Eifler Treibjagd - Katja Kleiber - E-Book

Eifler Treibjagd E-Book

Katja Kleiber

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Beschreibung

Spannende Krimilektüre mit Herz, Humor und viel Liebe zur Natur der Eifel. Ella Dorn, die selbst ernannte »Eifelhexe«, zieht sich in die Einsamkeit an einem versteckten Kratersee im Wald zurück. Doch statt der ersehnten Ruhe findet sie dort einen verletzten Wolf – und kurz darauf einen angeschossenen Jäger. Die Polizei glaubt an einen Jagdunfall, aber Ella hegt ihre Zweifel, denn das Opfer hat ihr mit letzter Kraft etwas zu sagen versucht, das wie »Gerechtigkeit« klang. Um herauszufinden, was wirklich geschah, muss sich Ella mit schrecklichen Ereignissen aus der Vergangenheit auseinandersetzen und bringt damit nicht nur sich selbst in Gefahr …

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Katja Kleiber steckt ihre Nase gern in fremde Angelegenheiten – und schreibt dann auch noch darüber. Sie liebt es, mit ihrem Hund in den Wäldern der Eifel zu wandern. 2020 sowie 2021 wurde sie mit einem Arbeitsstipendium der Hessischen Kulturstiftung ausgezeichnet.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Montage: photocase.de/dioxin, shutterstock.com/Pakhnyushchy

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

ISBN 978-3-98707-024-2

Originalausgabe

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1

Der Wolf starrte sie aus bernsteinfarbenen Augen an.

Ella hielt den Atem an. Sie hatte nicht daran geglaubt, aber jeden Moment der vergangenen Tage und Nächte darauf gehofft: eine Vision. Wie aus dem Nichts war ein Wolf aufgetaucht. Lautlos war er erschienen, als hätte er sich herangeschlichen. Oder als wäre er ihren Träumen entsprungen. Er blickte sie unverwandt an.

Was wollte er ihr sagen? Eine starke Energie baute sich zwischen dem Tier und ihr auf.

Kalte Luft zog vom See hoch. Schaudernd zog sie ihre Decke noch enger über Kopf und Schultern.

Auch der Wolf schien die Brise zu spüren. Er hob den Kopf und bewegte die Ohren ein wenig, als lauschte er.

Ein Glücksgefühl durchströmte Ella. Die Vision zeigte ihr, dass ihre Entscheidung für die schamanische Visionssuche richtig gewesen war, obwohl sie diese aus der Verzweiflung heraus getroffen hatte.

Der Kampf gegen das Unternehmen, das Windräder direkt vor ihrer Haustür platzieren wollte, hatte ihre ganze Kraft beansprucht. Tag und Nacht hatte sie am Aufbau einer Bürgerinitiative gearbeitet. Bis das Energieunternehmen auf einmal pleitegegangen war. Statt erleichtert zu sein, war Ella in einem Heulkrampf zusammengebrochen. Ihr Nervenkostüm war nach dem Burn-out vor vier Jahren angeschlagen. Ihre Freundin Marnie hatte Ella gefunden, als sie heulend im Garten hockte, Schäferhund Rocco als unermüdlicher Wächter neben ihr. Marnie hatte ihr von Drei Adler erzählt, der als Schamane in Üxheim lebte und eine Art Seminarzentrum betrieb. Drei Adler führte Ella nun durch ein Ritual der Lakota, das er bei den Indianern in den USA selbst erlernt hatte. Jetzt war ihr eine Vision erschienen. Welche Botschaft wollte der Wolf ihr überbringen?

Sie sah das Tier deutlich vor sich, es wirkte lebensecht. Jedes einzelne Haar des struppigen Fells war zu erkennen, die Haut der Nase schimmerte dunkel.

Der Wolf war vom Kratersee hochgekommen. Ella kannte inzwischen jede Kräuselung des Wassers, jeden Winkel der Basaltsäulen am gegenüberliegenden Ufer. Sie wusste, wann der Fuchs zum Trinken an den See schlich, wann die Eule zur Jagd aufbrach. Die Tiere waren nach vier Tagen der Visionssuche zu ihren Verwandten geworden. Ella hatte sich nicht gefürchtet, weder vor den grunzenden Wildschweinen noch vor dem mächtigen Hirsch, den sie mehr geahnt als gesehen hatte.

Sie hatte viele Ängste gehabt, aber nicht vor Wölfen. Angst gehabt zu verdursten. Ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen. Ihr Mund fühlte sich trocken und verquollen an. Die Lippen waren rissig.

Angst, dass besoffene Jugendliche aus dem Dorf ihre Einsamkeit störten, sie beleidigten, vielleicht sogar …

Sie hatte Angst gehabt, sich in den kalten Nächten eine Lungenentzündung zu holen. Ihre größte Befürchtung war gewesen, dem Wahnsinn zu verfallen. Sich von dunklen Gefühlen überwältigen zu lassen.

Doch vor einem hatte sie sich nie gefürchtet: vor wilden Tieren. Wölfe und Bären waren ausgestorben in der Eifel.

