EinTraum - Philip Jung - E-Book

EinTraum E-Book

Philip Jung

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Beschreibung

Neu! E-Book mit aktivem Inhaltsverzeichnis -- EinTraum: Nachdem Michael Tutschmann das letzte halbe Jahr seiner Jugend verlebt hat und kurz vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag in einem Film den Schauspieler Pete Goldman sieht, fällt er in ein neues Bewusstsein. Sein Bauch fühlt sich schwerer an, und er versucht krampfhaft, die Gleichung zu finden, den Code, wie man sein eigenes Gesicht zu dem des Schauspielers operieren könnte. Ein Buch, das ein Berliner Umfeld schildert, und den Weg eines jungen, unsicheren Menschen, der vom Dorf in die Stadt gezogen ist, vage Träume hegt, als Deejay Karriere zu machen, und dabei zwischen gestrandeten narzisstischen Charakteren in der Berliner Technoszene lebt, so unwirklich und unnahbar, dass er daran zunehmend zerbricht.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhaltsverzeichnis

EinTraum 5

Erster Teil 10

6.Juli 2002 11

Berlin, Samstag, 13.Juli 2002, Loveparade – Access Peace*33 43

Kapitel III 85

Kapitel IV 94

Kapitel V 104

Kapitel VI 118

7. August 2002 123

Kapitel VIII 130

Kapitel IX 156

Lost in Music 167

Kapitel XI 172

Kapitel XII 179

Kapitel XIII 193

Kapitel XIV 227

 Zweiter Teil 241

Kapitel XV 242

20. November 2002 255

Kapitel XVII 265

Kapitel XVIII 286

Kapitel XIX 302

Kapitel XX 322

Kapitel XXI 331

Kapitel XXII 340

Kapitel XXIII 354

Kapitel XXIV 359

Kapitel XXV 368

Kapitel XXVI 384

Kapitel XXVII 398

Kapitel XXVIII 407

Kathlen 419

Kapitel XXX 430

Kapitel XXXI 438

Kapitel XXXII 458

Kapitel XXXIII 464

Kapitel XXXIV 475

Kapitel XXXV 498

Kapitel XXXVI 524

Kapitel XXXVII 547

Kapitel XXXVIII 576

Kapitel XXXIX 595

Glossar 606

Philip Jung wurde 1981 in der Nähe von Karlsruhe geboren. Heute lebt er als freier Autor in Berlin. Die Atmosphäre in der Stadt, sowie die Begegnung mit gewissen Menschen im inneren Abgleich zu sich selbst, unter Nutzung seiner Phantasiebegabung und psychologischem Wissen inspirierten ihn die drei Romane EinTraum, Die Eigene Achse und Die (Ideologie der) Offenbarung zu schreiben. Er versucht darin, in psychologischen Entwicklungsromanen einige narzisstische Phänomene zu ergründen und spürbar zu machen, jedoch nicht zu erläutern, und somit offen zu halten für eigene Interpretationen des Lesers, da er der Meinung ist, daß das Leben nicht erklärbar und kategorisierbar sein kann. Neben seiner Autorentätigkeit arbeitet er in verschiedenen Berufen, wo ihm häufig die Menschen begegnen, die ihm den Stoff liefern zu seinen Geschichten, denn wie es so schön heißt: Autoren erfinden ihre Geschichten nicht, sie bekommen sie erzählt.  

 

Bücher von Philip Jung im SoU-Verlag (Sozialer Untergrund Verlag) : Wie eine Feministin Buffalo Bill überwältigte – Ein Harlekin beim Psychologen – Der Entenmörder – EinTraum – Die Eigene Achse – Die (Ideologie der) Offenbarung

 

 

 

zum Buchshop

(eBooks und Taschenbücher)

www.sou-verlag.de/shop

 

Philip Jung

 

Ein Meister des Narzissmus 

EinTraum

EMDN I

 

Roman

 

 

Dritte Auflage

 ®© 2022, Philip Jung  

www.sou-verlag.de

www.facebook.com/philipjung81

[email protected]

 

Impressum:

Philip Jung

Waghäuseler Strasse 9

10715 Berlin

 

 

 

Widmung

 

Dies ist kein Buch über den Holocaust. Trotzdem widme ich dieses Buch und meine gesamte Literatur den Toten von Majdanek, den Tätern, sowie zwei Generationen von Männern, die ohne Vater ausgewachsen sind. Täter, leget euch zu den Opfern und lasst uns leben!

EinTraum

 

 

Modische Frisuren und modische Kleidung zielen fast immer auf das gleiche Erscheinungsbild. Sie wollen einen vor Überwältigung spalten, und wiederum nicht greifbar sein; so als würde man sich eine gerade Linie betrachten an einem Treppengeländer, einer Autokarosserie oder in einem Lebensweg. Die Energie, die eine gerade Linie abstrahlt, wirkt nicht angenehm, wenn man darauf eingeht. Trotzdem zählt sie offiziell als das aller Erstrebenswerteste.

Stellt man sich unter einen Baum, könnte man mit ihm singen. Er inspiriert und regt an. Er könnte ein alter Riese sein, die Blüte im Frühling oder die geduldige Natur im Winter. Er schwingt mit. Aber was erzählt einem eine Autokarosserie? Ein Baum ist Kunst. Ein Auto ist ein erbarmungsloses Konzept, das einen verdrängt. Es provoziert einen Todesschrei, oder einen Urschrei, der die ganze Evolution auf einmal vertont, mit allem was darin geleistet wurde; zu viel Energie, die auf einen Moment komprimiert wird.

Modische Frisuren repräsentieren den erhabenen eleganten Tod, die Auferstehung und das ewige Leben. Gelungene Photos aus der Werbung sehen aus wie der Tod, und haben den Geruch eines Babys. Ein Baby bedeutet ewiges Leben, und Tod den Leidensweg hin zur Wiederauferstehung, durch die Mode repräsentiert als narzisstisches aufopferndes Streben in Uniform.

Sogenannte schlechte Frisuren erinnern mich an wilde wollige oder gerupfte Tiere, an Naturereignisse wie Blitzeinschläge und kahle Planeten. Sie wecken die Phantasie über lustige, überdrehte Comicfiguren, und schenken eine Gelegenheit, Kontakt aufzunehmen, weil sie nahbar wirken. Schönheit in modischer Definition verlangt den Untertan vor einem Heiligen, und lässt beide alleine. Melodie erzeugt keinen Rhythmus, zu dem man tanzen könnte. Der Untertan fühlt sich zu stolz und der Heilige unwürdig.  

 

Erster Teil

 

 

Lieber Michael!

 

Alles Liebe und mein Daumen drücken, dass sich einige deiner Ziele erfüllen werden. Bleibe ein positiv denkender Mensch, und sei immer auf der Hut vor Menschen, die Du kennenlernst. Nicht jeder will Dein Bestes.

 

Nochmals alles Liebe, Papa.

6.Juli 2002

 

 

Ich habe meinen Zivildienst in einer Schule für geistig Behinderte, in Flämingdorf, einem Ort vor Berlin, seit Juni beendet, und suche eine Wohnung in der Innenstadt. Zum Übergang wohne ich gegen eine kleine Miete weiter auf dem Gelände meiner Zivildienststelle.

Ende Juni wollte ich eine Wohnung haben. Nachdem ich mehrmals versetzt wurde, habe ich neue Anzeigen von Wohngemeinschaften gefunden, und fahre nach Friedrichshain, in die Rother Strasse 3, Erdgeschoss, Vorderhaus.

Die Wohnung wirkt leer. Es gibt keine Accessoires, nicht einmal Poster. Ein großer Spiegel steht im Flur. Alles Notwendige wie ein Kühlschrank, und sogar eine Spülmaschine, ist vorhanden.

Das Zimmer hat einen blauen einfachen Teppichboden und ein Hochbett. Es gibt eine Durchgangstür zum Nachbarzimmer, die verschlossen ist. Ich schaue mich um, versuche die Atmosphäre einzusaugen und zu speichern. Ich verharre für einen Moment.

„Ja“, meine ich.

Wir gehen ins Bad. Ein Labrador läuft uns hinterher. Ich mag Hunde nicht besonders. Ich mag Katzen. Der Hund heißt Cora. Der Typ heißt Josef. Wir gehen in die Küche, und setzen uns an den Tisch.

„Wie bezahlst D' 'n deine Miete?“

„Ich habe noch Geld von meinem Zivi, und werde mir einen Job suchen, irgendwas. Ansonsten bin ich hier, weil mich die Elektronische Musikszene interessiert. Genau: Ich höre oft laut Musik. Wäre das ein Problem?“

„Also von mir aus kannst Du machen, was Du willst.“

Ein dritter kommt in die Küche. Ich stehe auf, um mich vorzustellen, und winke vorsichtig:

„Tach. Michael.“

Geniert bleibe ich am Fenstersims stehen.

Josef: „Jo, das ist Ronny. Der wohnt auch hier.“

Ronny: „Tach, und Du bist dann der Neue, oder wat?“*1 

„Mal sehen. Ich weiß ja noch nicht, wie die Entscheidung fällt.“

„Josef, ick sag dir: Det scheiß Mathe bricht mir det Genick. Uff 'm Schrottplatz stehen und ranklotzen ist ja meins. Aber uff Schule könnt ick verzichten. Kannst Du det?“*2

„Ja, in Mathe hab ich keine Probleme. Da hab ich immer 'ne eins.“

„Ja siehst de! Dann bist Du ein Mathegenie!“*3 

„Ich bin kein Mathegenie. Das ist nicht schwer; jedenfalls nicht auf der Schule, wo ich bin.“

„Ick mein' ja nur.“*4  

Ich frage Josef:

„Bist Du noch auf der Schule?“

„Jop.“

„Aber Du bist doch älter. Oder ist das Abendschule?“

„Nee, ist normales Abitur.“

„Das geht?“

„Jop.“

„Und wie alt bist Du?“

„Ich werd' vierundzwanzig“.

