Die Eifelhexe - Katja Kleiber - E-Book

Die Eifelhexe E-Book

Katja Kleiber

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Beschreibung

Hexenjagd in der Eifelorg Nach einem Burn-out zieht sich Unternehmensberaterin Ella Dorn in die Eifel zurück und sucht Ruhe in der Meditation. Doch die findet ein jähes Ende, als ein Politiker aus Adenau vergiftet wird: Plötzlich steht Ella unter Verdacht, denn an seinem letzten Lebensabend hat sie einen heiklen Auftrag für das Opfer ausgeführt. Einen Auftrag, über den sie auf keinen Fall sprechen will, weil er ihr den Ruf einer Hexe einbringen könnte ...

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Katja Kleiber ist das Pseudonym einer freien Journalistin und Kriminalschriftstellerin aus Frankfurt am Main. Sie ist Mitglied im Syndikat und bei den Mörderischen Schwestern.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2018 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Screeny/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-316-5

Eifel Krimi

Originalausgabe

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Finde heraus, wo deine stärksten Wurzeln liegen,und verlange nicht nach anderen Welten.

Henry David Thoreau

Prolog

Er richtete sich auf. Behutsam stellte er die schwere Axt mit dem Kopf nach unten neben den Hackklotz und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß aus der Stirn. Mitten beim Holzhacken hatte ihn die Erkenntnis durchzuckt: »Ich bin der Hüter der Erde.«

Sein Blick schweifte über die grünen Hügel. Wald, so weit er schauen konnte. Noch waren die Bäume grün, doch der Dunst in den Tälern verriet, dass der Sommer bereits vorbei war. Es schien ihm, als könne er den Herbst in der morgenkühlen Luft riechen.

Er wandte sich wieder dem Hauklotz zu, wuchtete einen neuen Block vom Hänger, richtete ihn aus und ließ die Axt niedersausen. Bald hatte er seinen Rhythmus wiedergefunden. »Hü-ter der Er-de«, wiederholte er für sich und spaltete das Holz. »Hü-ter der Er-de.« Das Holz war trocken, er selbst hatte es aus dem Wald geholt und gelagert. Mit hellem Klang sprang es willig in Scheite.

Die Arbeit war schwer, doch er war sie gewohnt, von Kindesbeinen an. Als Junge hatte er im Paradies gelebt, bis böse Mächte ihn daraus vertrieben hatten. Das würde er nie wieder zulassen. Was ich mit meiner Hände Arbeit geschaffen habe, wird Mein bleiben, dachte er. Sollten sich doch die anderen selbst anstrengen, um den Boden fruchtbar zu machen. Aber nein, sie wollten den Lohn fremder Arbeit einfahren.

Wut stieg in ihm hoch. Er drosch heftig auf den Holzklotz ein. Die scharfe Schneide der Axt rutschte ab, das Scheit fiel um. Er griff das Holz aus dem Gras, stellte es aufrecht auf den Hackklotz. Mit der linken Hand hielt er das Scheit, mit der rechten hieb er die Axt hinein. Er war nicht aufmerksam. Die Schneide der Axt streifte seinen Finger.

Er steckte ihn in den Mund, tanzte von einem Bein aufs andere, als könne das den Schmerz lindern. Er saugte das Blut ein und spuckte es aus. Dann betrachtete er seine Hand. Er hatte Glück gehabt: Der Finger war nur leicht geritzt. Trotzdem quoll sofort wieder ein kräftiger Schwall Blut hervor und tropfte auf den Boden.

Blut düngt die Erde, dachte er.

Unter Verdacht

Ellas Hände waren voller klebrigem Teig. Die Seite mit dem Rezept hatte sich verschlagen. Hätte sie doch das offene Buch irgendwie beschwert. Sie versuchte, eine Seite des Backbuchs mit der Nase umzublättern, und reckte sich vor, wodurch ihr Pullover in das Mehl auf der Arbeitsfläche hing.

Es klingelte an der Tür.

Sie bemühte sich, den hartnäckig klebenden Teig von ihren Fingern zu streifen, verteilte ihn aber nur umso mehr.

»Komme gleich!«, rief sie.

Wer war das? Für den Postboten war es noch zu früh. Sie linste aus dem Fenster, konnte jedoch die Zufahrt zum Haus von der Küche aus nicht überblicken. Kurzerhand streifte sie ihre Hände am Geschirrtuch ab, mit dem Erfolg, dass es komplett mit Teig verklebte und Teigreste auf ihrem bereits mit Mehl bestäubten Pullover landeten. Sie warf dem Kater, der auf seine Chance lauerte, etwas zu stibitzen, einen drohenden Blick zu, ging zum Eingang und öffnete.

Zwei Polizisten in Uniform standen vor der Tür. Ein junger, großer Mann mit Bauchansatz und eine blonde Frau mit Pferdeschwanz. Den Streifenwagen hatten sie mitten in der Einfahrt geparkt.

»Ja?«

Sie musste unbedingt einen Türspion einbauen oder einen Spiegel installieren. Ein Wachhund wäre auch gut, dachte sie nicht zum ersten Mal.

»Polizei Bad Neuenahr-Ahrweiler, Claes mein Name. Das ist Kollegin Marx.« Er nickte zu der Frau mit dem Pferdeschwanz hinüber, die Ella aufmerksam musterte.

Ella kam sich lächerlich vor. Sie wusste, dass sie mit Mehl eingestäubt war. Bestimmt standen auch ihre Haare zerstrubbelt in die Höhe, die ließen sich nie bändigen.

»Dürfen wir kurz reinkommen?« Die blonde Frau machte einen durchtrainierten, energiegeladenen Eindruck.