Angesichts ihrer Ängste hatte Ella sich fest eingebildet, dass das rituelle Band rund um ihren Sitzplatz sie beschützen würde. Die Stecken des Vierecks verwiesen auf die Himmelsrichtungen. Im Norden flatterte die Adlerfeder, die zu finden sie viel Mühe gekostet hatte. Außerdem baumelten an dem Band zweihundertacht Tabakopfer, die sie auf Geheiß von Drei Adler in den letzten Monaten angefertigt hatte. Jedes bestand aus einem kleinen Stück Stoff mit ein paar Krümeln Tabak. Profanem Tabak aus einer blauen Packung, auf der »Pueblo« stand, aus dem Shop an der Tankstelle. Während sie die braunen Fäden auseinandergezupft hatte, hatte sie ein Gebet gemurmelt, dann das Stück Stoff um den Tabak zusammengezogen und mit einem Faden zugeknöpft. Sie hatte den Geruch des Tabaks gemocht, aber nicht, dass sich ihre Finger verfärbten wie die einer Kettenraucherin. Jetzt baumelten die Beutelchen, denen sie ihre Wünsche anvertraut hatte, wie ein Schutzschild um sie herum.

Der Wolf öffnete sein Maul und hechelte. Es erinnerte sie an ihren Schäferhund Rocco. Er verhielt sich genauso, wenn er nicht wusste, was er als Nächstes tun sollte. Während sie die blanken Reißzähne des Tieres betrachtete, spürte sie nicht die geringste Furcht.

Ein Wolf also sollte ihr Krafttier sein. Ein starkes Zeichen. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, um das Trugbild nicht zu zerstören. Fasziniert musterte sie das dunkelgraue, fast schwarze Fell.

Der Wolf hob witternd seinen Kopf.

Ein trockener Knall zerriss die Stille.

Der Wolf zuckte zusammen. Jaulte auf. Knickte in den Hinterbeinen ein. Stürzte.

Blut sickerte aus seinem schwarzen Fell.

Ella sprang auf.

2

Ella wickelte hektisch das lange Seidentuch ab, das ihren Hals zuverlässig vor der Winterkälte geschützt hatte. Das Tuch wurde jetzt dringender gebraucht, egal, ob es sie fror.

Der Wolf strampelte mit den Läufen. Er erhob sich auf die Vorderbeine, verlor an Kraft und sackte in sich zusammen. Blut strömte aus seinem Hinterlauf. Immer mehr Blut.

Ella streckte ihre Hand aus. Als das Tier nicht reagierte, berührte sie die Flanke des Tieres.

Der Wolf schaute sie unverwandt an mit seinen bernsteinfarbenen Augen.

Ella sprach beruhigend auf das Tier ein und wickelte den Seidenschal so straff wie möglich um den Hinterlauf, um die Blutung zu stoppen. Doch der Schal war im Nu durchnässt.

Im Blick des Wolfes lag ein Flehen.

Sie breitete ihre Decke über ihm aus. Eine Weile musste er allein aushalten.

Dann stand sie auf und rannte den Weg hinunter zur Landstraße. Ihre Beine fühlten sich wacklig an vom langen Sitzen am Kratersee. Sie achtete nicht drauf. Dort vorn lag der Stein, der als Zeichen für einen Notruf diente. Wenn sie Hilfe brauchte, müsse sie den Stein mit der weiß angemalten Unterseite nach oben drehen, hatte Drei Adler ihr eingeschärft. Das mache deutlich, dass sie die Visionssuche abbrechen und abgeholt werden wolle. Sie nahm an, dass ihr Mentor gelegentlich kam und nach dem Stein schaute. Jetzt wälzte sie den schweren Brocken herum, sodass die weiße Seite oben lag.

Wie schnell konnte Drei Adler hier sein? Wann würde er ihren Notruf bemerken? Das Seminarzentrum lag etwa zehn Minuten entfernt mit dem Auto. Sie hatte aber keinen Wagen, und zu Fuß würde sie bis dorthin mindestens eine halbe Stunde brauchen, selbst wenn sie rannte. Der Wolf würde inzwischen verbluten.

Das Geräusch eines Motors hallte durch den Wald. War das Drei Adler? Selbst wenn es nur ein Ausflügler wäre, sie würde jeden anhalten und um Hilfe bitten.

Das Motorengeräusch erstarb.

Ella hastete den Waldweg weiter hinunter.

Da sah sie die Freunde kommen. Drei Adler und Herrmann schlenderten gemächlich den Weg lang.

Ella rief ihnen zu, sich zu beeilen, wartete keine Antwort ab und rannte zurück zur Lichtung am See. Schon von Weitem sah sie den grauen Pelz des Wolfes. Als sie ihn erreichte, bemerkte sie erleichtert, dass er noch atmete.

Die beiden Alten hatten ihren Schritt beschleunigt und kamen zu ihr. Sie überblickten die Lage schnell. »Ich hol den Wagen, es gibt einen Zuweg aus der anderen Richtung.« Herrmann drehte sich um. Jetzt rannte er.

Kurz darauf rumpelte sein alter Kastenwagen heran. Ella hatte angenommen, dass dieser Ort nur zu Fuß erreichbar war. Aber Herrmann kannte jeden Feldweg der Eifel, schien es.

In einer gemeinsamen Anstrengung schoben sie das Tier auf Ellas Decke und hoben sie mitsamt dem Wolf in den Laderaum.

Der Wolf schien bewusstlos zu sein. Er bewegte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Der Seidenschal war inzwischen von Blut durchtränkt.