„O.k, ich bin zwanzig“.

„Jo.“

Ronny: „Also Josef, dann hilfst de mir mal!“

„Hajoho!“

Mathematik könnte ich auch. In der Schule war ich der Zweitbeste in der Klasse. Ich war neidisch gegenüber dem Ass Thomas Keller, und versuche Josef mit diesem zu vergleichen. Josef hat auch braune Haare und braune Augen. Ansonsten ist er, glaube ich, anders. Er trägt eine Art Punkfrisur, einen breiten Iro. Doch vom Typ her ist er kein Punk. Er ist auch kein typischer Student oder Arbeiter. Ich habe noch nie so einen Menschen getroffen. Er strahlt eine gleichmäßige Energie ab und wirkt geduldig. Im Wechsel redet er viel, explosiv und schnell. Er ist weder engagiert noch unengagiert. Ich finde ihn vertrauenswürdig. In einer unerfahrenen Situation würde er mich verteidigen. Mit ihm muss ich mich weniger alleine fühlen, so wie in anderen Wohngemeinschaften, die ich besichtigt habe, und die sich ohnehin nicht zurückmeldeten.  

Seine Kleidung ist ein blaues Longsleeve mit carolinablau abgesetzten Armen, Jeans und braune Turnschuhe mit breiten Sohlen.

Ronny ist klein gewachsen mit lockigen Haaren und energischen großen braunen Augen. Er trägt ein Manowar Shirt*5. Seine Art kenne ich von anderen Menschen.  

Ich höre dem Gespräch der beiden zu, bis Ronny zurück in sein Zimmer geht. Josef steht auf, und füllt den Hundenapf, der neben dem Backofen steht.

„Hast Du noch irgendwelche Fragen?“

„Nee, erst mal nicht.“

„Also wenn Du willst, kannst Du hier einziehen.“

„Hmm.“

„Was heißt 'n das jetzt?“

„Ich hab Entscheidungsschwierigkeiten. Ich würde noch kurz überlegen, und dich, sagen wir, spätestens morgen anrufen.“

„O.k.“

„Ja? Dann, äh, geh' ich jetzt.“

„Jop.“

Ich gehe die Rother Straße nach vorne, zurück zum U-Bahnhof. Dort stehe ich am Abhang der Warschauer Straße Richtung Spree und wäge pro und kontra, wobei ich nervös werde. Die Wohnung könnte schöner sein. Warum diese WG? Könnte ich zurückziehen? Es spricht keine Stimme zu mir, die entscheidet. Das Ja oder Nein fällt nicht greifbar vor mir nieder.

Ich schweife ab, und denke an einen Freund, der vor zwei Monaten bei einem Autounfall starb, als er auf Extasy mit überhöhter Geschwindigkeit aus der Kurve getragen wurde in eine Senkung, sich in der Luft drehte, und mit dem Dach gegen einen Baum prallte:

„Toni, Du wusstest, was Du willst im Leben; nicht wie ich. Wenn Du auf Drogen warst, hattest Du richtig Spaß. Die anderen haben immer gleich nüchtern gewirkt. Ich kann mich noch erinnern, als Du den Kopfstand gemacht hast auf der Eckbank, ohne Hände. Wir dachten Du brichst dir das Genick; aber Du warst wütend über unsere Panik. Meine Tränen auf der Beerdigung habe ich provoziert wie ein Schauspieler, aber nicht böswillig. Ich wollte weinen, um dich zu würdigen. Ohne Willen hätte ich wahrscheinlich keine Trauer empfinden können. Falls Du mich hörst! Ich hoffe, ich vergesse dich nicht. Ich muss weitermachen.“  

Ich wähle die Handynummer.

„Jo?“

„Bist Du jetzt Josef oder Ronny?“

„Äh, Josef.“

„Ja, also hier ist Michael, von gerade eben..,und: ich nehme das Zimmer, wenn es noch zu haben ist.“

„Kloar!“

„Ja?“

„Hajoo.“

„O.k., ging ja schnell. Ich wollte einfach noch kurz überlegen.“  

„Wann willst 'n einziehen?“

„Übermorgen, wenn ich ein Auto kriege..also.“

„So schnell?!“

„Wieso? Geht das nicht?“

„Doch doch.“

„Ja, ich will dann nach Hause, wo meine Eltern wohnen beziehungsweise meine Großeltern, weil die Goldene Hochzeit haben. Und dann will ich zur Loveparade*6 wieder hier sein.“

„Du gehst zur Loveparade?!“

„Haja, wenn ich schon hier wohne.“*7 

„Ey, ich komm mit!“

„Haja, sehen wir dann.“*8 

„Also wenn Du Hilfe beim Umzug brauchst, sag Bescheid.“

„Echt?! Das wäre cool. Ich weiß nicht, ob mir dort jemand helfen kann.“

„Ich hab Ferien. Ich weiß sowieso nicht, was ich machen soll den ganzen Tag.“

„Stimmt ja. Aber Du musst das nicht machen.“

„Hast Du viel?“

„Geht so. Platten habe ich. Da muss man öfter laufen.“

„Du hast Platten? Was 'n für welche?“

„Elektronische Musik. Techno, House, Elektro; Trance*9 noch.“

„Sind das alte oder neue?“

„Beides. Aber können wir mal Schluss machen wegen meinem Guthaben.“

„O.k..O.k.. Meld' dich einfach.“

„Alles klar, dann..ciao.“

„Yop.“

Ich bin erleichtert. Die Lage in Friedrichshain ist gut. Ich habe schlechtere Wohnungen gesehen. Ein Telefon und Internet werde ich organisieren.

Mit dem Regionalzug fahre ich zurück nach Flämingdorf, und fange an zu packen.

Es war schön hier. Das alte Gelände. Die manchmal unheimliche Villa, in der ich gewohnt habe. Die Arbeit hat mir in den letzten Monaten Spaß gemacht, nachdem ich mich integriert hatte als Wessi. Die behinderten Kinder fand ich reicher als sogenannte normale Menschen. Sie denken nicht soviel.

Ich hänge die Bilder und Photos von der Wand. Es sind zwei selbstgebastelte Geburtstagskarten von verschiedenen Cliquen aus Willkürheim. Die einen waren die vom Gymnasium. Die anderen waren die von den Dörfern. Sie haben, wie ich, Elektronische Musik gehört. Ich fühlte mich nie ganz aufgehoben in einer Gruppe, und hatte neben beiden noch andere.

Ich halte die Todesanzeige von Toni in der Hand, Zivildienstmagazine, den Flyer vom achtzehnten Geburtstag meines Bruders vor zwei Wochen, und ein Bild, das ich mit Edding gemalt habe.

Es zeigt einen Tunnel, dessen Ausgang sehr weit weg scheint. Als Wächter vor dem Eingang steht ein aufziehbarer mechanischer Hund. Eine schlanke Lady mit langen Haaren und Zylinder steht an der rechten Seite Spalier. Auf der anderen Seite versucht ein kleines Männchen ein großes Stück Eisen festzuhalten. Über der Lady hängt eine Puppe am Galgen. Monde, eine Trompete, ein Hammer und Gerümpel aus Metall werden in den Tunnel gesogen. Über dem Tunnel sieht man das dunkle All. Unter dem Boden sind Menschenmassen hinter der Glasscheibe in eine Halle gedrängt. Es sollte eigentlich ein Stadion sein.

Es ist mein bestes Bild. Es ist in weniger als einer halben Stunde aus meiner Phantasie entstanden.

Ein Photo meines Abi-Jahrgangs hängt noch an der Wand, und das Bild eines schwarzen Mädchens auf der selbstgebastelten Postkarte einer ehemaligen Klassenkameradin, die in Südafrika einen sozialen Dienst geleistet hat. Ich weiß nicht, ob mir die Sachen, ausgenommen dieses Bildes, das ich als Vision interpretiere, wichtig waren. Aber eine leere Wand wollte ich nicht. Ich lege in einem Karton eine Erinnerungskiste an, in die ich die Sachen lege.

Die Zivildienstangelegenheiten darf ich nicht vergessen. Ab diesem Monat bin ich arbeitslos gemeldet in Taurindorf, wo meine Mutter wohnt. Ich möchte keinen festen Job und auf keinen Fall zurück. Ich möchte nichts wissen von organisierter Weiterbildung. Vierzehn Jahre habe ich Verpflichtungen gehabt. Ich brauche Freiheit.

Mein schlechtes Abitur mit 3,2 nehme ich hin als Leistung, die möglich war. Seit der Mittelstufe habe ich mich nicht mehr für Schule interessiert, sondern für Elektronische Musik.  

In die Erinnerungskiste werfe ich auch den Einkaufszettel von knapp siebzig Packungen verschiedener Gummibärchen-Sorten. Ich hatte sie den Kindern der Behindertenschule zum Abschied auf ein blaues Tuch geleert. Es war mein Traum vom Schlaraffenland, den ich den Kindern erfüllen wollte. Es amüsierte mich, wie sie sich alle auf den Haufen in der Mitte des Stuhlkreises stürzen wollten, und die Lehrer Probleme hatten, sie festzuhalten.

Mein Jesuskreuz hängt noch an der Wand, ein kleines aus Plastik, das mit einem Leuchtstoff beschichtet ist. Seit Anfang des Jahres habe ich aufgehört, jeden Tag das Vaterunser zu beten. Das Ritual war leer geworden.    

Der Aufnahmevertrag einer Komparsenagentur in Berlin, für den ich 75 Euro gezahlt habe, 150 Mark, scheint mir unseriös. Das Geld tut mir nicht weh. Es ärgert mich trotzdem; beweisen kann ich nichts. Vielleicht ergibt sich doch ein Job.