Was wollten die? Ella überlegte fieberhaft, ob sie falsch geparkt oder sonstige Vergehen begangen hatte, trat automatisch zur Seite und führte die Beamten in die Küche. Der gesamte Tisch und die Arbeitsplatte waren bemehlt. Der Kater hockte auf der Anrichte und leckte sich die Schnauze, wahrscheinlich hatte er doch genascht.

Der Polizist quetschte sich ungelenk in die Eckbank, die sie mitsamt dem Haus vom Vorbesitzer übernommen hatte. Dabei war er sichtlich bemüht, nicht mit dem Mehl in Berührung zu kommen.

Setzte man sich jetzt schon ungebeten einfach hin? Ella störte das. Die junge Polizistin bemerkte ihren Unwillen, zuckte entschuldigend mit den Schultern und quetschte sich neben den Mann, der ihr nur unwillig Platz machte.

Ella blieb stehen, lehnte sich an die Spüle und schob mit dem Handrücken eine widerspenstige Haarsträhne aus den Augen. Sicher hatte sie jetzt auch im Gesicht Mehlspuren.

Sie bot Kaffee an, aber zu ihrer Erleichterung winkten beide ab.

»Beim Brotbacken?« Claes nickte in Richtung der Mehlwüste.

Immerhin hatte er erkannt, dass es Brotteig war, kein Kuchen. Trotzdem hatte sie keine Lust auf Konversation.

»Was hab ich angestellt?«, fragte sie leichthin.

»Kennen Sie Wolfgang Leyendecker?«

»Klar.« Jeder kannte den Vorsitzenden der hiesigen Konservativen. Es war nicht gefährlich, das zuzugeben. »Wieso?«

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

Sie zögerte. »Vor zwei Wochen habe ich ihn in Adenau in der Fußgängerzone gesehen, vor dem Parteibüro.«

Der Polizist kniff die Augen zusammen. »Und gestern? Waren Sie gestern bei ihm zu Hause?«

Woher konnte er das wissen? Sie hatte ihr Auto in einer Seitenstraße stehen lassen. Wie verabredet war sie auf die Minute pünktlich gewesen, und Leyendecker hatte ihr sofort geöffnet, ohne dass sie klingeln musste.

»Was ist mit ihm?«

»Ich will wissen, ob Sie gestern bei ihm waren«, sagte Claes scharf.

»Gestern Abend war ich zu Hause«, sagte Ella. Das war nicht gelogen, sie war ja vor und nach ihrem Besuch bei Leyendecker zu Hause gewesen.

»Eine Nachbarin hat Sie gesehen.«

Neben Leyendecker wohnte die alte Else, fiel Ella ein. Sie hatte der Greisin neulich eine Creme gerührt für ihre papierartige, leicht schuppende Haut. Die alte Else hockte den lieben langen Tag hinter der Gardine und beobachtete die Straße. Dabei war sie extrem kurzsichtig, da war sich Ella sicher. »Ach wissen Sie, die Nachbarn … die glauben vieles zu sehen.«

»Sie waren also hier?«, hakte Claes nach.

»Ja.« Ella wollte es dabei belassen. Sie hatte Leyendecker einen Gefallen getan, aber das ging die Polizei nichts an.

Die junge Polizistin hatte sich nicht ins Gespräch eingemischt. Ella bemerkte, dass sie aufmerksam ihre Wohnung musterte. Wer sich nicht anmeldet, muss halt eine chaotische Küche angucken, dachte Ella trotzig. »Was ist denn mit Leyendecker?«

»Er ist tot.«

Ella sog scharf die Luft ein. Damit hatte sie nicht gerechnet. Fast hätte sie gesagt: »Gestern war er doch noch ganz lebendig«, aber den Satz verkniff sie sich gerade noch. Stattdessen sagte sie: »Hatte er einen Unfall?«

»Nee, Überdosis Digitalis.«

»Wie schrecklich!«

Ella dachte an den rotgesichtigen, schwer übergewichtigen Leyendecker, einer der lokalen Promis der nahen Kleinstadt Adenau. Digitalis kannte sie natürlich: das Gift des Roten Fingerhuts, enthalten in gängigen Herzmitteln, gleichzeitig eines der stärksten natürlichen Gifte.

»Herzprobleme hatte er ja schon lange, aber so was!« Leyendecker war ihr nicht unbedingt sympathisch gewesen, doch die plötzliche Nachricht von seinem Tod schockierte sie. Ihr Hirn rotierte. Sollte sie zugeben, dass sie bei Leyendecker gewesen war? Wie würde sie dann ihre Unaufrichtigkeit von vorhin erklären? Für die sie eigentlich keine Erklärung wusste? Das würde sie nur verdächtig machen.

Die junge Beamtin, die die ganze Zeit schweigend neben ihrem Kollegen gehockt hatte, sagte: »Sie leben noch nicht lang hier.«

Es klang mehr wie eine Feststellung als wie eine Frage, aber Ella war klar, dass es als Frage gemeint war. Sie war froh über den Themenwechsel.

»Bin vor zwei Jahren aus Frankfurt hergezogen.« Sie sagte es beiläufig, als sei es ein ganz normaler Schritt im Leben eines Menschen, aus der Metropole Frankfurt in ein gottverlassenes Kaff in der tiefsten Eifel zu ziehen. »Hier ist es ruhiger«, meinte sie dann doch eine Erklärung liefern zu müssen. Von ihrem Zusammenbruch und der langwierigen Reha musste die Polizei nichts wissen, das war ihr Privatleben.

