael H. Schenk

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Beschreibung

Das alte Imperium der Menschen ist bedroht. Die grausamen Walven stehen an der Grenze und nur die Lanzenreiter auf ihren Einhörnern können der Bedrohung begegnen. Doch dann wird der Kaiser ermordet und sein Freund, Densen Jolas, zum Spielball einer heimtückischen Verschwörung. Seine einzige Hoffnung ist sein Bruder, der die abgelegene Festung Aldon-Reet, an der Grenze zur Wüste, befehligt. Niemand ahnt, dass sich das Volk der Ei-Geborenen darauf vorbereitet, den Tod ins grüne Land der Säuger zu tragen. Der Roman wird aus der Sicht der Menschen und der Ei-Geborenen Raan geschildert. Olud-Sha, ein kleines Raan-Männchen, wird dabei zum Beobachter der Menschen.

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Seitenzahl: 563

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Michael H. Schenk

Die Ei-Geborenen

Die Wächter von Aldon-Reet

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Ei-Geborenen

Kapitel 1Der Auserwählte

Kapitel 2 Die Sorge eines Kaisers

Kapitel 3 Die Patrouille der Einhorn-Reiter

Kapitel 4 In der Stadt des Kaisers

Kapitel 5 Die Hüterin des Eis

Kapitel 6 Ein schrecklicher Verdacht

Kapitel 7 Die Klauen der Wüste

Kapitel 8 Tödliche Gewissheit

Kapitel 9 Auf Befehl der Großen Mutter

Kapitel 10 Die Verschwörung

Kapitel 11 Ein letztes Geleit

Kapitel 12 Am Norkam-Reet

Kapitel 13 Der Wille einer Mörderin

Kapitel 14 Auf imperialen Befehl

Kapitel 15 Die Bolzenwaffe

Kapitel 16 Pendal

Kapitel 17 Die Augen der Wüste

Kapitel 18 Das Aldon-Reet

Kapitel 19 Auf dem Marktplatz von Nedam

Kapitel 20 Die neue Waffe

Kapitel 21 Klauen im Sand

Kapitel 22 Der Sandsturm

Kapitel 23 Mit den Augen des Beobachters

Kapitel 24 Eine unerwartete Erkenntnis

Kapitel 25 Der Sprengwerfer

Kapitel 26 Olud-Sha

Kapitel 27 Die Verschwörung

Kapitel 28 Mordauftrag

Kapitel 29 Im Aldon-Reet

Kapitel 30 Jolas Weg nach Süden

Kapitel 31 Vorbereitungen

Kapitel 32 Ein mörderischer Feind und unerwartete Hilfe

Kapitel 33 Eierlinge!

Kapitel 34 Erkenntnisse

Kapitel 35 Der Plan der Hüterin des Eis

Kapitel 36 Der Angriff beginnt

Kapitel 37Sturm auf Aldon-Reet

Kapitel 38Auf der Suche nach dem Bruder

Kapitel 39 Blutiges Ringen

Kapitel 40 Das Vermächtnis des Bruders

Kapitel 41Ein letzter Blick

Kapitel 42Nachwort des Verfassers

Impressum neobooks

Die Ei-Geborenen

© 2014 by Michael H. Schenk

Am Anfang war Das Ei.

Es war ein großes Ei und die Göttin betrachtete es mit Wohlgefallen.

Aus dem Ei wurde ein Volk geboren und es tanzte und pfiff zu Ehren der Göttin.

Diese segnete das Volk mit Fruchtbarkeit und nannte es – Raan.

Das Volk der Raan mehrte sich und breitete sich aus und die Wüste wurde ihm untertan.

Aber dann begann es untereinander zu streiten, und es vergaß, die Göttin zu Ehren.

Da schuf die Göttin die Plage und nannte sie – Mensch.

Auszug aus dem Buch der Bücher, Aufzeichnungen des Geleges der Sha

Kapitel 1Der Auserwählte

„Sie sagen, ich sei nutzlos.“

„Kein Leben eines Raan ist nutzlos.“ Die Große Mutter sah Olud ernst an und die Nickhaut über ihren senkrecht stehenden Schlitzpupillen zog sich zusammen, um ihre Augen gegen das grelle Sonnenlicht zu schützen. „So steht es im Buch der Bücher. Du weißt es, Olud, denn du hast es studiert, wie ich es dir befohlen habe.“

„Ja, Große Mutter, ich habe es studiert.“ Olud legte für einen Moment seinen Kopf in den Nacken und entblößte im Zeichen der Ehrerbietung seine Kehle. Der sonst leuchtend rote Kehlsack des Männchens war Blass und verriet seine Unsicherheit.

„Aber du zweifelst.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und in der Stimme der Großen Mutter schwang Verständnis mit. „Du musst dich auf deinen Ursprung entsinnen, Olud aus dem ruhmreichen Gelege der Sha. Denke an das große Ei, aus dem du geschlüpft bist. Nur besondere Raan werden aus großen Eiern geboren.“

Olud-Sha schnaubte leise. „An mir ist nichts Besonderes, Große Mutter.“

Wenn man Olud betrachtete, so schien er tatsächlich nicht von Bedeutung zu sein. Dabei hatte sein Leben für das Gelege der Sha so Hoffnungsvoll begonnen.

Es war ein großes Ei gewesen, aus dem Olud schlüpfte.

Ein sehr großes Ei, in prachtvollem Rot und Grün und Braun gesprenkelt. Das ganze Gelege hatte sich damals um das Ei versammelt, als sich die Geburt Oluds ankündigte. Zwei Tage vor seinem Schlupf öffneten sich die äußeren Lider Oluds. Er schwamm noch in der klaren Flüssigkeit der Nährstofflösung und sah, durch die schützende Schale des Eis, nur undeutliche Schemen. Schatten, die sich bewegten, und von denen rhythmische Laute ausgingen, die eher unbewusst zu ihm drangen. Alle Männchen und Weibchen des Geleges warteten auf Oluds Geburt, und die Große Mutter wachte persönlich darüber, dass die rituellen Gesänge den Geburtsvorgang begleiteten.

Dann war es so weit.

Der erste Eindruck, den Olud bewusst in sich aufgenommen hatte, war das Gefühl grenzenloser Enttäuschung, das ihn umgab.

Es war selten im Volk der Raan, dass ein großes Ei gelegt wurde, und wenn dies geschah, so schlüpfte immer ein Wesen von besonderer Bedeutung für das Volk. Normalerweise war dies ein außergewöhnlich starkes Weibchen, dazu bestimmt, eine Führungsrolle im Gelege zu übernehmen. Sehr viel seltener entschlüpfte ein Männchen der zerbrechenden Eierschale. Doch selbst diese waren dann ungewöhnlich stark und dazu bestimmt, viele Weibchen zu befruchten. Olud jedoch war, selbst für ein Männchen, ein ausgesprochen bescheidenes Exemplar.

Die Raan konnten ihre Herkunft von Reptilien nicht leugnen. Ihre Rot, Grün und Braun gesprenkelten Leiber waren schlank und dabei muskulös. Die beiden Hinterläufe, auf denen sie aufrecht gingen, hatten drei lange und tödliche Sichelkrallen, die beiden Vorderläufe waren hingegen feingliedrig. Drei Finger und ein Daumen verliehen den Raan die Fähigkeit, sich Werkzeuge zu erschaffen. Der einst lange Schwanz, der ursprünglich der Stabilisation des vorgeneigten Körpers diente, war im Laufe der Jahre kürzer geworden, hatte durch die enormen Muskeln jedoch seine ursprüngliche Masse beibehalten. Die Hälse der Raan waren lang und gaben dem Kopf große Beweglichkeit. Der Schädel war flach und lang gestreckt, ideal, um damit tief in die Eingeweide einer Beute einzudringen. Die weit auseinanderstehenden Augen, geschützt durch eine milchige Nickhaut und das lichtundurchlässige Oberlid, gaben den Raan perfekte Jagdfähigkeit und das kräftige Gebiss, mit den scharfen Reißzähnen, die dazu passende, tödliche Waffe. Es gab sehr viel mehr Weibchen, als Männchen, und die stärkeren und größeren Weibchen dominierten das Volk. Die Männchen wurden allenfalls als Träger ihrer Fruchtbarkeit geschätzt.

Als Olud aus dem großen Ei schlüpfte, wurde an ihm nichts geschätzt.

Er war lediglich ein Männchen und noch dazu ein eher kleines Exemplar. Enttäuschung, ja sogar Unmut machte sich im Gelege breit, bis Shanaii-Doras-Sha, die Große Mutter, die Männchen und Weibchen zur Ordnung rief, und ihre Untertanen daran erinnerte, dass aus einem großen Ei stets ein Raan von großer Bedeutung geschlüpft sei. Die anderen Raan mochten das nicht so recht glauben, aber Olud stand, vom Augenblick seines Schlupfes, unter dem Schutz der Großen Mutter.

Er wuchs, wie alle Raan, schnell heran und seine Jugend war von dem Empfinden begleitet, unerwünscht zu sein und mit Skepsis betrachtet zu werden. Obwohl er nun das zeugungsfähige Alter erreicht hatte, und Olud sich redlich mühte, seinen roten Kehlsack zur Schau zu stellen, gab selbst das niedrigste Weibchen keine Anzeichen von sich, Oluds Fähigkeiten als Erzeuger in Anspruch nehmen zu wollen.

Nur das offensichtliche Wohlwollen der Großen Mutter, Shanaii-Doras-Sha, hatte ihn davor bewahrt, verstoßen oder gar als nutzloser Fresser getötet zu werden. Sie hatte darüber gewacht, dass er die Schriften des Volkes studierte, und sie ließ keinen Zweifel daran, dass sie überzeugt war, Olud werde dem Volk große Dienste erweisen.