Flyer von Partys werfe ich in die Erinnerungskiste; die Cover verschiedener Magazine, wenn mir das Design gefällt, oder eben als Erinnerung, was ich alles gelesen habe; sechs Kopien von Indianerbildern aus einem Buch, das der Behindertenschule gehört, und das ich noch zurückbringen muss. Ich würde die Indianer gerne so genau wie möglich abzeichnen, wenn ich eines Tages den Kopf dafür finde.

Ich sammle meine Küchenausrüstung ein, die aus wenig Besteck und drei Töpfen besteht. Die Wohnung putze ich.

Das Wetter ist heiß. Aber ich weiß nicht, was ich draußen will. Ich höre die Kinder auf der Wiese toben.

 

 

Am übernächsten Tag hole ich Josef gegen zehn Uhr in der Rother Straße ab. Es ist wieder sonnig. Wir fahren über Zehlendorf aus Berlin, über Landstraße, um Kilometer zu sparen. Im Deck läuft eine meiner Technokassetten. Da ich weiß, dass Josef früher auch Elektronische Musik gehört hat, mute ich ihm diese Musik zu. Nicht jeder mag sie, was ich verstehen kann.

Josef: „Ist das Clubnight*10? Das Lied kenne ich.“

Ich: „Das ist eine Sativae, Justin Berkovi. Als Platte habe ich die aber nicht; und die Sendung ist Clubnight, Sven Väth, 04.10.97.“

Josef: „Also zu der Zeit war ich feiern. Aber der Name von dem Typen sagt mir nichts.“

Ich: „Sven Väth kennst Du nicht?“

„Glaubst Du, ich kenne Sven Väth nicht? Seh' ich aus, als wohne ich hinterm Mond?“

„Haha, vielleicht.“

„Den anderen meine ich. Wie heißt der nochmal? Satina irgendwas.“

„Sativae. Das ist kein Typ. Das ist ein Label.“

Josef: „Ey, ich müsste soviel kennen aus der Zeit. Das war genau die Zeit, zu der ich feiern war.“

Ich: „Wo warst Du Feiern? Du bist Hesse, hast Du gesagt.“

Josef: „Nee, eigentlich komm' ich aus 'm Osten.“

Ich: „Nanü!“*11 

Josef reagiert nicht.

„Das sollte ein Ostdeutscher sein. Aber gut. Vielleicht hast Du gar nicht diesen Dialekt.“

„Ich hab den gehabt früher, aber ich musste mir den so schnell wie möglich abtrainieren, als ich in Hessen war. Sonst hätte ich nur aufs Maul bekommen. Und alles nur: „Weil isch sö geredet hab.“*12“

„Wir hatten auch ein paar aus dem Osten in der Schule. Das ging eigentlich. Verprügelt wurde da keiner. Aber ganz leicht hatten sie es auch nicht. Da hat dieses Ganze mitgespielt, dass unsere Eltern mehr Steuern bezahlen mussten und so weiter. Wir wussten das doch nicht.“

„Da konnte ja ich nichts dafür.“

„Ja klar. Ich mein' nur. Ich hab ja mit denen aus dem Osten zu tun gehabt. Mir war das egal, wo die herkamen.“

„Also wenn ich im Schulhof stand. Dann hieß es immer: „Da is' er wieder, der Ossi! Alle ruff!!*13“ Das war meine Kindheit.“

„O.k., nicht cool.“

„Nee.“

„Ich hab ja keine Ahnung, wie das im Osten war. Jedenfalls beim Zivi, dort wo wir hinfahren, hab ich auch am Anfang gedacht, ich kann so rumhängen wie bei uns zu Hause in der Psychiatrie, bei meiner ersten Stelle - ich hab mich ja versetzen lassen - jedenfalls: Dort musste ich Kaffee kochen fürs Personal; und der Stationsleiter hat zu mir gemeint, weil ich auf dem Stuhl geschlafen habe: Ich soll in den Personalraum. Wenn die Angehörigen sehen, dass der Pfleger schläft, sieht das komisch aus; aber schlafen war erlaubt. - Nur*13II, als ich dann hierher kam, nach Flämingdorf, da musste ich richtig arbeiten, und das war, weil hier die Sozialsätze pro Kopf für die Behinderten niedriger sind. Die haben wirklich den Zivi gebraucht, um Geld zu sparen. Da hab ich gemerkt, dass es Unterschiede gibt zwischen den Bundesländern. Aber um nochmal aufs Feiern zurückzukommen. Wo warst Du da? Warst Du auch im Omen*14?“                              

Josef: „Äh, ja. Meistens aber im Aufschwung.“

Ich: „Ah, Aufschwung Ost in Kassel.“

Josef: „Ja genau. Da in der Nähe, in Rotewald, hab ich gewohnt.“

„Das heißt ja mittlerweile Stammheim.“

„Da war ich nicht mehr.“

„Und im Omen, wie war das?“

„Also die meiste Zeit war ich auf Drogen und hab getanzt. “

„Aber die Stimmung und so? Das soll doch der beste Club überhaupt gewesen sein.“

„Also ich fand 's im Aufschwung besser.“

„O.k.. Also ich war einmal im Stammheim, und fand die Musik ganz gut, aber schon hart.“

„Ja, das war sie. Das war knüppelharter Techno.“

„Hn.“

„Auf Drogen habe ich immer so lange getanzt, bis ich meinen Körper nicht mehr gespürt habe, bis zum Nullpunkt.“

„O.K.?“

„Also Nullpunkt, Du verstehst doch?“

„Jaja, Trance dann praktisch.“

„Mit dem Begriff kann ich nichts anfangen.“

„Ich weiß doch nicht, ob ich das kenne.“

„Das Gefühl ist praktisch - Du bist komplett leer.“

„Du fühlst nichts mehr.“

„Das schon. Du denkst nichts mehr.“

„Ja. Das klingt abgefahren.“

„Das war immer so mein Ritual. Freitags hingetrampt zum Aufschwung, irgendwie, und dann drei Tage durchgefeiert. Da war so ein Podest, und da stand ich immer oben und hab meine Tanzfiguren kreiert. Die Leute standen oft außen'rum und waren total fasziniert. Ich war der 'King of the Dancefloor' sozusagen. Später haben die vom Club angefragt, ob ich Vortänzer machen will. Hab ich aber abgelehnt.“

„Warum!?“

„Wenn ich das gemacht hätte, hätte ich mich noch verpflichtet, Drogen zu nehmen. Dann wäre ich total abgestürzt. Und am Anfang zu tanzen, wenn niemand da ist, und die Mukke*15 noch so lauwarm, da hatte ich auch kein Bock drauf.“

„Solange habe ich noch nie getanzt. Mein Rekord lag bei acht Stunden. Allerdings ohne Drogen.“

„Ohne Drogen kannst Du nicht drei Tage tanzen.“

„Wahrscheinlich. Obwohl beim Sundance.“

„Kenn' ich nicht.“

„Ist ein Indianerritual. Aber die nehmen vielleicht auch was. Ich hab nie Drogen genommen. Obwohl ich es manchmal bedauere.“

„Nie?! Wie geht 'n das beim Feiern?“

„Ich weiß nicht. Mir hat das auch so gefallen. Die anderen dachten immer, dass ich Drogen nehme, weil ich so gewirkt habe, und wahrscheinlich auch, weil ich halt*16 so getanzt habe. Aber nein.“

„Also ohne Drogen acht Stunden tanzen, Respekt. Ich kann in Berlin nicht mal eine Stunde tanzen. So langweilig ist die Musik dort.“

„Hn. Hn.“

„Da fehlt irgendwie der Druck drin. Da kriegst Du nicht dieses Abgehgefühl, und kannst dich reinarbeiten. Da ist nichts mit Nullpunkt. Das ist alles nur so pseudo. Das klingt auch alles gleich hier!“

„Ja, der Frankfurter Sound ist schon besser.“

„Das was in Kassel lief ist geil. In Frankfurt lief oft Trance. Das war auch stinkeöde.“

„Ich habe früher eigentlich Trance gehört; so DJ Dag*17, Indianerklänge halt. Aber o.k..“

„Also wenn Dag oder Spoon aufgelegt haben, dann sind wir gleich weiter. Da waren nur Bauern.“

„Spoon habe ich nur einmal gehört auf dem Hessentag*18. Irgendwann habe ich auch gemerkt, dass man zu Techno besser tanzen kann; da habe ich Bandulu gehört auf der Timewarp*19, und dann habe ich umgestellt.“

„Bandulu. Das kenne ich, glaube ich, auch.“

„Die haben oft Liveacts gemacht. Auch da in Kassel. Ich habe sogar ein Tape davon, aus dem Aufschwung.“

„Das kannst Du mir mal zeigen.“

„Ja klar. Mache ich.“

„Ich glaube, ich müsste fast alles kennen aus dieser Zeit, nur ich habe die Namen nicht, weißt Du.“

„Es gibt Clubnight-Playlisten im Internet. Da stehen die ganzen Lieder.“

„Echt?!“

„Ja. So hab ich die alten auch 'rausgefunden. Ich hab ja erst '98 oder '99 angefangen mit Weggehen.“

„So spät? Da war ja das beste schon vorbei.“

„Ja, denke ich auch. Das sagen viele. Platten habe ich '95 angefangen zu kaufen. Mit dreizehn noch. Da habe ich die erste gekauft vom Geld aus meinem Ferienjob. Und das erste Mal Techno gehört habe ich sogar mit zehn. Da waren wir im Ski-Urlaub; und einer, der so vierzehn war, hat ein Tape dabei gehabt mit James Brown is Dead – L-A. Style. Das habe ich gut gefunden. Aber dann habe ich zwischendurch noch so..Guns'N' Roses gekauft, weil ich gehört habe, dass Techno krank machen soll.“

„Stimmt. Da gab es mal so 'ne Meinung. Allerdings wussten die wohl nicht, dass es die Drogen sind, und nicht die Musik an sich.“

„Ich hab dann die Musik so angehört, und auch geglaubt, ich werde krank.“ 

„Was 'n Scheiß!“

„Ich war halt*20 zehn! Jedenfalls war ich nicht Anfang oder Mitte der Neunziger im Club. Das hätte ich schon gerne erlebt.“

„So '95. Das war richtig Voodoo-Techno damals. Nur Freaks. Heute geht doch jeder Depp auf so 'ne Party, wenn er hört, dass Sven Väth auflegt.“

„Hab ich auch schon gemacht. Also..gibt viele“

„Also mir war das latte, wer da auflegt; Hauptsache der Sound war geil. Das musste einfach nur drücken.“

„Stimmt schon. Ich hatte auch gute Erfahrungen bei unbekannten Deejays. Vielleicht die besten.

