Die Einsamen - Håkan Nesser - E-Book
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Håkan Nesser

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Beschreibung

Ich weiß, was du getan hast. Damals vor 35 Jahren ...

Eine unbeschwerte Sommerreise in den siebziger Jahren. So fängt alles an. Drei Paare aus Uppsala, miteinander befreundet und jung, planen eine Busreise von Schweden durch die Ostblockländer bis ans Schwarze Meer. Aber was so lustig beginnt, endet im Desaster. Die Wege der Sechs trennen sich nach diesem Urlaub – und kreuzen sich ein Menschenalter später erneut, als ein Dozent aus Lunda in den Wäldern vor Kymlinge am Fuße eines Steilhangs tot aufgefunden wird. Genau an derselben Stelle, an der eine junge Studentin aus Uppsala vor fünfunddreißig Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben kam ... Ein schwieriger Fall für Inspektor Barbarotti, in dessen Verlauf sein Pakt mit Gott und sein moralisches Empfinden auf eine harte Probe gestellt werden.

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Seitenzahl: 751

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Håkan Nesser

Die Einsamen

Roman

Aus dem Schwedischen

von Christel Hildebrandt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel »De ensamma« bei Albert Bonniers, Stockholm

Copyright © 2010 by Håkan Nesser

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 bybtb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Trevillion Images / Irene Suchocki; Getty Images / MirageC

Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-06661-1 V004

www.btb-verlag.de

Einleitende Bemerkung

Die Stadt Kymlinge und ihre Umgebung existieren nicht auf der Landkarte, und gewisse militärische und akademische Verhältnisse sind den Ansprüchen der Umstände entsprechend verändert worden. Ansonsten enthält das vorliegende Buch eine in vielerlei Hinsicht wahrhaftige Geschichte.

»Kann man vom innersten Kern eines Menschen

sprechen?«, fragte Regener. »Macht das einen Sinn?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Marr. »Vielleicht.«

Erik Steinbeck, Die Perspektive des Gärtners

Prolog, September 1958

Er wachte von streitenden Stimmen auf. Sie stammten weder von Vater noch von Mutter. Die stritten sich nie. Man kann doch in der heiligen Familie nicht streiten, pflegte Vater zu sagen und dann auf diese ernste Art und Weise zu lachen, so dass man nicht wusste, ob er nun Spaß machte oder es ernst meinte.

Es war auch nicht Vivianne, die da zeterte, oder ein anderer Mensch. Nein, die Stimmen waren in ihm selbst.

Tu es, sagte die eine. Es geschieht ihnen nur recht. Sie sind ungerecht.

Tu es nicht, sagte die andere. Es wird Prügel setzen. Er wird es merken.

Komisch, dass man von Stimmen aufwachen kann, die es eigentlich gar nicht gibt, dachte er. Er schaute auf die Uhr. Es war erst halb sieben. Noch zwanzig Minuten, bis er normalerweise aufstand. Das war ebenfalls komisch. Er wachte so gut wie nie von allein auf. Seine Mutter musste ihn meistens wecken, und das nicht nur einmal.

Aber das lag natürlich daran, dass es ein besonderer Morgen war.

Natürlich. Und weil er gestern Abend daran gedacht hatte. Bevor er eingeschlafen war, und darüber stritten sich die Stimmen jetzt. Er hatte sicher auch davon geträumt, das musste so sein, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte. Er blieb noch eine Weile liegen und versuchte wieder in den Schlaf zu finden, aber es klappte nicht.

Dann setzte er sich auf die Bettkante. Ich tu es, dachte er. Vielleicht passiert ja gar nichts, aber ich bin so wütend. Es ist einfach nicht gerecht, und wenn etwas ungerecht ist, dann muss man etwas tun, das sagt Vater ja auch immer.

Lass es, sagte die andere Stimme. Er wird es merken, und wie um alles in der Welt willst du ihm das dann erklären?

Er wird gar nichts merken, erwiderte die erste Stimme. Sei nicht so verdammt feige. Du wirst es sonst bereuen und dich dafür schämen, dass du so feige warst, wenn du es nicht tust. Außerdem ist es ja nur ein Pups.

Ganz im Gegenteil, widersprach die andere Stimme. Du wirst es bereuen, wenn du es tust. Und es ist nicht nur ein Pups.

Aber sie war nicht mehr so kräftig, diese Stimme, die ihn zurückhalten wollte. Eigentlich nur noch ein Flüstern. Er stand auf und ging zu dem Stuhl, über dem seine Kleider hingen. Schob die Hand in die Tasche der hellblauen Strickjacke und vergewisserte sich.

Ja, die Schachtel mit den Pastillen lag noch dort. Babyleicht, dachte er. Es wäre wirklich babyleicht, und das Risiko, dass er erwischt wurde, war kleiner als ein Pups im Sturm. So pflegte sein Vater immer zu sagen. Andere Menschen sagten, wie ein Tropfen Wasser im Meer, aber sein Vater sagte immer, wie ein Pups im Sturm.

Die andere Stimme versuchte noch etwas anzubringen, aber sie war so schwach, dass er sie nicht mehr hörte. Höchstens noch als … ja, genau das, er konnte nicht anders, er musste darüber kichern … als ein Pups im Sturm.

Er ging auf die Toilette und spürte, wie sein Körper prickelte. Der Entschluss fühlte sich an wie ein warmes Knäuel in seinem Kopf.

I

1

Rickard Berglund war ein in vielerlei Hinsicht rational denkender junger Mann, aber den Dienstag mochte er nicht.

Das war nicht immer so gewesen. Vernünftig war er schon immer, aber in den letzten Jahren der Fünfziger – noch bevor er den Schritt von der Stavaschule zur Realschule in Töreboda gemacht hatte – war es im Falle der Dienstage genau umgekehrt gewesen. Damals waren sie von einem gewissen Glanz umhüllt. Der Grund war ganz einfach oder besser gesagt zweifach: am Dienstag fiel das Donald-Duck-Heftdurch den Briefschlitz, und außerdem war es der Tag, an dem seine Mutter ihm Krapfen mit warmer Milch vorsetzte, wenn er mittags nach Hause kam.

Diese Kombination, mit einer großen, von Puderzucker bedeckten Semmel am Tisch zu sitzen, die elegant in einer mit Zimt und Zucker gewürzten Milch schwamm, und dabei ein noch ungelesenes – fast konnte man sagen, von Menschenhand noch unberührtes – Magazin links vom Teller auf der rotweißkarierten Wachstuchdecke liegen zu sehen, ja, allein das Wissen um dieses bevorstehende Vergnügen ließ ihn die vierhundert Meter zwischen der Schule und dem weißen Einfamilienhaus in der Fimbulgatan meist rennen.

Erst später bekamen die Dienstage einen anderen Ton. Insbesondere in den Jahren 1963 und 1964, als er die Schule wechselte, zu alt für Donald Duck wurde und als sein Vater Josef im Sanatorium von Adolfshyttan lag und schließlich starb.

Denn immer an diesem Wochentag nahm er mit seiner Mutter Ethel den Bus und besuchte den Vater. Der Bus war blau, hatte durchgesessene Sitze und wurde vier von fünf Malen von dem rundlichen Vater von Benny Persson – dem Quälgeist der Stavaschule – gelenkt. Wenn sie zurück in die Fimbulgatan kamen, war es schon dunkel, die Hausaufgaben waren noch nicht gemacht, und seine Mutter hatte rote Augen vom Weinen, dem sie sich heimlich auf der Heimreise hingegeben hatte.

Aber sein Vater starb an keinem Dienstag, es geschah in der Nacht von einem Freitag auf einen Samstag. Die Beerdigung fand gut eine Woche später in aller Stille statt. Das war im November 1964, und es regnete von morgens bis abends.

Vielleicht waren es gar nicht die Sanatoriumsbesuche, die den Kern seiner Dienstagsphobie bildeten, es war nicht so leicht zu sagen. Bereits in frühen Jahren hatte Rickard Berglund eine bestimmte Auffassung davon gehabt, wie die verschiedenen Wochentage aussahen. Welche Farbe sie hatten beispielsweise und welches Temperament – auch wenn es noch viele Jahre dauern sollte, bis er begriff, was das Wort »Temperament« bedeutete. Demnach waren die Samstage schwarz, aber warm, die Sonntage natürlich rot, genau wie im Kalender, die Montage dunkelblau und sicher … während die Dienstage immer eine Art harte Schale hatten, grauweiß, kalt und abweisend; sich in sie hineinzubegeben, war ungefähr so ein Gefühl, als würde man seine Zähne in ein Porzellanbecken schlagen.

Dann folgte der sehr, sehr dunkelblaue Mittwoch, der gegen Abend sein Versprechen von Wohlstand und Wärme zu erfüllen schien, der Donnerstag mit seinem himmelblauen Freiheitsgefühl und der weiße Freitag – wobei das Weiß des Freitags eine ganz andere Beschaffenheit hatte als die Eiseskälte des Dienstags.

Er wusste nicht, woher er dieses klare Bild eines Wochenrades hatte – oder woher er überhaupt wissen konnte, dass es sich um ein Rad handelte –, und ab und zu fragte er sich, ob andere Menschen es auf die gleiche Art und Weise sahen. Aber er hatte nie, zumindest bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, mit irgendjemandem diese Sichtweise diskutiert. Möglicherweise aus Angst, für nicht normal gehalten zu werden.