Kein Raan würde es jemals wagen, die Meinung der Großen Mutter in Zweifel zu ziehen. Sie war es gewesen, die das Volk endlich geeint hatte, und trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, erwies sich Shanaii-Doras-Sha noch immer als ausgesprochen agiles Weibchen.

Nun stand sie, mit dem an sich zweifelnden Olud-Sha, auf dem höchsten Punkt der Stadt, welche, ihren Besitzern gemäß, Sha genannt und, der Sitte des Volkes entsprechend, als Gelege bezeichnet wurde.

„Einst waren wir nur wenige“, sagte die Große Mutter und wies mit einem Vorderlauf über die Stadt hinweg. „Unsere Gelege waren klein und wir mussten uns vor den Räubern der Wüste verstecken. Aber die Göttin des Eis schenkte uns die Fähigkeit des Denkens und die Fertigkeit, uns mit der Hilfe unserer Klauen Werkzeuge und Waffen zu erschaffen. Nun sind die einstigen Räuber die gejagten und bereichern unsere Vorräte.“ Shanaii entblößte amüsiert ihre Reißzähne, wobei sie die Kiefer geschlossen hielt. „Als wir die Räuber besiegten, wurden unsere Gelege größer. Wir fanden nicht mehr genug Nahrung für unsere Brut, begannen sie bei anderen Gelegen zu stehlen. Gelege kämpfte gegen Gelege.“

Olud nickte betrübt. „Du hast es beendet, Große Mutter.“

„Nach dem Willen der Göttin.“ Shanaii-Doras-Sha legte für einen Augenblick den rechten Vorderlauf Ehrfurchtsvoll über ihre Augen, machte sich so symbolisch blind und schutzlos, und Olud folgte rasch ihrer Geste, bis die Große Mutter ihn erneut ansah. „Sie gab mir die Kraft, die endlosen Kriege der Gelege zu beenden und unser Volk endlich zu einen.“

„Der Göttin des Eis sei Dank“, murmelte Olud.

Die Herrin der Raan lächelte. „Ja, der Göttin sei Dank.“ Sie stieß das kleine Männchen auffordernd an und wies erneut um sich. „Was siehst du, Olud-Sha?“

„Ich sehe das Gelege der Sha“, erwiderte er unsicher.

Die Stadt der Sha erhob sich inmitten einer unendlich erscheinenden Wüste. Der helle Sand reflektierte das Sonnenlicht und blendete Olud, während er seinen Blick über die Stadt gleiten ließ. Die inneren Nickhäute schoben sich vor und dämpften das Licht, versahen die schwarzen Augäpfel, mit ihren gelben, geschlitzten Pupillen, mit der notwendigen Feuchtigkeit.

Die Stadt ähnelte einem stumpfen Kegel, der äußerlich nur durch seine enorme Größe beeindruckend wirkte. Um den Kegel zog sich spiralförmig eine Rinne, deren Oberfläche von den Sha sorgfältig geschmolzen und geglättet worden war. Zahlreiche Öffnungen mündeten vom Inneren des Kegels an dieser Rinne. Diese Öffnungen waren Teil des komplizierten Belüftungs- und Temperaturregelungssystems des Geleges. Im Alarmfall boten sie den Kriegerinnen zudem die Möglichkeit, die Rinne rasch zu erreichen und über sie blitzartig zum Boden hinabzugleiten, um einem Angreifer zu begegnen. Für einen Feind war es hingegen unmöglich, sie zu ersteigen, er musste die beiden großen Tore am Stumpf des Kegels einnehmen, um in das Gelege vorzudringen.

In unregelmäßigen Abständen erhoben sich kaminartige Schlote, die ebenfalls der Belüftung galten. Als Reptilien waren die Raan ursprünglich nur in der Tageshitze aktiv gewesen, und in der Nacht, wenn die Temperaturen in der Wüste unter den Gefrierpunkt von Wasser fielen, waren sie förmlich erstarrt. Erst die Fähigkeit, Werkzeuge und Hilfsmittel zu entwickeln, hatte sie von den Temperaturen unabhängiger gemacht. Auch wenn sie es bevorzugten nackt zu bleiben, so konnten sie nötigenfalls warme Bekleidung tragen, um Nachtaktiv sein zu können.

Der Stadtkegel wurde von einer Unzahl von Gängen und Kammern durchzogen. Ihre Wände bestanden, wie der gesamte Bau der Stadt, aus dem Sand der Wüste. Der Speichel der Raan enthielt eine Substanz, mit welcher sich der reichlich vorhandene Rohstoff fermentieren und härten ließ. Generationen hatten an der Stadt gewirkt, um dem Gelege die jetzige Größe zu geben.

Einst waren die Gänge und Kammern nur Zweckgebunden gewesen, aber mit seiner steigenden Intelligenz begann das Volk, einen Sinn für die Schönheit zu entwickeln. Mineralien und die in der Wüste wachsenden Kugelkakteen wurden genutzt, um die Wände mit farbenfrohen Motiven zu versehen. Die Raan lebten nach Männchen und Weibchen getrennt. Es gab einige besondere Räume, in denen die Geschlechter sich begegnen konnten, um sich der Brunst und Vermehrung hinzugeben. Ansonsten ging man sich aus dem Weg. Die weiblichen Raan dominierten das Bild der Stadt und übten sich in ihren Räumen in der Kunst des Tötens, die sie mit Perfektion beherrschten. Ihre Krallen und Kiefer waren stärker ausgeprägt, als die der Männchen, und inzwischen kamen noch jene Waffen hinzu, welche in den Schmieden entstanden. Die Schmieden wurden von Männchen betrieben, die sich auch um die Brutpflege und Klimatisierung des Geleges zu kümmern hatten.

Oben, in der Spitze des Kegels, befanden sich die Gemächer der Herrin von Sha, der Großen Mutter Shanaii-Doras-Sha, tief unten lagen die Bruthöhlen, in denen die Männchen, unter der Aufsicht wachsamer Kriegerinnen, die Eier pflegten. Einst hatte man dies nicht riskieren können. So selten es auch Regen in der Wüste gab, so waren die Wasserstürme zu Recht gefürchtet. Früher hatte man die Eier in den oberen Ebenen lagern müssen, da die unteren Räume zu schnell vom Wasser bedroht wurden. Da die Eier zu ihrer Reife jedoch eine bestimmte Temperatur benötigten, waren die Männchen gezwungen gewesen, sie ständig im Gelege hinauf oder hinab zu transportieren. Inzwischen hatten die Raan gelernt, ihr Gelege mit einem System von Schächten und Balgpumpen gleichmäßig zu klimatisieren.

Das Gelege der Sha war nicht die einzige Stadt der Raan, aber mit Sicherheit das größte Gelege des Volkes. Mehr als zwanzigtausend Köpfe zählte die Bevölkerung, darunter knapp zweitausend Männchen. Männchen, von denen Olud-Sha das unscheinbarste war.

„So, du siehst also das Gelege der Sha.“ Shanaii-Doras-Sha entblößte ein Stück ihrer Fänge. Ihr Blick wirkte verärgert, als sie Olud musterte. „Wärst du ein gewöhnliches Männchen, so würde ich die Antwort gelten lassen. Aber von dir, Olud-Sha, erwarte ich eine intelligentere Antwort. Also, nochmals, Olud, was siehst du?“

Olud grub die oberen Reißzähne in seine untere Lefze und kratzte sich unbewusst mit einem Vorderlauf am Kehlsack. „Das Land der Raan?“

Die Große Mutter schnaubte und stieß ihren Schützling ärgerlich an. „Olud!“ Sie schüttelte missbilligend den langen Schädel. „Besinne dich auf deine Fähigkeiten! Was meinst du, warum ich dich das Buch der Bücher studieren ließ? Nur wenige Kriegerinnen haben diese Ehre und du bist ein Männchen!“

Um die Stadt der Sha erstreckte sich die Wüste. Sie wirkte unendlich und, auf den ersten, flüchtigen Blick, nahezu leblos. Der Sand bedeckte den Boden in sanften Kuppen und Mulden. Oft strich Wind über ihn hinweg und brachte ihn in Bewegung. Es gab ausgedehnte Wälder der Kugelkakteen, die sich mit ihren langen Stacheln verankerten, um den Böen zu widerstehen. Die Kakteen ernährten sich von Mineralien und kleinen Insekten, die im Boden lebten. Zwischen ihnen huschte gelegentlich einer der kleinen Wüstennager umher. Die Pflanzenfresser suchten nach kranken oder abgestorbenen Kakteen und fanden zwischen den Pflanzen Schutz vor den seltenen Raubvögeln, die in den warmen Luftströmungen über der Wüste kreisten oder vor den noch seltener gewordenen Sharaks, die den Kampf gegen die Raan verloren hatten. Einst gefürchtete Raubtiere und die Herren der Wüste, waren die sechsbeinigen Räuber nun selber Bestandteil der Nahrungskette, und sie standen nicht mehr an ihrem oberen Ende.

Um den Stadtkegel herum erstreckten sich ausgedehnte Kakteenfelder. Die Raan hatten ein System ersonnen, mit dem sie die Bewegungen der Kugelpflanzen kontrollieren konnten. Auf dieselbe Weise, mit der sie die Räume und Gänge ihrer Gelege formten, hatten sie niedrige Wälle errichtet. Diese sperrten einige Areale der Wüste ab. Hatten die Pflanzen einen Bereich nach Nahrung abgesucht, wurden sie von den Ei-Geborenen mit langen Stachelstäben in einen anderen getrieben. So konnte sich der ausgelaugte Wüstenboden erholen. Die Raan förderten dies, indem sie ihn gelegentlich bewässerten und düngten. Pragmatisch, wie sie eingestellt waren, nutzten sie hierfür auch die Leiber ihrer Verstorbenen.