Ella schob sich neben das Tier in den Laderaum des Kastenwagens. Während Herrmann und Drei Adler vorn einstiegen, suchte Ella eine Position, in der sie den schweren Kopf des Wolfes im Schoß halten konnte.

Das Tier atmete regelmäßig, öffnete aber die Augen nicht.

Sie strich immer wieder über seinen Kopf.

»Wohin?«, fragte Herrmann, während er den Wagen startete und den Waldweg hinunterholperte.

Der sehnige Mann war fit wie ein Turnschuh, obwohl er mindestens sechzig Jahre alt war. Vielleicht war er auch siebzig oder achtzig, das konnte man nicht sagen.

Von Drei Adler hingegen wusste sie, dass er zweiundachtzig war, doch auch er wirkte gesund und vital. »Jeden Morgen die fünf Tibeter«, hatte er gebrummt, als sie ihm ein Kompliment zu seiner Fitness gemacht hatte. Drei Adler hatte von seinem bewegten Leben erzählt, das ihn als Model zu Shootings in Nordafrika und der Karibik geführt hatte, bevor er in der Eifel gelandet war, um das Seminarzentrum in Üxheim aufzubauen. Jetzt blickte er angespannt auf den Waldweg, über den Herrmann den Wagen steuerte.

»Tierarzt?«, fragte dieser.

»Lars Scheidt in Antweiler«, krächzte Ella. Ihre Stimme war eingerostet, nachdem sie vier Tage mit niemandem gesprochen hatte.

Herrmann nickte nur. Sobald er den Waldweg verlassen und auf die Landstraße eingebogen war, gab er Gas. Wie ein Irrer raste er um Kurven, bremste kaum ab, als ein Trecker vor ihm aus einer Einfahrt tuckerte, sondern machte einen Schlenker um das Gefährt und beschleunigte wieder.

Drei Adler zückte sein Handy, tippte darauf herum und rief den Tierarzt an. »Verletzter Wolf, schwere Blutung.« Was der Gesprächspartner antwortete, war nicht zu verstehen.

Dann zog er eine Thermosflasche aus dem Seitenfach der Beifahrertür, schraubte sie auf und goss eine heiße Flüssigkeit in den Becher, der als Verschlusskappe diente. Er drehte sich um und reichte Ella die Tasse über die Rückenlehne des Vordersitzes.

Heißer Tee. Ella schlürfte ihn langsam. Er schmierte ihre Kehle so weit, dass sie halbwegs verständlich sagen konnte: »Woher wusstest du, dass ich einen Tee brauche?«

Der Tee war stark gesüßt. Normalerweise nahm sie keinen Zucker, aber jetzt tat der Energieschub gut.

»Wir wollten dich ohnehin abholen. Die vier Tage sind vergangen«, sagte Drei Adler.

Die beiden Alten waren also gar nicht auf ihr Hilfezeichen hin herbeigeeilt, überlegte sie. Darum waren sie so schnell da gewesen. Sie hatten den weißen Stein noch gar nicht gesehen, sondern waren gekommen, um sie abzuholen, weil die Zeit für die Visionssuche um war.

Herrmann lenkte den Kastenwagen ungebremst in eine enge Kurve. Sie stabilisierte den Körper des Wolfes, so gut es ging, damit er bei Herrmanns Tempo nicht hin- und hergeschleudert wurde. Ihr Seidenschal war inzwischen komplett durchgeblutet. Die rote Flüssigkeit sickerte heraus und verteilte sich im Fell des Tieres. Hoffentlich hielt der Wolf durch.

Und wenn nicht? Ella erschauerte. Ein schlechtes Omen, wenn das Krafttier starb, das ihr bei der Visionssuche begegnet war.

3

Die Burg hob sich dunkel gegen den Abendhimmel ab. Wenn ein Kind eine Burg malen würde, würde sie aussehen wie die Kasselburg. Ein Turm, Burgmauern mit Zinnen und Schießscharten.

Ella warf einen letzten Blick in das Gehege. Der Wolf erholte sich offenbar langsam von der Betäubungsspritze, die der Tierarzt gesetzt hatte, um ihn zu behandeln. Seine Augen waren halb geöffnet, die Läufe zuckten.

Arbeiter brachten Lkw-Planen am Zaun an, fixierten sie mit Kabelbindern.

»Der Wolf soll sich nicht an den Anblick von Menschen gewöhnen«, sagte Nadine. »Wenn er durchkommt, wildern wir ihn wieder aus.« Die Eule auf ihrer Hand mit dem dicken Falknerhandschuh schien zu ihren Worten zu nicken.

Ella war froh, die Falknerin der Kasselburg zu kennen. Von ihr hatte sie vor einigen Wochen die Adlerfedern bekommen, die sie für die Visionssuche benötigte. Jetzt hatte es sie nur einen Telefonanruf gekostet, um einen Pflegeplatz für den Wolf zu finden. »Wir sind dir sehr dankbar, dass ihr ihn aufnehmt.« Ella setzte zu einer Dankesrede an, doch Nadine winkte ab. »Wir halten dieses Gehege frei, falls es mal Stress zwischen unseren Wölfen gibt oder einer verletzt ist.« Die blonde junge Frau lächelte. »Einen Wolf aus freier Wildbahn hatten wir noch nie hier. Unsere Timberwölfe stammen aus Zoos.«

Das Rudel der Kasselburg war beeindruckend. Fast schwarzes Fell, helle Augen, elegante Bewegungen – Ella hätte die Tiere stundenlang beobachten können.