Ich wollte ja ins Omen zur Abschlussparty, aber das war mir alles zu weit weg und zu unbekannt.“

„Zu der Zeit war es schon kein Kult mehr. Da hast Du nichts verpasst. Da wollte jeder hin, nur um mal dort gewesen zu sein. Die hatten dann irgendwann so Drehtüren und so scheiß Getränkekarten zum Abknipsen. Wenn du die verloren hattest, waren hundert Mark futsch.“

„Das war wahrscheinlich nach der Razzia '94.“

„Kann sein. Und dann wurde die Musik auch anders.“

„So wie das hier?“

„Ja genau.“

„Ich glaube, ich weiß, was Du meinst.“    

„So '94, '95. Der Sound. Ich sag immer Voodoo-Techno. So was gibt es heute scheinbar gar nicht mehr. Wenn ich auflegen würde, dann gäb es nur solche Platten in meinem Set. Die neuere Scheiße würde ich gar nicht kaufen.“

„Ja, ich wollte auch den Sound aus Frankfurt hier spielen.“

„Kassel! Kassel!“

„Dann eben so!“

„Ab geht er!“

„Hm! Man könnte vielleicht sagen: Techno ist inzwischen salonfähig geworden.“

„Genau. Das ist ein guter Satz.“

„Und wann hast Du aufgehört mit Feiern?“

„Keine Ahnung. Irgendwann bin ich dann nach Bayern gezogen. Und dann war es eigentlich vorbei. Nee warte! Mein Finale: Das war im Omen, genau. Da hatte ich sieben Pappen drin. Sieben!“

„Sieben?! Ich hab gehört, dass mal jemand drei auf einmal genommen hat. Ich..glaube Sven Väth. Das war so eine Legende. Linkes und rechtes Auge, und im Mund.“

„Was weiß ich! Ich hatte sieben. Sieben Pappen! Weißt Du, was das heißt?!“

„NN. Stirbt man da nicht?“

„Also wenn Du noch nie welche genommen hast.“

„Aber Du bist nicht gestorben.“

„Ich hatte es vor: Ich hab mir die Dinger reingehauen. Dann hab ich mich da drin auf die Tanzfläche gelegt, und hab gewartet, bis ich sterbe. Das wäre mein Masterplan gewesen.“

„Und dann?“

„Nichts.“

„Wie nichts?“

„Irgendwann kamen meine Leute, und haben gemeint: „Los, Klownmeister! Wir hauen jetzt ab.“ Dann bin ich aufgestanden, und mitgegangen. Das war es.“

„Ja scheiße.“

„Auf so 'nem Trip zu sterben, au Mann.“

„Na ja. Dann hast Du ja scheinbar viele Drogen genommen.“

„Das war kiloweise. Mein Rekord war mit Speed und LSD in Kombination zweieinhalb Wochen am Stück wach zu sein.“

„Hm?!“

„Zweieinhalb Wochen! Zum Schluss bin ich morgens durch Kassel, und weißt Du, was ich gemacht hab?“

„Was?“

„Ich bin oberkörperfrei auf der Straße 'rumgerannt, und hab Leute angebrüllt, weil ich dachte, ich bin ein Werwolf.“

„Hn!“

Ich muss gähnen. Irgendwie ist es anstrengend, dass er soviel erzählt, und wahrscheinlich, weil ich mich gleichzeitig aufs Fahren konzentrieren muss.  

„Ey, das war heftig! Die hatten richtig Angst vor mir! Die sind weggelaufen und haben geschrien, wie bei 'nem echten Werwolf!“

„Ha, ein echter!“

„Na, wie im Film halt, Mann! Du weißt schon.“

„Ja ja, schon klar.“

„Das glaubt mir immer keiner!“

„Schwer zu glauben.“

„Das war aber so! Und weißt Du, wie es dazu kam?“

„Nö.“

„Ich stand vor 'nem Baum, hab mit dem so geredet - auf LSD geht das ja alles - und der meint: „Schau zum Himmel.“ Dann sehe ich den Mond; und ab da wusste ich, was ich bin. Die Schuhe habe ich noch ausgezogen - das weiß ich noch - wegen der Mutation. Die sollten nicht kaputtgehen, klar. Und dann stand ich außerhalb meines Körpers. Das war heftig. Ich konnte sehen, was ich mache, aber nichts steuern. Das war eine krasse Erfahrung.“

„Hn. Und dann?“

„Also irgendwann habe ich mich mit einem Pappkarton zudeckt an den Straßenrand gelegt und gepennt. Dann kamen die Bullen, und haben mich mitgenommen in die Ausnüchterungszelle.“

„Aber zweieinhalb Wochen. Bist Du sicher?“

„Zweieinhalb Wochen! Ohne Übertreibung!“

„Hm! Also..“/* 

/„Keiner wusste mehr, wo ich bin! Die haben nach mir gefahndet! Meine Mutter hat mich damals abgeholt auf der Wache. Ich hab Leute bedroht, als wär' ich schizophren!“

„Na gut! Ich glaub 's trotzdem irgendwie nicht.“

„Das war so! Zweieinhalb Wochen!“

„Zweieinhalb Wochen! Da bricht der Körper doch zusammen!“

„Nicht wenn Du auf Speed bist!“  

„Was weiß ich! Ich hab zwar nicht viel Ahnung davon, aber das kommt mir wirklich extrem vor. Vielleicht war das dein Eindruck.“

„Das war so! Du könntest die Leute von damals fragen, wenn ich Kontakt hätte. Von einem hab ich sogar die Nummer. Aber wurscht. Es hat gestimmt.“

„Gut! Dann hat es gestimmt.“

„Ey! Ich schwöre; bei allem was ich habe. Bei meinem Hund. Okay? Ich hab ja einen.“

„Alles klar.“      

„Bingo.“

„Bingo! Ich habe nie Drogen genommen; aber die meisten denken immer, ich hätte. Der Schulleiter vom Zivi – die Schule, wo wir jetzt hinfahren - hat mir eine Abmahnung gegeben, weil ich immer zu spät kam. Er dachte, ich sei ein Junkie. Das ist auch abgefahren. Also Drogen nehmen brauche ich keine, um so zu wirken. Gute Tarnung im Club.“

„Komische Ansicht.“

„Warum? Ich hab zumindest keine Blackflashs oder so was.“

„Hatte ich auch nie. Aber...“

„Was?“

„Vergiss es.“

„Nee, sag mal.“

„Keine Ahnung! Warum willst Du wie auf Drogen wirken, wenn Du keine genommen hast?“

„Vielleicht kann ich mich in das Gefühl steigern oder so.“

„Niemals. Das sind chemische Substanzen. Die gehen an die Synapsen und machen alles Mögliche. Also ich hab mit Sicherheit irgendwelche Schäden. Ich hab so viele Gehirnzellen verbraten damit. Als ich angefangen habe, war ich ja noch im Wachstum. Das war sowieso der größte Fehler.“

„Wann hast Du angefangen?“

„Genau weiß ich es nicht, aber es war extrem früh. Ich war g'rade so kein Kind mehr. Ich war mit meinen Eltern auf 'm Hessentag. Dann hab ich gemeint, ich geh mal zu dem Technozelt; und da hat Väth aufgelegt. Ab da saß ich im Boot. Ich war immer der Jüngste.“

„Hm. Also irgendwie würde es mich schon mal reizen zu probieren.“

„Aber eines rate ich Dir: Nimm kein LSD!“

„Aber warum? LSD wäre jetzt eh*21 nicht das erste, was mich interessiert.“

„Du wirkst manchmal wirklich so, als hättest Du LSD genommen.“

„Ach ja. Ist ja cool.“

„Keine Ahnung, ob das cool ist.“

„Hm.“

„Also mach' was Du willst. Aber ich würde aufpassen an deiner Stelle.“

„Ja, gut. Vielleicht.. Was wollte ich noch fragen? Mann!..Nachdem Du in Bayern warst, bist Du dann nach Berlin?“

„Äh woas?“

„Ob Du dann von Bayern nach Berlin gezogen bist?“

„Äh jop.“

„Und warum?“

„Wegen meiner Ex damals.“

„Dann bist Du vom Osten nach Hessen, dann nach Bayern, oder warst Du sonst noch wo?“

„Also ich habe schon in einigen Städten gelebt. Im Grunde könnte man sagen, ich war schon in allen deutschen Städten.“

„Wie alt bist Du? Vierundzwanzig?“

„Fast vierundzwanzig.“

„Dann bist Du ja schnell umgezogen.“

„Mmm.“

Ich kann das nicht so bunt schmücken wie er, und möchte aber trotzdem auch auflisten, wo ich gewohnt habe.