Olud konnte von der hohen Aussichtswarte mehrere Gruppen von Raan erkennen, welche in den Kakteenfeldern arbeiteten. Die Raan waren Allesfresser. Sie vertilgten Insekten, Sharaks, Schlangen und Pflanzen gleichermaßen, und je mehr das Volk wuchs, desto größer wurde sein Nahrungsbedarf. Das wenige Wasser, welches die Kugelpflanzen speicherten, reichte längst nicht, den Durst der Raan zu stillen. Daher standen ihre Gelege stets über einer der seltenen unterirdischen Quellen und bei einem Wassersturm wurde der willkommene Regen über die Klimaschächte in die Speicher der Stadt geleitet.

Olud-Sha knurrte leise. „Ich sehe das Land der Raan und seine Gelege.“

„Und was siehst du noch, Olud-Sha? Was?“

„Ein wachsendes Volk.“

„Richtig.“ Die Große Mutter nickte zufrieden. „Ein wachsendes Volk.“ Sie sah ihn auffordernd an und überragte ihn dabei um fast die Hälfte seiner Größe. „Nun?“

„Einst haben wir Kriege untereinander geführt“, erwiderte Olud nachdenklich. Er bemerkte ihren kritischen Blick und fuhr hastig fort. „Das hielt die Gelege klein. Nun sind wir geeint, unter dem Großen Ei der Göttin, und die Gelege wachsen.“

„Und?“

Olud war sich nun sicher, worauf die Große Mutter hinauswollte. „Die Gelege wachsen, aber nicht das Land, nicht die Menge an Nahrung, die es uns liefern kann.“

„So ist es.“ Shanaii schlug dem kleinen Männchen anerkennend auf den Schädel und Olud wäre fast vornüber gestürzt. „Wir wachsen, aber wir können es uns nicht mehr erlauben, zu wachsen.“ Sie wies über die Wüste. „Es gibt genug Raum für unsere Gelege, aber nicht genug Nahrung und Wasser.“

Olud kratzte sich am Kehlsack. „Dann dürfen wir keine Eier mehr legen.“

„Das wäre gegen die Natur der Dinge.“ Die Große Mutter lächelte ihn an. „Die Göttin hat uns die Gabe der Fruchtbarkeit gegeben, damit wir uns vermehren.“ Der Ausdruck ihrer Augen wurde eindringlich. „Und sie gab uns die Fähigkeit, zu kämpfen.“

„Ein erneuter Krieg?“ Olud sah sie schockiert an.

„Nicht gegeneinander“, wandte Shanaii ein. „Die Kriege der Gelege sind beendet. Aber unser Volk braucht neuen Lebensraum und es kann sein, dass wir darum kämpfen müssen.“

„Ich verstehe.“ Olud blickte unwillkürlich um sich. „Aber im Süden und Westen ist nur das große Wasser. Im Osten erheben sich die Gebirgszüge und im Norden…“

Das kleine Männchen stockte und die Große Mutter sah ihn aufmunternd an. „Sprich weiter, Olud-Sha.“

„Im Norden leben die zweibeinigen Säuger.“

„Ja, im Norden leben die zweibeinigen Säuger.“ Die Große Mutter schnalzte mit der dunklen Zunge. „Was wissen wir von ihnen, Olud?“

„Nicht viel.“ Olud runzelte die Stirn und seine kleinen Ohrlappen legten sich dabei eng an den Schädel. „Sie gehen, wie wir, auf zwei Beinen und haben zwei Vorderläufe, mit denen sie Dinge anfassen. Sie sind ganz weich und nicht gepanzert und sehr schwächlich.“ Er überlegte kurz. „Und sie haben nur wenige Waffen.“

„Woher weißt du das?“

Olud schnaubte verächtlich. „Weil die Kriegerinnen der Gelege in den vergangenen Jahren drei Gruppen der Säuger in der Wüste fanden und sie kaum Gegenwehr leisteten.“

„Sie waren geschwächt, von Durst und Hitze“, wandte die Große Mutter ein. „Ich habe dir in meinen Gemächern einige der Säugerwaffen gezeigt. Was hältst du von ihnen?“

„Ich bin nur ein Männchen“, knurrte Olud. „Von solchen Dingen verstehe ich nichts. Du solltest eine erfahrene Kriegerin fragen, Große Mutter.“

Olud pfiff schmerzerfüllt, als Shanaii ihn in die Flanke biss. Es war ein kurzer und ungefährlicher Biss, der ihn kaum verletzte, aber den Ärger der Großen Mutter zum Ausdruck brachte.

„Sei kein dummes Männchen“, stieß sie hervor. „Meinst du, ich hätte die Kriegerinnen nicht längst gefragt? Nun aber will ich deine Meinung hören, Olud. Also, sprich!“

„Ihre Waffen sind besser, als die unseren“, sagte er unbehaglich. „Ihr Metall ist sehr viel härter und schärfer. Sie sind schlauer als wir.“

„Unsinn.“ Die Große Mutter bellte lachend. „Sie mögen mehr wissen, aber deshalb sind sie nicht unbedingt schlauer. Was weißt du sonst noch über die Säuger?“

„Nur, dass sie ein großes Reich im Norden bewohnen.“ Oluds Kehlsack gewann wieder etwas an Farbe. Auch wenn die Große Mutter ihn nicht ernsthaft angegriffen hatte, so war die rasche Attacke für ihn doch erschreckend gewesen. „Die wir in der Wüste fingen, haben nicht viel gesagt. Wir kennen nur wenig von ihrer Sprache und noch viel weniger von ihrem Leben.“

„So ist es.“ Die Große Mutter stieß ihn besänftigend an. „Eigentlich wissen wir nichts über die Säuger. Aber da sich unser Volk nur nach Norden ausbreiten kann, müssen wir auch mehr über die Säuger erfahren. Wir müssen in Erfahrung bringen, ob sie zu einer Gefahr für die Raan werden können.“ Sie sah Olud-Sha nachdenklich an. „Und das, Olud aus dem Gelege der Sha, wird deine Aufgabe sein.“

Das Männchen sah die Herrin der Raan an. Seine Schlitzpupillen wurden vor Überraschung rund. „Meine Aufgabe?“

„Deine Aufgabe, Olud-Sha.“ Sie blickte über die Wüste und nickte langsam. „Du kommst aus einem großen Ei, Olud, und wer aus einem großen Ei stammt, erweist dem Volk der Raan auch immer einen großen Dienst. Deiner wird es sein, nach Norden zu gehen und die Säuger zu beobachten. Du wirst in Erfahrung bringen, wie sie leben, wie sie denken und…“, sie lachte leise auf, „welche Gefahr sie darstellen, wenn wir nach Norden gehen.“

Olud schluckte nervös. „Es wird also Krieg mit den Säugern geben?“

„Nur, wenn es sein muss.“ Die Große Mutter streichelte seine Flanke. „Du bist nun der Beobachter, Olud-Sha, und du wirst mir sagen, ob es Krieg geben wird.“

Das kleine Männchen sah benommen nach Norden, dorthin, wo sich das Reich der Säuger befand. „Warum ich? Ich bin nur ein Männchen. Ein sehr kleines Männchen.“

„Gerade deshalb. Du bist klein wie ein junger Zögling und wirst auf die Säuger weit weniger bedrohlich wirken, als eine ausgewachsene Kriegerin. Du hast das Buch der Bücher gelesen und bist intelligent. Du wirst es schaffen, dich unter ihnen zu bewegen und sie zu beobachten, bis du genug von ihnen weißt.“

Die Große Mutter war beruhigt, das Oluds Kehlsack eine tiefrote Farbe aufwies. Das Männchen zeigte keine Angst, was sie insgeheim befürchtet hatte. Nein, sie hatte die richtige Wahl getroffen und das beruhigte die Herrin der Raan. „Ich werde dich nun mit einigen Dingen vertraut machen, die deine Aufgabe betreffen, Olud-Sha, Beobachter der Raan.“ Sie stieß ihn sanft an. „Komm jetzt mit mir in meine Räume. Ich habe dir noch einiges zu sagen, denn Morgen wirst du deiner Bestimmung folgen.“

Olud zögerte nicht, ihr zu folgen.

Er empfand keine Furcht, obwohl er sich in den unbekannten Norden wagen musste. Im Gegenteil, er war neugierig, was er im Land der Säuger erleben würde. Er, Olud-Sha, das bislang unbedeutendste Männchen des Geleges, hatte nun eine Aufgabe, die ihn aus der Masse der anderen Männchen, ja, aller Raan, erhob. Er, Olud, würde der Beobachter des Volkes sein und, wenn auch nur zu einem kleinen Teil, zu seiner Zukunft beitragen.

Olud hörte den mahnenden Pfiff der Großen Mutter und wandte sich um. Zum ersten Mal seit Langem fuhr sein muskulöser Schwanz vergnügt von einer Seite zur anderen. Olud-Sha, Beobachter der Raan – das hatte Klang. All die Jahre hatte er den mehr oder weniger verborgenen Spott der Weibchen ertragen müssen, selbst die anderen Männchen hielten sich für etwas Besseres. Gelegentlich erhielt Olud auch Bisse und Schläge. Natürlich nur, wenn die Große Mutter dies nicht bemerken konnte, und im Vertrauen darauf, dass Olud noch immer genug Stolz besaß, nicht bei seiner Mentorin Schutz zu suchen. Olud hatte all das erduldet, in der Hoffnung, sich eines Tages beweisen zu können. Nun schien der ersehnte Augenblick gekommen. Vielleicht würde man sogar einmal im Buch der Bücher über ihn lesen können? Die Weibchen würden nicht mehr die Schnauze kräuseln, wenn er in ihre Nähe kam, sie würden um ihn buhlen…

„Olud!?“

Er seufzte leise. Vor der Brunst kam die Erfüllung der Aufgabe. Er würde sie gut erfüllen, so wahr er nun der Beobachter war.