»Komm doch mal vorbei und schau, wie es deinem Wolf geht«, meinte Nadine. Sie verabschiedete sich und ging zu der Hütte mit den Käfigen der Greifvögel. Die Eule auf ihrer Hand wandte ihren Kopf und starrte Ella und Drei Adler aus runden Augen an, als wollte sie sich von den beiden verabschieden.

Drei Adler griff in seine Hosentasche und holte etwas Kleines, Zylinderförmiges hervor. »Das ist die Kugel.« Drei Adler hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hat der Arzt rausoperiert.«

Ella griff danach und rollte sie zwischen ihren Fingern. Sie war überraschend schwer. Sie stellte sich vor, wie sie ins Gewebe eindrang, es zerfetzte. Welch Schaden ein so kleines Objekt anrichten konnte. »Kommt der Wolf durch?«

Drei Adler blickte sie an. Er folgte nicht nur den Lehren der Lakota, sondern sah selbst aus wie ein Indianer aus einem Kinderbuch, das war ihr schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen. Scharfe Züge, klare Augen, die Lippen schwungvoll und entschlossen. Dabei war Dietrich, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, erst im mittleren Alter den Lakota und ihren Lehren begegnet. Nach seiner Modelkarriere hatte er eine neue Orientierung gesucht und war bei einem Trip durch die USA wegen eines Motorschadens in einem Reservat hängen geblieben. Die Reparatur dauerte, er freundete sich mit den Indianern an, blieb länger als gedacht. Ihre Philosophie und Weisheit faszinierten ihn. So sehr, dass er bei einem Lakota-Schamanen in die Lehre gegangen war.

»Wir müssen abwarten. Es steht Spitz auf Knopf, sagt der Arzt. Der Blutverlust war erheblich.«

Ella starrte auf ihre Füße.

»Er hat gute Medizin, würden die Lakota sagen. Medizin im Sinne von guter Energie.«

Ella nahm sich vor, ihren Wolf auf jeden Fall zu besuchen, auch wenn er sie nicht sehen durfte. Auf geheimnisvolle Weise war eine Verbindung zwischen ihr und dem Wildtier entstanden.

»Wir haben ein Problem«, sagte Drei Adler und krauste die Stirn. »Das Ritual wurde nicht korrekt beendet.«

»Der Wolf ist mir als Vision erschienen.« Ella war es egal, dass es letztlich ein echtes Tier gewesen war. Es hatte sich angefühlt wie eine Vision. Der Wolf wollte ihr etwas sagen, sie musste nur noch herausfinden, was.

»Ich stimme dir zu, aber der Abschluss in der Schwitzhütte fehlt.«

Ella wusste, was er meinte. Bevor sie sich für das Ritual entschieden hatte, war Drei Adler jeden einzelnen Schritt mit ihr durchgegangen. Er hatte sicher sein wollen, dass sie den Prozess verstand und sich bewusst dafür entschied. In der Schwitzhütte sollte sie ihre Tabakopfer im Feuer verbrennen und die Erfahrungen der Visionssuche sacken lassen, um einen neuen Abschnitt ihres Lebens zu beginnen. In dem das Krafttier Wolf sie unerschütterlich begleiten würde.

Die Tabakbeutel – sie hatte sie am Kratersee zurückgelassen. Gleich morgen würde sie hingehen und die rituellen Beutel holen. Dann wäre sie bereit für die Schwitzhütte.

4

Ella schnaufte, als sie den Berg hinauf zu ihrem Visionsplatz ging. Die vier Tage ohne Essen und Trinken hatten sie körperlich geschwächt. Doch ihre Seele fühlte sich leicht und beschwingt an. Auch ohne das Ritual in der Schwitzhütte spürte sie, dass alles Alte von ihr abgefallen war.

Der Kratersee lag unter einem Nebelschleier. Ella hatte sich schlaugemacht: Der See war künstlicher Natur, obwohl er wirkte, als wäre er seit Urzeiten ein Teil der Landschaft. Er war entstanden, als der Abbau des Basalts am Hoffelder Burgkopf aufgegeben worden war. Regen- und Grundwasser hatten den Kessel des Steinbruchs gefüllt. Noch bis in die achtziger Jahre hatten die Männer aus Hoffeld hier mit harter Arbeit ihren Lebensunterhalt verdient. Die Basaltsäulen waren vom Berg gesprengt und in handliche Teile zerkleinert worden bis hin zu Schotter, den die Loren vom Berg ins Tal brachten. Eine solche historische Lore stand heute noch unter einer Linde in der Mitte des Dorfes Hoffeld.

Diese Wunder der Natur als Schotter zu nutzen, kam Ella falsch vor. Sie hatte tagelang auf die Säulenformation am Kraterrand gestarrt und beobachtet, wie Sonne und Schatten darüberwanderten. Jetzt kamen selbst die Steine ihr wie Verwandte vor. Überhaupt hatte sie während der Zeit am Visionsplatz – waren es vier Stunden oder vier Tage gewesen? – Liebe empfunden für alle Wesen um sich herum, von der kleinsten Ameise bis hin zur riesigen Buche mit ihren mächtigen Ästen.

Immerhin hatte der Schotter aus Hoffeld bis heute überdauert: Der Damm, der die Insel Sylt mit dem Festland verband, bestand aus dem Vulkangestein aus der Eifel und trotzte seit Jahrzehnten Nordseewellen.