„Na gut. Wir hatten mal Nachbarn früher, wo der Mann beim Militär war, also Amerikaner. Und die sind auch in siebzehn Jahren zwanzigmal umgezogen oder so. Aber gut. Also ich komme aus der Nähe von Heidelberg, beziehungsweise ursprünglich aus Bad Kesselstadt, neben dran, Heiligenheim. Aber das kennt man nicht. Deswegen sage ich es nie. Und dann sind wir nach Willkürheim gezogen bei Heidelberg, als sich meine Eltern getrennt haben, weil mein Stiefvater dort gearbeitet hat. Da war ich sieben. Zwischenzeitlich mussten wir noch aufs Dorf ziehen, nach Taurindorf, weil sich mein Stiefvater verschuldet hat, und die Miete dort billiger war. Das war aber ganz in der Nähe. Und nach dem Abi bin ich dann hierher beziehungsweise ich hab Zivi in Willkürheim angefangen, und hab mich versetzen lassen. Ich hätte nach Frankfurt gehen können. Aber Berlin hat mich mehr gereizt. Frankfurt kannte ich vom Feiern schon ein bisschen; und hier, also in Berlin, war ich mal vier Tage auf Besuch. Das hat mir gefallen.“   

 

 

Wir sind auf dem Gelände meiner Zivistelle angekommen, und laden meine Sachen auf die Pritsche. Ich bin skeptisch, doch Josef hilft gut mit. Er trägt schwere Sachen und beansprucht keine Pause.

Er rätselt über Plattencover, und fragt nach meinen Studiogeräten, dem Synthesizer Walldorf XT und einem AKAI Sampler. Ich erkläre, das sei der Grundstock für ein Studio.

„Du hast einen Apple-Rechner? Die Dinger sind scheiß teuer, Mann!“

„Stürzen halt nicht so leicht ab.“

„Ja, klar.“

Mir ist peinlich, dass ich rede, als kenne ich mich aus, und als sei ich ein Produzent. Ich habe mir die Geräte gekauft, weil ich dachte, es sei an der Zeit, das Produzieren anzufangen, wenn ich richtig einsteigen will. Alle erfolgreichen Diskjockeys produzieren.

Klaus, ein Jugendfreund, hat produziert. Er hat Platten veröffentlicht, und war angesehen in der Drum 'n' Bass Szene. Er hat mir einiges gezeigt. Für mich war das Umgehen mit den Geräten anstrengend. Ich wusste nicht, was ich produzieren soll. Ich dachte darüber nach, ob es möglich sei, die perfekte Platte zu produzieren. Allein der Gedanke, mich vor die Maschinen zu setzen, hat mich angestrengt. Woher soll ich wissen, ob der Ton, den ich forme, zu einem guten Track wird. Es könnte Zeitverschwendung sein; und das wollte ich nicht. Ich hatte immer genug zu tun: Zivildienst, und früher, neben der Schule, musste ich arbeiten gehen, um Platten kaufen zu können.

Oft will ich nur auf dem Bett liegen, die Decke anstarren und nachdenken.

Josef:

„Mit Rechnern kenne ich mich ganz gut aus. Ich hab früher viel gezockt, und da musste man immer mal den Rechner neu tunen.“

„Ich hab mal Supernintendo gespielt bei meinem Bruder auf der Konsole, aber sonst eigentlich nie. Vielleicht verkaufe ich die Geräte.“

Wir schleppen die Couch zu zweit. Wir trinken was und essen die Brötchen, die ich gerichtet habe.

Beim Gehen küsse ich heimlich hinter ihm den Türpfosten meines alten Zimmers, und sage: „Tschüss.“ Auch der Küche sage ich Tschüss. Ich werde nie wieder hier wohnen. Es war ein würdiger Ort. Ich werfe die Schlüssel in den Briefkasten des Verwaltungsbüros. Wir fahren zurück.

 

 

Josef redet anteilig deutlich mehr als ich. Er kann mich nerven mit seiner impulsiven Art. Seine Geschichten kommen mir übertrieben und irrational vor, was mich ärgert. Ich finde, man muss Ereignisse so wiedergeben, wie sie waren. Nur so kann sich der andere ein echtes Bild machen und Vertrauen gewinnen, während man selbst vertrauenswürdig wirkt. Ich vertraue ihm trotzdem. Ich habe bereits das Gefühl, dass ich, im Gegensatz zu früher, Drogen nehmen würde, weil er mir dazu ein Bild schildert, das mich interessiert. Auf seine Art hat Drogen nehmen als Erfahrung Niveau und Wert. Bei meinen Freunden von früher schien mir, sie schmissen sie einfach blind ein.

Es ist mir zu anstrengend, immer etwas zu sagen, wenn ich an seinen Übertreibungen und seiner Leichtigkeit zweifle. Ich muss einfach zuhören, mit der Hoffnung, er hört irgendwann auf. Andererseits interessieren mich seine Erfahrungen; und wenn ich ihn nicht lasse, hört er vielleicht auf zu erzählen, oder er zieht mich mich mit Witzen auf, gegen die ich mich nicht wehren kann, oder er beschwert sich, wenn ich doch Fragen habe, von wegen: Ich hätte doch gemeint, es würde mich nerven, was er redet.

Ich lerne etwas kennen, ohne selbst die Erfahrung gemacht zu haben. Ich fühle mich eingeweiht und außergewöhnlich. Es ist also gut, ihm zuzuhören, obwohl es anstrengend ist und in der Menge unglaubwürdig.

Ich beneide ihn um seinen Mut, soviel zu riskieren; und es kränkt mich, dass sie ihn gefragt haben, ob er Vortänzer sein will in einem professionellen Club mit Ruf wie dem Aufschwung Ost.

Aber so viele Drogen hätte ich nie nehmen können, um dann einen solchen Ruf zu bekommen. Ich weiß nicht, ob man ohne Drogen überhaupt die Kraft haben kann, in der Szene zu bestehen, wenn man immer ablehnt? Ich konnte bisher einen Tag pro Woche Feiern gehen, und am nächsten Abend war ich kaputt, bin spät losgefahren mit dem Auto meiner Mutter, und habe noch für zwei Stunden einen Freund besucht oder ein Geburtstagsessen.

Sven Väth fiel auch im Dorian Gray*22 als Tänzer auf, und hat sich dadurch einen Namen gemacht. Er war ein Narzisst mit ständig wechselnden Frisuren und experimenteller Kleidung. Dann wurde er Cyberpunk.

Ich könnte nie so werden mit meinen Locken. Ich will hart genug aussehen für die Szene. Ich könnte wie ein Hippie wirken, aber nicht wie ein Cyberpunk.

Josef hat eine ähnlich stabile Nase wie die von Sven Väth. Vielleicht ist sie der Grund, um einen durchtriebenen Charakter zu haben, der fatale Sachen macht gegenüber sich selbst, und der sich auch prügeln kann; obwohl ich nicht weiß, ob Sven Väth sich geprügelt hat; aber Josef würde ich es zutrauen. Ich sehe ihn auf dem Podest stehen und sich ruinieren.

Ich werde trotzdem den Weg in der Szene gehen, auch mit meiner kleinen Nase. Dann stelle ich eben irgendwas dar, meinetwegen nicht so gut.

Meinen Plan kann ich nicht ständig ändern. Nur wer dabeibleibt, kommt weiter. Allen zu Hause habe ich groß erzählt, dass ich das machen werde, und keine Berufsausbildung oder ein Studium. Blöd war, dass ich keinen Mut hatte, mich früher von der Schule zu lösen. Das war ein Fehler. Das hat mich Zeit gekostet. Aber ich war wieder zu vorsichtig. Ich erinnere mich an den Diskothekenbesitzer in Willkürheim, im Apfelbaum, der mich gefragt hat, warum ich Diskjockey werden will, wenn ich Abitur mache.

Irgendjemand hat mir eingeredet, dass man erfolgreich wird im Leben, wenn man in der Schule ordentlich seine Aufgaben erledigt, doch außerhalb scheint das nicht zu zählen.

Aber später war ich anders. Ich habe an mir gearbeitet. Dieses Leben ist aufregender, und ich will auch daran teilhaben.

Fürs erste habe ich den richtigen Mitbewohner gefunden.  

Meine Unerfahrenheit will ich so wenig wie möglich durchklingen lassen. Josef soll denken, ich kenne mich aus wie er, damit er keine Hemmungen bekommt im Reden, aus Bedenken, er bräche ein Tabu, wenn er sich mir gegenüber öffnet.

Das ist eine herausragende Eigenschaft an mir; anderen so zuzuhören, dass sie denken, ich sei ihr Freund, und mir vertrauen. Ich fühle mich diesbezüglich Josef überlegen, weil er nicht bemerkt, wie ich darüber denke. Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin ein dunkler Charakter, der andere aushorcht.

Wer gut zu anderen sein kann, weil er weiß wie, der kann sie auch verletzen. Josef sollte mich zu seinem Schutz nach meiner Meinung fragen über sein Gerede.

Meinem Eindruck nach stehe ich jetzt, in diesem Moment das Nachdenkens, hoch und bin etwas Außergewöhnliches, aber ich bin isoliert in einem Glaszylinder, und komme nicht an das, was ich will.