»Ja, ruhig haben Sie es hier«, stimmte die Frau zu. »Keine Nachbarn, oder?«

Ella hatte bewusst nach einem Haus in Alleinlage gesucht. Sie vermutete, dass der Makler ihr dafür eine versteckte Extragebühr aufgebrummt hatte. Doch sie war glücklich, das alte Forsthaus im Wald hoch über Antweiler gefunden zu haben. Ihr nächster Nachbar saß nicht in Antweiler, sondern an der anderen Seite des Bergs auf dem Lentzenhof. Das war mehr als zwei Kilometer entfernt. Ihr fiel ein, dass sie Schorsch bitten wollte, ihr Holz für den Winter zu bringen.

»Keine Nachbarn«, bestätigte sie.

Die Polizistin erhob sich. »Das war’s eigentlich schon. Wir müssen einiges abklären wegen dem Tod von Herrn Leyendecker. Dann wollen wir mal wieder. Danke für Ihre Auskunft, Frau Dorn.«

Ella hatte angenommen, dass Claes der Vorgesetzte der Frau war, doch nun blies diese zum Aufbruch. Dem Mann schien das nicht zu gefallen, war Ellas Eindruck. Von ihm gingen Schwingungen des Unmuts aus, doch worauf bezogen sie sich?

Er quetschte sich ungeschickt hinter dem Tisch hervor. Ella begleitete die beiden zur Tür. Sie würde ganz unbedingt einen Spiegel neben dem Eingang anbringen, damit sie von der Küche aus sehen konnte, wer vor der Tür stand.

Der Polizist warf seine Visitenkarte auf den Tisch. »Wenn Sie uns noch was zu sagen haben.«

Ella starrte auf die Karte.

»Bis bald«, sagte er zum Abschied. Es klang wie eine Drohung.

Als die beiden weg waren, setzte sich Ella auf die Küchenbank. Wieso sie die Polizisten angelogen hatte, wusste sie selbst nicht so genau. Wenn die Polizei nach einem Todesfall ermittelte, dann musste es sich um Mord handeln. Sie schauderte.

Eifler Birnbrand

Diese blonde Kuh war ihm einfach vor die Nase gesetzt worden. Grimmig zog Peter Claes die Mutter am Hinterrad noch fester an.

»Scheiße!«, fluchte er laut. Er hatte überdreht, der Kopf der Mutter war abgesprungen, kullerte über den Betonboden der Garage und rollte unter die Werkbank. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

Peter schmiss den Schlüssel in die Werkzeugkiste.

»Nach fest kommt ab«, sagte sein Schrauberkumpel Wolle immer. Peter gestand sich ein, dass er nicht recht bei der Sache war. Traurig betrachtete er die alte Triumph. An einen Ausritt war jetzt nicht zu denken, er musste die Schraube ausbohren und ersetzen. Für die Sanierung der Maschine hatte er extra zölliges Werkzeug aus England bestellt. Jetzt hatte er sie fast so weit, dass sie bereit war für einen Ausritt. Doch das rückte nun in weite Ferne.

»Scheiße!«, machte er seinem Ärger noch einmal Luft. Dann verließ er die Garage und blieb im Vorgarten stehen.

Das Haus, das er von seiner Mutter geerbt hatte, war nicht groß, aber es genügte ihm. Auch der Vorgarten war klein, eher schon winzig. Dafür hatte er von hier eine grandiose Aussicht auf grüne Hügelketten. Peter fielen einzelne gelbe Tupfer in dem Grün auf. Wurde es schon Herbst? Der August war extrem heiß gewesen, die lähmende Hitze hatte das Leben erstickt. Peter war froh, dass die Temperaturen gesunken waren. Eigentlich perfektes Wetter, um mit der Triumph ein paar kurvige Landstraßen abzufahren.

Er hatte sich einige Spezialstrecken zusammengestellt. Nur zu gern hätte er gewusst, wie sich die Triumph in die Kurven legte. Er hatte vorher eine Harley besessen, aber dieses Schätzchen hatte ihn zu sehr gereizt. Die Harley hatte er gegen die Triumph getauscht. Bestimmt war sie sportlicher als der Chopper, auch wenn sie ihre Jährchen auf dem Buckel hatte. Doch an eine Probefahrt war jetzt erst mal nicht zu denken. Die Tussi aus Trier war schuld. Was bildete die sich ein, ihm reinzupfuschen. Na gut, rein formell war die Kriminaldirektion in Trier für Kapitalverbrechen zuständig, aber den Tod des alten Leyendecker konnte er doch wohl noch allein aufklären.

Der hatte den Abgang gemacht, weil er zu viel gesoffen und geraucht hatte, hatte er zunächst angenommen. Nur weil die Ehefrau den Staatsanwalt wild gemacht hatte, war es zur Obduktion gekommen. Weil sie irgendwann mal Arzthelferin gewesen war, glaubte sie zu wissen, dass Erbrechen untypisch sei für einen Herzinfarkt. Und erbrochen hatte sich Leyendecker gründlich.

Und nur weil die übereifrige Gerichtsmedizinerin angemerkt hatte, dass Digitalis sehr wohl darauf hinweise, dass vielleicht – »vielleicht« stand in dem Gutachten – eine Vergiftung durch Fremdeinwirkung nicht auszuschließen sei, waren die Überreste des Eifler Birnbrands – anscheinend die letzte Mahlzeit Leyendeckers – im Labor untersucht worden. Das fand dann Gift in dem Edelbrand.

Nur deshalb hatte er jetzt dieses junge Huhn aus Trier am Hals. Karrierefrau wie die anderen auch. Er sah sich schon Abend für Abend Überstunden schieben, um irgendwelche Berichte zu tippen, anstatt mit seinen Kumpeln einen zu heben.