Die Dienstagsphobie war auf jeden Fall hängen geblieben. Während seiner Jahre auf dem Gymnasium war er in seinem möblierten Zimmer in der Östra Järnvägsgatan an diesem Wochentag immer mit einem Gefühl der Schwermut aufgewacht, wohl wissend, dass von den folgenden fünfzehn, sechzehn Stunden nichts Gutes zu erwarten war. Weder was die Schule betraf, noch was die spärlichen Freundschaftsbeziehungen anging. Die Dienstage waren emaillehart und feindlich von Natur aus, und das Einzige, was man tun konnte, war der Versuch, sich zu wappnen. Sich zu wappnen und zu überleben.

Vielleicht konnte das auf lange Sicht sogar von Nutzen sein.

Heute jedoch war kein Dienstag. Es war Montag. Es war der 9. Juni 1969, und der Schienenbus von Enköping hatte mit langgezogenem Quietschen und einem Ruck auf Gleis 4 am Hauptbahnhof von Uppsala angehalten. Es war zwanzig Minuten nach elf am Vormittag, Rickard Berglund ergriff seine grüne Segeltuchtasche und stieg hinaus in den Sonnenschein auf dem Bahnsteig.

Er blieb ein paar Sekunden vollkommen still stehen, als wollte er sich diesen Augenblick bewahren und einprägen – diesen so lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er zum ersten Mal seine Füße auf den vielbesungenen Boden dieser Stadt der akademischen Lehre setzte. Gluntarne. Der Komponist Ulf Peder Olrog. Orphei dränger. Es war einfach großartig.

Obwohl er kaum etwas Besonderes erkennen konnte, als er seine Füße und deren nächste Umgebung betrachtete. Es hätte sich ebensogut um irgendwelche x-beliebigen Füße auf einem x-beliebigen Bahnsteig in Herrljunga oder Eslöv oder in irgendeinem anderen gottverlassenen kleinen Kaff im Königreich Schweden handeln können. Er seufzte. Zuckte mit den Schultern, folgte dem Menschenstrom quer durchs Bahnhofsgebäude und nahm die Stadt in Besitz.

Zumindest formulierte er es so für sich selbst. Jetzt nehme ich die Stadt in Besitz. Das diente dazu, die Unruhe in Schach zu halten, kursiv zu denken, beinhaltete, dass man das Kommando über die Wirklichkeit ergriff. Das stammte aus einem Buch, das er im ersten oder zweiten Jahr auf dem Gymnasium gelesen hatte; er konnte sich aber weder an den Titel noch an den Autorennamen erinnern. Auf jeden Fall war es eine einfache Methode, die funktionierte: kursive Gedanken bezwingen eine bedrohliche Umgebung.

Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blieb er noch einmal stehen. Er betrachtete die schwulstige, knallbunte Skulptur in dem Steinrondell und dachte, dass sie sicher berühmt war. In einer Stadt wie Uppsala gab es eine Menge berühmter Sehenswürdigkeiten. Bauten, Gedenksteine, historische Plätze, und mit der Zeit würde er sich all das zu Gemüte führen – ruhig und zielstrebig, es gab in dieser Beziehung keinen Grund zur Eile.

Er ging weiter geradeaus, überquerte eine große, viel befahrene Straße und ein paar kleinere, und nach ein paar Minuten war er unten am Fluss. Fyris. Überquerte ihn auf einer Holzbrücke und sah den Dom und den alten Stadtkern sich rechts von ihm erheben, nickte zufrieden und lenkte seine Schritte dorthin.

Jeder Mensch sollte einen großen und einen kleinen Plan haben. Der große betrifft die Frage, wie man das Leben bewältigen will, der kleine, wie den Tag.

Das war keine seiner eigenen kursiven Formulierungen, leider nicht, sie stammte von dem Studienrat Grundenius. Von allen mehr oder weniger eigenartigen Lehrern, auf die er während seiner drei Jahre am Vadsbo-Gymnasium gestoßen war, hatte Grundenius den größten Eindruck auf Rickard Berglund gemacht. Dominant und unberechenbar, zeitweise geradezu launisch, aber es war immer interessant, ihm zuzuhören. Oftmals sowohl überraschend als auch scharfsinnig in seinen Beobachtungen und Fragestellungen. Religion und Philosophie. Es gab das Gerücht, dass er gern schlechte Noten gab, aber Rickard hatte in beiden Fächern ein Gut bekommen; schwer zu sagen, ob er es wirklich verdient hatte. Schwer, seine eigenen Verdienste einzuschätzen.

Auf jeden Fall hatte er einen kleinen und einen großen Plan. Während er weiter am Fluss entlang auf die Kathedrale zuschritt, deren spitze Türme sich leicht in dem mit Wolken betupften Himmel zu bewegen schienen, tauchte der große in seinem Kopf auf. Das Leben. Rickard Emmanuel Berglunds Zeit auf Erden, soweit sie sich erstreckte und gedacht war.

Theologie.

Das war der Grundstein. Den Acker wollte er bearbeiten, oder wie immer man es auch ausdrücken mochte. Er hatte zu keinem bestimmten Zeitpunkt den entsprechenden Entschluss gefasst, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, es war eher eine Entscheidung gewesen, die in ihm gewachsen war, unwiderruflich und schicksalhaft im Laufe einer ganzen Anzahl von Jahren. Vielleicht bereits mit der Muttermilch aufgesogen, denn es gab einen Gott, dessen war er sich während seines ganzen bewussten Lebens sicher gewesen, aber durch den Tod seines Vaters hatte er außerdem begriffen, dass es sich nicht um den sicheren und freundlichen Abendgebetsgott seiner Kindheit handelte, sondern dass die diesbezügliche Frage viel komplizierter war. Deutlich komplizierter.

Wert, untersucht zu werden.

Josef Berglund war Pastor der freikirchlichen Gemeinde der Aronsbrüder gewesen, ein früher Ableger der Missionskirche, doch die gebündelten Gebete der Gemeindemitglieder hatten in der letzten schweren Zeit das Leiden ihres Hirten nicht um einen Deut lindern können. Auch die seiner Ehefrau und seines Sohnes halfen nicht, und das war der Hauptgrund für Rickard Berglunds nuanciertes Gottesbild.

Warum erhört er unsere Gebete nicht?

Oder wenn er sie hört, warum kommt er dann nicht unseren bescheidenen Wünschen entgegen? Warum lässt er seine Treugläubigen leiden?

Als er diese Fragen ein einziges Mal mit seiner Mutter Ethel diskutieren wollte, hatte sie ohne Umschweife erklärt, dass es dem Menschen nicht zustünde, sich Vorstellungen von Seinen tieferen Zielen und Beweggründen zu machen. Absolut nicht. Denn die vereinfachenden Interpretationen des Menschen bezüglich Gut und Böse waren aus einer größeren, jenseitigen Sicht immer zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal so ein Ereignis wie das Leiden und der Tod eines einfachen, gottesfürchtigen freikirchlichen Pastors können wir letztlich abschließend beurteilen.

Ungefähr so war ihre Argumentation gewesen. Aber Rickard Berglund wollte sich eine Vorstellung machen. Er forderte eine Erklärung, auch wenn seine Mutter behauptete, dass derartige Ambitionen geistigem Hochmut ähnelten, und an diesem Punkt endete meist ihr Gespräch. In dieser Sache ließ sie nicht mit sich reden; wenn es ein Kampf war, ein Ringen um Gott, um das es hier ging, dann war das eine Aktion, die er bitte schön allein auszutragen hatte. Rickard und der Herrgott? Der Sinn seines Lebens?

Er erreichte das dunkle Portal. Die Umgebung des Doms badete geradezu in strahlendem Sonnenschein, aber die schweren Türen zum Heiligtum waren sorgfältig geschlossen und lagen im Schatten. Er beschloss, nicht hineinzugehen – oder hatte es bereits beschlossen, als er im Zug den Plan für diesen Tag gemacht hatte. Es war zu früh. Zuerst wollte er das Gebäude von außen betrachten, diese mächtige, leicht bedrohlich wirkende Architektur: außerdem das Dekanhaus finden, in dem die Theologie ihren Sitz haben sollte, das musste wohl der große, viereckige Klotz südlich der Kirche sein … oder war es westlich? Er war sich der Himmelsrichtungen bereits nicht mehr sicher … und das deutlich friedlichere Kirchengebäude dort hinten war natürlich die Dreifaltigkeitskirche. Im Volksmund »Die Bauernkirche« genannt. Rickard Berglund hatte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in dem Bildband Uppsala früher und heute, den er im April von seiner Mutter zum zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, gründlich studiert. Sie war mit seinem Lebensplan genauso zufrieden wie er selbst, und manchmal wunderte er sich über die Selbstverständlichkeit und fehlenden Einwände, was seine Zukunftsaussichten betraf. War es wirklich so einfach? Sollte es nicht zumindest Alternativen geben, die man verwerfen konnte?