 

 

Josef: „Also ich kann Dir nur sagen: Die Szene hier ist verdammt öde. Hier legen nur Muchten*23 auf.“

„Kann man ja ändern.“

„Wie willst 'n das ändern?“

„Einen anderen Sound spielen.“

„Na dann, viel Spaß.“

„Mal sehen.“

„Also wenn Du das schaffen würdest; Respekt. Aber ich glaub' nicht. Die spielen doch alle denselben Brei hier. Kriegt man hier überhaupt gescheite*24 Platten?“

„Also es ist ein bisschen anders, aber eigentlich kriegst Du alles.“

„Auf die scheiß Mukke hier kannst Du einfach nicht abgehen.“

„Warum bist Du dann hierher gekommen?“

„Keine Ahnung! Wegen meiner Ex! Die hat hier Abi gemacht. Ich wusste nicht, was ich machen soll. Dann bin ich eben mit. Ja, und jetzt mach' ich auch Abi.“

„O.k.. Und was hast Du vorher gemacht?“

„Also vorher..“

„Mm.“

„Ich hab mal 'ne Maurerlehre gemacht.“

„Aber nicht zu Ende, oder?“

„Nee. Das war g'rade die Zeit, als ich feiern war. Dann hab ich noch angefangen zu Dealen. Na ja, und irgendwann hab ich mich dann immer krankschreiben lassen oder bin einfach nicht hin. Und einmal hab ich während der Arbeit mit der Kelle den Mörtel durch die Gegend gefeuert! Das hat total Bock gemacht! Danach war ich erschöpft, hab mich in den Sandhaufen gelegt und gepennt. Ab dann war ich gefeuert.“

„Das war beim großen Bruder von 'nem Kumpel auch so. Der hatte auch ständig Krankheiten und so.“

„Das hatte ich nicht. Und eigentlich war es ja in Ordnung. Das körperliche Arbeiten, da stand ich ja drauf. Aber die Leute gingen mir auf den Sack. „Ey Junge! So aber net*25!““

„Hm.“

„Aber Dealen ist geil, sag' ich Dir. Ich hatte soviel Kohle. Ich konnte mir alles kaufen. Klamotten. CDs. Alles. Ich bin alleine mit dem Taxi von Frankfurt nach Kassel, nur weil mir die Party nicht mehr gepasst hat. Das waren fast zweihundert Kilometer.“

„Auch Urlaub?“

„In Urlaub bin ich nie.“

„Kein Bock?“

„Hat mich nicht interessiert.“

„O.k.. Und..wurdest Du nicht erwischt?“

„Also Beweise gab es nie. Aber irgendwann standen regelmäßig zwei Männer im Auto vor unserem Haus auf der anderen Straßenseite. Das weiß ich noch. Das war dann so der Punkt, wo ich langsam ans Aufhören dachte. Und dann bin ich ja nach Bayern abgehauen.“

„Hattest Du Schulden oder so?“

„Ja ja, zum Schluss hatte ich bei einigen Leuten Schulden.“

„Und wer war das dann im Auto?“

„Na, ich schätze mal Zivilbullen. Die haben dann auch geklingelt, und mit meiner Mutter unten gesprochen. Und ich saß oben, und hab gehofft, dass sie nichts erzählt.“

„Aber ging ja irgendwie gut.“

„Jop.“

„Und was hast Du dann in Bayern gemacht?“

„Da hab ich bei meiner Ex gewohnt.“

„Aber hast Du dann einen Job gehabt?“

„Am Anfang nicht. Ich musste klauen gehen im Supermarkt, um zu überleben.“

„Krass.“

„Das waren Aktionen. Ich bin da rein mit 'ner Bomberkjacke! Alles r'in gestopft, oben in den Reißverschluss! Dann bin ich an der Kasse vorbei, und hab gesagt: „Ich hab nix.“ Und: raschel, raschel, raschel. Unglaublich eigentlich. Aber wenn Du Hunger hast, bist zu einigem fähig.“

„Und die haben nichts gesagt?“

„Ich sah gefährlich aus zu der Zeit. Da hatte ich noch 'ne Kahlrasur. Also ich hätte nichts mit mir zu tun haben wollen. Ich war der Alptraum der Gesellschaft.“

„Wenn das eine Frau war, vielleicht.“

„Bingo. Ich hätte die ja auch bedrohen können mit 'ner Knarre. Ich hatte ja eine Gaspistole“

„Stimmt, vielleicht. Aber dann hast Du einen Job gefunden?“

„Später hab ich dann in einer Diskothek in Frankenstadt*26 gearbeitet. Das war nicht schlecht. Aber ein Alkoholexzess nach dem anderen. Und das in Kombination mit den Drogen hat meine Leber geschrottet.“

„Und was bedeutet das?“

„Nix. Ich muss aufpassen, was ich esse, damit ich nicht fett werde.“

„O.k..“

„Das ist auch nur zufällig 'rausgekommen, als ich in Berlin beim Arzt war. Ansonsten hätte ich einfach weitergemacht, bis ich im Grab gelegen hätte. Mir wär' 's egal gewesen. Ich hab mich nur gewundert, warum ich immer fetter werde.“

„Aber ist gut, dass sie es gemerkt haben.“

„Keine Ahnung. Früher war ich nie fett. Ey, ich kam aus 'm Osten. Ich hab Radsport gemacht. Wir haben jeden Tag trainiert! Jeden Tag! Das war alles Muskel hier. Im Fußball hätte ich locker zwei Spiele hintereinander machen können.“

„Ich habe auch Fußball gespielt.“

„Ey, wenn ich das ernst genommen hätte, wäre ich heute wahrscheinlich Profi, und hätte keine Probleme.“

„Das ist aber auch ein weiter Weg, bis Du da hinkommst.“

„Ey, ich sag Dir: Bei den Bundesjugendspielen im Dauerlauf: Ich war mit Abstand immer Erster. Ich war Vorzeigesportler, obwohl ich nicht mehr trainiert habe. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum mein Körper überhaupt diese ganzen Drogenexzesse verkraftet hat. Das war ja im Prinzip genauso Extremsport.“

„Hn. Hast Du Geschwister?“

„Was?“

„Na, ob Du Geschwister hast. Bruder. Schwester. Also ich habe einen Bruder und eine Halbschwester. Mein Bruder ist zweieinhalb Jahre jünger, und meine Schwester ist sechs.“

„Jo.“

„Also hast Du?“

„Hajoo, einen Bruder hab ich und zwei Schwestern.“

„Und wie alt? Auch jünger?“

„Jop. Aber ich weiß nicht genau. Meine große Schwester ist auf jeden Fall ein Jahr jünger.“

„Ah, direkt.“

„Was?“

„Ja, und?“

„Ähhh, also..und mein Bruder..weiß nicht, der ist einiges jünger.“

„Auch so wie meine Schwester?“

„Was?“

„Na ja, meine Schwester ist sechs!“

„Nein, der müsste auf jeden Fall erwachsen sein. Ich weiß nicht genau.“

„Hast Du keinen Kontakt?“

„Nicht mehr, seit ich aus Hessen weg bin.“

„Hm.“

„Joa, und meine kleine Schwester, die interessiert mich sowieso nicht.“

„Die eben?“

„Nee, zu der hab ich ja manchmal Kontakt.“

„Ach so, o.k..“

„Die andere. Also die junge. Das ist die von meinem Stiefvater. Die kann ich nicht ab.“

„Wieso?“

„Wir konnten die alle nicht ab.“

„O.K.. Aber warum?“

„Weil sie immer alles gekriegt hat, und wir haben nichts gekriegt, außer Prügel!“

„Ou, so eine verwöhnte Prinzessin?“

„Was weiß ich!“

„Na gut. Also ich hab halt Abi gemacht. Dann meinen Zivi. Ich wollte weg. Und die von der Behindertenschule haben alles bezahlt, also Wohnung und Gehalt. Jetzt bin ich hier, und will mich in der Musikszene umschauen. Vielleicht ergibt sich ja was.“

„Also mit Jana kannst Du dich vielleicht kurzschließen. Die kennt einige Leute.“

„Ja, vielleicht. Mal sehen.“

„Ohne Witz! Die kennt auch Luigi Andres*27! Die hat den mal nach W. gefahren.“

„O.k.. Und woher kennst Du die?“

„Das ist meine Ex.“

„Ah o.k.. In Frankfurt wollte ich mal, also über Cocoon*28 wollte ich nach Ibiza, und dort helfen; und dann hab ich Sven Väth gefragt...“

„Du kennst Sven Väth?!“

„Nein. Nicht wirklich. Ich bin nur hin im Club, und hab gefragt. Und dann hat er gemeint, ich soll ihm nächstes Mal meine Adresse geben, und das hab ich dann gemacht mit so einem Schreiben; hab ich noch einen Weihnachtsbaum drauf gemalt, dass es halt schöner aussieht, so mit Kuli. Keine Ahnung.“

„Hm.“

„Aber es hat eh*29 nicht geklappt. Die haben mich zwar angerufen, und ich hätte halt*30 Flyer verteilen können. Aber ich habe gedacht, ich kann mehr machen. Eine Unterkunft haben sie mir keine bezahlt, was ich auch nachvollziehen kann; ja, und dann wollte ich nicht.“

„Na klar bezahlen die nichts! Was denkst Du denn?!“

„Ja wenn man für die arbeitet!“

„Da könnte ja jeder kommen: „Ey, lass mal für umsonst wohnen und Party machen auf Ibiza!“ Da würde ich auch fragen.“

„Mm! Mm! Hast Du auch Zivi gemacht?“

„Ich? Nö!“

„Also Bundeswehr, oder wurdest Du ausgemustert?“

„Nee nee, ich war bei der Bundeswehr.“

„Ich wollte immer mein eigenes Ding machen und dafür zu Hause wohnen. Deswegen wollte ich das nicht.“

„Ey, ich fand 's geil. Ich hab dort Drogen verkauft.“

„Echt?“

„Ey, ohne Mist. Die Offiziere, ja?- die höchsten Tiere der Deutschen Bundeswehr kaufen das Zeug bei mir.“

„Extasy!?“

„Nein. Hauptsächlich Gras.“

„Na das geht ja noch.“

„Dadurch hatte ich einen guten Draht. Ich habe Fußball mit denen gespielt in der Halle; und ich war der Einzige aus der Grundausbildung, der das durfte.“

„Aber mit dem Kommandieren kamst Du klar?“

„Das war mir latte. Ich weiß noch: Ich stand da mal, und der Ausbilder hat mich volle Kanne angebrüllt: „Still gestanden!““

„Und dann?“

„Nix: Ich hab gelacht.“

„Nichts passiert?“

„Was soll passieren? Der hat immer mehr gebrüllt, und ich hab immer lauter gelacht. Später wollte ich mich verpflichten. Weißt Du, was ich gesagt hab?!“

„Hm?“

„Ich hab gesagt: „Ich will runter nach Jugoslawien, und Leute töten.“ Auf meinen Helm habe ich geschrieben: Born to kill!*31 - Aus Spaß. Also nicht falsch verstehen.“

„Hn. Und dann?“, ich muss gähnen. Josef ist anstrengend. Er redet ununterbrochen impulsiv.

