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Neu! E-Book mit aktivem Inhaltsverzeichnis --Die Eigene Achse: Michael Tutschmann versucht, seinem inneren Chaos zu entfliehen, und entschließt sich, Elektrotechnik zu studieren, die Basis der modernen Kommunikationsgesellschaft mit geordnetem mathematischem Denken und sauberen Aussichten. Seine Mutter finanziert ihn. Umso mehr entfernt er sich von sich selbst und träumt sich immer stärker in eine Parallelwelt, in der er sich mit dem Schauspieler Pete Goldman trifft, sich mit ihm über eine Konsumgesellschaft austauscht, und dessen neue Frau gerne nicht an dessen Seite sehen würde. Er hegt Visionen, seine Schönheitsoperationen als Medienspektakel zu verkaufen, damit er schneller das andere Gesicht bekommt, denn sein düsteres Selbstbild sucht ihn zunehmend heim und sein Selbsthass zerstört seine Integrität.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Inhaltsverzeichnis
Die Eigene Achse 8
Einleitung 9
Licht 11
Designkonzept 20
Forschen I 36
Eine Ebene höher 45
Kapitel V 59
Kapitel VI 62
Wurzeln 65
Restsommer 91
Kapitel IX 97
Studium 108
Forschen II 116
Forschen III 125
Mitte Oktober beginnt mein Semester. 134
Mein Geburtstag 151
Kleines Weihnachten 165
Bis Ostern! 174
Flohmarkt 204
Ostern bis Weihnachten 217
Weihnachten zu Hause 237
Zurück in Berlin 285
Kapitel XXI 298
Kapitel XXII 305
Haare schneiden 313
Kapitel XXIV 317
Die Stunde hat geschlagen 326
Kapitel XXVI 339
Kapitel XXVII 351
Kapitel XXVIII 366
Kapitel XXIX 368
Die Steigerung zum Finale 371
Kapitel XXXI 380
Kapitel XXXII 393
Kapitel XXXIII 409
Der Gipfel 417
Kapitel XXXV 438
Labor 447
Die letzte Party 450
Neue Ziele 467
Auszug aus der WG 485
Bibliothek 500
Beginn des Dokuments 507
Nomtha 513
Abschied 527
Zu Hause 540
Kapitel XXXXV 552
Glossar 571
Philip Jung wurde 1981 in der Nähe von Karlsruhe geboren. Heute lebt er als freier Autor in Berlin. Die Atmosphäre in der Stadt, sowie die Begegnung mit gewissen Menschen im inneren Abgleich zu sich selbst, unter Nutzung seiner Phantasiebegabung und psychologischem Wissen inspirierten ihn die drei Romane EinTraum, Die Eigene Achse und Die (Ideologie der) Offenbarung zu schreiben. Er versucht darin, in psychologischen Entwicklungsromanen einige narzisstische Phänomene zu ergründen und spürbar zu machen, jedoch nicht zu erläutern, und somit offen zu halten für eigene Interpretationen des Lesers, da er der Meinung ist, daß das Leben nicht erklärbar und kategorisierbar sein kann. Neben seiner Autorentätigkeit arbeitet er in verschiedenen Berufen, wo ihm häufig die Menschen begegnen, die ihm den Stoff liefern zu seinen Geschichten, denn wie es so schön heißt: Autoren erfinden ihre Geschichten nicht, sie bekommen sie erzählt.
Bücher von Philip Jung im SoU-Verlag (Sozialer Untergrund Verlag) : Wie eine Feministin Buffalo Bill überwältigte – Ein Harlekin beim Psychologen – Der Entenmörder – EinTraum – Die Eigene Achse – Die (Ideologie der) Offenbarung
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(eBooks und Taschenbücher)
www.sou-verlag.de/shop
Philip Jung
Ein Meister des Narzissmus
Die Eigene Achse
EMDN II
Roman
Dritte Auflage
®© 2022, Philip Jung
www.sou-verlag.de
www.facebook.com/philipjung81
Impressum:
Philip Jung
Waghäuseler Strasse 9
10715 Berlin
Äußerer Vater
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Äußere Mutter
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Innerer Vater
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Innere Mutter
Die Eigene Achse
Es ist dunkelgrau oval umrahmt. Seine silbernen klaren Linien schneiden durch meine Wangen und in einer geraden Linie über meinen Brustkorb zum Solarplexus. Grau und hellgrün. Hässlich ist es nicht. Nah und weit entfernt zermürbt es meine Augen; inspiriert und blendet. Von der Mitte meines Schlüsselbeines abwärts zersetzt es die Lunge. Es ist eklig, aber vielleicht Liebe, wenn es nicht ein Stück zu weit oben zwischen den Rippen säße. Es ist unendlich klein, und hat unendlich viel Energie, weich und krank. Es ist Krebs. Es gehört dazu oder nicht. Der Rand sieht aus wie Wolle, ist synthetisch und fest.
Ich werde nervös und kratze mich am Kopf. Die Leitungen sind scharf. Es fließt ein kleiner Strom, der den Raum so deutlich teilt, dass man es akzeptieren muss - hell.
Es ist ein künstliches Lebewesen mit grau grünen Augen und einem dunkelgrau-grünen Mund. Seine Barthaare und seine Kopfhaare sind zählbar und stehen ab wie Sonnenstrahlen. Das Baby liegt auf einem Kissen in einem ovalen Bett. Jetzt finde ich den Mikrocontroller schön. Ich bekomme Sehnsucht, frisches Wasser zu trinken.
Einleitung
Es ist Vormittag im Frühling. Wenn die Wolken die Sonne bedecken und der Ostwind leicht weht, ist es noch kühl. Man kann sich nicht entscheiden, den Pullover auszuziehen. Ich bin von unserer neuen Wohnung Richtung S-Bahn Brücke Warschauer Straße gelaufen, um mir im Supermarkt mit einem beliebigen Einkauf die Zeit zu vertreiben.
Dass ich die Worte nicht finde, warum ich über Schönheitsoperationen nachdenke, ist grausam.
Ich tue etwas hauptsächlich und weiß entschieden nicht warum.
Man müsste mit Silikon aufspritzen und Fleisch wegschneiden beziehungsweise transplantieren. Alles hinterlässt Narben und scheint mir ein Pfusch, auf den kein Chirurg eingehen würde, und den ich selbst auch nicht will.
Die Zweifel kosten mich Kraft, und ich denke soviel darüber nach, dass ich Bedürfnis hätte, ausführlich mit jemandem zu sprechen, nur um inneren Druck abzubauen. Real gesehen ist das nicht möglich. Keiner hört mir zu. Ich habe nicht die Gabe, Leute im Gespräch für mich zu interessieren.
Josef würde mich im dritten Satz unterbrechen und mich übertrumpfen mit dem Thema, wie dramatisch sein Leben bisher verlief, wieder zu seiner Drogenvergangenheit aufschließen, und damit enden, dass er zwar noch geil aussieht aber nicht mehr so wie früher.
Ich erlaube mir höchstens im Stillen einzubilden, dass ich ein ernstes Problem habe. Ich müsste einen Schwachmaten spielen, der verzweifelt ist, und alle würden weglaufen mit: „Hilfe, der hat ja einen Sprung! Wir dachten, Du bist ein gediegener Typ!“
Und ich weiß noch immer nicht, was ich mir von Schönheitsoperationen erwarte. Die Veränderungen, die ich mir bisher gedacht habe, sind nicht auf dem Punkt. Das spüre ich.
Vielleicht habe ich die Orientierung verloren.
Ich will jetzt versuchen, so langsam über die Fußgängerampel zu gehen, dass mich ein fahrendes Auto erwischt.
Das Männchen ist lange rot. Ich stehe auf dem Mittelstreifen, und gehe los. Von der zwanzig Meter entfernten Ampel fährt ein Porsche an. Er beschleunigt so schnell, dass ich es nicht auf die andere Seite schaffen kann. Ich will rennen und bleibe geschockt auf dem Fahrstreifen stehen. Er bremst voll und hupt. Genauso der Wagen auf der zweiten Spur. Ich ziehe den Kopf ein und hebe die Hand hoch als Entschuldigung. Ich bin voller Adrenalin, was sich gut anfühlt, und muss irritiert lachen. Auf der anderen Seite versuche ich zwischen den Fußgängern zu verschwinden. Nach oben schaue ich erst wieder, als ich mir sicher bin, dass keiner mehr in meiner Nähe geht, der die Überquerung mitbekommen hat.
Licht
Eine Woche später stehe ich in unsrem neuen Bad vor den Spiegel. Es ist gegen Mittag, und weiches Licht fällt in den Raum.
Ich spiele an meinen Gesichtszügen und versuche neue Erkenntnisse zu gewinnen, wie ich diese Gleichung finden kann. Es ist mein routiniertes Spiel, dessen Sinn ich nicht bezweifeln will und auch nicht kann, weil ich in diesem Loch gefangen bin.
Die Handballen aneinander gelegt, öffne ich die Hände zu einem V, und berühre meine Wangen am äußersten Punkt, wo sich wie ein kleiner Huppel*1 am Knochen ertasten lässt.
Ich ziehe sie, wie noch nie, leicht nach oben und nach hinten, im Ansatz als würde ich mir Feuchtigkeitscreme auf den Wangen verteilen, so wie es in der Werbung gemacht wird: vorsichtig und mit langen grazilen Fingern.