Und die Kräuterhexe hatte ihn angelogen, das sagte ihm sein Polizisteninstinkt. Irgendwas war faul an ihrer Aussage gewesen, die hatte einfach nicht spontan geklungen. Natürlich war Leyendeckers Nachbarin, die alte Else, senil und kurzsichtig, trotzdem wusste sie immer, was im Dorf los war. Die Kräuterhexe hatte Leyendecker kurz vor seinem Tod besucht, warum auch immer.

Verärgert trat er gegen den Randstein eines Beetes, in dem die Fette Henne, die noch seine Mutter gepflanzt hatte, dunkelrote Blüten trieb. Am besten ging er jetzt gleich zu der Leyendecker und mangelte sie so richtig durch, bis sie zugab, ihren alten Sack von Ehemann umgebracht zu haben, dann konnte er die Akte schließen. Bei der ersten Vernehmung war sie so zugedröhnt gewesen durch die Beruhigungsmittel des Arztes, dass mit ihrer Aussage nichts anzufangen war. Die Witwe Leyendecker, ein fröhliches Kölner Mädchen, war gut und gern ein Jahrzehnt jünger als ihr Mann, der jetzt das Zeitliche gesegnet hatte. Sie erbte und war frei – Grund genug für einen Mord? Aber wieso hatte sie dann der Staatsanwältin eingeredet, dass eine Obduktion nötig sei? Um den Verdacht von sich abzulenken? Hier war klassische Polizeiarbeit nötig, und die hatte Peter von der Pike auf erlernt.

Er schwang sich in seinen betagten Golf Kombi und fuhr los. Bald stand er vor dem etwas außerhalb gelegenen großen Bauernhaus der Leyendeckers. Ein mächtiger Walnussbaum überragte den Hof. Das Gebäude zeigte, dass hier seit Generationen wohlhabende Bauern lebten. Es war größer als die meisten Eifelhäuser, schon im Grundriss großzügig angelegt, nicht angestückelt. An der rechten Seite wurde das Haupthaus von einer ehemaligen Scheune begrenzt, die jetzt als Garage diente. Peter registrierte erleichtert, dass durch das offene Scheunentor ein riesiger Geländewagen und ein kleiner roter Toyota zu sehen waren. Ein Männerauto und ein Frauenauto. Die Witwe war also offensichtlich zu Hause. In der Tat reagierte sie schon auf sein erstes Klingeln.

Die schlanke dunkelhaarige Frau wirkte frischer als bei der letzten Begegnung. Sie trug Schwarz, es stand ihr gut.

Maria Leyendecker bat ihn in ihre Wohnküche. Die Fenster waren klein wie in allen alten Bauernhäusern, so konnte im Winter die wertvolle Wärme nicht entweichen. Doch der Raum ging nach Süden raus, es war hell trotz der winzigen Fenster. Auf dem Fensterbrett standen Töpfe mit Kräutern. Minze, Schnittlauch, Petersilie, noch was Grünes, das er nicht erkannte. Maria Leyendecker hatte eine hochwertige Küche mit viel Holz, die gleichzeitig ländlich und modern wirkte. Peter fühlte sich auf Anhieb wohl.

»Tut mir leid, dass ich Sie am Samstag störe, aber Sie wissen ja, unsere Arbeit ruht nicht«, entschuldigte er sich lahm.

Die Witwe zuckte mit den Schultern. »Fragen Sie, bringen wir es hinter uns. Ich will wissen, was passiert ist. Nehmen Sie einen Cognac?«

Peter überlegte, ob er im Dienst war oder nicht. Eigentlich ja, aber andererseits war Samstag. Einen Kurzen konnte er wohl trinken. Er nickte.

Maria musste schon getrunken haben, denn die Flasche stand griffbereit auf einem Regal. Sie nahm zwei Gläser aus dem Schrank, schenkte ein und stellte eins vor Peter auf den Tisch.

»Sie haben Ihren Mann tot aufgefunden? Donnerstag vergangener Woche?«

»Er lag vor dem Sofa, drüben im Wohnzimmer.« Sie deutete zur Tür.

Er erinnerte sich nur zu gut an den Tatort. In dem Zimmer standen eine Riesencouch und ein Riesenfernseher mit Flachbildschirm. Die Wände waren fast flächendeckend mit Jagdtrophäen bestückt, was Peter mindestens so ekelerregend fand wie die Leiche in ihrem Erbrochenen.

Maria Leyendecker holte tief Luft. »Ich dachte, er hätte zu viel getrunken. Er trinkt doch nach dem Abendessen immer seinen Schnaps.«

»Den Birnbrand.«

»Genau, seit er den entdeckt hat, ist … also, war er total begeistert von dem Birnbrand. Der ist aus Rockeskyll. ›Was Besseres gibt es nicht‹, hat Wolfgang gesagt.«

»Den trank er jeden Abend? Wie ein Ritual?«

Sie nickte.

»Hat er ihn auch am Mittwochabend getrunken, sind Sie sicher?«

»Ich denke schon. Er hat eigentlich jeden Abend ein Gläschen davon genommen. Einen Kurzen halt.«

»Wer wusste davon? Außer Ihnen?«

»Also«, sie überlegte kurz. »Die vom Stammtisch, die Jäger, seine Kollegen, was weiß ich … er war so begeistert von diesem Eifler Birnbrand, dass er überall davon rumerzählt hat. ›Mein Schlummertrunk‹, nannte er das.«

»Wo hat er ihn denn gekauft? Vielleicht sind noch mehr Flaschen vergiftet, und es handelt sich um eine Erpressung eines Supermarkts oder so«, mutmaßte Peter.