Kapitel 2 Die Sorge eines Kaisers

Das Arbeitszimmer maß rund zwanzig mal zwanzig Meter im Quadrat und war einer der bescheidenen Räume im Palast. Ihre Imperialität, Kaiser Donderem-Vob, wäre auch mit einem kleineren zufrieden gewesen, aber die Größe des Arbeitszimmers hatte praktische Gründe, denn auch das Imperium war groß. Ein guter Teil des Bodens war mit winzigen Farbsteinen ausgelegt, welche die Karte des Reiches bildeten. So konnte der Imperator gleichermaßen seine Schritte über die Karte führen, wie er auch die Geschicke der Provinzen lenkte.

Der Boden des Raumes war in blauem Marmor gehalten, ebenso die Decke. Für den Kaiser symbolisierten sie die Unendlichkeit des Meeres und des Himmels. Die Wände waren schmucklos und wirkten in ihrem strahlenden Weiß nüchtern. An einer Seite bot ein riesiges Fenster einen grandiosen Ausblick auf die Stadt, an der gegenüberliegenden Wand befand sich das überlebensgroße Wappen des Imperiums, das geflügelte Einhorn.

Donderem-Vob war nun 68 Jahre alt und noch immer von beeindruckender Gestalt. Zwar war die Kraft seiner Muskeln weitestgehend gewichen, und sein Leib hatte sich etwas gerundet, aber man sah ihm noch immer den kampferprobten Veteran vieler Schlachten an. Der Beiname Vob verriet die vornehme Herkunft, und die Narben den Körpers zeigten, dass der Imperator seine Männer in vorderster Linie geführt hatte.

„Die Zeit, da ich Rüstung und Schwert führte, ist vorbei, Densen“, brummte der Imperator missmutig und schritt über das Mosaik der Karte. „Heute kämpfe ich nicht mehr gegen Walven und Abtrünnige, sondern gegen den Senat.“ Donderem-Vob hob den Blick und sah zu dem großen Fenster hinüber, durch das man das Senatsgebäude sehen konnte. „Und noch immer habe ich den Feind vor Augen.“

Der Mann, mit dem der Kaiser des Imperiums sprach, lehnte leger an einer der Säulen, die sich entlang der Fensterwand erhoben. Er war schlank und groß wie der Imperator, aber deutlich jünger. Densen Jolas trug die graue Kniehose und den schwarzen Wams der imperialen Garde, der Leibwache des Herrschers. Auf der linken Brustseite war das imperiale Wappen eingesteckt, das einzige Zeichen von Densens hohem Rang als Kommandeur der Leibwache. Obwohl er entspannt wirkte, spürte man die Bereitschaft, sofort auf ein Anzeichen von Gefahr zu reagieren. Der abgenutzte Griff des Schwertes an seiner Seite verriet, dass er dies auch oft getan hatte. Densen hatte mittelbraunes Haar, welches ebenso kurz geschnitten war, wie der Vollbart, der sein Gesicht einrahmte. An seiner linken Schläfe schimmerte das Haar silbrig, Folge einer Verletzung, die er einst erlitten. Auf den ersten Blick konnte man Densen Jolas für einen jungen Mann halten, bis man in seine grauen Augen blickte. Augen, die verrieten, dass ihr Besitzer schon viel erlebt hatte.

Donderem-Vob warf Densen einen kurzen Blick zu. „Ja, verdammt, Densen, du hast gut Lachen. Du kannst dich einem Feind mit der Klinge stellen, ich hingegen muss mit Worten kämpfen. Glaube mir, Densen, manchmal sehne ich mich in jene Zeit zurück, wo die Kraft des Armes und die Schnelligkeit kalten Stahls die Entscheidung herbeiführten.“

Densen lächelte verständnisvoll. „Der Senat ist nicht Euer Feind, Eure Imperialität.“

„Verrenk dir nicht die Zunge, Densen.“ Donderem lachte leise auf. „Wir haben Seite an Seite gekämpft. Damals warst du noch ein blutjunger Lanzenreiter in meiner Schwadron. Wenn wir unter uns sind, so kannst du offen reden, wie es sich für Lanzer gehört.“ Der Kaiser musterte die Karte und seufzte leise. Der in Riemensandalen steckende Fuß tippte gegen eine der Landmarken. „Der Horvalt-Pass. Verdammt, Densen, ich kann mich noch gut erinnern, wie die Walven dort über uns herfielen.“

„Wir haben es ihnen gezeigt“, erwiderte Densen Jolas mit sanftem Lächeln.

„Ja, Densen, das haben wir. Das haben wir wirklich.“ Erneut seufzte der Imperator und schritt dann zu seinem Schreibtisch hinüber. „Seitdem herrscht Ruhe, Densen, und ich sage dir, es ist eine trügerische Ruhe. Ich spüre es in meinen alten Knochen, dass sich etwas zusammenbraut. Die Berggrenze ist unruhig.“

„Die Berggrenze ist immer unruhig.“

Donderem stimmte in Densens Lachen ein. „Ja, das stimmt. Du musst es besser wissen, als ich. Dein Bruder Svenem dient ja dort, mit unserem alten Regiment.“

Donderem-Vob hatte das Imperium von seinem Vater geerbt. Es war kein leichtes Erbe, war es nie gewesen. Donderem hatte es früh übernehmen müssen, als sein Vater einem Reitunfall zum Opfer fiel. Ausgerechnet eines der letzten frei lebenden Einhörner war ihm zum Verhängnis geworden. Der damalige Kaiser hatte es auf einem Jagdausflug entdeckt, eigenhändig eingefangen und es selbst zureiten wollen. Als das Tier ihn dabei abwarf, hatte das lange Stirnhorn den Leib des Regenten aufgeschlitzt. Er war verblutet, ohne dass Hilfe möglich gewesen wäre. Donderem war dabei gewesen und er hatte verboten, das Einhorn zu töten. „Es hat nur um seine Freiheit gekämpft“, hatte er gesagt, „und jeder von uns hätte das ebenso getan.“

Diese Worte hatten dem jungen Regenten den Respekt seiner Männer und einen ungewöhnlichen Weggefährten eingebracht. Einhörner verfügten über besondere geistige Fähigkeiten und konnten die Empfindungen eines anderen Lebewesens deuten. Wild lebende Exemplare vermochten sogar Gefühle zu projizieren. Sie machten sich dies zunutze, indem sie die Empfindungen eines Feindes erkennen und rechtzeitig darauf reagieren konnten oder indem sie ein Gefühl der Furcht in den Gegner projizierten, welches diesen verwirrte und hemmte. Das Einhorn, das Donderems Vater unabsichtlich getötet hatte, rettete, in den späteren Kämpfen um das Imperium, immer wieder das Leben des Sohnes. Sturmwind hatte der Imperator sein Einhorn getauft und sie waren auch heute noch unzertrennlich. In den letzten Jahren waren die Ritte des Kaisers selten geworden, aber jeden Tag ging er hinaus, in den imperialen Park, und besuchte den Gefährten.

Donderem-Vob wies auf einen Beistelltisch aus seltenen Hölzern. „Schenk uns etwas Wein in die Gläser, Densen, und lass uns ein wenig nachdenken. Nach all dem Geschwätz mit dem Senat brauche ich die klaren Gedanken eines Kriegers.“ Donderem sah zu, wie sein Leibwächter und Freund einschenkte, und prostete ihm zu. „Auf vergangene, gemeinsame Ritte, mein Freund. Lanze und Horn zum Sturm!“

„Lanze und Horn zum Sturm!“, stimmte Densen Jolas in das Motto der Lanzenreiter ein.

Donderem leckte sich genüsslich über die Lippen. „Ein alter Wein und eine junge Frau. Ich sage dir, Densen, mein Freund, das hält einen alten Krieger jung.“

Densen verzichtete auf eine Erwiderung und lächelte höflich. Sein Verhältnis zu der jungen Hochgeborenen Vesana, seit nunmehr drei Jahren die Gemahlin des Kaisers, war von Unbehagen geprägt, dass er in ihrer Nähe empfand. Er konnte den Grund dafür nicht nennen. Es war ein unbestimmtes Gefühl, der Instinkt eines Kriegers, der die Gefahr witterte, bevor er sie sah. Aber Donderem, der 68-jährige Imperator, genoss die Liebe Vesanas und erwiderte sie aufrichtig. Der Kaiser empfand Glück in den Armen seiner Frau, und Densen fühlte sich nicht berufen, über die Gefühle anderer zu urteilen. Natürlich hatte er sich heimlich, seiner Aufgabe als Kommandeur der Leibwache entsprechend, ein wenig umgehört. Vesana-Vobs Ruf war ohne jeden Makel. Densen gestand sich zögernd ein, sich mit Menschen wohl weniger auszukennen, als mit Einhörnern oder Walven.