Da ist es. Ich sehe diesen Typen. Er sieht recht blass aus, weich, klein und unscheinbar. Er hat nichts mit Pete Goldman in Filmen zu tun, aber er ist es.
Ich selbst sehe aus wie Pete Goldman! Nicht die Leute, die ich auf der Straße beobachtet habe. Alles dürfte gleich sein. Die Eingebung ist so stark, dass ich nichts mehr anderes glauben kann.
Zusätzlich ziehe ich die Augenbrauen leicht hoch, damit sie den richtigen Verlauf haben, so wie ich ihn von Pete Goldman aus Freiwillige in den Keller kenne. Sie waren gezupft für den Film. Das weiß ich jetzt auch.
Die Gesichtsform ist im Grunde die gleiche; immer vorausgesetzt, mein Gesicht wäre korrigiert. Deswegen muss auch der Schädel gleich sein. Es ist eine Kette. Der Schädel muss dieses gleiche Gesicht mit gleichen Abmessungen fassen. Unten sitzt er auf einem Hals mit selbem Durchmesser und selber Länge. Es folgen Oberkörper und Beine. Jeder Knochen passt genau mechanisch zu den anliegenden. Es ist ein Baukastensystem mit unendlich individuellen Teilen.
Ich habe also auch dieselbe Figur wie Pete Goldman, den gleichen Hintern, auf den alle so abfahren; huhu, da könnte ich mir was drauf einbilden. Der Gedanke ist etwas peinlich, aber es ist alles logisch.
Meine Beine sind nicht zu kurz. Der Spiegel verursachte den Eindruck. Er stand schräg an der Wand, und ich habe von oben auf mich geschaut. Die Beine waren weiter weg von den Augen als der Oberkörper, und somit im Verhältnis kürzer.
Der Hinterkopf muss nicht verkleinert werden und man muss auch das Becken nicht brechen. Es sind ganz schön absurde Gedanken, die ich damals hatte. Ich puste aus und schüttle den Kopf.
Das Kombinieren macht mir jetzt Spaß.
Ich schätze, eine Korrektur funktioniert ab sofort ganz ohne künstliche Materialien. Es muss nichts aufgefüllt werden, nur immer Knochen abgetragen.
Meine Lippen sind passend, wenn auch etwas anders als die von Pete Goldman; aber sie passen zu meinen Eigenschaften: diesem Weicheren, das mit den Locken zu tun hat. Ich finde, dass mein Gesicht deswegen sogar hübscher wäre.
Die Falte*2 vom Nasenflügel zum Mundwinkel wird nach der Operation verschwinden. Sie ist der Indikator, dass das Muskelgewebe auf den Wangen im aktuellen Zustand nicht richtig aufgespannt ist, weil die Wangenknochen zu tief sitzen. Es ist das komplexeste Problem, das ich zu lösen haben werde.
Wie genau sind die Wangenknochen verschoben?
Was ich mit der Bewegung der Finger zu diesem V nachgeformt habe – ich schaue jetzt wieder genau in den Spiegel und mache das noch einmal, damit ich mir die Bewegung sicher für alle Zeit merken kann – dieser Effekt kann nur authentisch wirken, wenn man den Wangenknochen unter dem Muskelgewebe verschiebt und kein billiges Facelifting macht. Es ist mehr so, als würde man einen Bilderrahmen geradebiegen, damit die Leinwand wieder richtig gespannt ist.
Es würde mit einem Schlag auch das Problem lösen, dass meine Augen wie träge Tropfen wirken, und überhaupt viele kleine Ecken ausbessern, für die ich zuvor Silikon gedacht habe; an den Schläfen zum Beispiel.
Wie diese Korrektur funktionieren soll, muss ich mir noch genau überlegen. Ich habe gutes dreidimensionales Vorstellungsvermögen und werde mich scharf konzentrieren müssen, um die komplizierten Knochenverläufe mit den ganzen Atemwegen berücksichtigen zu können. Das wird ein Gang auf Messers Schneide. Da kann viel kaputt gemacht werden. Aber es ist um Längen einfacher, als den Hinterkopf zu zertrümmern oder das Becken zu brechen.
Alles kommt mir jetzt viel realistischer vor und angenehmer, und fast schon machbar. Ich bin Realist, das wusste ich immer. Wenn ich etwas tue, hat es Hand und Fuß, worauf auch immer es hinauslaufen wird.
Es ist verblüffend, wie ich anderthalb Jahre durch diesen Tunnel gelaufen bin, und nicht wusste ob es einen Ausgang gibt, immer im Dunkeln, nur mit irgendeinem Instinkt und einer Hoffnung. Es ist meine erste große Lektion im Leben. Ich kann nicht bestimmen, was ich will, wer ich sein werde und wohin ich gehe. Es muss einer in mir sitzen, der alles besser und schneller weiß, und dem ich zu meinem Wohl vertrauen sollte. Ich kann nichts bestimmen.
Ich konzentriere mich wieder auf mein Spiegelbild. Das neue Gesicht wirkt so schön harmonisch.
Zum ersten Mal sehe ein Gesicht von mir, das stimmig aussieht, einheitlich strukturiert, eigentlich so wie alle Gesichter, die ich kenne aus der Schule und von Photographien. Es scheint eine Regel zu geben, die ich nicht erfülle, was eine Gesichtsstruktur angeht, gewisse Gesetze beziehungsweise Regelmäßigkeiten darin, die eigentlich bei allen Menschen so sind, aber bei mir nicht; vielleicht noch bei wenigen anderen, die ich aber nie gesehen habe.
Ich sah mich immer abgesondert von diesen normalen Gesichtern, vor allem auf Photographien.
Das kann ich mir jetzt anatomisch erklären.
Natürlich würden an dieser Stelle viele sagen, dass man Photos von sich am kritischsten betrachtet.
Das würde ich sicher auch tun, ohne diesen Defekt, den ich da habe, obwohl ich schon immer fand, dass vor allem Leute, die gut aussehen sich über ihre Photos besonders empörten, aufgesetzt. Es schien mir immer, sie wollten sich mit dem zeitgemäßen Scharm eines Metros*3 lieber ungenügend und kleinlaut geben, weil es besser ankommt, als überheblich zu prahlen. Vielleicht hätte ich es ihnen genauso übel genommen, wenn sie geprahlt hätten. Aber sie sahen gut aus! Das war nicht zu leugnen. Ich hätte nichts anderes bestätigen können. Und warum sollten sie es selbst nicht wissen? Dieses unbegründete unsichere Gehabe nervte mich schon immer.
Ohne es zu bemerken habe ich den Kopf gesenkt und starre auf die Fließen.
Ich hebe ihn wieder, und rätsle über das Gewebe auf den Wangen und die Jochbeine darunter, so heißen doch diese Knochen.
Das Gewebe auf den Wangen hängt durch diesen Defekt bedingt also zu tief im Gesicht, und drückt auf den Oberkiefer, an dessen Übergang sich diese Falte bildet zwischen Nasenflügel und Mundwinkel. Das Gewebe bei älteren Menschen hängt altersbedingt, sodass sich diese Falte bildet; bei mir ist es aber ein Defekt, ein genetischer Defekt.
Das könnte wirklich sein. Irgendetwas im Erbgut ist verändert, und deswegen hat sich der Wangenknochen verschoben ausgebildet beziehungsweise woran liegt das eigentlich?
Gut wäre, - und ich schätze auch, dass es so ist, weil ja auch das Auge so tropfenförmig wirkt - wenn der Wangenknochen nicht verformt ist, denn das wäre nur grob reparabel durch Modellierung - sondern eben nur verschoben....weil...die Augenhöhle ihn abdrängt, nach vorne unten und innen. Die Augenhöhle ist zu groß gewachsen.
Vielleicht schließen meine Augen, wenn ich blinzle oder schlafe gar nie richtig, weil ja das Gewebe, indem die Muskeln sitzen, falsch aufgespannt ist. Wenn es an den Wangen zu weit nach unten hängt, ist es unter den Augen und an der Schläfe überspannt, also gedehnt. Ich spüre das nicht eindeutig, weil es schon immer so ist, weil ich damit geboren wurde. Meine Augenränder könnten deswegen auch stärker sein als ohne den Defekt, weil die Haut überspannt und ausgeleiert ist.
Aber es ist ein Defekt. Das ist sicher. Ich schätze, es gibt draußen nicht viele Leute, die das gleiche haben. Erinnern kann ich mich an niemanden, und ich werde überprüfen, ob ich Recht habe. Ich werde Tausende beobachten.
'Optimaler Gesichtsaufbau', das formulierte ich, als ich Pete Goldmans Gesicht in dieser Filmszene im Flugzeug zum ersten Mal sehen konnte. 'Optimaler Gesichtsaufbau'. Das ist auch verblüffend, welche Eingebung mich damals schon geordnet hat und in die richtige Richtung geleitet. Wie kann ein Gesicht optimal sein? Für wen und zu welchem Zweck? Eigentlich sind Gesichter individuell verschieden und nicht vergleichbar oder kategorisierbar. 'Optimal' klingt, als hätte ich eine Lösung gefunden für ein konkretes Problem, wie einen passendem Einbauschrank für eine schwierige Ecke.
Ich habe also ein berechtigtes, begründbares Problem mit meinem Gesicht.
So sieht das Neue aus, und so das Alte. Ich forme das noch einmal nach.