Ella trat aus dem Wald und blickte auf den Kratersee, der im Morgenlicht grau schimmerte. Natürlich wurde auch dieses Gewässer von den Menschen genutzt. Es gab einen Angelsteg und eine Hütte, doch diese waren hinter einer Biegung verdeckt. Der See wirkte wie ein Stück ursprünglicher, unberührter Natur.

Sie näherte sich ihrem Meditationsplatz und sah die bunten Stoffbeutelchen mit dem Tabak im Wind baumeln. Doch befand sich etwas neben der Leine mit den Tabakopfern. Ein Sack? Ein längliches dunkles Bündel?

Sie fiel in Laufschritt. War das ein Mensch? Ein Betrunkener? Ein schlafender Wanderer? Sie lief noch schneller.

Der Mann lag auf der Seite, die Beine angezogen.

Sie beugte sich hinunter und berührte mit dem Handrücken seine Wange.

Er röchelte.

Ella zuckte zurück. Ihr wurde bewusst, dass sie die Kälte toter Haut erwartet hatte. Die Wange des Mannes fühlte sich zwar kühl an, aber darunter pulsierte noch Leben.

»Können Sie mich hören?«

Die Kleidung wies den Mann als Jäger oder Förster aus. Er trug eine Lodenjacke, eine schlammfarbene Hose und dunkelgrüne Gummistiefel. Sie musterte ihn genauer. Das Gesicht des Mannes war von tiefen Falten durchzogen. Unter einer kakifarbenen Wollmütze schauten einige dünne weiße Haare hervor.

Ellas Blick wanderte tiefer. Da sah sie es: Die Lodenjacke hatte einen dunklen Fleck. Einen großen dunklen Fleck in Höhe des Herzens. Wie konnte er sich hier verletzt haben? Ihre Gedanken rasten.

Der Mann brauchte einen Arzt, aber … Blut aus einer Wunde in der Brust? Hatte er Selbstmord begehen wollen? Eine Waffe war nirgends zu sehen. Und wie sollte der Notarzt diesen Ort finden? Sie war sich nicht sicher, ob sie es schaffte, den Anfahrtsweg verständlich zu beschreiben.

Eine Welle der Hilflosigkeit überflutete Ella. Sie zückte ihr Handy, scrollte hektisch nach der Nummer von Peter Claes und senkte den Finger auf den Anrufbutton. Claes war Polizist, er würde wissen, was zu tun wäre.

Es tutete. Während sie darauf wartete, dass er endlich abnahm, schweifte ihr Blick rüber zu ihrem Sitzplatz. Die Tabakbeutelchen schaukelten im Wind. Sollte sie den Visionsplatz abräumen, bevor Polizei und Notarzt kamen? Sie konnte nicht riskieren, dass die Beutelchen beschlagnahmt wurden, denn sie mussten als Opfer im Feuer der Schwitzhütte verbrennen.

Die Experten von der Spurensicherung würden ausrasten, wenn sie merkten, dass der Tatort – es war doch ein Tatort? – verändert worden war. Der Mann blutete aus einer Wunde, die er sich nicht selbst zugefügt haben konnte.

Ella beschloss, ihre Sachen mitzunehmen, aber der Polizei diesmal die Wahrheit zu sagen. Sie hatte schon einmal die Kriminalpolizei angelogen. Na ja, nicht richtig angelogen, sie hatte nur nicht die ganze Wahrheit gesagt. Das hatte schlimme Folgen gehabt.

Claes meldete sich mit einem brummigen »Hallo«. Sicherlich sah er an ihrer Nummer, wer anrief. Sie kannten sich von damals, als sie gemeinsam im Hohen Venn einen Mann gerettet hatten. Trotzdem nannte Ella ihren Namen. Dann stieß sie hervor: »Verletzter Jäger. Starke Blutung. Eine Wunde in Höhe des Herzens.«

Claes fragte sachlich: »Wo sind Sie?«

»Hoffelder Burgkopf.«

»Beruhigen Sie sich, Frau Dorn.«

Ihr wurde bewusst, wie aufgeregt sie war. Zwang sich, ruhig zu antworten. Sie begann zu erklären, wie man an den Kratersee kam.

Claes unterbrach sie: »Kenn ich. Ich schicke einen Notarzt und komme vorbei. Warten Sie!« Die Verbindung brach ab.

Ella hockte sich neben den Verletzten. Hoffentlich hielt er durch. Sanft streichelte sie seine Wange. »Ganz ruhig, gleich kommt Hilfe.«

Der Mann röchelte wieder. Öffnete den Mund. Schien ein Wort formen zu wollen.

Ella beugte sich zu ihm hinunter.

Er hauchte: »Justice!« Dann klappten seine Augen nach hinten.

5

Tanja traute ihren Ohren nicht. Was murmelte Ella Dorn da?