Sie zuckte die Schultern. »Den hat er nicht selbst gekauft. Weiß nicht, wo der her ist. Den hat ihm der Walter vom Jagdverein geschenkt, zum Geburtstag.«

»Walter wer?«

»Der war’s aber bestimmt nicht. Die Männer im Jagdverein halten zusammen wie Pech und Schwefel. Der Walter heißt Marschollek mit Nachnamen. Mit Doppel-l, soweit ich weiß. Der wohnt drüben in Wirft.«

Normalerweise freute sich Peter, wenn er viel im Landkreis herumkam, er fuhr gern Auto. Jetzt plagte ihn die Vision, dass er mit Tanja Marx auf dem Beifahrersitz stundenlang über Landstraßen kutschieren müsste. Wahrscheinlich würde sie ihn dauernd ermahnen, nicht so schnell zu fahren. Ein Grund mehr, die Sache schnell aufzuklären.

»Gut, Sie fanden ihn also vor dem Sofa.«

»Ja, es war so furchtbar.« Ihre Stimme hob sich.

Peter hoffte, sie würde nicht anfangen zu weinen.

»Er atmete nicht mehr. Ich habe sofort den Notarzt gerufen, aber es war zu spät.«

»Um wie viel Uhr haben Sie ihn denn gefunden?«

»Es muss zwischen acht und neun Uhr abends gewesen sein.« Die Witwe zögerte. »Ich war beim Yoga, das fängt um sechs an. Um acht sind wir fertig, dann noch duschen, umziehen …«

»Wo gehen Sie denn zum Yoga?«

»Bin ich jetzt verdächtig, oder was?« Sie starrte ihn wütend an, dann entspannte sie sich wieder. »Ach, ist ja auch egal. Das Yoga ist hier in Adenau. Bei der Volkshochschule. Also eigentlich in der Halle vom Turnverein.«

Peter Claes berechnete im Kopf die Zeiten. Acht Uhr Kursende, dann mindestens zehn Minuten duschen, umziehen. Vor halb neun konnte Maria Leyendecker nicht zu Hause gewesen sein. Laut Ermittlungen der Gerichtsmedizin war Leyendeckers Tod um zwanzig Uhr plus/minus eine halbe Stunde eingetreten. Mit anderen Worten: Maria hatte kein Alibi für den Todeszeitpunkt. Was andererseits nichts aussagte, denn das Gift hätte ja schon Stunden oder Tage vorher in den Birnbrand gemischt worden sein können. Verflixter Giftmord!

»Immerhin erben Sie ja jetzt«, führte er an.

Sie ließ ein verächtliches »Pah« hören. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Das bringt mir meinen Mann nicht zurück.«

»Er hatte Herzbeschwerden?«

»Ja, er war ja nicht mehr der Jüngste.«

Mitte fünfzig, erinnerte sich Peter an das Protokoll. Eigentlich kein Alter. Aber bei dem Übergewicht … Er nahm einen kleinen Schluck Cognac. Das Zeug schmeckte richtig gut. Er schielte nach der Marke. Irgendwas Französisches. Müsste er auch mal kaufen.

»Der Arzt hat ihm Herzmittel verschrieben, er sagte, sonst sei der Herzinfarkt vorprogrammiert. Wolfgang hat mir immer erklärt, dass man diese Mittel genau nach Vorschrift einnehmen muss. Männer sind doch manchmal so wehleidig, Sie wissen schon, was ich meine.«

Sie blickte Peter an, um festzustellen, ob er sie verstand. Er dachte an seinen Vater, der bei der kleinsten Erkältung tagelang rumgejammert hatte, und nickte zustimmend.

»Sehen Sie, Wolfgang hatte wirklich Angst, einen Herzinfarkt zu kriegen. Als das mit den Herzrhythmusstörungen anfing, ging er sofort zum Arzt. Jedenfalls hat er dauernd über seine ›schwache Pumpe‹ geredet und mir immer wieder erklärt, wie man das Herzmittel einnimmt. Das Mittel verliert seine Wirkung nicht nach einem Tag, sondern nach zweieinhalb Tagen. Daher nimmt man nach der Anfangsdosis nur noch geringe Mengen.«

»Das hätten Sie doch auch gewusst, oder? Sie haben doch als Arzthelferin gearbeitet.«

Maria Leyendecker starrte Peter an, dann hoben sich ihre Schultern, und sie begann zu schluchzen. »Lasst mich doch alle in Ruhe«, verstand Peter.

Er war entsetzt darüber, was er angerichtet hatte. Was sollte er tun, um sie zu beruhigen?

Sie kreuzte ihre Unterarme auf dem Tisch, ließ ihren Kopf daraufsinken und schluchzte hemmungslos.

Peter legte ungelenk seinen Arm um ihre Schultern. Er murmelte irgendwas Beruhigendes. Schließlich hörte sie auf zu weinen. Sie stand auf, nahm ein Küchentuch und trocknete ihre Augen. Dann trank sie einen großen Schluck Cognac.

»Okay, es geht wieder«, schniefte sie. »Aber wirklich, Sie verdächtigen jetzt doch nicht mich?« Hilflos guckte sie ihn an.

»Wir müssen bestimmte Routinen befolgen. Ich will Sie auch nicht weiter stören. Nur noch die Frage: Wer könnte das Gift in den Schnaps gemischt haben, Ihrer Meinung nach?«

Maria Leyendecker zuckte mit den Schultern. Sie blickte gequält. »Wolfgang war sehr beliebt. Er war Mitglied im …«, sie zählte an den Fingern ab, »… im Parteivorstand, im Jagdverein, er war im Vorstand des Schützenvereins und ging jede Woche zu seinem Stammtisch. Ach ja, und im Karnevalsverein natürlich.«

Peter war ebenfalls Mitglied in einigen Vereinen, aber nicht in so wichtigen wie dem Jagdverein. Leyendecker hatte großen Einfluss ausgeübt.