Wenn ich die Hände wieder von den Wangen nehme, und meine Gesichtszüge zurückrutschen, kann ich jetzt eindeutig den verzerrten, negativen Ausdruck wahrnehmen. Er ist nicht wegzudenken. Und ich will ihn auch gar nicht wegdenken. Es wäre Heuchelei. Ich kann mich doch nicht dümmer machen als ich bin. Es sieht eindeutig nach allem möglichen Negativen aus, was man mir nachsagt oder meistens hinter vorgehaltener Hand denkt: Drogenabhängig, schlecht drauf, alt, verlebt oder böse und aggressiv.
Das ist eigentlich eine Katastrophe. Ich kann mich an alle diese Kommentare erinnern. Diana hat letztens auch zu mir gesagt, sie hätte zu Anfang Probleme mit meiner Ausstrahlung gehabt. Aber wer gibt das schon zu? Die meisten wären nicht so offen wie sie. Ich muss alles selbst erkennen. Das heißt, ich muss jeden überprüfen und kann niemandem trauen.
Erst wenn mein Gesicht operiert ist, wird sich das ganze wieder ausgleichen. Man wird mich positiver wahrnehmen und meine Seele wird heilen; ich werde wie von allein zu einem lieblicheren Weltbild getragen werden.
Im aktuellen Zustand ist mein Gesicht zu einer dezenten Grimasse verformt. In deutlicherer Form machen sie Kinder manchmal nach. Sie umgreifen mit dem Daumen den Unterkiefer, und mit vier Fingern ziehen sie die Backen lang. Es ist die beleidigte Leberwurst oder der Zombie.
Mit Kommentaren zu meiner Ausstrahlung macht man sich also über eine Behinderung lustig, interpretiert sie in irgendeiner Form als pervers; und die meisten würden mir nicht einmal empfehlen, ich soll mich operieren lassen. Sie sind zu feige, mir damit weh zu tun, tun mir aber mit ihrer Falschheit genauso weh; obwohl ich auch keinen Behindertenausweis wollte, weil ich dann ganz offiziell nicht mehr für voll genommen würde.
Ab jetzt kann ich mich von meiner Ausstrahlung distanzieren und absetzen, muss sie nicht mehr allzu ernst nehmen, weil ich weiß, woran es liegt.
Ich werde schmunzeln müssen beim nächsten Kommentar. Es liegt einfach an meiner Anatomie, und keiner nimmt es wahr. Die Leute sind völlig in irgendwelchen humanistischen Vorsätzen und Klischeegedanken, religiösen Höflichkeitsfloskeln gefangen, und sehen nicht über den Rand. Sie haben keine Phantasie, die ganze Sichtweise einfach mal umzudrehen, und zu sagen: „Ja, das liegt an deiner Gesichtsform, der Knochen steht über, und an nichts anderem. Lass es wegmachen, dann passt das, dann läuft der Laden.“
Aber wahrscheinlich würden sie sagen:
„Um Gotteswillen. Das hast Du doch nicht notwendig.“
„Ja, aber warum nennt Ihr mich dann so abwertend?!“
Es würde keinen Sinn machen, weiter zu fragen. Sie sind so hohlgläubig, dass sie es selbst dann sich nicht eingestehen könnten, in welchem Widerspruch sie handeln. Die meisten Menschen sind so erschreckend manipuliert.
Jedenfalls fühle ich mich gut heute. Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, könnte man sagen. Es ist der erste Tag seit langem, an dem ich Licht sehe.
Es gibt ab jetzt soviel zu entdecken.
Ich habe einen Doppelgänger, der das größte Idol meiner Generation ist!
In der Schule, in der zehnten Klasse, 1999, stand ich in der Klassenzimmertür mit Elsa und Nel. Nel meinte: „Rasier' Dir doch mal eine Glatze. Das würde Dir bestimmt gut stehen.“
Ich trug einen Kurzhaarschnitt. Elsa bestätigte Nel, und ich antwortete:
„Ich glaube nicht. Ich will mir keine Glatze rasieren.“
Freiwillige in den Keller war in diesem Jahr scheinbar neu im Trend. So im Nachhinein kann ich das abschätzen. Ich hatte diesen Film damals nicht gesehen.
Wahrscheinlich wollten sie nicht direkt zugeben, dass sie finden, ich sehe Pete Goldman ähnlich.
Aus dem Kopf eines Mädchens interpretiert wäre das doch gleichbedeutend mit:
„Wir stehen auf dich.“
Pete Goldman ist hauptsächlich ein Sexsymbol.
Ob sie es wussten oder nicht, sie brachten mich unbewusst mit Pete Goldman in Verbindung. Es ist oft so, dass Leute mir unglaubliches Potential zuschreiben, was ich erreichen könnte, welche Talente ich habe, dass ich den großen Coup landen werde. Warum? Wer gibt das vor? An wem orientieren sie sich dabei? Noch habe ich nichts erreicht. Aber Pete Goldman hat viel erreicht. Man schreibt ihm alle herausragenden Eigenschaften zu. Ich schätze, die Leute übertragen das unbewusst auf mich, weil ich auch so wirke.
Allerdings ist es möglicherweise bisher nicht deutlich sichtbar, weil meine Gesichtsform verschoben ist, oder weil ihnen das Transfervermögen fehlt, einen Filmstar mit einem Unbekannten gleichzusetzen.
Das Thema ist hochinteressant. Ich sehe aus wie das Idol meiner Generation.
Was bisher jedenfalls gleich aussieht, das sind die Körperfarben: Haare, Haut, Augen und Lippen.
Auch das dürfte zur Identifikation reichen, irgendeinen Hinweis geben.
Klaus hat auf dem Parkplatz vor der Ehemaligen Badeanstalt, als er mir von der roten Lederjacke und Pete Goldman erzählt hat, Selbsterkenntnis an mich herangetragen, ohne dass er gesagt hätte: „Du bist so.“
Mir würde diese rote Lederjacke erst recht stehen, aber ich will nicht noch offensichtlich Pete Goldman nachahmen.
Alle Kleidung von ihm würde mir eigentlich stehen. Zum Teil habe ich mich schon inspirieren lassen, aber nur zum Teil und eher mit unauffälligen Stücken, die ich auf Photos gesehen habe, die von ihm auf der Straße geschossen wurden von Paparazzi, also eher Alltagskleidung. Im Prinzip könnte ich blind seinen Kleiderschrank benutzten, falls wir eines Tages vielleicht Freunde werden.
Er trägt wie ich viel blau. Schwarz steht mir nicht so gut. Die Farbe wirkt zu streng. Blau ist mein Schwarz.
Ich will nach draußen und den Tag genießen.
Designkonzept
Eine Woche später habe ich Vorstellungstermin für meine Mappe an der Designuniversität in Potsdam.
Am Nachmittag zuvor ist die Mappe zusammengestellt; mir fehlt aber noch ein Design-Thema, das ich präsentieren kann. Es wird eine Gesprächsrunde am Tisch geben, mit mehreren Bewerbern und dem Professor.
Ich will keine Tische zeichnen oder Haushaltsgeräte. Das ist alles bereits erfunden, und es gibt Tausende Varianten. Man kann es nur immer noch ein wenig verfeinern oder ihm eine abgewandelte Form geben, und trotzdem bleibt es dasselbe in seiner Funktion, das einzige was doch zählt im täglichen Gebrauch.
Auf der Straße kommt mir meine Idee. Ich werde mehrere Anleitungen erstellen, wie man aus Müll Modelle bauen kann. Es ist das Ost-Berliner Prinzip, dass ich jedenfalls als solches verstehe. Man macht aus dem Vorhandenen das Beste, weil man nicht mehr Möglichkeiten hat, wie früher in der DDR.
Die Ausarbeitung der Idee zieht sich gegen Abend. Ich steigere mich hinein.
Es ist bereits nach Mitternacht, als ich den Namen für meine Modellreihe kreiere, weil mir das Wort gerade im Kopf geistert. Ich nenne sie: Autoprokel.
Ich habe mehrere Tassen Schwarztee getrunken, und experimentiere mit Orangennetzen, Streichhölzern, Joghurt-Bechern, Konservenbüchsen, Pappschachteln, Schaschlikspießen, Gummis und kleinen Sonnenschirmen, die man zum dekorieren von Eisbechern verwendet.
Ich entwerfe eine Art Fischernetz, in das ich zur Dekoration noch Muscheln lege, ein Puppe, und mir fehlt noch ein drittes Modell.
Ich überlege nicht lange. Es wird ein Tisch-Fußballspiel mit einem Papierknäuel als Ball, Plastiklöffeln als Beine und Holzspieße als Tore. Es soll möglichst kein Kleber verwendet werden.
Anschließend bastle ich einen Katalog, in dem ich die Anleitungen aufzeichne, sodass man ihn im Buchladen kaufen könnte.
Anschließend ist es sieben Uhr morgens. Ich frühstücke nichts, damit ich nicht bequem werde, packe meine Materialien, die Bewerbungsunterlagen, und mache mich auf den Weg nach Potsdam.
Die Bewerbungsrunde verläuft angemessen. Ich bin vergleichsweise wenig aufgeregt.
Wie erwartet ist mein Vorschlag mit Abstand der außergewöhnlichste. Er kostet wenig Geld in der Produktion und bietet Raum für viel Kreativität.