Er ging am Dekanhaus vorbei, um die Bauernkirche herum und kam über eine Treppe und einen kurzen Abhang hinunter in die Drottninggatan. Rechts oben konnte er die imposante Bibliothek sehen, und noch weiter oben auf dem Hügel war durch das Laub der Bäume das Schloss zu erahnen. Dort oben blühten noch Traubenkirsche und Flieder, es war ein später, zögerlicher Frühling gewesen, und er war einfach hingerissen. Er überquerte die Drottninggatan, ging eine Straße weiter, die passenderweise Nedre Slottsgatan, Untere Schlossgasse, hieß, und erreichte schließlich eine Konditorei, genau gegenüber einem künstlich angelegten länglichen Teich. Stockenten, ein paar Schwäne und einige andere unbekannte Wasservögel schwammen in gemütlicher Frühlingsträgheit herum, so sah es zumindest aus. Gewiss sein konnte man sich dessen natürlich nicht. Er bestellte sich ein Kännchen Kaffee, ein Brot mit Käse und eines mit Mettwurst – auch das gehörte zu seinem Plan, wie er sich erinnerte, zufrieden darüber, dass er all diese einleitenden Schritte so einfach und elegant hinter sich gebracht hatte. Er hatte nicht ein einziges Mal nach dem Weg fragen müssen, dennoch hatte er sich fast alles, was er sich vorgenommen hatte, einverleibt: den Fluss Fyris. Dom und Theologikum. Gustavianum und Universitätsgebäude. Carolina Rediviva, das Schloss aus der Entfernung sowie eine Konditorei mit Außenterrasse. Einverleibt.

Es war erst Viertel nach zwölf. Er biss von seinem Brot ab, trank einen Schluck Kaffee und holte den Einberufungsbescheid aus der Seitentasche seiner Reisetasche. Zögerte einen Moment, dann zog er auch das dicke Buch heraus und legte es vorsichtig auf den Tisch, nachdem er sorgfältig überprüft hatte, ob es auch sauber war. Ausgewählte Schriften. Sören Kierkegaard. Im Zug hatte er gut vierzig Seiten gelesen, und jetzt stellte er noch einmal die gleichen Überlegungen an wie schon daheim an der Bushaltestelle von Hova. In Hova gab es wahrscheinlich keinen einzigen Menschen, der Kierkegaard gelesen hatte. Und jetzt in Uppsala, um wie viele mochte es sich hier handeln? Hunderte? Tausende?

Und die anderen? Schopenhauer. Nietzsche. Kant. All die modernen Philosophen nicht zu vergessen … Althusser, Marcuse und wie sie hießen. Es war ein ansprechender Gedanke, dass es in dieser Stadt gut möglich war, jemand am Nachbartisch in einer Konditorei wie dieser oder in der Schlange im Supermarkt zu finden, der sich sowohl mit Hegel als auch mit Sartre beschäftigt hatte.

Rickard Berglund hatte einen Kanon, eine Leseliste mit all den Autoren, mit denen er im kommenden Jahr Bekanntschaft schließen wollte. Bevor er sich ernsthaft der Theologie widmete. Vielleicht sollte er auch mal bei Marx und Lenin reinschauen, um sich zu orientieren. Nichts Menschliches sei dir fremd, das hatte Grundenius ihnen einzuschärfen versucht … und auch nicht viel Unmenschliches. Wenn du deinen Gegner nicht studierst, wirst du ihn niemals besiegen können.

Rickard glaubte nicht an den Kommunismus. Der Krieg der USA dort hinten in Vietnam war sicher in vielerlei Hinsicht ungerecht, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Stalin hatte mehr Menschenleben auf dem Gewissen als Hitler, da brauchte man nur in den Geschichtsbüchern nachlesen, und Rickard hegte einen fast physischen Widerwillen gegen Demonstrationen aller Art. Aufgehetzte Volksmengen, gegrölte Parolen und platte Demagogie machten ihm Angst. Mit der Hippiebewegung, der Popmusik und all den langhaarigen Freiheitskämpfern ging es ihm ähnlich. Irgendwie betraf ihn das nicht. Rickard Berglund hoffte, oder besser gesagt, er ging eigentlich davon aus, das Gegengift gegen all diese Geißeln der Zeit in einer Umgebung zu finden, in der klassische Bildung und Tradition regierten. Die Alma Mater, jerum, jerum … mit der Zeit, dachte er, mit der Zeit werde ich in dieser Stadt schon Fuß fassen.

Er las den kurzen Text auf dem Einberufungsbescheid zum hundertsten Mal.

Ort: AUS /Armee-Unteroffiziersschule, Dag Hammar skjölds väg 36, bei der Wache melden.

Zeit: Montag, 9. Juni 1969, zwischen 13.00 und 21.00 Uhr.

Dauer der Ausbildung: Fünfzehn Monate.

Entlassungstag: 28. August 1970.

Als Rickard Berglund sich all diese Zeit vorzustellen versuchte, all diese Tage mit ihrem vollkommen unbekannten Inhalt und den unbekannten Voraussetzungen, zog sich etwas in seiner Kehle zusammen. Wenn er das nicht bekämpfte, konnte es sehr wohl explodieren, das fühlte er.

Vielleicht würde er es nicht aushalten?

Vielleicht würden sie ihn schon nach ein paar Wochen zurück nach Hova schicken? Woher sollte man wissen, ob man dazu taugte?

Oder ihn auf einen ganz anderen Posten in einem ganz anderen Regiment irgendwo im Land versetzen? Das wäre eine noch größere Schmach. In dem Informationsmaterial, das er bekommen hatte, stand, dass so etwas möglich war. Zehn bis fünfzehn Prozent derjenigen, die für die Stabsausbildung ausgesucht wurden, gingen diesem Schicksal entgegen. Und wenn er nun in Boden landete? Oder in Karlsborg? Uppsala war ein Gewinnlos in der Musterungslotterie gewesen, aber jetzt hieß es, das Glück nicht leichtsinnig zu vertun … Er seufzte und machte sich klar, dass es genau solche trübsinnigen Gedankengänge waren, in die er nicht mehr hatte verfallen wollen.

Denn der Plan stand fest. Fünfzehn Monate Militärdienst auf der Stabs- und Offiziersschule, dann diverse Semester Theologie, vier oder fünf Jahre, das musste die Zeit weisen. Anschließend die Priesterweihe und hinaus aufs Land, um das Wort zu verkünden.

So einfach war das.

Wenn man elf Monate bei der Lapidus Beton AG durchgehalten hatte, dann schaffte man fast alles. Es war Onkel Torsten gewesen, der ihn drei Tage nach dem Abitur zur Armierung geholt hatte, und wie immer es um die Bildung im sonstigen Hova-Gullspång stand, so war er jedenfalls garantiert der Einzige bei Lapidus, der in den Kaffeepausen Hjalmar Bergman und Bunyan las.

Es hatte die eine oder andere Stichelei gegeben, aber das war jetzt vorbei. Er hatte sowohl die Betonindustrie als auch sein Elternhaus in der Fimbulgatan hinter sich gelassen. Und sein Kinderzimmer, in dem er gewohnt hatte, solange er sich erinnern konnte. Seine Mutter hatte am Morgen in der Küche versucht, gegen die Tränen anzukämpfen, aber es war ihr nicht gelungen.

Du lässt mich allein, Rickard, hatte sie geschluchzt. Aber so muss es sein, und vergiss nicht, dass es immer einen Weg zurück in dein Elternhaus gibt.

Das hatte sie sich natürlich schon vorher zurechtgelegt, und es hatte geklungen wie ein alter Spruch auf einem gestickten Stoffband über einer Küchenbank. Nach dem Tod des Pastors hatte sie immer häufiger angefangen, so zu reden, und tief in seinem Inneren schämte er sich über das Gefühl von Freiheit, das in ihm aufstieg, sobald er durch die Tür gegangen war.

Ein Freiheitsempfinden, wenn man zum Militär sollte? Das war wohl etwas, das man lieber nicht laut aussprach, aber genau dieses Gefühl hatte ihn erfüllt. Heute beginnt mein Leben wirklich! Er hatte sich den ganzen Frühling auf dieses Datum gefreut, und während er nun hier saß und diese unbekannten Enten, diese unbekannten Schwäne und diese unbekannten Menschen betrachtete, Letztere auf dem Bürgersteig vorbeiflanierend, da dachte er, dass er niemals – was immer auch in seinem Leben geschehen würde, was immer auch aus seinem großen Plan werden würde – dass er niemals diesen Moment vergessen würde. In der Konditorei Fågelsången in Uppsala mitten am Tag des 9. Juni 1969. Er konnte sich vorstellen, jedes Jahr genau zu diesem Datum hierherzukommen, sich hinzusetzen und ein wenig zu philosophieren, an Vergangenes und Zukünftiges zu denken und …

Hier wurde sein Gedankenstrom jäh durch einen Schatten unterbrochen, der über seinen Tisch fiel, und durch den Besitzer dieses Schattens, der seine Anwesenheit mit einem diskreten Räuspern kundtat.

»Sieh mal einer an. Kierkegaard. Nicht schlecht.«

Rickard Berglund blickte auf. Ein langer junger Mann in Jeans, T-Shirt und aufgeknöpftem Flanellhemd stand vor ihm und betrachtete ihn. Schräger dunkler Pony, der übers halbe Gesicht hing, und ein breites Lächeln. Er deutete auf den leeren Stuhl an der Wand.