»Dann hat er ›Justice‹ gesagt«, wiederholte die Frau, die ihr in den vergangenen Jahren schon genug Ärger bereitet hatte. Ella Dorn war ihr tatsächlich ein Dorn im Auge. Doch man konnte sich die Verdächtigen nicht aussuchen, rief sich Tanja zur Ordnung. Sie hakte nach: »›Justice‹ wie englisch für ›Gerechtigkeit‹?«

»Ja, genau.« Ella Dorn hauchte die Worte mehr, als dass sie sie sprach. Hatte der Anblick des verletzten Jägers sie derartig verstört? Die Frau hatte ein angegriffenes Nervenkostüm, soweit sie sich an die Fallakten von dem vergifteten Politiker erinnerte. Damals war Ella Dorn die Hauptverdächtige gewesen und hatte alles getan, die Ermittlungen zu erschweren. Tanja unterdrückte einen Seufzer. Jetzt geheimnisste die Frau etwas in diesen Jagdunfall hinein. Tanja holte tief Luft: »Sind Sie sicher?«

»Er sprach sehr leise.« Die Frau schaute zur Seite.

Tanja blickte auf die Kopie des Personalausweises, den der Mann bei sich getragen hatte.

John Taylor, zweiundachtzig Jahre, geboren in Aachen. Derzeitiger Wohnsitz Hoffeld. John Taylor, das klang allerdings englisch. Ella Dorn würde wohl ein Wort in einer Fremdsprache erkennen. In einem früheren Leben hatte sie bei so einer Frankfurter Consultantfirma einen Haufen Geld verdient und war in der Welt herumgejettet. In solchen Unternehmen sprach man mehr Englisch als Deutsch. »Momentan können wir Herrn Taylor nicht verhören, bitte erinnern Sie sich daher genau, was passiert ist. Hat er sonst noch was gesagt?«

»Er lebt?«

Ellas Augen blitzten hoffnungsfroh auf.

Tanja hätte die Frau am liebsten verhaftet, aber sie war sich sicher, dass Ella nicht für den Schuss auf den Jäger verantwortlich war. Abgesehen davon, dass Ella Dorn keine Jägerin war, keinen Waffenschein besaß und keine Schusswaffe auf ihren Namen eingetragen war, hatte sie ein Alibi. Ein absurdes Alibi, aber immerhin. Ella Dorn hatte die Nacht, in der der Jäger verunfallt war, an der Seite eines Wolfs im Tierpark Kasselburg verbracht. Dafür gab es Zeugen, nämlich mehrere Mitarbeiter des Wolfsparks und dessen Leiterin. Wenn Ella Dorn auch als Täterin nicht in Frage kam, war es seltsam, dass sie ihr nicht nur in dem Fall des vergifteten Politikers über den Weg gelaufen, sondern auch mit dem Schamanen befreundet gewesen war, den man in diesem keltischen Heiligtum erstochen hatte.

Ella Dorn hatte eindeutig zu viel Kontakt mit Menschen, die das Zeitliche segneten. Zog sie den Tod an? Oder, in diesem Fall, eine schwere Verletzung? Die Frau praktizierte seltsame Rituale, rührte Heilsalben und hantierte mit einer Wünschelrute. Nicht zuletzt deshalb hatte sie den Ruf einer »Eifelhexe«.

Tanja riss sich zusammen. Ihre persönliche Haltung gegenüber Ella Dorn durfte ihr nicht in die Quere kommen, sie musste professionell bleiben. Außerdem war die Frau vielleicht nervig mit ihrer Neugierde und dem Esoterikfimmel, andererseits war sie intelligent und gebildet. Hier ging es um mehr als einen Routinefall, sie würde sich nicht ablenken lassen, denn Kripochef Brettschneider hatte ihr die Leitung anvertraut. Ihr erster eigener Fall!

Justice – Gerechtigkeit. Das Leben war nicht immer gerecht. Sie selbst machte die Karriere, die sich die Eltern für den Sohn ersehnt hatten. Der war nach einem Minenunfall in Afghanistan behindert und schob langweiligen Verwaltungsdienst. War das fair? Wieder schalt sich Tanja, dass sie sich zu schnell in Gedanken verlor. Jetzt ging es darum, diesen Fall restlos und möglichst schnell zu klären. »Justice« – das konnte alles Mögliche bedeuten, falls Ella Dorn sich nicht verhört hatte. Sie bemerkte, dass die Frau sie immer noch anblickte in Erwartung einer Antwort. Ob der Mann lebe, hatte sie gefragt, oder? »Ja, Taylor lebt, allerdings haben die Ärzte ihn in ein künstliches Koma versetzt.« So viel konnte sie verraten, das würde sich ohnehin rumsprechen und behinderte ihre Ermittlungen nicht.

»Wird er überleben?«

Tanja zuckte die Schultern. »Daher ist Ihre Aussage so wichtig, denn Taylor kann derzeit keine Auskunft zu dem Vorfall geben.« Der vermutlich ein Jagdunfall war, nahm Tanja an. Falls sich der Mann nicht selbst angeschossen hatte. Das war allerdings unwahrscheinlich bei der Lage der Wunde. Sie würde die Forensikerin fragen, ob eine Selbstverletzung in Frage käme. Aber wenn sie sich das Durchschnittsalter der hiesigen Jägerschaft ins Gedächtnis rief, war ein Jagdunfall wahrscheinlich. Wenn nur nicht Ella Dorn alles verkomplizieren würde mit dem, was sie angeblich gehört hatte.