„Musste ich zum Priester.“

„Sonst nichts?“

„Nö.“

„Aber genommen haben sie dich nicht, oder?“

„Glaubst Du, die nehmen einen, der Leute umbringen will?! Krasser Typ.“

„Was weiß ich!“

„Also nicht bei der Deutschen Bundeswehr. Vielleicht bei der Fremdenlegion.“

„Ja!!“

„Mann, ich war heilfroh, als der Scheiß vorbei war! Da konntest Du nichts machen, außer Saufen und in der Kaserne abhängen. Und das wurde irgendwann so stinkeöde!“

„Hn. Und mit 'nem Leberschaden.“

„Das wusste ich ja noch nicht damals. Da ha'm ma g'soffen, gä! Auf geht’s Kameraden!“

„Haja.*32 Hn.“  

 

In Berlin stellen wir die Sachen in mein neues Zimmer, und ich gebe das Auto zurück.

Ich lege mich auf die Couch, und betrachte die Decke. Sie ist weiß. Der Boden ist blau. Die Couch ist hellblau. Die weiße Tapete beginnt zu flimmern. Als Spiel versuche ich, so lange wie möglich nicht zu blinzeln. Ich muss den Eindruck von Josef sortieren. Es muss eine Möglichkeit geben, ihn zu relativieren; und er sollte auch merken, dass er übertreibt. Es darf nicht passieren, dass jemand meine eigenen Fähigkeiten so in Frage stellen kann.  

Er hat sich nicht mit Auflegen beschäftigt damals, zum Glück; sonst hätte er vermutlich noch im Aufschwung Ost aufgelegt, einfach nebenher, weil er sich keinen Kopf gemacht hat, voller Drogen immer feiern war, alle Leute kannte, und deswegen auch die nötigen Kontakte hatte.

Ich richte das Zimmer provisorisch ein, soweit es geht. Ein Regal wird noch notwendig sein. Ich plane, eines in den Rahmen der Zwischentür zum anderen Zimmer zu konstruieren. Ich stelle meine Platten in die Ecke auf den abgetragenen Sockel eines Ofens, sowie in zwei Körbe. Zur Selbstbestätigung zähle ich sie durch, und komme auf 823, wenn ich die Musikplatten von Sängerchören, geerbt von meiner Großmutter, mitzähle.

Alles Geld habe ich dafür ausgegeben, das ich in meiner Jugend verdient habe. Anfang dieses Jahres habe ich mir als einzigen Urlaub bisher Skifahren geleistet.

Am nächsten Morgen um halb acht nehme ich den Zug Richtung Karlsruhe. Mit dem gefälschten Zivildienstausweis fahre ich für umsonst. Zu Hause übernachte ich zuerst in Taurindorf bei meiner Mutter und meinem Bruder. Mit meiner alten Techno-Clique besuche ich einen Freund in der Willkürheimer Psychiatrie, Stefan. Er hat den Tod von Toni, unseres gemeinsamen Cliquen-Mitglieds, nicht verkraftet, und wollte sich mit Schlaftabletten umbringen. Er hat sich in den Weinberg gelegt, und wurde gefunden.

Am nächsten Tag fahre ich nach Heiligenheim zu meinem Vater.

Meine jüngere Cousine ist begeistert, dass ich zur Loveparade gehen werde. Ihre Eltern würden es ihr nicht erlauben. Aber sie werde im Fernsehen schauen, ob sie mich sieht.

Ich kann mit ihrer dörflichen Begeisterung nichts anfangen.

Donnerstags findet die Goldene Hochzeit statt. Dass ich nach Berlin gezogen bin, ist großes Thema. Ich beantworte die Fragen so höflich wie möglich. Mir ist die Begeisterung zu einfach.

Freitags kaufe ich mir auf Tipp meiner Mutter im Discounter eine Matratze für 140 Mark, beziehungsweise ab jetzt 75 Euro, und schleppe sie auf den Schultern zum Bahnhof. Gegen 22 Uhr bin ich zurück in Berlin. Die Wohnung ist mir noch fremd.

Berlin, Samstag, 13.Juli 2002, Loveparade – Access Peace*33

 

 

Konrad, ein Freund aus Willkürheim, reist um 16 Uhr an per Mitfahrgelegenheit. Er will bei mir übernachten. Ich will nicht mit ihm zur Parade gehen. Ich will Frauen suchen. Wenn er dabei ist, fühle ich mich ihm verpflichtet. Außerdem will ich Drogen nehmen, und nicht schlecht dastehen oder abgehalten werden. Alleine habe ich alle Freiheiten.

Zum Glück hat er eigene Pläne.

Josef wartet auf seine Ex-Freundin. Ihm gegenüber fühle ich mich nicht verpflichtet.

Nachdem Konrad losgegangen ist, stehe ich in meinem Zimmer und stelle mir vor, wie es werden könnte. Als Kleidung wähle ich eine knielange hellblaue Hose aus Synthetikstoff und ein Trägerhemd mit dick aufgedrucktem goldgelbem Schiefermuster.

Ich bin nicht überzeugt, ob die Kombination Aussagekraft hat. Ich frage mich, warum ich nichts Konkretes trage wie einen Kuhfellrock oder ein Federkostüm. Mich faszinieren bullige, harte Glatzköpfe mit roter Haut und Piercings, die ich oft in solcher Kleidung auf Partys sehe, und die beim Tanzen grob stampfen und schwitzen, als führten sie Krieg.

Ich fahre mit der S-Bahn ab Warschauer Straße Richtung Zoologischer Garten. Von Station zu Station sitzen weniger alltägliche Menschen in der Bahn. Die Sonne steht über der Stadt nicht mehr ganz hoch. Es ist herrliches drückend warmes Sommerwetter. Ich widme diese Minute wieder unserem verstorbenen Freund.

Ab Friedrichstraße werden die Fenster aufgerissen, und es wird laut gepfiffen. Einer im Abteil hat einen Ghettoblaster, über den Gabba*34 läuft. Ein Energydrink soll mich aufputschen. Ich will gute Laune haben, ins Gespräch kommen, und nicht in Gedanken fallen, in denen ich mich beurteile. Endstation am Bellevue. Vor dem Bahnhof kaufe ich mir eine zweite Dose Energydrink, und ziehe mit dem Strom Richtung Siegessäule.

Sven Väth und Carl Cox haben der Veranstaltung abgesagt wegen zu großer kommerzieller Ausbeutung. Die Musik interessiert mich deshalb nicht. Aber ich wohne jetzt in der Stadt. Ich kann jederzeit sicher nach Hause gehen, und ich will Extasy probieren. Ich bin aufgeregt. Der Strom marschiert, und die Menge wird dichter. Es ist ein kontinuierliches Ausweichen vor Passanten und leeren Flaschen.

Ich will einer Frauengruppe zuprosten mit meiner Dose, schäme mich für meinen Impuls, und ziehe den Arm zurück. Die Energie kursiert weiter in mir, und ich will eine neue Gruppe finden. Ich entscheide mich für vier Männer, die aber nicht reagieren. Ich bin verunsichert, aber ich will nicht einfallen.

Der Umzug hat sich bereits vollständig um die Siegessäule versammelt. Überall Menschen. Die Grenze zwischen Straße und Tiergarten ist nur noch ungefähr erkennbar an den Bäumen, die zwischen den Köpfen wachsen. Ich muss mich langsam mit dem Strom bewegen. Die Idee, mit eigenem Willen auszubrechen, erzeugt Panik. Ich lasse mich unter Streifen hunderter Körper treiben. Manchmal bekomme ich eine Erektion, wenn ich gegen den weichen Hintern einer Frau gedrückt werde. Ich versuche Abstand zu halten, um keine Ohrfeige zu kassieren. Es gibt zu viele Frauen, auf die ich stehe.

Ich erreiche den Rand des großen Kreisels, an der Stelle, wo die Straße Richtung Ernst-Reuter-Platz mündet. Tanzen interessiert mich nicht. Ich will eine Frau ficken. Das letzte Mal hatte ich Sex vor drei Jahren.

Ich stehe vor dem Tunnelhaus einige Meter entfernt vom großen Kreisel. Die Menschenmenge hat sich aufgelockert. Leute treten über die Büsche weg auf die Straße und stolpern manchmal. Am Bordsteinrand liegen mehrere Schichten aus leeren Flaschen herum.

In dieser Gegend vermute ich Dealer. Ich trete hinter das Tunnelhaus. Dort ist es schattig und kühler. An manchen Stellen riecht es nach Urin. Leute verschwinden in den Sträuchern. Ich sehe Frauen, die dort hocken und pinkeln. Ich versuche unbemerkt kurz den Po zu sehen oder zwischen den Schenkeln das Geschlechtsteil. Auch Paare sehe ich in den Sträuchern verschwinden. Neben dem Haus finde ich einen Dealer arabischer Herkunft, der mir für zehn Euro eine Pille verkauft. Auf meine Frage, ob sie gut sei, antwortet er: „Ja.“

Mit einem Schluck aus meiner Dose Energydrink kippe ich sie hinunter.