»Entschuldigung. Aber gewisse Dinge muss ich einfach kommentieren. Darf ich mich setzen?«

Rickard nickte und steckte den Einberufungsbescheid ein.

»Den habe ich auch gesehen.«

»Was, die Einberufung …«

»Genau. Und ich nehme an, dass du nicht zur Kompanie S1 sollst?«

Er zog den Stuhl heran und setzte sich. Schlug ein Bein über das andere und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche.

»Möchtest du?«

»Nein, danke. Ich rauche nicht.«

»Vernünftig.«

Rickard versuchte es mit einem Lächeln. »Und warum vermutest du, dass ich nicht zu S1 komme?«

Sein frischgebackener Tischnachbar zündete sich eine Zigarette mit einem Sturmfeuerzeug an und stieß eine Rauchwolke aus. »Weil du nicht aussiehst wie ein Strippenzieher.«

»Ein Strippenzieher?«

»So werden die genannt. Die von der siebten Kompanie bei S1. Da findest du nicht viele Nobelpreisträger. Nein, ich nehme an, dass du zur AUS kommst. Als Sprachmittler oder Stabsuoff?«

»Stabsuoff«, antwortete Rickard und schluckte.

»Genau wie ich. Entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Tomas Winckler.«

Er streckte die Hand über den Tisch, und Rickard ergriff sie.

»Rickard Berglund.«

»Freut mich. Ich hoffe, wir bleiben zusammen. Ich fühle mich am wohlsten unter gebildeten Menschen.«

Er zeigte auf das Buch, und Rickard spürte, wie er errötete.

»Du … ich meine, du sollst dich also auch heute melden?«

Tomas Winckler nickte. »Ja, natürlich. Wir können zusammen hinlatschen, wenn du willst. Oder hast du andere Pläne?«

Rickard nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, in einer einzigen verwirrten Bewegung. Eine Kellnerin kam und stellte eine Tasse Kaffee und eine Zimtschnecke vor Tomas Winckler. Der drückte lachend seine Zigarette aus.

»Ich habe dich durchs Fenster gesehen, als ich bestellt habe«, erklärte er. »Und das Buch und den Einberufungsbescheid. Und da sie in der Siebten nicht gerade dänische Philosophen lesen, habe ich angenommen, dass wir Kumpel werden. Woher kommst du? Jedenfalls nicht aus Uppsala?«

»Nein.«

Wie üblich fiel es ihm schwer zuzugeben, dass er fast sein gesamtes Leben in Hova verbracht hatte, sah jedoch ein, dass es nicht schlau wäre, leicht durchschaubare Lügen aufzutischen. »Aus Hova. Wenn du weißt, wo das liegt? Und Mariestad. Ich bin in Mariestad aufs Gymnasium gegangen.«

Tomas Winckler nickte. »Hab mir so was in der Richtung gedacht bei dem Akzent. Und wo würdest du mich in unserem langgestreckten Land platzieren?«

Rickard dachte nach. »Im Norden?«

»Stimmt.«

»Aber nicht so schrecklich hoch im Norden?«

»Kommt drauf an, wie man es sieht.«

»Sundsvall.«

Tomas Winckler stellte seine Kaffeetasse mit einem Klirren ab. »Verdammt. Jetzt bin ich aber beeindruckt. Hier versucht man zu klingen wie ein echter Großstadtschwede, und dann nagelst du mich mit dem ersten Schlag genau an der richtigen Stelle fest. Verdammt gut, wirklich.«

Rickard lachte und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

»Reine Glückssache«, versicherte er. »Bist du schon mal in Uppsala gewesen?«

»Ein paar Mal. Meine Familie hat hier in der Stadt eine Wohnung. Und du?«

»Nein«, musste Rickard zugeben. »Ich habe heute tatsächlich zum ersten Mal meinen Fuß in die Stadt gesetzt. Aber ich werde wohl hier bleiben und studieren … hinterher. Es ist eine schöne Stadt, oder?«

»Sie ist wunderbar«, versicherte Tomas Winckler und strich sich den Pony aus dem Gesicht. »Zumindest, solange man unter dreißig ist. Und das ist man ja. Und was willst du studieren?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Ach? Nein, ich eigentlich auch nicht. Aber bestimmt werde ich ein paar Jahre hier hängen bleiben.«

Mein Gott, dachte Rickard mit plötzlicher Einsicht. Hier sitze ich und rede mit jemandem, den ich für den Rest meines Lebens kennen werde. Ich, der ich ein Jahr nach dem Abitur mit meinen Klassenkameraden kaum noch etwas zu tun habe.

Tomas Winckler nahm das Buch in die Hand und studierte den Rückentext. »Ich habe nur Auszüge gelesen«, erklärte er. »Aber er ist klug, dieser Däne. Verdammt scharfsinnig.«

»Ich habe gerade erst angefangen«, räumte Rickard ein. »Und was liest du im Moment?«

Tomas Winckler ging nicht darauf ein. Er lehnte sich zurück und zündete sich stattdessen seine ausgedrückte Zigarette wieder an. »Wenn du dich selbst mit einem einzigen Satz beschreiben solltest«, sagte er, »wie würdest du das tun?«

»Ein einziger Satz?«

»Ja.«

Rickard Berglund dachte eine Sekunde lang nach. »Ich bin ein junger Mann, der keine Dienstage mag«, erklärte er dann.

Tomas Winckler betrachtete ihn verblüfft. Dann brachen sie beide in schallendes Gelächter aus.

2

Verdammter Köter, dachte Elis Bengtsson.

Dann formte er seine Hände vor dem Mund zu einem Trichter und rief, so laut er konnte.

»Luther!«

Er wiederholte die Prozedur. In alle vier Himmelsrichtungen.

Anschließend ließ er sich auf einem Baumstamm nieder und wartete. Es hat ja doch keinen Sinn, herumzulaufen und nach dem Köter zu suchen, dachte er. Lieber einfach sitzen bleiben und den Hund suchen lassen.

Das hatten ihn die Jahre gelehrt. Hunde haben eine bessere Witterung als Menschen, und wenn sie wollen, finden sie immer den Weg nach Hause.

Luther war sein exakt neunter Hund, und sie alle hatten ihren Namen nach bemerkenswerten Persönlichkeiten bekommen: Galileo, Napoleon, Madame Curie, Stalin, Voltaire, Doktor Crippen, Nebukadnezar und Caruso.

Und Luther, wie gesagt. Vier Jahre alt, Hälfte Vorsteher, Hälfte Bracke und normalerweise ein sehr intelligentes Tier. Aber jetzt hatte er offensichtlich eine Spur gewittert, obwohl Elis Bengtsson ihn nie für die Jagd eingesetzt hatte. Manchmal nützen auch bestes Training und gute Erziehung nicht, so war es nun einmal.

Der Hund war bei Alkärret verschwunden, und jetzt, eine halbe Stunde später, war er selbst bei der Gåsaklyftan, wo sie normalerweise eine Pause einlegten und es ein Leckerli gab, aber der Hund war immer noch verschwunden.

Elis Bengtsson schaute auf die Uhr. Fünf vor zwei. Er hatte versprochen, um halb drei zu Hause zu sein, um Märta zum Arzt zu fahren.

Blöde Kuh, dachte er. Warum kann sie nicht einfach selbst das Auto nehmen?

Aber genau genommen war es doch das Beste, wenn sie sich nicht hinters Steuer setzte. Sie hatte ihren Führerschein seit 1955, aber seit 1969 kein Fahrzeug mehr gelenkt, nachdem sie beim Rückwärtsfahren auf dem Norra torg in Kymlinge in einen Papierkorb gefahren war. Elis selbst hatte sich bis zur letzten Sekunde zwischen Papierkorb und der hinteren Stoßstange befunden, das war eine ganz dumme Sache gewesen.

Was ihn selbst betraf, so hatte er siebenundfünfzig makellose Jahre im Tornister, und wenn die Gesundheit es zuließ, dann plante er, bis zu seiner Beerdigung Auto zu fahren.

Es gab auch keinen Grund zur Vermutung, dass etwas mit seiner Gesundheit nicht stimmte, es war Märta, die schwächelte, nicht er. Spröde Knochen, Gefäßverengungen, Schwindelattacken und weiß Gott, was sonst noch. Worum es beim heutigen Arzttermin ging, hatte er vergessen. Wenn er es jemals gewusst hatte.

Er seufzte, erhob sich mühsam von dem Baumstamm und dachte nach. Ging dann ein Stück den Hang hinauf, bevor er noch einmal rief.

»Luther!«

Wieder in alle vier Himmelsrichtungen, so war es jedenfalls geplant gewesen, aber er war erst bei der zweiten, als er plötzlich vom unteren Ende der Gåsaklyftan ein Bellen hörte.

Er rief noch einmal in dieselbe Richtung, und wieder erhielt er eine Antwort.

Gåsaklyftan, dachte er. Verdammt noch mal!

Wenn er später darüber sprach – mit Märta oder mit dem einbeinigen, aber neugierigen Olle Mårdbäck aus dem Nachbarhaus und mit der Polizei –, dann wies er gern darauf hin, dass er so eine Vorahnung gehabt habe.