6

»Du hättest getroffen werden können!« Herrmann zog die Augenbrauen zusammen. »Herrje! Ich hab von Anfang an gesagt, das ist zu gefährlich. Wie kann man alleine nachts im Wald hocken? Und das im Februar!«

»Das haben wir schon diskutiert. Du hast dich trotzdem bereit erklärt, der Pfeifenhüter zu sein.« Sie nieste. In der Nacht war ihre Nase zugeschwollen, sodass sie sich unruhig herumgewälzt hatte, obwohl sie froh war, nach der Visionssuche und der Nacht in der Kasselburg wieder in ihrem eigenen Bett zu liegen.

Rocco schob seine Nase unter ihre Hand, damit sie ihn streichelte. Der Schäferhund hatte die vergangenen Tage bei Herrmann verbracht, jetzt wich er Ella nicht von der Seite. Sicher hatte er Angst, dass sie ihn wieder zurückließ.

»Die Kugel hat dich knapp verfehlt. Vielleicht war sie für dich bestimmt? Wen hast du verärgert?«

Ella wurde es heiß. Hatte sie Feinde? Wollte sie jemand erschießen? Dann rief sie sich zur Ordnung. Sie hatte einen Kampf gegen die Windräder in ihrem Ort geführt, aber mit friedlichen Mitteln. Das Energieunternehmen war Konkurs gegangen. Nein, sie hatte keine Feinde, die ihr im Wald auflauerten, um auf sie zu schießen.

Herrmann polterte weiter: »Ein Meter weiter nach links und die Kugel hätte dich erwischt. Schau hier.« Er klopfte auf die Zeitung, die auf seinem Küchentisch lag. »Wird er aus dem Koma erwachen? Jagdunfall: 92-Jähriger schwer verletzt« lautete die Schlagzeile.

»Als Pfeifenhüter müsstest du mich unterstützen«, beharrte Ella. Sie schniefte und suchte in ihrer Hosentasche nach einem Taschentuch.

Trotz seiner Vorbehalte gegen die Nächte im Wald hatte Herrmann ihr zugesichert, als Pfeifenhüter bei dem indianischen Ritual zur Seite zu stehen. Drei Adler hatte ihm erklärt, dass es um mentalen Beistand ging. Was für Ella mindestens so wichtig war: Er hatte auf Rocco aufgepasst.

Gemäß der Tradition der Lakota sollte die Visionssuchende dem Pfeifenhüter ein wertvolles Geschenk machen. Wertvoll nicht unbedingt in materieller Hinsicht, sondern eher in der Weise, dass das Geschenk für sie selbst einen Wert darstellte.

Sie hatte einen selbst geflochtenen Weidenkorb mit Pflegeprodukten aus ihrer Hexenküche gefüllt. Ringelblumensalbe für kleinere Verletzungen oder schrundige Hände und eine Auswahl ihrer selbst gesiedeten Seifen, die nach Kräutern dufteten. Außerdem hatte sie lange nach einem seltenen Harz gesucht und speziell für Herrmann eine Salbe gegen seine Schmerzen in den Gelenken gerührt.

Der Imker blickte durchs Fenster in den Garten, wo in langen Reihen die Kisten mit seinen Bienenvölkern standen. Jetzt im Februar rührte sich nichts. Die Bienen hingen in einer Schwarmtraube. »Gruppenkuscheln, um sich warm zu halten«, hatte Herrmann erklärt. Die Temperatur im Inneren der Bienentraube liege stets bei vierunddreißig Grad plus, auch wenn draußen zwanzig Grad Minus herrschten. Wenn Herrmann von seinen Bienen erzählte, war Ella fasziniert.

Herrmann seufzte und riss sich von dem Anblick los. »Ich hatte Sorge um dich«, brummte Herrmann. »So lange ohne Essen und Trinken, sehr gefährlich.«

Ella wunderte sich selbst. Es hieß doch immer, der Mensch könne nicht länger als drei Tage auf Wasser verzichten, sonst würde er sterben. Schiffbrüchige tranken sogar ihren Urin, um sich mit Flüssigkeit zu versorgen, hatte sie gehört. Doch sie hatte es überlebt, vier Tage nichts zu trinken. Die Zeit war verschwommen, bald hatte sie nicht mehr unterscheiden können, wie lang sie am Rand des Kraters saß. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang lösten sich ab. Manchmal fror sie bitter, manchmal schienen Stunden zu vergehen, in denen sie vor sich hin träumte, ohne ihren Körper wahrzunehmen. Und manchmal hatte sie fasziniert auf die winterlichen Überreste eines Spinnennetzes gestarrt. Ob sie eine Minute oder zehn oder hundert in die Betrachtung des kleinen Kunstwerks versunken war, konnte sie im Nachhinein nicht mehr sagen.

»Ich habe keine Nacht ruhig geschlafen. Musste immer an dich denken«, beharrte Herrmann. Er warf ihr einen Seitenblick zu.

Es war einzig und allein ihr starker Wille gewesen, der sie durch die Visionssuche geführt hatte, war sich Ella sicher. Und die Energie, die Herrmann ihr gesandt hatte, wenn er an sie dachte.

Laut Drei Adler hatte in all den Jahren, in denen er das Ritual leitete, nur ein einziger Mensch die Visionssuche vorzeitig abgebrochen. Ein Manager, der sich nicht von seinem Handy hatte trennen können. Er hatte sein Smartphone mit an den Visionsplatz genommen und bereits am zweiten Abend gebeten, abgeholt zu werden.