Donderem-Vob stellte das leere Glas auf seinen Schreibtisch und schritt erneut zur Karte. „Das Imperium hat immer um seinen Bestand kämpfen müssen“, sinnierte er. „Gegen die Piraten an der Westküste, gegen Aufstände in den Provinzen und gegen die Stämme der Walven im Norden und Osten. Nur die Grenze im Süden ist ruhig geblieben.“

„Kein Feind würde es wagen, sich durch die große Wüste vorzuarbeiten. Sie würde jedes Heer verschlingen.“

„Ja, Densen, das würde sie. Ich glaube, zwei Forschungsexpeditionen des Imperiums hat sie ebenfalls verschlungen.“

„Drei.“

„Hm.“ Donderem ächzte vernehmlich und deutete auf einige Stellen der Karte. „Das große Gebirge zieht sich wie eine Sichel vom Norden, über den Westen, bis zum Süden. Es ist steil und schroff und nur an wenigen Stellen passierbar. Jene Pässe, die ins Land der Walven führen, sind von unseren Reets geschützt. Jede dieser Festungen ist stark genug, einem Ansturm zu widerstehen, bis Verstärkungen eintreffen.“ Er sah Densen grimmig an. „Noch sind die Reets stark genug, sollte ich wohl sagen. Der Senat will die Gelder für die Truppen kürzen. Das wird uns Regimenter kosten, Densen. Gute Regimenter.“

„Warum will der Senat das tun? Ist ihm nicht klar, dass die Walven immer eine Bedrohung waren? Dass sie immer eine Bedrohung sein werden? Diese Bestien warten doch nur darauf, dass wir Schwäche zeigen.“

„Du und ich, Densen, wir haben gegen sie gekämpft.“ Der Imperator nickte betrübt. „Wir kennen die Walven. Aber nicht der Senat, mein Freund. Für den Senat, und vor allem unseren geschätzten Hochgeborenen Freund, Tomas-Kent, sind die Walven nur ein Kostenfaktor. Gelder, die man besser in den Ausbau der Stadt und das Gesundheitswesen stecken sollte. Die Seuche, die vor fünf Jahren so manches Leben kostete, sie steckt dem Senat noch in den Knochen.“

Densen zuckte die Schultern. „Bei Senator Tomas-Kent kann ich das verstehen. Er verlor Sohn und Tochter.“

Der Imperator stapfte mit dem Fuß auf die Karte. „Wenn die Walven kommen, wird der Hochgeborene Tomas-Kent noch weit mehr verlieren. Und ich spüre, dass sie kommen werden.“

Auch wenn der Kaiser dem Imperium vorstand, so war er nicht sein alleiniger Herrscher. Blutige Kriege hatten die Menschen gelehrt, dass eine Alleinherrschaft rasch zum Despotismus führen konnte. So hatte das Imperium die Gewalten geteilt. Dem Senat oblagen die zivile Verwaltung und Gesetzgebung, wobei ein Gesetz erst Gültigkeit erlangte, wenn der Kaiser ihm zustimmte. Der Imperator hingegen war der militärische Führer und Repräsentant des Imperiums. Meist bewährte sich diese Teilung der Gewalten, aber es gab Situationen, in denen Konflikte entstanden. Ein solcher Konflikt bahnte sich nun im Senat an.

Das Imperium war ausgedehnt und erstreckte sich in der Nord-Süd-Achse über fast 4.000 Kilometer, in der West-Ost-Achse immerhin auf knappe 1.200. Ein gewaltiges Gebiet, das von der Hauptstadt Newam aus nicht zu regieren war. So war das Imperium in sechs Provinzen gegliedert, denen ein Präfekt vorstand. Diese Präfekten stellten den Senat.

„Der Senat will ein Drittel der bestehenden Truppen entlassen“, brummte Donderem-Vob.

„Ein Drittel?“ Densen Jolas sah den Herrscher schockiert an.

„Ein Drittel.“ Der Kaiser nickte betrübt. „Ich habe bereits signalisiert, dass ich dem nicht zustimmen werde. Das Gesetz gibt mir das Recht, die Stärke der Truppen zu bestimmen.“ Er lachte freudlos. „Aber Tomas-Kent, dieser schlaue Bastard, hat einen Weg gefunden, mich auszutricksen. Er will Stadtbewohner aufrufen, sich bei Gefahr als Bürgermiliz aufzustellen. Damit kämen wir auf die momentane Lanzenstärke.“

„Schreiner, Kaufleute, und was auch immer, können gegen Walven nicht bestehen.“

„Natürlich nicht.“ Der Imperator sah seinen Freund mürrisch an. „Wir beide wissen das. Vielleicht weiß es sogar Tomas-Kent. Aber die braven Bürger der Städte wissen dies nicht. Zu lange leben wir schon im Frieden. Die kleinen Grenzgefechte zählen da nicht.“

„Grenzgefechte, in denen unsere Lanzen sterben. Und die letzte größere Schlacht gegen die Walven liegt gerade sieben Jahre zurück. Sieben Jahre, Eure Imperialität.“

„Wir verloren eine Stadt und viele gute Männer und Frauen.“ Donderem-Vob blickte traurig auf die Karte des Imperiums hinunter. „Weit geringere Verluste, als durch die Seuche.“ Er hob die Augen und sah Densen ernst an. „Das ist es, was Senator Tomas-Kent als Argument anführt. Das ist der Grund, warum der Senat die Gelder für die Lanzen des Imperiums kürzen will. Damit die Gelder in öffentliche Bäder gesteckt werden.“

„Man kann schmutzig kämpfen, aber nicht ohne Geld.“

Der Imperator lachte auf. „Stimmt, Densen, das ist wahr. Der Unterhalt der Regimenter und Garnisonen sowie Verpflegung und Ausrüstung, verschlingen viel Gold. Aber Schmutz und mangelnde Hygiene fördern die Gefahr von Seuchen, das weißt du ebenso.“

Sie sahen sich schweigend an und Densen füllte unaufgefordert die Gläser nach. Gemeinsam traten sie an das riesige Fenster, das Ausblick auf das Senatsgebäude und die dahinter liegende Stadt bot.

Einst war Newam eine kleine Stadt gewesen, mitten im Herzen des noch kleinen Reiches. Ihre günstige Lage in der Biegung des Flusses New hatte ihr Wachstum gefördert, denn der Fluss schützte die Stadt von drei Seiten. Drei Brücken überspannten den schnell fließenden Strom. Brücken, die leicht zu verteidigen waren und notfalls zerstört werden konnten. Nur im Westen gab es keinen Fluss, der die Ausweitung der Stadt verhindert hätte. Die Entwicklung Newams ließ sich an den Verteidigungsanlagen ablesen. An den drei Seiten, die dem Fluss zugewandt waren, gab es nur eine einzige, massige Wehrmauer, an der Landseite hingegen deren drei. Da alle Bürger den Schutz von Mauer und Türmen genießen wollten, hatte das Wachstum der Bevölkerung es erfordert, immer wieder eine neue Wehranlage weiter ins Land hinein zu errichten. Die neue äußerste Mauer war erst vor drei Jahren fertiggestellt worden und es zeichnete sich ab, dass man demnächst eine vierte beginnen musste.

Trotz der Seuche, der viele Menschen zum Opfer gefallen waren, vermehrten sich die Menschen rasch. Selbst der Imperator wusste nicht genau zu sagen, wie viele Bürger inzwischen in Newam lebten. Um die Stadt herum existierten Bauernhöfe und Viehzuchten, um den Hunger der Menschen zu stillen, in der Stadt selbst, gaben Handwerk und Kunst den Ton an.

Eine Vielzahl von Waren wurde produziert und mit den anderen Provinzen gehandelt. Umschlagplatz waren die großen Märkte. Auf jedes Handelsgut erhob der Kaiser seinen Anteil, wodurch er seinen imperialen Hof, die öffentlichen Einrichtungen und die Truppen finanzierte. Zum Unglück für den Imperator erhielt auch der Senat einen gewissen Anteil, wodurch er ein Mitspracherecht bei der Verteilung erworben hatte.

Die Gebäude Newams waren überwiegend aus gebrannten Tonsteinen errichtet. Ton fand man reichlich in der Nähe des Flusses und man konnte ihn ohne großen Aufwand brennen und färben. Die farbliche Gestaltung der privaten Häuser war daher sehr unterschiedlich und die in schlichtem Weiß gekalkten öffentlichen Gebäude schienen aus der Farbenpracht hervorzuleuchten. Fast alle Häuser hatten eine geringe Grundfläche, denn innerhalb der schützenden Mauern ließ sich der Senat den Baugrund gut bezahlen. Dafür wuchsen sie bis zu drei Ebenen empor. Einige, wie das Senatsgebäude, ragten noch höher auf, doch sie waren aus massiven Felsquadern errichtet, die man mühsam aus dem Gebirge herbeigeschafft hatte. Da der Grundwasserspiegel niedrig lag, gab es reichlich Brunnen. Nach einem verheerenden Brand in einem der Stadtviertel hatte der Präfekt von Newam strenge Bestimmungen zum Brandschutz erlassen.

Auch Mauerabschnitte und Türme bestanden aus Felsquadern, die sorgfältig behauen und geschichtet worden waren. Newams Mauern waren 12 Meter hoch und entsprechend tief hatte man die Grundsteine in die Erde legen müssen, damit die Anlage festen Halt fand.

Über der Stadt lag ein strahlend blauer Himmel, in den der Dunst aus den zahlreichen Feuerstellen emporstieg. Über den Kaminen war der Rauch tiefbraun, aber er zerfaserte rasch, wenn der stete Wind ihn zerteilte.

„Wenn der Wind einmal ruht, werden wir unter einer Rauchwolke begraben“, sagte Densen lakonisch und wies über die Stadt. „Dann brauchen wir keinen Feind, der uns aus unseren Mauern vertreibt.“

Der Kaiser lachte fröhlich auf. „Es wäre mir nur Recht, wenn ich dabei sehen könnte, wie der Senat die Flucht ergreift.“

Zwischen dem Palast und dem Senatsgebäude erstreckte sich eine breite Straße. Wie alle Straßen in den vornehmen Bereichen Newams, war sie gepflastert und wurde regelmäßig mit Stroh ausgestreut. Dadurch konnte der Dung der Reit- und Nutztiere leichter entfernt werden und der Lärm beschlagenen Hufe oder Eisenreifen wurde gedämpft.