Dass er, bereits als er Luthers Bellen zum ersten Mal hörte, begriff, was da am Fuße des Steilhangs auf ihn wartete.

Die Gåsaklyftan. Er war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich so hieß, aber letztes Mal hatten sie sie so genannt. Gåsaklyftan, die Gänseschlucht!

Letztes Mal. Wie viele Jahre war das jetzt her? 1975.

Mit anderen Worten: fünfunddreißig Jahre. Ein Menschenalter, wie man so sagte.

Aber wahrscheinlich hatte er keine Vorahnung gehabt. Wenn er ehrlich war. Erst als er da oben am Rand des Steilhangs stand und auf Luther und den Körper, der dort unten lag, hinunterstarrte – beide befanden sich gut und gern fünfundzwanzig Meter unterhalb von ihm –, erst da tauchte die Erinnerung auf.

Aber dann mit schwindelerregenden Schlussfolgerungen. Ich träume, dachte Elis Bengtsson. Es ist nicht möglich, dass die gleiche Geschichte noch einmal passiert.

Einen Augenblick lang schwindelte ihn, und es war nur Glück, dass gleich am Rand ein Birkenschössling wuchs, denn wenn Elis Bengtsson den nicht gepackt hätte, wäre es gut möglich gewesen, dass auch er seine Tage in der Gänseschlucht beendet hätte.

»Was sagst du da?«

»Ich sage, du sollst die Polizei anrufen. Es liegt ein toter Mensch in der Gåsaklyftan.«

»Noch einer?«, fragte Märta.

»Noch einer«, bestätigte Elis. »Aber das letzte Mal ist fünfunddreißig Jahre her.«

»Herr im Himmel«, sagte Märta.

»Ruf die Polizei an und sieh zu, dass sie herkommen«, sagte Elis. »Und beeil dich. Luther und ich bleiben hier und passen auf. Und deinen Arzttermin kannst du vergessen für heute.«

»Aber Elis, der Arzttermin ist morgen. Heute ist doch Sonntag.«

»Ist heute Sonntag?«

»Ja.«

»Na, ist ja wohl egal, welcher Tag heute ist. Tu jetzt bitte ausnahmsweise mal, was ich dir sage, und ruf die Polizei an.«

»Ja, ja«, sagte Märta. »Aber sag mir eins, wenn du es so eilig hast, warum hast du die Polizei nicht schon selbst angerufen?«

»Weil ich nur ein Handy habe«, antwortete Elis wütend. »Und man redet mit der Polizei nicht mit einem Handy.«

»Ich verstehe«, sagte Märta, und dann drückte er sie weg.

Weiber, dachte er.

»Halt die Schnauze, Luther!«, rief er dann. »Ich komme runter.«

Und aus irgendeinem Grund verstummte der Hund.

3

Nachdem Gunilla Rysth die ersten zwanzig Kilometer auf der E18 zwischen Karlstad und Örebro zurückgelegt hatte, fuhr sie auf einen Parkplatz und blieb eine ganze Weile vollkommen reglos hinter dem Lenkrad sitzen. Das war nötig. Wäre sie weitergefahren, hätte es ein Ende mit Schrecken nehmen können. Man konnte nicht autofahren und gleichzeitig Rotz und Wasser heulen. Wenn man sich nicht totfahren wollte, und das wollte sie nun wahrlich nicht.

Trotz allem.

Obwohl, bevor sie diesen Rastplatz gefunden hatte – ein kurzes Stück vor Kristinehamn –, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, das schon. Aber nur gespielt, eine Art verzweifelte Flucht vor ihrem schlechten Gewissen und der schrecklichen Schuld, die sie auf sich geladen hatte, indem sie einen anderen Menschen zugrunde gerichtet hatte.

Lennart war am Boden zerstört gewesen, man konnte es nicht anders sagen. In den letzten fünf Minuten ihres Gesprächs hatte er nicht ein Wort gesagt, nur dagesessen und sie mit einem Blick angesehen, den man nur mit waidwund umschreiben konnte. Ein Tier, das sie erlegt hatte und das jetzt, während es verblutete, die stumme Frage nach dem Warum? an sie richtete.

Hat er nicht genau so ausgesehen?, dachte sie. Ja, genau so war es gewesen.

Warum? Was habe ich dir Böses getan?

Ich liebe dich doch. Wir lieben uns. Wir wollten doch zusammen leben.

Vier Jahre und ein bisschen mehr. Fast genau fünfzig Monate waren sie zusammen gewesen; die ersten zwanzig, oder waren es sogar dreißig?, hatte er ihr jedes Mal zur Erinnerung eine Rose geschenkt. Es hatte in der zweiten Klasse des Gymnasiums angefangen, es war ein Fünftel ihres Lebens, ein Fünftel seines Lebens.

Er war der Erste, den sie geküsst hatte, der Erste, mit dem sie geschlafen hatte. Aber nicht der Einzige. Und sie war die Erste und die Einzige, die er geküsst und geliebt hatte. Daran bestand kein Zweifel. Absolut keiner.

Er wird sich das Leben nehmen.

Es war dieser Gedanke, der unter all ihren Tränen pochte. Er wird es nicht schaffen.

Er wird sich für den Tod entscheiden.

Und sie saß auf dem Rastplatz vor Kristinehamn und weinte und weinte.

Drei Monate hatte sie ihre Entscheidung aufgeschoben.

Seit Ostern. Da hatte sie Tomas kennengelernt, bei diesem schicksalsträchtigen Chortreffen in Östersund. Nichts Böses ahnend, wie es hieß, war sie mit Kristina, ihrer Freundin seit Kindesbeinen, hingefahren. Bereits am Abend des zweiten Tages hatte Tomas sie geküsst und ihr gesagt, dass sie gar keine andere Wahl hätten. Sie waren füreinander bestimmt, es stand in den Sternen, er war sich noch nie in seinem Leben einer Sache so sicher gewesen.

Es war wie in einem Kitschroman gelaufen. Wenn sie es in einer Illustrierten gelesen hätte, hätte sie nur verächtlich geschnaubt, weitergeblättert und nicht eine Sekunde mehr darauf verschwendet.

In der nächsten Nacht waren sie in ein Ferienhaus eingebrochen und hatten sich vier Stunden lang geliebt.

Was passiert mit mir?, hatte sie sich gefragt.

Was zum Teufel passiert hier?

Auch das wie in einer Frauenzeitschrift. Ich denke wie eine dumme Gans, hatte sie festgestellt. Eine verliebte Idiotin. In den ersten Tagen nach ihrer Heimkehr hatte sie gehofft, dass sie nur einem charmanten Stinkstiefel erlegen war. Dass er nicht anrufen würde, dass sie alles, was passiert war, tief in ihrem Herzen begraben und wieder zu Lennart zurückgehen könnte. Zur Sicherheit und zu Lennart. Pizza und Bier am Freitagabend bei Storken mit der Clique. Eigenes Reihenhaus und Kinder im Sommarvägen in drei Jahren.

Aber das funktionierte nur ein paar Tage. Am dritten Abend rief er sie an, genau wie er versprochen hatte. Sie lag im Bett in ihrem armseligen Zimmer und redete mit ihm die halbe Nacht. Ein romantischer, flüsternder Regen begleitete sie die ganze Zeit an Fenster und Fensterbrett, und als sie im Morgengrauen den Hörer auflegte, war die Entscheidung gefallen. Adieu Lennart Martinsson, dachte sie. Vielen Dank für vier Jahre.

Dennoch hatte sie es bis heute hinausgezögert. Wie feige konnte man eigentlich sein? Wie gemein? Wie weh darf man einem anderen Menschen tun?

Nach zwanzig Minuten verließ sie den Rastplatz. Trotz allem waren ihre Tränen begrenzt, aber nachdem sie aufgehört hatte zu weinen, fühlte sie sich nicht besser. Keinen Deut.

Denn es ging nicht nur um Lennart. Es ging um das Leben, und es ging um alle möglichen anderen Menschen. Ihre Eltern: den Unteroffizier und die Sekretärin. Ihre Schwester. Lennarts Familie: den Major und die Handarbeitslehrerin. Lennart und sie waren nun einmal verlobt gewesen, und man hatte erwartet, dass sie bald heiraten würden. Sich Haus und Kinder anschafften, wie gesagt, und weiß Gott was noch. Erwachsen würden. Martin, Kristina, Sigge und Naomi, jede Menschenseele, die sie kannte, hatte mit so einer Entwicklung gerechnet. Lennart Martinsson und Gunilla Rysth wurden angesehen als … wie nannte man das? Bollwerk?

Was würden sie sagen? Warum hatte sie nicht vorher etwas verlauten lassen? Warum bis zur letzten Sekunde gewartet, kurz bevor sie nach Uppsala fuhr, um Birgitta zu besuchen? Einfach so zu verschwinden, ohne zumindest den Versuch zu unternehmen, einiges zu klären und zu erklären.

Gab es einen anderen?

Nein, hatte sie abgewehrt. Natürlich gab es keinen anderen. Was glaubte er denn? Es war nur so, dass es nicht mehr funktionierte, es war kein anderer Mann im Spiel. Sie musste einfach ihrem Herzen folgen.