Ein anderer Student stellt das Design für eine Raumsonde vor. Aber das Entscheidende bei der Sonde ist doch, dass sie funktioniert und ihren Zweck erfüllt. Ihre Form wird von innen heraus bestimmt durch die notwendige Technik. Ein Industrie-Designer wird im Entwicklungsprozess eine unwichtige Rolle spielen, höchstens, wenn das Fernsehen den Aufenthalt im All filmen will, sodass die Sonde spektakulär aussehen muss.
Der Student nimmt sich zu wichtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er angenommen wird.
Die Professorin hat immer den jeweiligen Bewertungsbogen vor sich liegen.
Als ich an der Reihe bin, beobachte ich, wie sie Kreuze macht weit rechts in der Skala. Ich hätte nicht gedacht, dass ich nicht einmal mit drei bewertet werde. Aus dem Augenwinkel versuche ich die Schrift auf dem Bogen zu lesen, weil ich mir doch nicht sicher bin, meine aber, die kurzen Wörter „gut“ und „sehr gut“ zu erkennen und nicht etwas langes wie „ungenügend“ oder „ausreichend“.
Wie ich mich mit meinem Vortrag fühle, kann ich schwer einschätzen. Die Müdigkeit hilft mir jedenfalls dagegen, dass ich allzu nervös bin. Einmal zwischendurch freue ich mich auf den Nachhauseweg, wenn ich endlich schön im Zug schlafen kann.
Es ist erst später Vormittag als ich zurück bin in der Wohnung. Ich döse eine Weile auf der Matratze. Einschlafen gelingt mir nicht.
Henning ist schon gegen zwei Uhr zurück von seiner Arbeit bei der Klingeltonfirma. Er sitzt in seinem Zimmer und schaut sich ein Video an, auf dem Klaus Kinski ausrastet während seines Vortragens von „Jesus – Der Erlöser“. Henning findet das unterhaltsam und lacht ziemlich künstlich. Er sucht noch den Humor. Nebenbei behauptet er, dass Kinski angeblich einmal über den Kudamm gegangen sei mit der Theorie, dass er, wenn er hundert Frauen anspricht, eine finden würde, die spontan mit ihm schläft.
Die Idee finde ich reizvoll. Da ich nichts zu tun habe, fahre ich zum Kudamm. Wir haben einen sonnigen, warmen Tag.
Bevor ich eine Frau anspreche, will ich genau sehen, ob sie für mich geeignet sein könnte. Eine effektive Filterung ist nötig.
Ich weiß, dass ich zwar so gut wie nie Frauen anspreche, doch meine Trefferquote ist hoch. Die Flut der Frauen in der Stadt macht es überhaupt möglich, dass mir ein paar wenige Fische im Netz hängenbleiben. Ich beobachte die Passantinnen aus der Distanz, suche Blickkontakt, und wäge ab nach meinen Kenntnissen, welche, wenn nicht zu mir, eher zu Henning oder eher zu Josef passen würde, welchen Pol sie entsprechend hat, plus oder minus – aktiv-passiv, ausgehend auch von ihrem Kleidungsstil.
Es ist scheinbar so eindeutig für Frauen, welchen Typen sie haben wollen. Also müsste es für mich auch einfach sein, das abzuschätzen, und abzuwägen, ob es sich lohnt, sie anzusprechen.
Ich will nicht in diese Falle treten und abgeschmettert werden vom Blick eines Hünen, der mich verächtlich anschaut, als wüssten alle, sie und die Menschen außen herum schon seit einigen Momenten, dass ich gleich ankommen würde und mir diese Peinlichkeit leisten; worauf sie ohne Reaktion mein Geschehen beobachten im Vorbeigehen, ohne innezuhalten, und worauf ich nur mehr ein Schmunzeln auf ihren Lippen lese, wie sie zu einem kleinen Utopisten schauen, und worauf ich mich frage, wie sie eigentlich leben, wie sie zu ihrer Partnerin oder ihrem Partner gekommen sind und was sie zu Hause machen im Bett, diese eitlen Schnösel, die nichts von sich preisgeben, niemals, und deswegen erfolgreich sind.
Henning wird auch zunehmend zu meinem Konkurrenten, der immer mehr wächst, inzwischen mehr als Josef würde ich meinen. Zeitweise schreibe ich ihm alle Frauen zu, die mir begegnen, und die ich irgendwie reizvoll finde. Er hat einmal in unserer Wohnung in der Straßmannstraße bei einer Afterhour montagmorgens mir ein Mädchen vor der Nase weggeschnappt und sie einfach geküsst, wo ich gerade dabei war, mich allmählich anzunähern. Hätte sie zu mir gepasst, hätte sie ihn nicht so schnell geküsst.
Ich muss noch genauer hinsehen und wirklich irgendwas erkennen, das mir auf den ersten Blick erklärt, wie sie zu mir stehen.
-Sportliche und astrale Figur. Sie geht energisch, trägt Turnschuhe in leuchtendem Blau und rot, dazu Blue Jeans und ein weißes Shirt. Die Kleidung ist zu hart abgesetzt für mich. Ihre braune mittelgroße Ledertasche zum Umhängen, mit Quasten aus Lederstreifen, könnte dafür sprechen, dass sie sich für Indianer interessiert. Wenn ja, ist es klischeehaft interpretiert, weil sie es schick ausstellt. Sie will das Märchen und nicht die Realität. Ihre Nase ist leicht gekrümmt; das heißt: sie ist angriffslustig. Damit kann ich nicht umgehen. Ihr Teint ist sauber und hart, wie die Farbe der Turnschuhe. Sexuell schwankt sie zwischen Ängstlichkeit und Übermut. Sie ist programmiert durch die Medien. Ihr Becken ist zu dünn und zu kantig. Ich hatte noch nie eine Frau mit solchem Becken. Ich würde sie tot ficken. Komischerweise dürfte sie auf Josef trotzdem stehen, obwohl er körperlich genauso stark ist wie ich.
-Die Frau, deren Schuhe dominant auf den Boden klackern, ist auch nichts für mich. Sie hält sich für eine tüchtige Geschäftsfrau, die ihren Job gut macht; geht zielgerichtet an mir vorbei, indem sie demonstrativ nach vorne schaut. Ich drehe mich nach ihr um. Ihr Hintern gefällt mir. Aber die Schuhe sind doch unbequem, und es scheint sie nicht zu stören. Sie muss einen stumpfen Charakter haben. Mich würde es nerven, wenn ich so laut aufschlage mit jedem Schritt, sodass man mir nachschaut. Es sind die Hufschläge von einem Pferd. Sie ist eine Pferdediva, und sicher nicht besonders hell.
-Ein hübsches verträumtes Gesicht mit zarter Nase, vollen Backen, schwarzen Locken und einem romantischen Blick. Aber ein rosa Regenschirm? Rosa ist kein Ton, der an meiner Seite harmoniert. Es ist Kitsch. Sie ist hysterisch und hat eine plumpe Phantasie. Sie denkt, sie ist ein liebenswertes unschuldiges Mädchen, dass in einem Märchen lebt, wie Mary Poppins. Widerlich und unecht; in Wirklichkeit schaut sie mich an, als sei sie gestresst und würde mich hassen. Das habe ich gemeint mit widerlich.
-Ein leuchtender selbstbewusster Blick. Sie weiß, was sie will. Aber ihre Nase ist zu groß; zu groß nicht für die Proportionen ihres Gesichts, aber für mich. Sie lebt sicher ausgelassen. Sie strahlt etwas Rohes aus. Ihr Becken ist stark genug. Davor habe ich Respekt und hätte Lust darauf. Ich muss zugeben, ich bin überfordert. Sie würde mich nicht ernst nehmen und wie einen kleinen Buben behandeln. -
Vielleicht sind meine Typen doch die hinter Nickelbrillen mit dunkelblonden Haaren, die streng schauen mit mattem Blick. Wenn sie allerdings diesen gewollt gepflegten Ton reden ohne Inhalt: „Ja ähm, also ich bin ja auch der Meinung ähm...“ - diesen Innenstadtjargon, lehne ich sie ab.
So beobachte ich engagiert, und ziehe fünfmal die Tauentzienstraße entlang, von der Joachimsthaler zum Wittenbergplatz und zurück. Es ist anstrengend. Ich bin gestresst. Es gibt hunderte Frauen. Ich fühle mich zunehmend isoliert vom Menschenstrom.
Beim sechsten Gang entlang der Strecke kreuzen mich die energisch blau leuchtenden Augen eines jungen Mädchens mit braunen schulterlangen Locken. Sie ist einkaufen mit einer Frau, die ihre Mutter sein könnte. Ich drehe mich nach ihr um, und sie im gleichen Moment.
Ich zögere kurz, gehe zu ihr und stelle mich vor. Sie heißt Sandra. Mein Gefühl von Peinlichkeit und schlechtem Gewissen im Angesicht der älteren Frau kann ich übergehen. Fast hätte ich gesagt: „Tut mir leid, dass ich nicht Sie gewählt habe.“
Sie ist tatsächlich die Mutter von Sandra, weil Sandra „Mama“ zu ihr sagt; eine Solarium gebräunte, hektisch wirkende, spanisch aussehende kleine Frau, deren Figur in die Jahre gekommen und stämmig geworden ist.
Wir gehen ein Stück gemeinsam, bis sie sich verabschiedet, und in einem Bekleidungskaufhaus verschwindet.
Sandra und ich gehen zum Wittenbergplatz, wo wir uns auf die Wiese setzen.