Ella hatte auf ihr Handy verzichtet, wie es das Ritual verlangte. Die Lakota hatten es schließlich seit eh und je durchgeführt, lange bevor Handys überhaupt erfunden waren. Noch dazu in einer weit unwirtlicheren Natur als hier in der Eifel. Drei Adler hatte von der hitzedurchglühten Felslandschaft erzählt, in der er selbst seine Vision gesucht hatte. Auf dem Weg zu seinem Sitzplatz auf der Meseta hatte er nicht nur eine, sondern gleich drei Adlerfedern gefunden, worauf ihm die Lakota seinen Ehrennamen verliehen hatten.

Ella hatte bisher nicht gewusst, dass sie die Stärke besaß, vier Tage ohne Essen und Trinken an einem Platz in der freien Natur auszuharren. Sie, die bei jeder Kleinigkeit in Melancholie versank. Vor einigen Monaten hatte ein Besuch in der Kölner Innenstadt sie an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht. Obwohl sie in Frankfurt aufgewachsen war und dort jahrelang gearbeitet hatte, konnte sie die Großstadt nicht mehr ertragen. Sie brauchte die Ruhe der Eifel, um zu überleben.

Eine Ruhe, die gestört war. Sie musste sich um den Wolf kümmern. Und herausfinden, wer ihn angeschossen hatte, obwohl er unter Schutz stand. Wilderei also. Wilderei einer geschützten Art.

»Ich war froh, als die vier Tage um waren und Drei Adler anrief, damit wir dich abholen«, unterbrach Herrmanns tiefe Stimme ihre Gedanken.

»Er sagte nichts davon, dass ich den Stein umgedreht und um Hilfe gerufen hatte?«

Herrmann schüttelte den Kopf.

Das erklärte, warum die beiden so schnell gekommen waren. Unmittelbar nachdem sie den Stein mit der weißen Unterseite nach oben gedreht hatte, hatte sie den Motor des Wagens gehört. »Gut, dass ihr sofort da wart.«

»Es wäre schneller gegangen, wenn nicht dieser Jeep uns entgegengekommen wäre. Da, wo der Weg so eng ist. Wir haben gewartet, bis er unten war, damit wir durchkonnten.«

Ella schnappte nach Luft. »Da war ein Auto?«

Herrmann drehte sein Teeglas zwischen den Fingern. Er blickte sie an. »Der kam von oben runter, gerade als wir von der Landstraße in den Waldweg einbiegen wollten. Dann fuhren wir hoch, ich parkte an der Schranke, wie immer. Als wir gesehen haben, dass du den Stein umgedreht hattest, kamst du uns schon entgegen.«

Ella erinnerte sich an den Anblick der beiden Alten, die gemütlich den Berg hochgeschlendert waren. Sie hatten ihr Hilfesignal gar nicht gesehen und waren entsprechend entspannt gewesen.

»Hast du das Nummernschild erkannt?«

Herrmann verneinte.

»Ich habe nicht drauf geachtet. Ich machte mir Sorgen, wie es dir ging. Hatte Angst, du wärst erfroren.«

»Was für ein Wagen war das?«

Sie fragte ohne große Hoffnung. Ein Modell sah doch heute aus wie das andere. Sie konnte die jedenfalls nicht auseinanderhalten. Und weder Herrmann noch Drei Adler schienen Autofetischisten zu sein.

Doch Herrmann antwortete, ohne zu zaudern: »Ein Jeep. Dunkelgrün oder schwarz oder so. Eine dunkle Farbe jedenfalls.«

»Bestimmt der Jäger, der auf meinen Wolf geschossen hat! Die jagdgeile Sau!«

Sie wunderte sich selbst über ihren Ausbruch. Hatte die Visionssuche ihren Charakter verändert?

7

Mutter war einfach immer da gewesen. Mit ihrer Ordnungsliebe, ihrem Genörgel und dem Kuchen am Sonntag.

Jetzt war sie nicht mehr da.

Tanja starrte auf den Sarg, den die Träger ins Grab hinabgelassen hatten. Grab. Sarg. Wie das klang. Kurz und hart. Endgültig.

Der Pastor redete.

Sie nahm nichts davon auf. Ein Hintergrundrauschen. Sie zog ihren Schal höher, leicht übers Kinn. Nicht nur wegen des kühlen Vormittags, sie fröstelte von innen.

Frank neben ihr schwankte leicht. Sie fasste die Hand des Bruders fester. Schielte zu ihrem Vater.

Der war grau im Gesicht. Trug einen Hut, der Schatten fiel auf die Augen. Sie erinnerte sich an die silberne Hochzeit vor einigen Jahren, als er ihr jugendlich und stolz erschienen war. Nun hatte die Liebe seines Lebens ihn verlassen.

»Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Die Stimme des Pfarrers klang fest, berufsmäßig engagiert und doch unbeteiligt.

Jetzt drückte er Paps ein Schäufelchen in die Hand.

Vater zögerte, dann schippte er ein wenig Erde ins Grab, warf eine Rose hinterher, drehte sich weg.

Tanja wollte ihn umarmen, doch jetzt reichte jemand ihr die Schaufel.

Klong, klong. Erde fiel auf den Sarg. Es klang hohl.

Ihr wurde schlecht. Sie schluckte.

Sie wandte sich um zu ihrem Vater. »Paps.« Ihre Stimme brach. Was sollte sie sagen? Worte konnten nicht helfen. Stumm legte sie die Arme um ihn.

Er reagierte nicht.