Nur Birgitta wusste davon. Sie wusste von der Chorreise und kannte Tomas. Hatte erklärt, dass der Dreck sicher auch auf sie spritzen würde, sobald er einmal in den Ventilator geraten war, aber das war ihr egal. Sie studierte bereits seit einem Jahr in Uppsala und hatte mehr Überblick. Und wenn die Leute von daheim sie anriefen, würde sie sagen, dass Gunilla natürlich bei ihr wohne, in ihrer Studentenbude auf dem Rackarberget, auf einer Matratze auf dem Boden übernachtete. Und ja, sie habe gerade erfahren, dass es mit Lennart vorbei sei. Eine traurige Geschichte. Aber so ist das Leben nun einmal, man kann seine Gefühle nicht steuern, die Zeit heilt alle Wunden … blablabla.

Gunilla merkte, dass die Gedanken an Birgitta ein wenig halfen. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, registrierte sie etwas verwundert, dass es für sie umso leichter wurde, je weiter sie sich von Karlstad entfernte und je näher sie Uppsala kam. Zwischen Örebro und Arboga schaltete sie sogar das Autoradio ein, schämte sich dann aber plötzlich über ihre Unverfrorenheit und fing wieder an zu weinen.

Swimming, perhaps drowning, in a sea of emotions, das war ein Ausdruck, auf den sie irgendwo gestoßen war, und es war keine schlechte Beschreibung dafür, wie es um sie stand. Aber sie dachte gar nicht daran zu ertrinken. Scheiß drauf, sagte sie sich und putzte sich wütend mit einem der letzten Papiertaschentücher aus der Packung die Nase. Schließlich wollte sie anfangen zu leben, nicht aufhören damit.

Auf jeden Fall war eine Sache bombensicher. Es würde eine ganze Weile dauern, bis sie wieder in die andere Richtung führe. Monate, gern auch Jahre. Der Unteroffizier, die Sekretärin und die Schwester konnten sagen, was sie wollten.

Wenigstens habe ich meinen Sigurd, dachte sie, als sie in Hummelsta anhielt, um zu tanken. Denn so hieß er, der Käfer, den sie im letzten Sommer Lennarts Cousine abgekauft hatte. Rot und etwas verrostet und mit mehr als hunderttausend Kilometern auf dem Buckel. Aber zuverlässig wie ein Uhrwerk, toi toi toi.

Tatsächlich lag eine Matratze in Birgitta Enanders Studentenbude und wartete auf sie, aber nur für ein paar Tage. Ab dem 1. Juli, einem Dienstag, wartete etwas ganz anderes auf sie. Sie wagte kaum daran zu denken, aber es war nicht einfach, es nicht zu tun: eine Zweizimmerwohnung in der Sibyllegatan in Luthagen. Sie hatte sowohl Stadtteil als auch Straße auf einem Stadtplan zu Hause in der Bibliothek von Karlstad gefunden, aber kein besonders deutliches Bild von der Umgebung erhalten. Natürlich nicht.

Die Wohnung gehörte einer Tante von Tomas, war aber so eine Art Familienbesitz. Als klar war, dass Tomas seinen Militärdienst in Uppsala absolvieren würde, war es eine Selbstverständlichkeit, dass er sie mieten konnte. Denn anschließend würde er doch in der Stadt bleiben, um zu studieren? Natürlich, und die Familie ging nun einmal vor. Was die Tante selbst betraf, so wohnte sie das ganze Jahr über in Spanien, die Sibyllegatan war nur eine Art Versicherung, falls auch ihre dritte Ehe platzen sollte.

Jedenfalls laut Tomas. Gunilla hatte die Wohnung auf Fotos gesehen, er hatte ihr ein halbes Dutzend Fotos geschickt, und jedes Mal, wenn sie die Bilder ansah oder nur an sie dachte, kribbelte es am ganzen Körper. Einmal wurde sie davon so erregt, dass sie sich unter die Dusche stellen und selbst befriedigen musste. Sie würde mit Tomas dort wohnen! Insgesamt hatten sie sich bisher dreimal getroffen (abgesehen von den Tagen in Östersund, einmal in einem gemieteten Zimmer in Sundsvall und einmal – nachdem sie jeder die halbe Strecke gefahren waren – in einem Motel außerhalb von Västerås), und jetzt sollten sie zusammenziehen! Mit Lennart hatte sie während der vier Jahre nie zusammengewohnt.

Wenn ich das Mama erzählt hätte, wäre sie in Ohnmacht gefallen, dachte Gunilla. Was ihr Vater, der Unteroffizier, gesagt und gemacht hätte, das wollte sie sich lieber gar nicht erst vorstellen, und sie wusste, genau das war ihre beste Verteidigung. Wem auch immer sie die Wahrheit erzählt oder wen sie um Rat gebeten hätte, alle hätten ihr erklärt, dass sie nicht ganz gescheit sei. Ihre Schwester. Ihre Freunde. Alle.

Also war gar nicht daran zu denken gewesen. Schweigen ist Gold. Schluss machen war eine Sache. Schluss machen und mit einem anderen Mann zusammenziehen war etwas Undenkbares. Sie hätten sie alle verurteilt.

Sie würden sie verurteilen.

Alle bis auf Birgitta. Ich will nicht behaupten, dass du richtig gehandelt hast, hatte diese gesagt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich es genauso gemacht hätte. Falls dich das tröstet.

Und dann hatte sie auf ihre charakteristische Art laut gelacht.

Schön, dachte Gunilla Rysth. Es ist verdammt schön, dass Birgitta auch in Uppsala wohnt.

Der Schlüssel klemmte in einer Plastiktüte unter dem Fahrradsattel, genau wie sie es abgemacht hatten. Birgitta arbeitete den ganzen Sommer über in einem Restaurant außerhalb der Stadt und würde nicht vor neun Uhr zu Hause sein.

Jetzt war es halb drei. Gunilla trug ihre schweren Taschen eine nach der anderen die Treppen hinauf und schloss die Wohnungstür auf. Fünf Zimmer und gemeinsame Küche, hatte Birgitta erklärt, aber den Sommer über waren es nur Jukka und sie, die hier wohnten.

Vielleicht war Jukka ja auch irgendwo arbeiten. Auf jeden Fall war er nicht zu Hause, und Gunilla konnte sich in aller Ruhe umsehen. Sowohl in Birgittas Zimmer als auch in den gemeinsamen Räumen. Küche, Toilette, Badezimmer. Es sah ziemlich unordentlich aus, obwohl doch Dreifünftel der Mieter nicht vor Ort waren, und sie dachte, dass sie eine Studentin mit ungewöhnlich viel Glück sein musste, dass sie bereits in ihre eigene Wohnung ziehen durfte, zusammen mit ihrem Traumprinzen, noch bevor sie überhaupt angefangen hatte zu studieren. Sie erinnerte sich daran, dass Birgitta die ersten Monate zur Untermiete gewohnt hatte und überglücklich gewesen war, als sie ein Zimmer auf dem Rackarberget gefunden hatte.

Traumprinz? Woher kommt dieses Wort eigentlich? Es hatte einen ironischen Unterton, der ihr nicht gefiel. Mit einem Traumprinzen war auf jeden Fall irgendetwas verkehrt, und mit Tomas Winckler war nichts verkehrt.

Jemand anderem hätte sie nur schwer erklären können, warum sie sich dieser Sache so hundertprozentig sicher war, aber sie hatte auch gar nicht die Absicht, es zu versuchen. Schweigen ist Gold, wie gesagt.

Ich könnte ihn heiraten, dachte sie. Auf der Stelle, wenn er nur fragen würde.

Meine Güte, dachte sie dann. Beruhige dich, du Gans, und vergiss die Pille nicht! Du bist zwanzig Jahre alt, und wolltest du nicht erst deine Ausbildung machen?

Sie öffnete die Kühlschranktür und stellte fest, dass eingekauft werden musste. Es gab ein Regal und ein Fach, die mit »Biggan« gekennzeichnet waren, aber der gesamte Kühlschrankinhalt bestand aus einem Liter Milch, einer Tube Streichkaviar und drei gelben Zwiebeln. Birgitta hatte erklärt, dass sie im Restaurant etwas zu essen bekam, morgens, mittags und abends, und wenn Gunilla etwas spachteln wolle, dann müsste sie einfach losgehen und sich das Gewünschte einkaufen. Wovon Jukka lebte, darüber brauchte sich niemand Gedanken zu machen.

Im Küchenschrank war das »Biggan«-Regal mit einer Schachtel Cornflakes, einem Paket Knäckebrot und einer Flasche Ketchup gefüllt. Nun ja, dachte Gunilla, ich soll ja nur drei Tage hier wohnen. Am Samstag habe ich eine eigene Küche, und die wird nicht so aussehen wie diese hier.

Sie schaute auf die Uhr. Es waren noch drei Stunden, bis sie Tomas in Nybron treffen sollte. Es sang in ihrem Körper, als sie an ihn dachte, aber sie blieb bei ihrem Entschluss, erst einmal einkaufen zu gehen, statt sich unter die Dusche zu stellen.

Sie war zehn Minuten zu früh. Hatte befürchtet, sie könnte nicht hinfinden, aber es war genau, wie er gesagt hatte. Nybron lag wirklich mitten in der Stadt.