Sandra hat ein ungeduldiges Temperament und neigt zum Zicken:
„Das ist wieder typisch. Wenn zwei anfangen, folgen alle“, sie meint das Verhalten der Leute, die sich scheinbar erst nach uns auf die Wiese trauten, die plötzlich voll geworden ist, was ich nun auch feststelle.
Übersetzt heißt das für mich: „Du bist ein geiler Typ. Mit Dir kann ich was erleben.“
Wir sprechen über die Fakten in unserem Leben: Herkunft, Tätigkeit und Musikgeschmack.
Sinn des Gespräches ist es, eine Stimmung zu erzeugen, die besagt, dass wir gemeinsam außergewöhnlich sind und durchaus auch mal einsam. Ich helfe dem ein wenig nach, weil ich es für notwendig halte, als charmante Hinführung, damit Sandra sich gut fühlt und sicher. Mich selbst langweilt es.
Sie ist erst fünfzehn, und ich zögere noch, was ich ihr auch mitteile, und worauf sie zickig reagiert und ein bisschen enttäuscht. Ich lege die Hand auf ihren Rücken.
„Jetzt also doch?!“
„Ja, ich weiß, ich bin unentschlossen, manchmal.“
Wir knutschen. Sie liegt auf mir, ist schwarz gekleidet mit Leggins und Top, ist zierlich, gut proportioniert, und hat eine runde Stirn.
Josef sagt, er könne Rundstirnentussis nicht leiden. Ich rätsle, was es damit auf sich haben könnte.
Sandra küsst vorsichtig mit einer Zunge, die noch kindlich ist. Es ruft mein Gewissen wieder wach. Ich umgreife ihren Hintern und berühre einmal kurz mit den Fingerkuppen ihren Schritt, der vor Hitze verschwitzt ist.
Sie meint dann: Sie müsse nach Hause. Es ist halb acht.
An der Bushaltestelle stehen wir nahe beieinander wie zwei unbeholfene Teenager. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, weil ich mich in dieser Grauzone mit ihr bewege. Sie soll nicht denken, ich hätte kein Interesse.
Andererseits bin ich mir sicher, dass sie die Regel von zu Hause brechen würde, und mit zu mir kommen, falls ich es auf ein Überreden anlege. Im Rausch ihrer Gefühle ließe sie sich entjungfern und ich könnte heute noch Sex haben. Beim nächsten Treffen wird das schwerer werden. Sie wird sich mit einer Freundin oder ihrer großen Schwester über mich beraten.
In diesem Moment steigt eine Frau Mitte fünfzig aus einem Bus. Sie trägt einen grauen Hosenanzug und einen Pixie-Haarschnitt. Das Haar ist ergraut. Es schient, als hätten ihre Augen einst sinnlich gewirkt, und leiden heute unter zu viel Organisation im Alltag, die auch ihr Gesicht prägt durch Züge, die zum Akkuraten, Kantigen neigen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die Professorin von der Designuniversität ist, die mich heute morgen bewertet hat.
Sie kreuzt meinen Blick und schaut missgünstig herab auf meine pädophile Skrupellosigkeit. Sofort drehe ich mich aus ihrer Linie wiederum so, dass es nicht zu auffällig wirkt. Vielleicht hätte ich grüßen sollen.
„Du bist übrigens der erste Typ, der mir sympathisch ist“, Sandra holt mich zurück.
„O.k.. Sonst niemand?“
„Die sind alle seltsam bei mir in der Schule.“
„Hm.“
„Kennst Du Pete Goldman?“
„Schon mal gehört.“
„Der ist so süß.“
„Keine Ahnung.“
Wir tauschen noch die Nummern. Sandra steigt in den Bus Richtung Tempelhof.
Pete Goldman oder ich. Das Mädchen hat hohe Ansprüche. Ich schätze auch, sie findet mich nicht ganz so gut wie Pete Goldman. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie vor meinen Augen zu ihm läuft, und mit ihm durchbrennt, liegt natürlich bei null. Er wohnt nicht in dieser Stadt und so weiter...Warum konnte sie nicht zugegeben, dass ich fast so aussehe? Vielleicht will sie mich klein halten, damit ich nicht denke, ich sei der Größte.
Auf dem Heimweg in der U-Bahn spreche ich im Schwung meiner Eroberung Sandras eine weitere Frau an, und behalte mir ihre Telefonnummer. Ich will endlich frei werden im Umgang mit Frauen, und jede ansprechen, die mir in den Sinn kommt, ohne Zögern.
Zu Hause zieht Rene mich auf, als ich ihm von Sandra erzähle: „Hihi, eine Fünfzehnjährige. Wie süß.“
Ich glaube, er hat Recht.
Das Ergebnis von meiner Bewerbung bei der Designuniversität erhalte ich zwei Tage später per Post. Es ist eine Absage.
Ich vermute, dass mich die Professorin, trotz guter Einschätzungen während der Präsentation, nachträglich ausmusterte, weil sie mich am Kudamm mit Sandra gesehen hat.
So erkläre ich das meiner Mutter am Telefon nicht. Es könnte eine Verwirrung sein.
Ich beschwere mich trotzdem:
„An der Kunstuniversität wurde ich zwar auch nicht genommen, aber da wollten sie authentische Ansätze sehen, die auch roh sein dürfen. Und warum sie einen nicht nehmen, erfährt man natürlich auch nicht. So steht es zwar in den Bestimmungen für die Bewerbung, aber was nützt mir das jetzt!? Die wollen langweilige Leute, die geordnete Ideen haben. Das Gewöhnliche wird halt bevorzugt.“
„Ja und Du!? Du scheinst ja auch nicht der Held zu sein!“
„Wahrscheinlich.“
„Sieh es mal so!“
„Ja, ist o.k..Mach ich!“
„Nicht jeder empfängt dich mit Kusshand, nur weil Du das gerne so hättest.“
„Haja. Das habe ich jetzt ja erfahren.“*4
„Na also.“
„Eben.“
„Und wie geht es sonst?“
„Pffhh: Alles in Ordnung. Sonst ist ja nichts.“
„Na das hört man doch mal gerne zur Abwechslung. Bei uns ist auch alles in Ordnung soweit. Ich bin so langsam am Kartons packen. Kommst Du eigentlich zu meinem Umzug?“
„Wann ist der jetzt genau?“
„Ende Juli läuft der Mietvertrag aus. Und dann wäre es auch so weit.“
„Wenn ich kann; ja, klar, auf jeden Fall; also wenn ich kann.“
„Wieso? Ist irgendwas? Steht irgendwas an?“
„Weiß noch nicht. Ich muss mal gucken, was ich jetzt brauche für mein Elektrotechnik Studium.“
„Das soll es also jetzt definitiv sein?“
„Haja. Das bleibt jetzt noch.“
„Ist deine Entscheidung. Ich will nur, dass Du was machst.“
„Eben.“
„Was ist? Du brummelst so 'rum. Sollen wir aufhören zu telefonieren?“
„Joah, wäre vielleicht besser. Ich habe noch was zu tun.“
„Was hast Du denn zu tun?“
„Aufräumen. Alltägliche Arbeiten.“
„Ach so. Na dann will ich dich nicht weiter stören.“
„Ja.“
„Dann wünsche ich Dir noch einen angenehmen Tag, und lass von Dir hören.“
„Ja.“
„Bis dann.“
„Ja.“
So ist das. Nicht einmal meine Mutter gibt mir Zuspruch. Wahrscheinlich hat sie Recht. Ich bin zu eingebildet. Eigentlich hätte ich noch ein Bedürfnis gehabt, mich über meine Mitbewohner zu beschweren. Henning räumt nicht auf und Rene verhält sich immer schlampiger. Er hat die Woche mein Taschenmesser einfach mit auf den Bau genommen zum Arbeiten. Es war total versandet. Ich bin auf ihn los.
Ich werde also Elektrotechnik studieren. Mit einer Laufbahn als Ingenieur werde ich auf der sicheren Seite stehen. Es braucht keine besondere Initiative, außer den Unterricht zu besuchen. Stellen gibt es mehr als Uni-Absolventen. Ich werde Geld von meinen Eltern bekommen, und kann nebenher mein Gesicht erforschen.
Es fühlt sich geborgen an und nach Heimat, diese vernünftige Entscheidung getroffen zu haben.
Es ist gut, dass ich anfange zu studieren. Es wird mir Struktur geben. Ich muss gestehen, dass ich mich verloren habe im Nachdenken, und mich um nichts weiter kümmerte.
Witzigerweise tun sich jetzt Türen auf zum Auflegen, wo ich mich davon abwenden will, als wolle das Schicksal mich ärgern. Diesen Sommer werde ich auf jeden Fall noch im Ada-Molg spielen, einem neuen Club an der Jannowitzbrücke.
Es verletzt meinen Stolz, wenn ich sehe, dass ich mich geschlagen gebe auf meinem selbst gewählten Weg, und zwei Jahre später als alle Jahrgangskollegen vom Gymnasium doch anfange zu studieren, was ich nie wollte. Universität, diese vorgegebene gemachte Lehre stand eigentlich unter meiner Würde, und jetzt nehme ich sie als Notlösung. Das ist arm, aber so will ich nicht denken. Ich will die positiven Seiten sehen, und mich darauf freuen, so gut es geht. Es wird gehen.
Was ich eigentlich will, ist nachdenken und Formulierungen finden für mein Leben und das, was mich umgibt. Diese kleine Traumwolke kreist weiter in mir. Ich mag sie. Aber ich schätze, es ist nichts, was man wollen sollte. Es führt zu nichts, was sich finanziell auszahlt und mittelfristig aus dem Chaos führt.