»Aber irgendwer muss es gewesen sein. Er hat jeden Abend einen getrunken? Die Flasche war also nicht frisch geöffnet?«

»Soweit ich weiß, hat er die kurz nach dem Geburtstag aufgemacht, als er sie geschenkt bekam. Das war vor drei Wochen.«

Mist, damit fiel die Theorie mit der Erpressung eines Supermarkts oder des Herstellers schon mal flach. Das Gift musste erst kürzlich in den Birnbrand gemischt worden sein.

»Trank er jeden Abend davon?«

»Ja, sagte ich doch schon. Er zelebrierte das richtig.« Sie wirkte ungehalten. »Vielleicht war es ein Versehen?«

Peter antwortete nicht. Verständlich, dass sich die Witwe ein Versehen wünschte, aber das war es ganz sicher nicht. Das Gift musste absichtlich in die Flasche gefüllt worden sein. Jeder, der von dem Birnbrand, dem täglichen Schnaps und der Herzkrankheit wusste und zwischen Mittwoch und Donnerstagabend das Haus der Leyendeckers betreten hatte, konnte die Tat begangen haben. Ein paar Tropfen Herzmittel waren schnell in die Flasche gemischt. Die Zahl der Verdächtigen war unübersehbar groß. Andererseits, würde ein Mörder so gewissenlos sein, zu riskieren, dass jemand anders von dem Birnbrand trank? Oder war Leyendecker überhaupt nicht das Ziel des Giftanschlags gewesen? Fragen über Fragen.

»Keine Einbruchspuren«, hatte es im Bericht der Spurensicherung geheißen.

»Wer hat alles einen Schlüssel zu Ihrem Haus?«, fragte er.

»Wolfgang und ich. Aber wir schließen nicht immer ab. Hier wird nicht geklaut.«

Typisch Eifel. Wahrscheinlich konnte jeder vorn reinspazieren, während die Leyendeckers hinten im Garten waren und nichts bemerkten.

Peter strich sich über die Stirn. Verzwickte Sache. Er versuchte es erneut: »Wenn Ihr Mann regelmäßig abends von dem Schnaps getrunken hat und bisher nichts passiert ist, muss jemand erst kürzlich das Gift eingefüllt haben. Zwischen Mittwoch und Donnerstagabend. Wer könnte das gewesen sein? Ein Neider?«

»Also nee, das kann ich mir nicht vorstellen. Wer tut denn so was?« Maria Leyendecker zögerte, dann meinte sie: »Da ist dieser Typ, der hat uns mal die Reifen aufgestochen. Weil er gegen die Flurbereinigung ist, muss man sich mal vorstellen. Da kann der Wolfgang doch nichts dafür. Der ist doch nur für die Durchführung zuständig, der entscheidet doch gar nicht.« Ihre Stimme wanderte schon wieder bedrohlich in die Höhe.

»Wer war das?«, fragte Peter schnell.

»Der heißt Ben, er wohnt in der ehemaligen Kneipe in Müsch. In dem alten Gasthaus.«

»Ben Brauer? Der Krötenfan?« Peter Claes erinnerte sich an einen jungen Typen, der bei jeder Versammlung auftauchte und das große Wort führte, wenn es um Umweltfragen ging. Außerdem war bekannt, dass er in der Zeit der Krötenwanderung die Tiere einzeln über die Straße trug.

»Ja, genau der.« Die Witwe schüttete den Rest Cognac aus ihrem Glas runter.

»Noch eine allerletzte Frage: Was wollte Ella Dorn von Ihrem Mann?«

Die Witwe starrte ihn verständnislos an. »Ella, die Heilerin? Wieso?«

Ella, die Kräuterhexe, dachte Peter. »War sie hier am Donnerstagabend?«

»Nein, wieso? Wie kommen Sie darauf?«

Peter zuckte nur mit den Schultern. »Danke für Ihre Auskunft.« Er gab sich einen Ruck: »Und mein Beileid für Ihren Verlust. Halten Sie den Kopf hoch!« Warum war es nur so verflixt schwer, bei einem Trauerfall die richtigen Worte zu finden?

Maria Leyendecker nickte nur und brachte ihn zur Tür.

Peter war zufrieden mit sich. Immerhin hatte er einen Anhaltspunkt. Er würde Tanja Marx unter die Nase reiben, dass er am Samstag erfolgreich Überstunden gemacht hatte. Die er natürlich abfeiern würde, so bald wie möglich. Also wahrscheinlich erst, nachdem sie den Mord aufgeklärt hatten, dachte er resigniert.

Die alte Eiche

Die Sonne schien auf den Stamm der alten Eiche. Ella legte ihre Hand auf die gefurchte Rinde. Gib mir deine Stärke, Eiche, dachte sie. Darf ich mich setzen? Nach einer Weile spürte sie, wie Wellen von Kraft sie durchströmten. Sie nahm das als Antwort, hockte sich nieder und lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm.

Hier, am Rand des Waldes auf dem Gipfel des Arembergs, hatte sie ihren persönlichen Kraftort gefunden. Die Wünschelrute hatte ihr gezeigt, dass sich genau am Standort der Eiche zwei kräftige Erdstrahlen kreuzten. Vielleicht war der Baum deshalb so mächtig geworden.

Ella blickte eine Weile über die Wiesen vor ihr. Die Spitzen der langen Gräser waren gelb. Mehrere braune, kleine Schmetterlinge tummelten sich im Gras. Ella hielt sie für Heufalter, die genaue Art kannte sie nicht. Das ferne Geräusch eines Flugzeugs ließ sie aufblicken. Was in Frankfurt Alltag gewesen war, störte hier. Weit entfernt sah sie die Kondensstreifen des Fliegers. Dann fiel ihr Blick auf zwei Bussarde, die sich in der Thermik hochschraubten.