Donderem-Vob legte Densen die Hand auf die Schulter. „Morgen tritt der Senat zusammen, mein Freund. Dann werde ich mein Veto einlegen. Damit kann ich die Entscheidung, unsere Truppen zu reduzieren, wenigstens blockieren. Aber dafür wird der Senat mich bluten lassen. Sie werden ihr eigenes Vetorecht geltend machen, um im Gegenzug meine Anträge zu blockieren. Ich werde um jede unserer Lanzen kämpfen, aber es wird nicht leicht werden. Der Senat hat Unterstützung an meinem eigenen Hof.“

Densen runzelte die Stirn. „Wen?“

„Kanzler Wilbur“, seufzte der Kaiser. „Ein guter Verwalter, gewiss, aber ein schlechter Stratege. Ich fürchte, er dringt auf Vesana ein, den Senat zu unterstützen.“

„Die Hochgeborene ist Eure Gemahlin, Donderem. Sie kennt Eure Ansicht und wird Euch unterstützen.“

Der Kaiser raffte fröstelnd sein Wams enger um sich. „Wirklich, Denem, mein Freund, ich kämpfe lieber gegen die Walven, als gegen den Senat und meine eigene Gemahlin.“

„Ihr habt viele Kämpfe siegreich bestanden, Eure Imperialität, und Ihr werdet auch diese Schlacht bestehen.“

Donderem-Vob nickte und lächelte freudlos. „Wenn nicht, mein Freund, dann habe ich ernstliche Sorgen um unsere Zukunft. Wenn wir unsere Truppen schwächen, wird das den Walven nicht lange verborgen bleiben.“

Kapitel 3 Die Patrouille der Einhorn-Reiter

Der Gebirgszug von Norkam erstreckte sich nordöstlich der Provinz Endan und bildete die dortige Grenze des Imperiums. Die Eisbedeckten Gipfel stiegen Kilometerhoch auf, dazwischen hatten sich steile Grate mit schroffen Felsvorsprüngen gebildet. Die Erosion ließ immer wieder Steine aus den Wänden brechen, die andere mit sich rissen und als tödliche Lawinen in die Tiefe glitten. Gewitter von verheerender Gewalt entstanden scheinbar aus dem Nichts und wichen ebenso rasch strahlendblauem Himmel. Nur wenige größere Tiere fanden hier eine Heimat. Es war die Domäne der kleinen Nagetiere, Schlangen und Raubvögel.

Es war eine natürliche und nahezu unpassierbare Grenze. Kein zweibeiniges Wesen war in der Lage, sie zu überschreiten, wenn man von den wenigen Stellen absah, an denen Pfade durch das Gebirge führten. Selbst diese waren mühselig und gefährlich. Sie wanden sich, dem Verlauf der Berge folgend, an den Felsen entlang, und führten gelegentlich über den Grund eines der winzigen Gebirgstäler. Einzelne Menschen oder Walven vermochten sie zu nutzen, vielleicht sogar eine kleine Truppe, aber keine Armee von Bedeutung konnte sie überqueren. Im Norkamgebirge existierte nur eine einzige Stelle, an der das möglich war. Der Pass von Norkam, der von der gleichnamigen Festung und ihrer Besatzung bewacht wurde.

Norkam-Reet war eine der typischen Grenzfestungen des Imperiums. Letzter Außenposten menschlicher Zivilisation und erstes Bollwerk zu ihrem Schutz. Gebaut aus dem Material, dass in ihrem Umfeld so reichlich vorhanden war, ragte das Reet aus grauem Felsgestein auf. Die Quadern waren aufwendig bearbeitet, sodass die Festungsmauer fast fugenlos aufragte. In acht Metern Höhe, noch ein Stück unterhalb der Wallkrone, waren stählerne Stützen und Streben in das Mauerwerk eingelassen. Eine Verteidigungseinrichtung, deren Konstruktion es der Festungsbesatzung ermöglichte, das Anstellen von Sturmleitern zu verhindern oder sie, wenn man die Streben bewegte, umzustürzen. Die Zinnen auf dem Wall ragten hoch auf und waren breit, die Schießscharten schmal und konisch geformt, um den Verteidigern ein Maximum an Schutz und Schusswinkel zu gewähren.

Fünf Männer konnten bequem hintereinander auf der Mauerkrone stehen und dort kämpfen. Die Mauer bestand aus drei Lagen. Vorderseite und Rückseite aus Felsquadern, dazwischen eine Füllung aus Sand. Die Erfahrung hatte die Festungsbauer des Imperiums gelehrt, dass dies den Aufprallschock eines Geschosses dämpfte und die Mauer dadurch besser standhielt.

Die freie Fläche des Innenraums von Norkam-Reet war verhältnismäßig klein, denn sie wurde zum größten Teil durch das quadratische Gebäude des Festungsturms eingenommen. In der Form ähnelte er einer Scheibe mit einer gewaltigen Kerze in der Mitte. Im unteren Segment waren die Unterkünfte und Ställe untergebracht, Vorräte und Brunnen in dem mächtigen Aufbau des Turms. Schießscharten zogen sich um das Rund und oben, auf der Plattform, war ein Signalfeuer vorbereitet, um im Falle eines Angriffes die Provinz zu warnen.

Ein steter Wind wehte aus Nordost, mal stärker, mal schwächer und hatte dafür gesorgt, dass diese Seite von Norkam-Reet mit Moosen bewachsen war. Die Besatzung mochte diesen Wind und fürchtete ihn zugleich. Im Sommer brachte er Linderung und im Winter eisige Kälte. Doch vor allem warnte er die Besatzung vor drohender Gefahr, denn wenn der Luftstrom den scharfen Geruch der Walven zu ihnen trug, waren die Bestien noch weit genug entfernt, um sich auf die Verteidigung vorbereiten zu können.

Norkam-Reet sperrte den gleichnamigen Pass, und von der Anlage aus hatte man einen guten Überblick auf einen Teil des Weges und die Provinz Endan.

Die Besatzung der Festung war relativ klein und bestand lediglich aus fünf Schwadronen. Vier gehörten zu den Fußtruppen des Imperiums. Sie waren mit Schwertern, Lanzen und Armbrüsten bewaffnet. Die letzte Schwadron bestand aus Lanzenreitern. Reiter des berühmten siebenten Regiments, welches sich einst unter dem Imperator einen Namen gemacht, und seitdem seinen Ruhm noch gemehrt hatte. Die 7ten Lanzer gehörten zu den wenigen Einheiten, die noch mit Einhörnern beritten waren. Zwar keine wild aufgewachsenen Tiere, sondern solche aus der Zucht des Kaisers, aber sie hatten einige von den mentalen Fähigkeiten ihrer wilden Vorfahren geerbt und einen guten Teil deren Temperaments.

Einst hatte es große Herden der Einhörner gegeben, die in Körperbau und Größe den Pferden glichen. Die Einhörner waren von reinem Weiß oder hellstem Grau und trugen an der Knochenplatte ihrer Stirn ein knapp ein Meter langes, gedrehtes Horn, welches sie, wie eine Lanze, im Kampf einsetzten. Sie ließen sich weder leicht einfangen, noch bereitwillig zähmen. Wer eines von ihnen reiten wollte, musste eine enge mentale Bindung mit ihm akzeptieren. Ein wesentlicher Teil der Ausbildung eines Lanzenreiters bestand darin, diese Beziehung mit seinem vierbeinigen Gefährten zu entwickeln. Es gelang nicht immer und der Lanzer, welcher scheiterte, musste mit einem gewöhnlichen Pferd vorlieb nehmen und einem jener Regimenter beitreten, die keine Einhörner ritten.

In den vergangenen Jahrhunderten hatte die Anzahl der freien Einhörner stetig abgenommen. Es gab nur noch kleine Gruppen von ihnen. Vielleicht paarten die edlen Tiere sich aus diesem Grunde auch mit den Stuten normaler Pferde, obwohl es nie gelang, eine gemischte Schwadron mit beiden Reittieren zu bilden.

Die 7ten Lanzer waren ein Eliteregiment und ritten ausschließlich von Einhörnern abstammende Tiere. Der enge Verbund von Reiter und Einhorn machte die Truppe besonders schlagkräftig, aber in anderer Hinsicht verwundbar. Der Tod eines der beiden Kampfgefährten führte unweigerlich dazu, dass der Überlebende keinen neuen Gefährten akzeptierte. Die Stärke der Schwadronen der 7ten Lanzenreiter schwankte daher weit mehr, als in den anderen Truppen des Kaisers.

Im Innenhof von Norkam-Reet rief ein Signalhorn die Männer und Frauen einer Streife zusammen. Ihre Einhörner waren gesattelt, Gurtzeug und Ausrüstung überprüft. Die Lanzer vergewisserten sich, dass die Hufschuhe fest saßen. Die leicht gezahnten Metallsohlen der ledernen Konstruktionen sollten die empfindlichen Hufe der Einhörner schützen. Hier im Gebirge drohte zu schnell Verletzungsgefahr, durch spitze Steine und scharfkantiges Geröll. Als die Streifenführerin, in Begleitung eines stämmigen und eines hageren Mannes, aus dem Festungsturm trat, war die Gruppe bereit.

Svenem Jolas hatte das mittelbraune Haar seines Bruders Densen, aber er hatte eine kräftigere Figur, und die tiefen Linien um seinen Mund und die Augen verrieten, dass seine besten Jahre hinter ihm lagen. Er begann einst als einfacher Lanzenreiter und war bis zum Regimentskommandeur aufgestiegen. Als Senior-Hauptmann befehligte er alle zwanzig Schwadronen des 7ten Regiments. An diesem Tag würde er die Unterführerin Sonia Malten bei deren Patrouillenritt begleiten. Er trug die einfache Uniform eines Lanzenreiters, mit grauer Hose und blauem Wams, verzichtete allerdings auf den üblichen Helm und die Lanze, sondern begnügte sich mit seinem Schwert. Jolas wollte ursprünglich die übliche Kampfuniform anlegen, mit vollem Harnisch und Helm, aber die Streifenführerin hatte ihn davon abgehalten. „Nimm den dicken Lederpanzer, den wir bei den Waffenübungen benutzen, Senior-Hauptmann. Glaube mir, das ist in den Bergen praktischer.“

Sonia Malten war aus dem Raum geeilt, bevor Svenem etwas erwidern konnte und als er nun die anderen Mitglieder der kleinen Truppe sah, trugen diese ebenfalls nur einfache Übungsmonturen. Sie bestanden aus dickem Leder und sollten die Stöße und Hiebe dämpfen, welche eine unvermeidliche Folge der Waffenübungen waren. Die Ledermonturen waren bequemer und ließen sich leichter ausbessern, als die stählernen Kampfrüstungen.