Für die meisten riecht diese Einstellung nach Faulheit davor, sich abzuarbeiten, obwohl ich schon den Eindruck habe, dass ich viel arbeite. Nachdenken ist anstrengend. Andererseits beunruhigt mich schon, dass ich für immer so bleiben könnte, wie ich bin. Nichts interessiert mich, außer Musik hören und ab und zu ein T-Shirt bemalen.
Ich will auch nicht, dass mir jemand empfiehlt, ich solle Philosophie oder Psychologie studieren. Ich möchte so was nicht aus Büchern lernen.
Der Vorteil mathematischer Fächer, die mein Studiengang hauptsächlich beinhalten wird, ist immerhin, dass es logische Regeln gibt, die zu eindeutigen Lösungen führen, die man schnell und elegant finden kann, und so Zeit sparen.
Es wird einem keine subjektive Meinung aufgedrängt von einem Professor, der sie nach langem Studieren für Wissenschaft hält, und der einen nur manipulieren will. Das kann ich nicht leiden. Das war früher im Deutschunterricht so. Da haben auch immer die das Wort gehabt, die es als erstes erhoben haben, hysterische Mädchen, die zu allem ihren Senf dazu geben mussten, und sich so schnell eine Meinung bildeten, dass ich nicht mitkam.
Sie waren nicht besonders intelligent. Sie hatten keine Ahnung vom Leben. Sie fühlten sich nur immerzu übergangen, wenn jemand anderer Meinung war, sodass sie sofort einwenden mussten.
Einen Studiengang, wie ich ihn belegen werde, könnten sie nicht schaffen, weil sie die Mathematik ganz einfach nicht verstehen würden. Hier kann man nicht schwafeln und sich Punkte erschleichen mit Überredungskünsten.
Josef und Henning versuchen nach Filmen zu leben, ignorieren ihre Probleme und schaffen sich ihre künstliche Identität, die sie vor Ernüchterung schützt mit der Erkenntnis, dass sie nichts sind. Den Schlimmen Jungen spielen ohne vernünftige Grundlage wird mit der Zeit entlarvt werden. Es ist für mich leider nur immer bitter, die Zeit bis dahin abzuwarten.
Josef hat die Quittung durch Patricia bekommen. Er ist sozial abgestürzt, und es geschieht ihm recht. Charlotte wird es bei Henning noch feststellen.
Warum Frauen auf solche Taugenichtse stehen, wird mir nie in den Kopf gehen.
Ich weiß, wer ich bin, bodenständig mit guten Wurzeln, und ich werde mich gegen beide durchsetzen.
Um Rene brauche ich mich nicht zu kümmern. Von ihm kann ich nichts lernen. Alle Frauen, die er mitbringt, interessieren sich auch für mich. Ich verstehe eigentlich überhaupt nicht, was er in Berlin will. Mir scheint, als kämen inzwischen alle nach Berlin, die sich irgendwie für außergewöhnlich halten.
Wenn ich genau bestimmt habe, wie viel von welchen Knochenteilen korrigiert werden muss, werde ich zum Chirurgen gehen, und ihm den Plan vorlegen. Mit seiner Bestätigung im Rücken kann ich es dann auch problemlos allen Freunden erzählen. Sie werden Ehrfurcht haben und neidisch sein; Henning, Josef, Charlotte. Mit Neid sollte ich lernen umzugehen.
Wenn ich ganz aussehe wie Pete Goldman, werde ich als erster Mensch meine Generation überholen. Ich meine damit, dass eine Generation doch nach dem strebt, was ihre Idole vorleben: in Filmen, welche Musik sie spielen, wie sie in Interviews argumentieren. Die Idole stammen meistens aus der Generation davor, sind ungefähr zwanzig Jahre älter und haben einen guten Draht zu jungen Menschen. Man wird sein Idol im Normalfall aber nie erreichen. Es wird immer über einem stehen; selbst wenn man eines Tages erfolgreich ist im gleichen Beruf. Man wird niemals an der Stelle stehen, von der aus das Idol einen einst inspiriert hat. Das zu erreichen dürfte die Himmelfahrt bedeuten.
Ich werde als erster Mensch die große Chance haben, diese berauschende Inspiration permanent zu fühlen. Ich werde nach der Operation nicht neben, sondern im Idol meiner Generation stehen. Es muss phantastisch sein.
Würde ich, wie gewöhnlich, ein Idol für die Generation nach mir werden, stünde ich zu weit weg von ihr. Ich stelle mir gerade vor, meine kleine Schwester und ihre Freundinnen verehren mich.
Sie würden begeistert sein vom Medium, das ich produziere, aber wir hätten keinen Kontakt. Sie blieben unter sich; wogegen mir meine alten Freunde müde lächelnd auf die Schulter klopfen, von wegen, was ich für Kindereien im Kopf hätte. Für sie würde ich immer der Alte bleiben. Ich will aber jetzt bewundert werden. Sonst verpasse ich die besten Jahre meines Lebens.
Pete Goldman ist kein Idol aus einer kulturellen Ecke, die ich besonders schätze. Er ist hauptsächlich ein romantischer Kommerzieller, und seine Fans sind vierzehnjährige Schulmädchen.
Ich komme aus dem Underground, wo extreme Leute sich treffen für eine Randkultur, die wenige verstehen, die aber intensiver ist. Dafür ein Guru zu werden reizt mich eigentlich mehr.
Es gab angeblich Leute, die sich den Kopf von Sven Väth*5 auf die Brust tätowieren ließen; und einmal bin ich in meiner Kleinstadt an parkenden Autos entlanggegangen und habe auf einer Rückablage einen Altar mit Kerzen und einem Bild gesehen, der ihn verehrte. Es war mitten in einer bürgerlichen Gegend, und ich vermutete sofort eine Party oder zumindest einen Keller, in dem man sich treffen könnte, jedenfalls hätte ich gerne den Menschen getroffen, dem dieses Auto gehörte.
Mit Pete Goldmans Gesicht, in mich operiert, könnte ich zu hell wirken und zu glatt, als dass mich solche Leute noch unter sich akzeptieren würden.
Andererseits will ich eine anatomische Krankheit heilen. Das ist wichtiger, als den Ruf von einem Verrückten zu haben.
Zumindest könnte ich nach einer Operation den kommerziell Orientierten ruhig ins Gesicht blicken, weil ich alles erreicht habe, nach was sie streben, und sie könnten nicht mehr anmaßend werden.
Ich werde mich zurücklehnen und nur noch um meine persönlichen Interessen kümmern.
„Aber Du musst doch mehr aus Dir machen. Du hast so viel Potential. Nutze es!“
„Zu was? Ich habe alles.“
Sie können mich zu nichts mehr verführen und schon gar nicht zwingen. Das neue Gesicht und der verbundene Status wird mir eine klare Sicht von oben auf die Gesellschaft geben, und viel Zeit, in Ruhe zu leben.
Henning und Charlotte holen mich aus den Gedanken. Ich bin unterwegs auf der Warschauer Brücke, und sie begegnen mir gerade zufällig. Sie gehen spazieren mit Charlottes kleinem Bruder, der fünf ist. Sie grüßen mich entzückt. Charlotte wirkt erwachsen und Henning groß. Sie sind ein schönes Paar. Aber mich stört das Prinzip, dass Paare immer dieselbe Harmonie abstrahlen, etwas Heroisches mit dem sie auf einen herabblicken.
Freunde können kein Paar sein, obwohl oft eine viel lustigere und spielfreudigere Energie zwischen ihnen entsteht als diese Paarharmonie, die einfach nicht weicht, die man einfach nicht zertrennen kann; und alle finden, Paare passen unter diesem Aspekt zusammen, und nehmen das so an, ohne etwas ändern zu wollen. Warum? Es ist doch langweilig, immer das gleiche, seit jeher.
Ich gehe in den Supermarkt zum Kiosk, wo ich Lotto spiele, in der Hoffnung, dass ich so viel gewinne, damit ich meine Schönheitsoperationen bezahlen kann.
Forschen I
Es gibt noch eine Komponente, die ich klären will, um mir zu beweisen, dass ich wirklich nicht wie Pete Goldman aussehen möchte, sondern meine Krankheit heilen.
Ein wesentlicher Unterschied wären auch nach der Operation seine glatte Haare gegen meine Locken. Ich habe zwar den Eindruck, dass meine Locken hübscher sind, aber ich will den Beweis dafür; auch weil es möglicherweise einen Pete Goldman mit Locken nicht geben kann, weil er natürlich so nicht entstehen kann; und ich mir in der Euphorie über echte Ähnlichkeit diesen Zweifel nicht eingestehen will, operieren lasse, und hinterher doch unzufrieden damit bin.
Dann bräuchte ich nämlich auch glatte Haare; und das könnte man erreichen, indem man die Blutwerte mit Medikamenten so manipuliert, dass die Haarwurzeln anders genährt werden und praktisch ab dann glatte Haare aus meiner Kopfhaut wachsen. Das wäre eigentlich genial, weil ich dann beide Möglichkeiten hätte, glatt und Locken. Es würde immer eine Weile dauern, aber nach einem halben Jahr würde man die Veränderung deutlich sehen, und ich bräuchte keinen Heizstab. Dieser wäre ein Nachteil: Haare, die damit geglättet wurden, wirken spröder als echt glatte Haare.