Es war ein warmer Abend, trotzdem waren die Straßen ziemlich menschenleer. Er hatte ihr vorher gesagt, dass es so sein würde. Bevor die Studenten Ende August zurückkamen, war Uppsala nichts anderes als eine schwedische Kleinstadt, versunken in träger Sommerruhe. Zwar schön grün, zumindest westlich des Flusses, aber der größte Teil der Bevölkerung hielt sich woanders auf.

Sie hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, langsam in die Stadt hineinzuwachsen, innerhalb von zwei Monaten mit all dem Neuen vertraut zu werden, bevor der Ernst am Anglistikinstitut begann – wo immer das nun liegen mochte –, was konnte sie sich mehr wünschen?

Nun, vielleicht, dass Tomas so viel Zeit hätte wie sie selbst, aber man konnte nicht alles haben. Er absolvierte seinen Militärdienst an einem Ort, der Polacksbacken hieß, würde das bis zum nächsten Herbst machen, aber die meisten Abende hatte er frei. Samstags und sonntags auch, und Mitte Juli – bereits in vierzehn Tagen – hatte er eine Woche Ernteferien.

Sie stützte sich mit den Ellbogen auf das Steingeländer der Brücke und betrachtete das trübe Wasser, das da unten in einem ziemlich reißenden Strom dahinfloss. Mein Leben, dachte sie, mein Leben kann tatsächlich nicht schöner werden als genau jetzt in diesem Augenblick.

Wie ihr so ein Gedanke durch den Kopf schießen konnte, kurz nachdem sie auf einem värmländischen Parkplatz gesessen und angesichts ihrer Schändlichkeit hemmungslos geweint hatte, ja, dieser Frage wollte sie lieber nicht näher nachgehen.

Zumindest nicht jetzt, denn plötzlich sah sie ihn mit schnellem Schritt unter den großen Bäumen auf der linken Flussseite herankommen.

In der einen Hand einen Blumenstrauß, in der anderen eine Weinflasche, und eine halbe Stunde später befanden sie sich auf einer Decke hinter einem schützenden Gebüsch unterhalb des Schlosses. Sie musste laut lachen, als er verriet, dass er die Decke aus dem Militärfundus geklaut und auf dem Weg zur Nybron versteckt hatte. Er hoffte nur, dass sie nicht zu sehr kratzte.

4

Die Entfernung zwischen dem Haus und der Wohnung betrug exakt elfhundert Meter, aber nur, wenn man den direkten Weg nahm.

Eva Backman nahm nicht den direkten Weg. Sie machte einen Umweg durch die ganze Stadt, zumindest fast: Oktoberpark, quer durch Rocksta und den Stadtpark, vorbei an der neuen Feuerwache, um den Friedhof, den Sportplatz und die Hessleschule herum, und als sie durch die Tür trat, konnte sie feststellen, dass es anderthalb Stunden gedauert hatte.

Das war ungefähr die Zeit, die notwendig war, das hatte sie schon vorher registriert. Die Villa in Haga, in der sie vierzehn Jahre lang mit Ville und den gemeinsamen drei Jungs gelebt hatte, und die Wohnung ganz oben in einem der neu gebauten Häuser in Pampas waren getrennte Welten. Elfhundert Meter, eine Viertelstunde Fußweg, das war viel zu kurz. Es war eine Art Schleuse notwendig, und deshalb machte sie sonntags diesen langen Umweg.

Aber nur jedes zweite Mal. Nur wenn es in diese Richtung ging. An den Sonntagen, an denen sie in die andere Richtung unterwegs war – vom Singleleben zur dreifachen Mutter –, war keine Schleuse nötig, man konnte sich natürlich fragen, warum.

Sie fragte sich auch, ob die Abmachung tatsächlich so fantastisch war, wie sie anfangs geglaubt hatte. Seit der Scheidung waren zwei Jahre vergangen, anderthalb, seit sie in die Grimsgatan gezogen war. Alle fünf Beteiligten waren überzeugt gewesen, dass die Lösung ausgezeichnet war, besonders die Jungs, die so nicht umziehen mussten und keinen größeren Veränderungen ausgesetzt waren. Sie hatten jede zweite Woche einen Papa, die andere eine Mama. Schichtwechsel am Sonntag, Abwechslung macht Spaß.

Aber es war ja nur vorübergehend. Damit tröstete sich Eva Backman gern. Jörgen würde im Januar zwanzig werden, in zwei, drei Jahren wären er und Kalle ausgezogen, dann konnten sie das Haus verkaufen und etwas mehr Ordnung in ihre Finanzen bringen.

Fünf Jahre Wartezeit, dachte sie und stellte fest, dass der Kühlschrank genauso leer war wie vor einer Woche, als sie ihn zurückgelassen hatte. Soll man so leben, kurz vor den Wechseljahren?

Sie war sechsundvierzig. Welche Alternative gab es? Sich einen neuen Kerl anlachen? Und wie, bitte schön? Wie um alles in der Welt stellte man das an?

Zu Ville zurückgehen?

Nie im Leben, dachte sie. Nahm sich eine Tasse Kaffee und setzte sich damit auf den Balkon. Sie wusste, dass er sofort damit einverstanden wäre, wenn sie die Möglichkeit nur andeutete. Das war fast das Schlimmste. Er wollte sie zurückhaben; inzwischen sagte er es zwar nicht mehr offen, wenn sie sich trafen, aber sie konnte es ihm ansehen. Dieses Flehende, Weiche – schon wenn sie miteinander telefonierten, es fiel ihr immer schwerer, es zu ertragen. Reiß dich zusammen!, hätte sie am liebsten gesagt. Tu etwas – schaff dir eine neue Frau an, es gibt doch bestimmt jede Menge davon in deinem Sportverein, die sich nach dir alle zehn Finger lecken. Aber du und ich, das ist vorbei, finito!

Ja, was auch immer, nur nicht in den alten Trott zurück. Aber wieso sie dann hier auf ihrem höchsteigenen Balkon saß und an ihren ehemaligen Mann dachte, das konnte man sich natürlich auch fragen. Reichte die Neunzig-Minuten-Schleuse nicht mehr?

Scheiße, dachte Eva Backman. Das Leben zehrt an einem.

Während sie am Computer ihre Rechnungen bezahlte, dachte sie zurück an den gestrigen Abend. Das war schöner, sehr viel schöner. Sie war bei Barbarotti und Marianne in der Villa Pickford zum Abendessen gewesen. Nicht zum ersten Mal, absolut nicht, aber es war das erste Mal, dass sie zu zehnt am Tisch gesessen hatten.

Drei Erwachsene, sieben Teenager. Marianne hatte gemeint, es wäre sicher weltweit einzigartig, und da hatte sie möglicherweise sogar recht. Drei typische Altachtundsechziger, die mit drei anderen, nicht anwesenden Menschen sieben Kinder produziert hatten, hatte sie konstatiert, und Barbarotti hatte einen Toast darauf ausgebracht.

Schwedens Jugend, seine Zukunft!

Das stand immer auf den Sportmedaillen, die man sich zu seiner Zeit in der Schule erkämpft hatte, wie er behauptete. Keiner hatte ihm geglaubt. Er hatte den Tisch verlassen und in irgendwelchen Schubladen und Schuhkartons gewühlt, um es zu beweisen, war aber mit leeren Händen zurückgekehrt. Behauptete, seine ehemalige Ehefrau hätte seine Medaillensammlung konfisziert und eingeschmolzen, nur um des schnöden Mammons willen. Was wohl eine ansehnliche Summe eingebracht hätte, wie man der Wahrheit willen hinzufügen müsste. Mittels einer einfachen Abstimmung am Tisch wurde festgestellt, dass er in der Glaubwürdigkeitsfrage neun zu eins unterlag.

Es war das erste Mal, dass sie Jörgen, Kalle und Viktor mit Gunnars und Mariannes Kindern zusammengebracht hatte, und als sie sich ins Auto setzten, um nach Kymlingenäs zu fahren, hatte sie Schmetterlinge im Bauch gehabt.

»Mama, du bist nervös«, hatte Kalle gesagt. »Brauchst du nicht zu sein, wir können uns benehmen, wenn die Lage es erfordert.«

Er hatte Recht gehabt. Nicht, dass sie sich unbedingt hatten benehmen müssen, es hatte Augenblicke am Tisch gegeben, wo sie sich vor Lachen die Augen wischen musste. Warum geschah so etwas so selten im Leben? Eine große Gruppe Menschen um einen Esstisch herum. Kinder und Eltern. Gespräche und Lachen. Warum war das so verdammt schwer? Warum haben wir die uralte soziale Funktion der Mahlzeiten in diesem Land vergessen?

Oder war gerade die Außergewöhnlichkeit, also, dass es nicht so oft passierte, die Voraussetzung an sich? Würde es langweilig werden, wenn es jeden Tag stattfand?

Sie schob diese Gedanken beiseite. Klickte stattdessen ihre Überweisungen zu Ende und schaute auf die Uhr.

Halb sechs. Zeit, loszugehen und etwas fürs Frühstück zu kaufen. Morgen war Montag.

Sie stand an der Käsetheke, als Barbarotti anrief.