Svenem war nicht sonderlich überrascht, als auch die Einhörner der Gruppe keinen Vollschutz trugen. Im Kampfeinsatz erhielten die kostbaren Tiere normalerweise Kopfschutz und Brustpanzer, aber die Reittiere der Streife hatten nur den stählernen Schutz für die langen Hörner angeschnallt bekommen. Der silbrige Glanz des Stahls verschwand unter einer stumpfen Farbschicht, was Svenem durchaus einleuchtete. Offensichtlich bevorzugte Sonia Malten es, dass ihre Gruppe sich möglichst leise und ohne verräterische Reflexe bewegen konnte.

Der hagere Mann an seiner Seite trug die lederne Bekleidung eines Jägers. Es gab nicht viele Menschen, die es wagten, in den Bergen und so nahe der Walven zu jagen. Man musste ausgesprochen mutig und geschickt sein, um zu überleben und dabei die kostbaren Felle der seltenen Steinspringer zu erbeuten. Doch wer es schaffte, konnte mit einem guten Verdienst rechnen, denn die schillernden Pelze waren begehrt.

Wenn Sonia Malten durch die Anwesenheit ihres Kommandeurs verunsichert wurde, so zeigte sie es nicht. Ihr Blick war ebenso fest wie ihre Stimme, als sie die zwölf Männer und Frauen des Trupps ins Stillgestanden befahl. Sonia Malten mochte Anfang der Zwanzig sein und trug ihr blondes Haar kurz geschnitten, wie es in den Kampftruppen des Imperiums üblich war. Sie besaß ein hübsches, mädchenhaft wirkendes Gesicht, in dem zwei große grau-blaue Augen dominierten. Je nach Stimmung erschienen diese Augen in reinem Blau oder Grau und Svenem Jolas hatte noch nicht herausgefunden, bei welcher Stimmung welche Farbe zutraf. Obwohl Sonia gerne lächelte, schien dies nicht für ihre Augen zu gelten.

„Wir haben Befehl, den Pass auf zehn Kilometer zu bestreifen“, schallte Sonia Maltens Stimme über den Innenhof. Sie stand, wie die anderen Reiter, rechts an ihrem Einhorn, das Lenkholz in der linken Hand, die rechte an der Schusslanze. „Der Jäger Tellen hat Spuren von Walven entdeckt und wir sollen feststellen, ob es sich um einen kleinen Erkundungstrupp handelt oder ob die Bestien etwas Größeres planen. Ihr kennt das Gelände. Die ersten sechs Kilometer können wir auf den Einhörnern reiten, danach wird der Pass schwierig und wir müssen sie führen. Senior-Hauptmann Jolas wird uns heute begleiten, um sich ein Bild von der Lage an der Grenze zu machen. Also, benehmt euch ein wenig und tut so, als wärt ihr gute Lanzer.“

Die Männer und Frauen lachten gut gelaunt. Sonia blickte Svenem kurz an. „Willst du ein paar Worte an die Streife richten, Kommandeur Jolas?“

Svenem nickte und sah die Gruppe an. „Ich war eine Weile nicht an der Grenze, Lanzer. Es kann also sein, dass ich Fehler mache. Scheut euch nicht, es mir zu sagen. Das Wohl der Streife steht über meinen Befindlichkeiten.“

Damit hatte der Regimentskommandeur klargestellt, dass Sonia Malten die Streife führte und er lediglich ein zusätzlicher Begleiter war.

„Lanzen, aufgesessen!“, befahl Sonia und die Streife saß auf. Die Einhörner waren ein wenig unruhig und die junge Frau spürte die Erregung ihres Reittieres Ragos. Der grau-weiße Einhornhengst schnaubte leise, als er ihr Gewicht im Sattel spürte und Sonia sich ein wenig vorbeugte, um ihm sanft über den Hornansatz zu streichen. „Ich weiß, Ragos, du bist auch froh, endlich den engen Mauern zu entkommen.“

Tellen, der Jäger, blieb als Einziger zu Fuß. Reittiere waren im Gebirge eher hinderlich, als nützlich und der hagere Mann war es gewohnt, sich schnell und sicher zu bewegen. Als die Streife anritt, sah er Sonia kurz an und lief den Lanzern voraus. Er tat es mit dem langen, ausholenden Trab, der typisch für Jäger war. Er schonte ihre Kräfte und erlaubte ihnen, erstaunliche Strecken zu bewältigen.

Svenem Jolas lenkte sein Einhorn neben das der Streifenführerin. Während die anderen Reiter ihre Tiere mit den Schenkeln lenkten, musste er das Lenkholz benutzen, indem er es sanft an die eine oder andere Seite des Einhorns legte. Er bemerkte Sonias Blick und zuckte verlegen die Achseln. „Nicht mein eigener Hengst. Prius hat sich einen verdammten Stachel in den Huf getreten und ich musste mir dieses Einhorn ausleihen.“

„Hm.“ Sonia lächelte. „Man merkt dennoch, dass sie ein echter Lanzer sind, Kommandeur. Ich kenne die Stute, die Sie reiten und sie akzeptiert Sie immerhin als neuen Reiter.“

Es war nicht selbstverständlich, dass Einhörner einen anderen Reiter akzeptierten. Im Gegenteil, es verriet großes Einfühlungsvermögen Svenems, dass die grau-schwarze Stute seinen Berührungen folgte.

Hinter ihnen flüsterten die Angehörigen der Streife miteinander und es war offensichtlich, dass sie ebenso froh wie ihre Einhörner waren, der engen Festung, wenn auch nur vorübergehend, entronnen zu sein. Da Sonia nichts dagegen unternahm, akzeptierte Svenem die Unterhaltung der Lanzer. Er vertraute darauf, dass sie sich auf die Umgebung konzentrieren würden, wenn es erste Anzeichen einer Gefahr gab. Aber das war nicht der Fall. Die Einhörner blieben ruhig und der Wind trug auch keine verdächtigen Gerüche heran.

„Ragos vermisst die weiten Ebenen der Provinzen“, sagte Sonia leise und tätschelte die Flanke ihres Hengstes. „Er fühlt sich im steinigen Gebirge nicht wohl.“

„Das kann ich gut verstehen.“ Svenem musterte die aufragenden Felswände. Noch befand sich die Streife in dem kleinen Tal, welches sich zwischen der Festung von Norkam-Reet und dem eigentlichen Pass erstreckte. Schon bald würden die Felsen enger aneinander rücken und die Bewegungsfreiheit einschränken. „Es ist ein unvergleichliches Gefühl, im vollen Galopp, auf dem Rücken eines Einhorns zu reiten. Man spürt die Freude, die das Tier dabei empfindet. Sie überträgt sich auf den Reiter.“

Das Tal begann, nun enger zu werden. Einer der kristallklaren Gebirgsbäche verlief in seiner Mitte, floss ein Stück in Richtung auf Norkam-Reet, um kurz vor der Grenzfestung im Boden zu versickern. Ein gutes Stück unterhalb, fast schon in der Ebene von Endan, brach er erneut aus dem Fels hervor und mündete in den kleinen Fluss Anjai.

Tellen lief in seinem eigentümlichen Schritt am Bachlauf entlang, musterte den weichen Grund, der das Wasser säumte. Feiner, ausgewaschener Kies und Sand, welche die Spuren zeigten, die durstige Benutzer des Baches hinterließen. „Ein paar Felsspringer“, brummte der Jäger und dachte wohl daran, was ihm die Pelze der kleinen Tiere einbringen könnten, „und dies hier ist die Spur von einem Groller. Selten, dass sie so weit herunterkommen.“

„Spuren von Walven?“ Svenem beugte sich im Sattel vor und sah, wie der Jäger den Kopf schüttelte.

„So dumm sind die nicht, deutliche Spuren zu hinterlassen.“ Tellen kratzte sich ausgiebig. „Es sei denn, es handelt sich um einen großen Kriegstrupp. Die Spuren, die ich vor einigen Tagen fand, stammten von zwei der Bestien.“

„Kundschafter“, vermutete Sonia. „Sie streifen immer wieder um das Reet herum, um festzustellen, ob wir Schwächen zeigen.“

Svenem stieß ein leises Seufzen aus. „Mag sein, dass das bald der Fall ist.“

Die blonde Unterführerin sah ihn forschend an. „Was meinst du, Senior-Hauptmann?“

„Es heißt, der Senat will die Truppen reduzieren.“ Svenem Jolas zuckte die Schultern. „Ich weiß auch nichts Genaues, Unterführerin. Aber wenn es dazu kommt, wird das die Grenzen schwächen.“

Sonia lachte spöttisch auf. „Das würde den Walven nicht lange verborgen bleiben.“

„Natürlich nicht.“ Svenem registrierte, dass die Unterhaltungen der anderen Lanzen verstummt waren. Offensichtlich bemühten sie sich, dem Wortwechsel zwischen ihm und Sonia zu folgen. Er sah die junge Frau lächelnd an. „Du trägst zwei Namen, Sonia Malten, also stammst du aus einem vornehmen Haus. Normalerweise treten Angehörige der hohen Familien sofort als Offiziere in die Truppe ein.“

Sonias Gesicht wurde für einen Augenblick abweisend. Sie fasste die Worte des Kommandeurs als Kritik auf. „Ich habe als einfache Lanzenreiterin begonnen, Senior-Hauptmann.“

„Dann hattest du einen raschen Aufstieg, Sonia.“ Er lächelte entschuldigend. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Aber da du aus vornehmer Familie stammst, ist es ungewöhnlich, dass du als einfache…“

„Meine Familie ist tot.“ Ihre Stimme klang kalt und abweisend.