Vielleicht würden sich dann auch die Gesichtszüge sozusagen verhärten beziehungsweise kantig werden in der Art wie bei Pete Goldman, sodass ich dann wirklich ganz so aussehe; auch die Augen, die bei ihm eine eindeutigere Umrandung der Iris zeigen mit einem blauen durchgezogenen Kreis, während er bei mir wechselhaft stark ist und zum Teil unterbrochen; und meine Iris ist auch nicht klar wie bei Pete Goldman, sondern mit weißen Punkten versehen. Es gibt Photoshop-Manipulationen, das weiß ich. Aber es ist realistisch, dass auch die Augen anders genährt werden und anders scheinen, wenn es bei den Haaren so ist.
Spätestens nach meinem Studium müsste ich dieses Medikament entwickeln, zusammen mit Kosmetikkonzernen. Es wäre eigentlich eine Revolution in der Kosmetikindustrie, und könnte mir viel Geld einbringen, mit dem ich auch meine Operationen bezahlen könnte. Aber hätte ich Lust, so etwas zu entwickeln? Wenn es schnell geht?
Zwei Wochen lang versuche ich mich in die Idee hineinzusteigern. Es strengt mich wieder an wie eine lästige Pflicht, so wie damals, als ich versuchte, mich mit dem Aussehen anderer Popstars zu identifizieren. Es ist dasselbe Gefühl. Schließlich lasse ich die Idee schon nach zehn Tagen erleichtert los, und sie sinkt unmittelbar und ohne wiederzukehren zu den Erinnerungen, die mich nicht weiter belasten. Glatte Haare scheinen mir also nicht wichtig. Ich mag Locken. Bei Frauen mag ich das auch. Warum soll es bei Männern also schlecht sein? Das ist auch so ein Klischee. Wahrscheinlich wegen der Unordnung, die befürchtet wird, weil sie sich auch im Charakter widerspiegeln könnte. In der Tat könnte es so sein, das Lockenköpfe undisziplinierter sind. Es könnte vielleicht so sein, dass sie eher eine afrikanische Wurzel haben, und die mit glatten Haaren eine asiatische. Chinesen sind auch ordentlicher, sagt man jedenfalls im Vorurteil.
Ich mag auch, dass ich eine dunklere Stimme habe als Pete Goldman, die vielleicht ein wenig rauer klingt, hoffe ich. Stimmen klingen nach außen oft anders, als man sich selbst hört.
Man könnte jede Menge Charaktereigenschaften nur am Äußeren ablesen, an einer Handfläche zum Beispiel oder an einer Nase. Jedes Teil ist höchst individuell, eigentlich einzigartig und zeigt die ganze DNA.
Würde man eine Datenbank anlegen, die einer Gesichtsform bestimmte Parameter für Persönlichkeitsmerkmale zuordnen kann, könnte man mit einem Scan zum Beispiel bestimmen, ob die Person geeignet ist für eine Arbeitsstelle. Ein Gespräch und eine Probezeit wären überflüssig. Man könnte das Gesicht der Person vergleichen mit dem der bereits eingestellten Mitarbeiter, und ausrechnen, ab wann Konflikte entstehen und ob sie tragbar sind. Man könnte viel Zeit sparen.
Diese Visionen sind sehr interessant aber auch deprimierend und eigentlich nicht mein Fokus.
Ich muss mich konzentrieren auf die innere Struktur meiner Wangenknochen. Dieses Rätsel gilt es zu lösen. Sonst kann ich keine Operation machen.
Ich bin in meinem Zimmer, habe Musik gehört, und lege mich wieder auf die Couch, um mich besser in die Struktur versetzen zu können. Im Liegen kann ich am leichtesten und klarsten denken. Es erfordert hohe Konzentration, die Gänge in diesem Knochen auszuleuchten, also die Atemwege, die Verbindung zur Mundhöhle, und wo das Auge beginnt.
Ich gleite in der Vorstellung die Nase nach innen, bis nach oben, neben das Auge. Ich durchtrenne den Knochen dort, indem ich mit einer Säge flach am Boden des Nasenbeines zur Seite säge und so unter das Auge komme, direkt hinter den Bogen, der dieses umrandet. Der Bogen ist die Oberkante des Wangenknochens.
Anschließend säge ich entlang des Bogens, unter dem Augapfel, bis zum äußeren Punkt des Bogens; sozusagen dem äußeren Scheitelpunkt der Ellipse, sofern man die Augenumrandung als Ellipse betrachtet. Der innere Scheitelpunkt wäre die Tränendrüse.
Am äußeren Scheitelpunkt muss so gesägt werden, dass der Bügel, in den der Wangenknochen hier mündet, und der zum Ohr führt, von der Seite abgelöst wird.
Es gibt noch eine Stelle am Ohr, wo er festgewachsen ist. Ihn dort zu lösen, dürfte vergleichsweise wenig Komplikationen geben. Aber das unter dem Auge ist schon heftig, wenn ich mir vorstelle, wie dort eine Säge durchgeht, direkt unter dem Augapfel.
Entlang des Nasenbeines ist der Wangenknochen noch am Oberkiefer befestigt. Auch hier muss man immerzu quer sägen am Boden des Nasenbeines, bis zum äußeren Ende des Nasenflügels in Richtung Nasenloch.
Danach ist der Knochen komplett abgelöst und man kann ihn vom Gesicht wegziehen wie eine Augenklappe.
An allen Schnittstellen muss etwas Material abgetragen werden durch Feilen, und der Knochen anschließend nach hinten, oben und außen versetzt wieder angebracht werden und verklebt, oder wie auch immer das medizinisch vor sich geht.
Wie genau die Schritte funktionieren, wo genau angesetzt werden muss, damit keine Körperfunktionen geschädigt werden, muss ich noch herausfinden. Ich sollte mir dazu einen Anatomieatlas besorgen.
Die übergroßen Augenwulste haben zur Folge, dass das Muskelgewebe auf der Stirn verzogen ist und demnach die Augenbrauen. Das könnte, nebenbei bemerkt, zu Verspannungen in der Stirn führen, die ich oft habe im Alltag; obwohl ich vermute, dass sie nicht ausschließlich muskulär bedingt sind, sondern auch durch das Nervensystem, das durch die permanent überspannte Muskulatur falsche Signale rückkoppelt, und mich beispielsweise müde macht.
Um an den Knochen zu kommen, muss einmal von Ohr zu Ohr mit dem Skalpell quer über den Kopf geschnitten werden, die Kopfhaut von der Schädeldecke gelöst und nach vorne geklappt. Meine Haare würden mir im Gesicht hängen wie ein Wuschel.
- Die Kinnhöckern sind ebenso um den gleichen Faktor zu groß. Sie müssen auch abgetragen werden; das Kinn geöffnet mit einem Skalpell, und die Höcker abgeschliffen.
Das wären drei Stellen mit demselben Faktor, derselben Überproportion.
Es könnte ein System sein, ein zweites Harmoniesystem, dass sich auf das erste gesetzt hat; die Basis, welche aus Schädel, Ober- und Unterkiefer besteht.
Ich habe also zwei Harmoniesysteme in meinem Gesicht, während fast alle Menschen eines haben. Alleine mit dieser Voraussetzung könnte eine viel komplexere, mutierte Persönlichkeit entstanden sein, die schwer zu begreifen ist, und für die es demnach schwerer ist, verstanden zu werden, eine Freundin zu finden und so weiter.
- Ich frage mich, ob mein spitzer Haaransatz nicht auch eine Folge von verzerrten Stirnmuskeln ist, weil die großen Augenwulste das Gewebe überspannen, die Augenbrauen zur Gesichtsmitte hin zunehmend nach unten ziehen, und deshalb auch den Haaransatz, der oben anliegt, mitreisen, sodass er in der Mitte verzogen ist zu einer Spitze.
Ich stehe auf, trete vor Josefs großen Wandspiegel, der weiterhin in meinem Zimmer steht, und schiebe mit den Fingern das Gewebe auf der Stirn nach oben, soweit es geht, um zu sehen, wie sich der Haaransatz verändert, und in Folge die Augenbrauen, ob dann alles richtig sitzt.
So einfach, wie ich es mir dachte, funktioniert es nicht. Es würde auch nichts nützen, wenn man links und rechts von der Spitze Haare einpflanzt, um so die Haarlinie zu begradigen. Dann läge der Ansatz zu weit vorne.
Vielleicht ist es eine Art 'innere Kompensationsharmonie' die sich hier eingestellt hat, eine Formharmonie, die automatisch im Erbgut zur Ergänzung angelegt wurde, damit der Fehlwuchs der Knochen nicht zu sehr entstellend wirkt. Es passt irgendwie zur Art, wie die Knochen gewachsen sind, wenn es auch eine Harmonie ist, die man so eindeutig nicht ausmachen kann, und die doch minderwertig ist gegenüber der in Pete Goldmans Gesicht.
- Der Haaransatz an der Schläfe muss weiter nach vorne.
- Die Ohren müssen angelegt werden und runder gemacht. Letzteres wäre vielleicht möglich, indem man einen Keil aus dem oberen Teil der Ohrmuschel nimmt, und sie wieder zusammennäht; wobei dann eine Narbe entstehen würde.