Ella spürte, wie die Anspannung langsam von ihr abfiel. Sie legte ihre Hände mit der Handfläche nach oben auf ihre Knie, formte mit Daumen und Mittelfinger einen Kreis und schloss die Augen.

Zusammenhanglose Gedanken trieben durch ihr Hirn. Die völlig verklebte Küche, die Polizisten auf ihrer Eckbank …

»Om Mani Padme Hum.« Ella hoffte, dass die uralte buddhistische Beschwörungsformel sie zur Ruhe kommen ließ. Sie wiederholte die Worte im Geiste, um andere Gedanken zu verdrängen. Sie war zwar keine Buddhistin, aber eine andere Formel kannte sie nicht. War sie überhaupt Christin? Eigentlich war ihr egal, welcher Religion sie angehörte. Heute bastelte sich eh jeder seine Religion zusammen, dachte sie trotzig. »Om Mani Padme Hum« – »Juwel im Lotus« sollte das angeblich bedeuten, so ganz klar schien das nicht zu sein. Ella gefiel jedenfalls der Klang der exotischen Silben.

Sie wurde ruhiger, ließ Gedanken wie Wolkenfetzen vorbeitreiben, ohne sie weiter zu verfolgen. Sie träumte mit offenen Augen vor sich hin, dachte an das Brot, das gestern noch perfekt und wohlriechend aus dem Ofen gekommen war.

Wieder versuchte sie, sich auf den Rhythmus ihres Atems zu konzentrieren. Auf einmal drängte sich das Klirren von Fechtwaffen in ihren Sinn, sie spürte Unruhe in sich aufkommen. Ströme von Blut flossen vor ihrem inneren Auge. Das hatte sie schon mehrfach beim Meditieren an diesem Ort erlebt.

Auf dem Gipfel des Arembergs hatte sich einst eine Burg befunden, eine sogenannte Motte. Von der aus Holz errichteten Burg war heute nur noch ein sanfter Erdhügel übrig geblieben, doch archäologische Untersuchungen bezeugten ihre einstige Existenz. Ein Turm, der später errichtet worden war, war inzwischen von Gestrüpp überwuchert und kaum mehr zu erreichen. Er wirkte unheimlich. Vermutlich hatten sich Ritter hier oben auf dem Berggipfel duelliert oder die Burg gegen Angreifer verteidigt – der Boden musste von alters her mit Blut getränkt sein.

Ella ließ die Erinnerungen an längst vergangene Schlachten aufsteigen und wieder vergehen. »Om Mani Padme Hum.« Dennoch kam ihr Geist immer noch nicht zur Ruhe. Die Zeit vor ihrem Zusammenbruch kam ihr in den Sinn. Als sie am Schreibtisch saß in den eleganten Räumen der Frankfurter Unternehmensberatung, sich nicht aufraffen konnte, eine Mail zu öffnen oder einen Satz zu schreiben. Eines Tages war sie morgens einfach zu Hause im Bett liegen geblieben. Schon der Gedanke, aufstehen zu müssen und sich die Zähne zu putzen, hatte sie gelähmt. Die Milchtüte und die Reste des Abendessens standen auf dem Küchentisch. Bis die Nachbarin mit dem Ersatzschlüssel die Tür geöffnet hatte, weil es ihr komisch vorkam, dass Ella sich tagelang nicht meldete, war die Milch sauer geworden. Der Notarzt hatte sie ins Krankenhaus gebracht, auch das war ihr egal gewesen. Egal vielleicht nicht, aber sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich dagegen zu wehren, noch nicht einmal, Einspruch zu erheben. Burn-out hatte der Arzt diagnostiziert und sie in eine Reha-Klinik mit lauter gestörten Managern geschickt.

Ein Sonnenstrahl kitzelte sie an der Nase. Sie öffnete die Augen und atmete auf. Sie war in der Eifel, hatte ihre Ruhe, konnte ungestört vor sich hin träumen. Zu den Heufaltern in der Wiese hatten sich Bläulinge gesellt, die in der Sonne schillerten. Grillen zirpten, ein Buchfink sang im Wald hinter ihr. Ella drückte ihren Rücken noch enger an den Baumstamm. Die Kraft der alten Eiche drang in Wellen in ihren Körper. Ella stellte sich vor, dass der Baum Unmengen an Kraft besaß, die er mit seinen Wurzeln aus der Erde zog, mit seinen unzähligen Blättern von der Megaenergie der Sonne zapfte und in dem mächtigen Stamm speicherte.

Ella versuchte, diese Kraft in ihrem Sonnengeflecht direkt unter dem Bauchnabel zu speichern, aber die Übung, die sie aus dem Meditationskurs im Reha-Zentrum kannte, gelang ihr noch nicht. Jetzt atmete sie ruhig und fühlte sich entspannt, fürchtete aber, dass dieser Zustand nicht lange anhalten würde. Das Tückische am Burn-out war, dass er sich nicht angekündigt hatte. Nun lebte sie mit der Vorstellung, dass ihre Seele sie jederzeit wieder im Stich lassen konnte. Die Meditation bot einen Schutz, redete sie sich ein. Sie sollte öfter hierherkommen, möglichst täglich meditieren. Ein Rhythmus im Leben war wichtig, so viel hatte sie erkannt.

Der Besuch der Polizisten brachte ihr mühsam erzieltes Gleichgewicht gefährlich ins Wanken. Würden die sie noch einmal belästigen? Würden sie der alten Else Glauben schenken? Hatte sie sonst noch jemand beobachtet? Sie hatte extra in der Seitenstraße geparkt, als sie Leyendecker besuchte, damit ihr Auto nicht auffiel. Aber auch die Anlieger der Seitenstraße könnten aufmerksam gewesen sein. Hier in der Eifel hatten die Leute nichts anderes zu tun, als sich gegenseitig zu beobachten.