Ich nehme mir fest vor, ab jetzt Frauen anzusprechen. Gleich finde ich Kontakt zu einer Luise, die auf ihre zwei Freundinnen wartet. Ich erzähle ihr, dass ich zum ersten Mal eine Pille genommen habe. Sie schaut skeptisch. Ihre Freundinnen kommen zurück. Sie stellt mich vor: „Das ist Michael. Er hat eine Pille genommen.“ Die beiden reagieren ähnlich reserviert. Ich merke, dass sie Zeitverschwendung sind, überlege kurz, ob es unhöflich ist, und verabschiede mich.

Wieder auf der Straße vor dem Tunnelhaus spreche ich eine Frau an mit blaugefärbten Haaren und gut proportioniertem Hintern im Fellrock, während sie an mir vorbeigeht. Ich hänge mich an sie und versuche ein Gespräch aufzubauen, aber sie ignoriert mich.

Wieder stehe ich am Rand des großen Kreisels. Fast nahtlos an den letzten Satz knüpfe ich Kontakt mit einer Frau, die mich an eine Freundin von früher erinnert. Sie trägt einen Pagenschnitt, kupferrot gefärbt. Ihre Gruppe ist angereist aus einem Dorf. Ich rede viel und spiele unschuldig mit Witzen. Ihr gefällt meine Art, aber sie ist mir zu vorsichtig.

Ich gehe wenige Schritte weiter, und finde mich in der nächsten Gruppe wieder. Die Musik von der Siegessäule kommt gut. Ich tanze ein bisschen, während ich mit einer blassen Blondine spreche, die offen im Umgang ist, sich aber hart anfühlt. Sie wendet sich ab und redet mit einem schwarz gekleideten Typen, der neben ihr steht. Ich wende mich ihrer Freundin zu; eine blonde Frau mit langen glatten Haaren, weißem Oberteil, schwarzem Minirock. Bei ihr spüre ich Wärme. Sie bleibt in meiner Nähe ruhig.

Dann bemerke ich wieder die Kupferhaarige in der anderen Gruppe. Ich winke ihr ohne weiteres Interesse. Sie wirkt vorwurfsvoll und eifersüchtig. Ich fühle mich dem Dorf entwachsen.

Es ist dunkel geworden. Ich tanze neben der Frau mit Minirock und rede weiter. Sie wendet sich ihrer Freundin zu und bespricht etwas. Ich befürchte, sie schließen mich aus; warte ab.

Wenn sie gehen, hätte ich keine Kraft mehr, noch eine weitere Frau anzusprechen, und wäre verloren in der Menschenmenge.

Die blasse Blondine läuft mit dem schwarz gekleideten Typen weg. Die Frau mit Sonnenbrille wendet sich mir zu: „So, und Du kommst jetzt erst mal mit zu mir.“

Ich bin also doch süß, so wie ich es gewohnt bin. Die Stadt scheint keinen Unterschied zu machen.

Sie geht voraus. Um Nähe zu schaffen, nehme ich sie an der Hand. Sie führt uns aus der Menge, neben das Tunnelhäuschen. Auf den ersten Metern durch den Park ziehe ich sie zu mir für einen Zungenkuss. Sie zögert nicht. Ich meine: „Das hat gut getan.“

Sie sagt nichts. Warum hat sie dann mitgemacht? Wir durchqueren den Park, und kommen wieder auf die Straße. Die Menschenmenge lichtet sich. Es stehen Getränkeverkäufer mit Einkaufswägen herum, und man sieht am Rand kleine Partyzelte von Busgesellschaften. Ich habe den Namen der Frau vergessen. Sie läuft zügig. Ich sage wenig, weil ich befürchte, sie entflieht mir.

Sie quatscht einen Türken an und erkundigt sich nach Partys und Drogen. Er ist angeregt und will sie am Arm greifen. Sie zieht zurück. Der Mann ist körperlich stark. Ich stehe im Hintergrund und versuche tolerant zu wirken und nichts zu fühlen, bin aber eifersüchtig, was nicht sein sollte, weil ich kein Konservativer bin. Sie quatscht den Nächsten an. Ich weiß nicht mehr, wo wir sind. Es scheint eine Industrie- und Wohngegend zu sein. Es sind noch wenig Menschen auf dem Gehweg. Sie geht um einen schwarzen Golf herum, der am Straßenrand steht, und schließt ihn auf. Das beruhigt mich. Wir sind alleine. Sie bittet mich, den Gurt anzulegen, und dreht Musik auf. Ich kenne die Melodie. Sie klingt ästhetisch Schmerz aufreibend unter gezwungener Freude.

Die Frau heizt durch Straßen, die ich nicht kenne und die ich fantastisch finde. Alles ist neu. Berlin. Straßenlichter, Häuserwände, Brücken. Sie fährt mir zu schnell. Als einziges Gebäude erkenne ich die Deutsche Oper. Von dort biegt sie zweimal ab, wird langsamer, und hält auf einem Parkplatz. Wir stehen vor einem hohen Wohngebäude mit weißer Betonfassade. Am Klingelbrett schaue ich auf die Namen, und frage, wie sie heißt. Sie sagt: „Polski.“ Ich finde, das klingt billig, und verdränge es. Wir steigen die Treppen hoch. Ich spüre keine sexuelle Energie, bin nur gespannt und rede viel. Hoffentlich habe ich mich nicht getäuscht und der Falschen verpflichtet.

Sie bittet mich, leise zu sein. Wir treten in ihre Wohnung. Diese wirkt schick und akkurat. Ein grauer Teppichboden. Ein 70er Jahre Kugelsessel, schwarze Lederhocker, ein Glastischchen, eine weiße Kommode. Hinter dem Wohnzimmer führt ein Durchgang ins Dunkel. Ich vermute dahinter noch viele Räume, und frage mich, was sie arbeitet, um so viel Geld zu verdienen. Meine Vermutung ist: Anwältin.

Wir setzen uns an das Tischchen, und sie fragt, ob ich was trinken will.

Wir reden, und finden schnell heraus, dass wir uns eigentlich kennen könnten von einer Psychologen-Party vor zwei Monaten an der Humboldt-Universität. Ich habe dort aufgelegt; gemischte Musik, keine Elektronische.

Sie meint, ihr gefiel die Musik, aber mich hätte sie nicht gesehen; was mich rätseln lässt, denn es steht nur ein Deejay hinter dem Pult.

Sie studiert Psychologie im ersten Semester und ist vierundzwanzig. Ihre Frage, ob ich eine Freundin habe, empfinde ich als Frage nach der Fähigkeit, ein Mann zu sein, und nach Status. Ich schäme mich, weil ich noch nie eine hatte, und sage: „Nein, seit einem halben Jahr nicht mehr“.

Für mich wandle ich das belastende Bild um, indem ich mir gut zurede, dass ich keiner sein werde, der jemanden betrügt. Die Frau fängt an, von ihrem Ex-Freund zu erzählen. Er hat sie verlassen. Sie zeigt mir alte Urlaubsbilder, auf denen sie zu sehen ist zwischen ihm und seinen Freunden auf der Terrasse einer südländischen Villa mit Meerblick. Er wirkt wie der Rädelsführer, scheint männlicher und körperlich stärker als ich, und er ist älter. Seine Nase ist kräftig, und er hat braune, zurückgekämmte Haare, die am Ausgehen sind. Es macht den Eindruck von einem durchtriebenen Szene-Playboy, der auch die Energie entwickeln kann, sich zu schlagen. Ich bin froh, dass ich ihm nicht die Hand schütteln muss.

Sie fragt: „Kann ich dein Handy haben? Ich will ihn kurz anrufen.“

Ich ringe mich durch und gewähre es ihr. Vertrauen kann ich ihr nicht. Ich kenne sie kaum und sie ist auf Drogen. Geizig oder verklemmt will ich aber auf keinen Fall wirken. Sie telefoniert, und ich bete, dass sie keinen Gefühlsausbruch bekommt, der uns auseinanderbringen könnte.

Zuhören will ich zwar nicht, aus Anstand, bekomme aber alles mit. Sie redet gefasst und unterlegen. Er scheint kein Interesse mehr an ihr zu haben. Sie ist ihm nur lästig.

Ich werde ungeduldig, und bitte sie, aufzuhören, weil sie sonst mein ganzes Guthaben vertelefoniert.

Sie wirkt nachdenklich. Ich empfehle ihr, ihn zu vergessen. Nachlaufen tue unnötig weh. Sie nimmt den Ratschlag an. Ich reflektiere, und finde, dass er qualifizierter klingt, als ich bin. Falls sie mich fragen würde, ob ich überhaupt Ahnung hätte, könnte ich mich immerhin auf ein Gefühl berufen, dass mir sehr wohl bekannt ist: Einer Frau hinterherzulaufen, die mich nicht will.   

Es klingelt an der Tür. Ihre Freundin taucht auf mit dem schwarzgekleideten Typen. Er stellt sich mir vor als Ramon. Ich finde ihn interessant. Er wirkt geschmeidig, ästhetisch und hat etwas angenehm dunkel Erotisches ohne Aggression. Er könnte Tänzer sein. Ich würde ihm nicht zutrauen, dass er im Fußball körperliche Härte zeigen kann, und ich verachte ihn wiederum. Die Frauen unterhalten sich wortreicher.

Er und seine Blondine verschwinden hinter dem Durchgang. Die beiden scheinen ein Paar zu sein. Sie wirken vertraut und zu brav für einen One-Night-Stand.

Wieder mache ich mir krampfhaft Gedanken über den Namen der Frau bei mir.