Svenem räusperte sich. „Tut mir leid, das zu hören.“

In der Stimme der jungen Frau schwang ein Ton von Hass mit. „Es waren Walven, Senior-Hauptmann. Meine Familie hatte ein Weingut in der Provinz Jonran. Sie starb, als die Festung Dergon-Reet fiel und die Walven in die Provinz eindrangen.“

„Das ist nun sieben Jahre her“, brummte Svenem. „Ich kann mich noch gut daran erinnern. Die 7ten Lanzen gehörten zu den Entsatztruppen. Wir haben die Bestien in harten Gefechten zurückgedrängt.“

„Zu spät für meine Familie“, sagte Sonia bitter. „Aber das war nicht deine Schuld, Kommandeur.“

„Danach gingst du zum Regiment?“

„Ja, danach ging ich zum Regiment.“ Ihre Augen blickten hart und schimmerten in kaltem Grau. „Meine Möglichkeit, Walven zu töten.“

„Rache ist ein schlechter Ratgeber für einen Soldaten, Sonia Malten.“

Die blonde Reiterin lachte auf. „Weil Rache blind macht, Kommandeur? Mich spornt sie an.“ Sie wies hinter sich, zu den anderen Mitgliedern der Streife. „Und meine Lanzen auch. Alle haben Angehörige durch die Bestien verloren.“

„Viele Menschen des Imperiums kennen das.“ Svenem Jolas seufzte leise. „Der Kampf gegen die Bestien dauert schon Jahrhunderte, und ich fürchte, ein Ende ist nicht abzusehen. Immerhin“, er lächelte die Unterführerin an, „wir haben ihnen vor sieben Jahren eine schwere Niederlage beigebracht und vor drei Jahren ebenfalls. Seitdem halten sie Ruhe.“

„Mehr oder weniger“, räumte Sonia ein.

Svenem zuckte zusammen, als er ein leises Poltern hörte. Als er den Blick in die Richtung wandte, sah er eine kleine Steinlawine, die in das Tal hinabstürzte.

Der Jäger Tellen winkte ab. „Erosion oder ein Tier. Das kam von ganz oben. So weit hinauf schafft es niemand, auch keine Bestie.“

Sie näherten sich dem Ende des kleinen Tals. Der Weg wurde schmaler und die Felswände schienen aufeinander zuzuwachsen. Jene Seite, an welcher der Wind stetig entlang strich, war mit Moosen bewachsen. Einige wenige Dornensträucher wuchsen hier. Irgendwann hatte der Wind ihre Samen zu den Felsspalten getrieben, und die genügsamen Pflanzen hatten dort Halt gefunden und genug Nährstoffe, um zu überleben.

Ragos schnaubte leise. Ein seltsamer Schimmer schien über sein Stirnhorn zu gleiten. Er war in dem Blickschlitz des metallenen Hornpanzers gut zu erkennen. Sonia Malten strich sanft über den Ansatz des Horns. „Ruhig, Ragos, ruhig. Ich spüre es auch.“ Sie wandte sich im Sattel um. „Ragos spürt etwas. Haltet Augen und Ohren offen und die Münder geschlossen. Streife, absitzen! Wir führen die Hörner.“ Sie sah Svenem an. „Der Weg wird zu schlecht, um noch zu reiten. Geh ein Stück nach hinten, Senior-Hauptmann.“

Die Männer und Frauen saßen ab. Die linke Hand am Sattel ihrer Einhörner, hielten die rechten Hände die Schusslanzen bereit. Ein leises Klicken ertönte aus der Gruppe, als die Waffen feuerbereit gemacht wurden.

Svenem Jolas leckte sich über die Lippen. Auch er hatte sich aus dem Sattel gleiten lassen. „Ich kann nichts riechen, Unterführerin, und die anderen ebenfalls nicht. Auch die Einhörner sind ruhig.“

„Ragos spürt etwas, Senior-Hauptmann, und ich spüre es auch.“ Sonia sah ihren Vorgesetzten an. „Geh nach hinten, Kommandeur Jolas, das ist ein Befehl.“

Sie führte die Streife. Es spielte keine Rolle, welchen Rang Svenem ihr gegenüber innehatte. Bei diesem Ritt musste er sich ihrer Entscheidung fügen, so verlangte es die Disziplin der Lanzenreiter.

„Es gefällt mir nicht, mich hinter anderen zu verstecken“, brummte er missmutig.

„Und mir würde es nicht gefallen, wenn der Kommandeur der 7ten Lanzer ausgerechnet bei meiner Streife im Felde bleibt“, erwiderte die junge Frau lakonisch. „Und jetzt befolge meinen Befehl.“

Tellen, der Jäger, war ein Stück in den schmaler gewordenen Pass vorgedrungen. Er verharrte mitten auf dem Weg. Leicht gebückt und witternd, wie ein Raubtier. Auch er schien Gefahr zu spüren, obwohl nichts darauf hindeutete, außer dem Verhalten des Einhornhengstes Ragos.

Sonia Malten vertraute den Fähigkeiten ihres Reittieres und die übrigen Angehörigen der Gruppe taten dies ebenfalls. Jolas kannte das Gespür kampferprobter Soldaten und er fragte sich, warum seine Instinkte nicht reagierten. Vielleicht war er der Grenze schon zu lange ferngeblieben.

Der Regimentskommandeur bemerkte, wie zwei der Lanzenreiter ihn zwischen sich nahmen, um ihn zu decken. Die Männer hielten die zwei Meter langen Lanzen scheinbar lässig in den linken Armbeugen, aber Svenem konnte erkennen, dass ihre Finger neben den Auslösern lagen. Einen einzelnen Bolzenschuss konnte man mit den Lanzen abfeuern, danach wurden die Waffen zum Stoß, mit blanker Klinge, eingesetzt. Vor jedem Schuss musste eine kleine Kurbel am Lanzenende eingesteckt werden, mit der die Spiralfeder im Inneren gespannt wurde, bis sie im Auslöser einhakte. Dann legte man den stählernen Bolzen in die Führung und schloss sie. Der Vorgang nahm einige Zeit in Anspruch, und im Kampf blieb selten die Zeit, die Schusslanzen nachzuladen. Immerhin hatte der einzelne Bolzenschuss eine verheerende Wirkung, wenn er sein Ziel traf. Das stählerne Geschoss traf über fast hundert Meter genau und durchschlug dabei auch schwere Rüstungen und Schilde. Die Spitzen der Bolzen waren eingekerbt, wodurch sie furchtbare Wunden rissen.

„Ich rieche noch immer nichts“, murmelte Svenem. „Und Tellen wohl auch nicht.“

„Aber auch er spürt, dass etwas nicht stimmt“, sagte einer der Lanzer leise. Er wies zu dem Jäger, der noch immer unbewegt kauerte und inzwischen einen Pfeil auf die Sehne seines Jagdbogens gelegt hatte. „Die Bestien sind nicht dumm, Senior-Hauptmann. Die wissen genau, dass wir sie riechen können. Manchmal reiben sie sich mit einem Pflanzensekret ein, das überdeckt ihren typischen Gestank.“

„Ruhe“, zischte Sonia Malten.

„Mein Einhorn wird jetzt auch unruhig“, flüsterte eine schlanke Frau. „Die Bestien müssen da sein und sie kommen näher.“

Svenem spürte den Wind, der aus dem Pass heran strich, aber er konnte den typischen, stechenden Geruch der Walven nicht wahrnehmen. Man wusste nicht, ob diese Körperausdünstung eine Eigenheit der Bestien war oder mit ihrer Ernährung zusammenhing. Aber der Geruch war unverwechselbar.

„Vier halten den Grund, je drei nach rechts und links“, befahl Sonia leise. „Die Einhörner hinter die Linie. Hier ist es zu eng, als dass sie in den Kampf eingreifen könnten. Hogen und Talis, vierzig Schritte zurück. Ihr seid die Reserve. Und gebt mir auf den Kommandeur Acht.“

„Ich kann selbst auf mich aufpassen“, knurrte Svenem verdrießlich. Mit sanftem Schaben glitt seine zweischneidige Klinge aus der Scheide. Der Handschutz zeigte das geflügelte Einhorn, das Symbol des Imperiums. Der Kaiser schenkte es dem Kommandeur des 7ten Regiments, nachdem dieser ihm in einer Schlacht das Leben gerettet hatte.

Sonia strich sanft über Ragos Hornansatz. „Ich verlasse mich auf dich, Ragos.“

Der Einhornhengst schnaubte leise und trabte dann mit den anderen Reittieren nach hinten, gefolgt von den Lanzenreitern Talis und Hogen sowie dem missmutigen Svenem.

Tellen schien nun auf etwas aufmerksam geworden zu sein. Noch immer geduckt, begann er behutsam, Schritt für Schritt, aus dem engen Pass zurückzuweichen. Die Lanzer verteilten sich in Gefechtslinie quer über den Pass. Die vier in der Mitte waren nahezu ungeschützt und knieten mit schussbereiten Lanzen am Boden. Die anderen fanden Deckung hinter Felsen. Die Lanzer Hogen und Talis hatten die Einhörner ein Stück nach hinten geführt, zusammen mit Svenem, der erregt den Griff seines Schwertes umklammerte. Er sah die vier ungeschützten Männer in der Mitte des Passes und hätte der Unterführerin am liebsten zugerufen, sie in Deckung zu befehlen. Es war ein Fehler, vier Kämpfer so offen zu positionieren, und der Regimentskommandeur hatte sich gerade entschlossen, einzugreifen, als es geschah.

Tellen machte eine rasche Bewegung, schien sich aufrichten und zu der Streife hasten zu wollen, als er plötzlich die Augen weit aufriss und dann lautlos vornüber stürzte. Zwischen seinen Schultern ragte der Schaft einer Wurflanze empor. Noch während die Beine des Jägers ein letztes Mal zuckten, war das Poltern von Steinen zu hören und der enge Pass schien sich übergangslos mit Walven zu füllen.