Selbstverständlich könnte man mich fragen: „Warum sollen die Ohren operiert werden. Sie befinden sich unabhängig vom Gesicht an einer anderen Stelle am Kopf. Der Haaransatz stört genauso wenig den Gesichtsausdruck und verspannt auch kein Muskelgewebe.“
Bezüglich des Haaransatzes finde ich, dass er nur wegen der dünnen Schläfen optisch Sinn macht;
und insgesamt halte ich es hinsichtlich eines guten Ergebnisses einer Schönheitsoperation von Vorteil, wenn man sich an die Schablone eines Gesichts hält, dass bereits natürlich existiert; welches die Natur also zeugen kann. Pete Goldmans Gesicht ist natürlich entstanden.
Ich habe auch das Merkmal gefunden, das der Beweis ist, dass es sich mit der Position des Wangenknochens um einen Strukturfehler und damit um einen genetischen Defekt handelt:
Fährt man von innen, wo das Nasenbein sitzt, den oberen Bogen der Augenumrandung entlang, ertastet man zuerst den größeren und den kleineren Knochenwulst, dann erreicht man wieder den äußeren Scheitelpunkt der Ellipse. Dort geht der obere Bogen in den unteren über. Man kann eine kleine Kugel ertasten. Direkt an dieser Kugel führt der Wangenknochenbügel für gewöhnlich am Auge vorbei Richtung Ohr, wie ein Brillenbügel.
Wahrscheinlich können fast alle Menschen diese Kugel nicht deutlich an sich ertasten, weil sie mit dem Bügel eins ist. Bei mir liegt sie frei. Der Bügel verläuft einen Zentimeter darunter. Das ist eine Missbildung.
Meine Gesichtsform wäre also erst gesund, wenn sie operiert ist.
Wäre der Wangenknochen korrigiert, würden die Augenwulste in ihrer Größe und das Kinn, so wie es ist, keinen Sinn mehr ergeben und müssten auch korrigiert werden. Es ist also eine Kette, die hiermit ad absurdum bewiesen ist.
Ich vermute auch, dass im Inneren des Wangenknochens die Atemwege verformt sind, und deswegen enger beziehungsweise ungünstig verwinkelt, nicht so wie es die Natur für eine gute Durchlüftung eigentlich vorgesehen hat. In den Nischen können sich Bakterien leichter sammeln und Krankheiten hervorrufen. Der HNO Bereich war schon immer der Schwachpunkt meiner Gesundheit.
Dass es kein Arzt jemals bemerkt hat, kann ich mir leicht erklären.
Ärzte berufen sich, wenn sie diagnostizieren, auf einen studierten Katalog aus geläufigen Krankheitsbildern. Meine Krankheit ist eine seltene, zudem nicht besonders auffällig, sodass einem die Entstellung ins Gesicht springen würde; wenn auch wirksam, weil viele mein Gesicht so negativ beurteilen. Studien über meinen Fall gibt es schätzungsweise keine, weil es zu wenig Patienten gibt, und es würde sich demnach auch nicht lohnen, in welche zu investieren. Es wäre nicht besonders lukrativ. Es gibt keinen Markt. Die wenigen Patienten, die es vermutlich gibt, kann man übergehen oder sie mit der Meinungsmehrheit im Rücken für verrückt erklären.
Eine Ebene höher
Josefs Wohnung in Hohenschönhausen wurde zwangsgeräumt. Sein Vertrag mit dem sozialen Wohnprojekt lief aus. Er hat den Stichtag verpasst, weil er tagelang in unserer WG bei Rene übernachtet hat. Seine Möbel wurden gepfändet. Nur seine Plattensammlung und den Rechner haben die Vollstrecker stehenlassen. Ich verstehe Josefs Trägheit nicht, aber es kann mir egal sein. Er wohnt jetzt in einem Wohnheim für schwere Fälle, wie Suchtkranke, im Süden Berlins.
Am späten Nachmittag treffe ich ihn zufällig vor unserer Haustür.
Er scheint darauf zu warten, dass ihm jemand die Tür aufmacht.
„Niemand da?“
„Du siehst beeindruckend aus, wenn Du die Straße entlang läufst.“
Zum Zeichen meiner Kenntnisnahme nicke ich mit dem Kopf. Ich will mich nicht zu geschmeichelt fühlen. Mag sein, dass ich noch attraktiver geworden bin. Meiner Meinung nach sieht man mit fünfundzwanzig am besten aus. Beeindruckend heißt aber nicht unbedingt schön. Es kann auch skurril bedeuten. Ich denke dabei an meine Augenwulste, weswegen mir Glatze nicht steht. Der Gedanke an die Operation darf nicht überworfen werden.
Wir gehen nach oben zu Rene ins Zimmer. Die Brüder fangen wie immer an, grob zu witzeln und sich zu sticheln. Ich will teilhaben, aber es ist anstrengend. Ich bin einfach nicht geeignet, um lange unter mehreren Menschen zu walten, besonders unter Männern.
Josef erzählt von Carmen, einer Freundin von Jana, mit der er seit längerem hat eine Affäre hat:
„Die hat mir den After geleckt und dabei einen runtergeholt.“
Josef hat immer aufregendere Frauen als ich.
„Ich glaube, ich lasse mich von der in den Arsch ficken mit einem Umschnalldildo.“
Rene: „Also das Geilste, was ich bisher gemacht habe mit Frauen, war der Dreier mit den Hoffmann Schwestern; die unten aus der Schulstraße.“
Josef: „Die sah doch scheiße aus.“
„Welche? Das sind doch zwei, höhöhö“, Rene macht eine Geste, die mich anstrengt, die aber wohl witzig sein soll. Er zieht sein Gesicht lang, ballt die Fäuste und dreht sie nach innen, wozu er mit dem Fuß einen Takt stampft.
Josef reagiert genervt, obwohl er nichts Schönes zu Rene gesagt hat und in meinen Augen eher in der Schuld steht. Ich finde, er nimmt sich ganz schön viel heraus.
„Was weiß ich! Du meinst doch die Schwarzhaarige, und die sah scheiße aus.“
„Nicht mehr, als sie in die Pubertät kam.“
Rene betont das mit Fingerzeig, und offenem Mund, und lieb gestellten Augen,
„und die Jüngere war sowieso eine geile Sau. Die war noch in der Grundschule, als Du weggezogen bist. Die kennst Du nicht.“
Josef blickt ihn weiter machtgeladen an.
Ich selbst betone meinen Respekt gegenüber Rene:
„Keine Ahnung.“
„War aber anstrengend, wenn Du beide irgendwie beschäftigen musst. “
„Das kann ich mir vorstellen.“
„Also ich muss das nicht nochmal haben. Eine gescheite Beziehung wäre mir lieber. Aber ich muss hier erst mal mein Leben in den Griff kriegen.“
Ich: „Die meisten Frauen sind sowieso nichts für einen, habe ich festgestellt. Die würden nie mit einem ins Bett gehen.“
Josef: „Die gehen schon. Du musst halt was mit Ihnen machen. Die wollen ja auch ficken, weißt de.“
„Ja, stimmt schon.“
„Was Du mal gesagt hast über Gesichter, stimmt übrigens.“
„Was habe ich über Gesichter gesagt?“
Ich weiß es eigentlich, und freue mich heimlich, dass er meine Theorie bestätigt.
„Du hast gesagt, dass man aus jedem Mann eine Frau machen könnte.“
„Mm.“
„Aber bei Pete Goldman geht es nicht.“
„Ja.“
„Das passt irgendwie nicht.“
„Ja. Irgendwie.“
Rene schaltet den Fernseher ein, und zappt von Kanal zu Kanal, bis er bei einer Sendung bleibt, in der ein Mathematiker und Schönheitschirurg aus den USA das Phänomen mit der Symmetrie in Gesichtern analysiert, was nach seiner Theorie alle Menschen so anziehend finden, weil es mit dem goldenen Schnitt zu tun hat. Er präsentiert eine Auswahl von zehn Frauengesichtern, und behauptet, dass er berechnen kann, welches darunter die meisten männlichen Probanden am attraktivsten finden werden, statistisch gesehen. Jeder Proband darf eine Rangliste aus drei Gesichtern erstellen.
Der Chirurg behält recht. Das Gesicht, das er berechnet hat, ist das gefragteste. Es stößt mir bitter auf. Ich ringe mit mir, und beruhige mich mit meiner Vision, dass auch mein Gesicht in diese Ordnung gebracht werden kann.
Josef daneben fühlt sich bestätigt:
„Es ist genau das, was ich sage. Haargenau dasselbe erfahre ich, wenn ich die Straße entlang gehe. Ich würde den Test gewinnen, mit Abstand. Der Mann ist schlau.“
Den Namen der Sendung: Was Sie wissen sollten - kann ich mir merken. Über Videotext oder zur Not mit Anschreiben an den Sender will ich den Chirurgen recherchieren. Vielleicht will er irgendwann mit mir zusammenarbeiten. Er dürfte mich verstehen.
Josefs Augen funkeln wieder, und er hat ein perfekt geschnittenes Gesicht, dem ich mich unterlegen fühle.
Es ist schwer aushalten, wenn ich mich auf diese Höhe begebe, weil ich mitspielen will in der obersten Klasse von Aussehen, und mich nicht aufgeben. Ich habe nicht nötig, aufzugeben. Aufgeben ist feige.
Da Samstag Abend ist, ziehen wir gemeinsam los. Am Alexanderplatz, an der Treppe auf dem
S-Bahnsteig, treffen wir Henning und Charlotte.