Ella fiel wieder ein, dass die Bäckerin neulich eine Anspielung gemacht hatte. Was hatte sie noch gesagt? »Dat Maria lässt et sich ja gut gehen« oder so. Hatte Maria Leyendecker dabei nachgeholfen, ihren Gatten ins Jenseits zu befördern? Damit sie es sich ungestört gut gehen lassen konnte?

Die beiden Bussarde kreisten jetzt weiter rechts über der Wiese. Ella hatte in einer Doku im Fernsehen gesehen, dass die Greifvögel ultraviolettes Licht erkennen konnten, das von Mäuseharn ausgestrahlt wurde. Von oben konnten die Bussarde die mit Harn markierten Lieblingswege der Mäuse so genau erkennen, als wären sie auf einer Karte eingezeichnet. Deshalb war ihre Trefferquote bei der Mäusejagd ziemlich hoch, erinnerte sich Ella. Sie stellte sich vor, sie würde dort oben kreisen, fast schwerelos, die Wälder und Wiesen im Blick. Ihre Probleme erschienen ihr auf einmal weit entfernt, belanglos.

Und wenn der alte Leyendecker sich bei der Einnahme seiner Medikamente geirrt hatte? Er war an Digitalis gestorben, dem Gift des Fingerhuts. Ella hatte bei ihren Wanderungen durch die Eifelwälder häufiger Stellen gesehen, wo der Fingerhut wuchs – fast immer der Rote, weit seltener der Gelbe. Die Pflanze hatte sie auf Kahlschlägen in Niederungen gefunden, vermutlich brauchte sie Feuchtigkeit und Sonne. Einige Exemplare hatte sie ausgegraben und in ihrem Garten angesiedelt, denn die üppigen Blüten gefielen ihr ungemein. Für Ella wäre es ein Leichtes gewesen, das Gift der Pflanzen zu extrahieren, etwa durch Auskochen in Wasser oder Einlegen in Alkohol. In sehr geringen Mengen half es gegen Herzprobleme. Doch zur Herzstärkung bevorzugte sie Weißdorn, der war weit weniger gefährlich. Ohnehin ließ sich bei der Naturheilkunde, in die Ella sich immer weiter vertiefte, die Dosierung der Wirkstoffe nicht genau bestimmen. Denn die Pflanzen enthielten unterschiedliche Mengen, je nach Tageszeit und Standort. Auch beim Herstellen der Extrakte ließ sich der Wirkstoff nicht genau dosieren. Deshalb mied Ella besonders giftige Pflanzen. Als ihre Mutter krank geworden war, hatte sie begonnen, Salben selbst anzurühren, denn die offenen Beine vertrugen nur wenige Mittel. Inzwischen hatte sie großen Spaß daran gefunden, Kräuter zu verarbeiten. Dass ihre Heilmittel wirkten, hatte sich schnell rumgesprochen, und mittlerweile hielten die Eifler sie für eine Heilkundige.

Oder für eine Hexe, dachte Ella und lachte laut. Eine Meise stob auf. Das plötzliche Geräusch hatte sie gestört. Ella rappelte sich hoch und streckte die Beine. Das lange Sitzen an dem Baumstamm war unbequem gewesen, trotzdem fühlte sie sich gestärkt.

Sie würde mal zum Bäcker gehen und Bärbel, die Verkäuferin, unauffällig über Maria Leyendecker aushören. Sie blickte auf die Uhr. Wenn sie zügig ging, würde sie es noch schaffen, bevor der Laden am Samstagmittag zumachte. Zu Fuß war es von ihrem alten Forsthaus bis zum Bäcker an der Hauptstraße etwa eine halbe Stunde Weg, wenn sie querfeldein ging, statt der Straße zu folgen, die sich in Serpentinen den Aremberg hochschwang.

Krötenheini

Kaum saßen sie im Streifenwagen, platzte es aus Tanja heraus: »Peter, was fällt dir eigentlich ein, auf eigene Faust Leute zu befragen? Du weißt genau, dass wir von der Kriminaldirektion die Ermittlungen leiten. Wieso ziehst du einfach allein los?«

Peter hatte geahnt, dass sein Alleingang ein Nachspiel haben würde. Er druckste herum: »Ich dachte, es ist besser, mal allein mit Maria zu reden. Ist doch alles nicht so einfach für sie, da müssen wir sie nicht zu zweit überfallen.«

»Es ist gegen die Vorschrift!«

»Ja, ja. Kommt nicht wieder vor«, presste er heraus. Konnte sie sich nicht zum Teufel scheren? Oder wenigstens vom Schreibtisch in Trier aus die Ermittlungen steuern?

Natürlich kommentierte Tanja auch noch seinen Fahrstil, er hatte es ja geahnt. Überhaupt wirkte die junge Frau unerträglich wach und frisch, während Peter der Schädel brummte. Er hatte gestern, am Sonntagabend, noch einen gehoben mit seinen Freunden vom Motorradclub. Sie hatten ihn auch ausführlich mit Tipps versorgt, wie er die abgebrochene Schraube ausbohren könnte, ohne das Hinterrad zu zerstören. Dann hatten sie sich auf ihren Handys einige scharfe Videos aus YouTube gezeigt. Es war ziemlich spät geworden.

Er ging extra langsam in die Kurven, einerseits wegen seiner latenten Übelkeit und andererseits, um Tanja nicht zu weiteren Kommentaren zu provozieren. Der beste Beifahrer ist doch immer noch der, der den Mund hält, dachte er.