»War schön gestern«, sagte sie. »Alle Beteiligten auf unserer Seite haben es als Höhepunkt angesehen.«

»Wir auch«, erklärte Gunnar Barbarotti. »Können wir gern wiederholen.«

»Rufst du deshalb an?«, fragte Backman. »Um zum morgigen Frühstück einzuladen? Dann kann ich aufhören mit dem Einkaufen. Ich bin gerade bei ICA Stubinen und fülle die Reserven auf.«

»Nein, es geht nicht um eine Einladung zum Frühstück«, erwiderte Barbarotti. »Obwohl du natürlich willkommen bist, wenn du möchtest. Ich bin draußen in Rönninge. Im Wald.«

»Im Wald?«

»Ja. Es ist etwas passiert. Asunander hat mich angerufen, und jetzt ist er der Meinung, wir könnten es uns ebenso gut beide anschauen. Du und ich.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Eva Backman.

»Ein Todesfall«, antwortete Barbarotti.

»Ein Todesfall?«

»Genau. Im wahrsten Sinne des Wortes sogar. Tod durch Fall.«

»Was faselst du da?«, fragte Eva Backman.

»Ein Körper ist am Fuße eines Steilhangs aufgeschlagen«, verdeutlichte Barbarotti. »Ein Sturz von ungefähr zwanzig, fünfundzwanzig Metern. Alles deutet auf einen Unfall hin, aber es gibt da gewisse Umstände.«

»Was für Umstände?«, fragte Backman nach.

»Eigentlich nur einen«, erklärte Barbarotti weiter. »Warte mal.«

Er verschwand für ein paar Sekunden, sie konnte hören, dass er mit jemandem über irgendetwas diskutierte. Dann war er wieder am Hörer.

»Entschuldige. Ja, es gibt da eigentlich nur einen merkwürdigen Umstand, wenn man genau sein will. Vor fünfunddreißig Jahren wurde genau an derselben Stelle schon einmal eine Leiche gefunden.«

»Vor fünfunddreißig Jahren?«

»Ja. Am 28. September 1975.«

Eva Backman nahm ein Pfund Gruyère entgegen und dachte nach.

»Ein Unfall?«, fragte sie dann. »Damals, meine ich?«

»So hieß es zum Schluss«, sagte Barbarotti. »Aber es dauerte eine ganze Weile, bis es so weit war.«

»Du klingst eingeweiht«, bemerkte Backman.

»Ich hatte auch schon drei Stunden Zeit dafür«, gab Gunnar Barbarotti zu. »Und ich finde, es riecht irgendwie verdächtig.«

»Es riecht verdächtig?«

»Ja.

»Hat die Leiche einen Namen? Die von heute, meine ich.«

»Noch nicht«, sagte Barbarotti. »Er hatte keine Papiere bei sich.«

»Er?«

»Ein Mann in den Sechzigern.«

Eva Backman ging weiter zu den Milchprodukten und überlegte. »Gibt es noch mehr, was verdächtig riecht?«, fragte sie dann. »Abgesehen davon, dass es sich um dieselbe Stelle handelt?«

»Ich habe so ein Gefühl«, sagte Barbarotti.

»Ach so«, sagte Eva Backman.

»Ich weiß, dass du nicht meine Spürnase hast«, sagte Barbarotti. »Das kann man ja auch nicht verlangen.«

»Rede keinen Mist«, sagte Eva Backman.

»All right«, sagte Barbarotti. »Eigentlich habe ich auch nur angerufen, um ein wenig reden zu können. Ich stehe hier neben Wennergren-Olofsson.«

»Au weia«, sagte Backman. »Ich verstehe. Dann haben wir morgen also eine neue Aufgabe?«

»Genau«, sagte Barbarotti.

»Todesfall durch Fall?«

»Du hast es geschnallt«, sagte Barbarotti. »Doch jetzt will ich nicht länger stören. Aber deine Kinder haben uns sehr gefallen. Bis morgen.«

»Eure mochte ich auch«, sagte Backman. »Schwedens Jugend, seine Zukunft, danke für das Briefing.«

»Keine Ursache«, sagte Barbarotti und legte auf.

5

Ich bin Maria, der Spatz.

Ich bin die kleine Schwester von Super-Tomas, und die Leute glauben, ich wäre verrückt.

Ich habe kein Problem damit, dass sie glauben, ich wäre verrückt. Ganz im Gegenteil. Ich finde es ausgezeichnet, dass sie dieser Auffassung sind. Ich selbst weiß, dass es sich nicht um Wahnsinn handelt. Es handelt sich um Bosheit.

Wenn nicht Bosheit, dann zumindest Egoismus. Ich denke an mich selbst. Andere sollen an sich denken.

Ich bin kein Hamlet, absolut nicht. Die Leute glauben nicht, dass man heutzutage böse sein kann. Und schon gar nicht, wenn man eine Frau ist, neunzehn Jahre alt und süß. Um nicht zu sagen hübsch.

Und schlau. Es wundert sie, dass ich schlau bin, mein Abiturzeugnis ist tatsächlich genau so gut wie das von SuperTomas, der zwei Jahre vor mir mit der Schule zu Ende war. Wenn man es denn vergleichen kann, er hatte Buchstaben, ich habe Ziffern. Die Lehrer waren auf jeden Fall verwundert, und meine Eltern auch. Ich nicht, ich kenne meinen Wert.

Als ich acht Jahre alt war, da war ich auch süß. Da bin ich von einer Schaukel gefallen, auf dem Kopf gelandet und habe eine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht. Ich verhalte mich anderen Menschen gegenüber nicht so, wie man es soll. Dieser Meinung ist zumindest mein Psychiater. Er heißt Douglas Diensen, ich hatte die ganze Zeit denselben. Meine Eltern vertrauen ihm, alle vertrauen ihm, alle außer mir. Ich weiß, dass er langsam geil auf mich wird, und ich werde ihn nicht mehr treffen.

Denn jetzt ziehe ich nach Uppsala. Ich bin also schlau, aber in meiner Persönlichkeit verändert. Ich werde Französisch studieren, meine Eltern sind davon ausgegangen, dass ich Tante Beckas Wohnung mit Tomas teilen werde, schon im Frühling haben sie davon angefangen, aber ich habe dankend abgelehnt. Wenn man im Schatten dieses Goldjungen aufgewachsen ist, dann ist es irgendwann an der Zeit, in den Sonnenschein zu ziehen.

Vielleicht wird es irgendwann auch noch Jura, aber ich fange erst einmal mit Französisch an. Das klingt leichtsinnig genug, ich habe noch keine konkreten Pläne mit meinem Leben. Ich werde in einem Zimmer in einem Haus in der Norrtäljegatan wohnen. Ich habe ein Kreuz auf dem Stadtplan gemacht, von dort braucht man nicht mehr als zehn Minuten zur Bahn. Ich werde morgen fahren, heute ist der letzte Abend hier. Meine Taschen sind gepackt, Papa wollte mich eigentlich fahren, aber ich habe gesagt, das kommt gar nicht in Frage. Wenn ich das Nest verlasse, dann will ich es aus eigener Flügelkraft tun. Was denken die sich denn?

Mama hat den ganzen Abend geweint. Vielleicht nicht den ganzen, aber immer wieder in gewissen Abständen. Sie wissen nicht, was sie mit dem Haus machen sollen, hat sie gesagt. Jetzt, nachdem sowohl Tomas als auch ich nicht mehr hier sind. Haben sie geglaubt, dass wir nie erwachsen werden?, frage ich mich, oder worum geht es? Verkauft die Bruchbude doch, denke ich für mich, und wenn sie nicht aufhört zu flennen, dann werde ich es auch noch laut sagen.

Verkauft den Kasten und zieht nach Spanien, genau wie Tante Becka. Und wie diese Blöden von Friesmans, von denen du die ganze Zeit redest. Wenn man so viel Geld hat wie ihr, dann gibt es doch wohl keinen Grund, weiterhin in Sundsvall zu bleiben? In Spanien könnt ihr Golf spielen, am Pool liegen und von morgens bis abends süßen Wein trinken.

Sie sind mir scheißegal. Und das ist mein Problem. Alle anderen Menschen sind mir scheißegal. Vor allem junge Typen. Sollte ich jemals einen treffen, wenn nicht gerade zum Vögeln, dann muss es einer sein, der genauso verdreht ist wie ich. Genauso verdreht und genauso schlau, dann könnte etwas daraus werden.

Ich ertrage dieses zaghafte Positive nicht. Hoffnungsvoller, enthusiastischer Quatsch. Das Leben ist ein Scheißhaufen. Ich bin bösartig.

Ich bin neunzehn Jahre alt und hübsch, und ich denke an mich selbst, vergesst das nicht, liebe Leute. Morgen Abend werde ich ein paar Zeilen über mein neues Leben in der Norrtäljegatan in Uppsala schreiben. Vielleicht.

Ich bin Maria, der Spatz.

6

Wem ist aufgefallen, dass vor fünfunddreißig Jahren an derselben Stelle schon einmal etwas Ähnliches passiert ist?«

»Elis Bengtsson.«

»Elis Bengtsson?«

»Der ihn gefunden hat. Er war letztes Mal auch dort.«

»Was sagst du da? War das dieselbe Person, die …«

Barbarottis Telefon klingelte, und Eva Backman unterbrach sich. Barbarotti drückte das Gespräch weg.

»Entschuldige. Ja, er war letztes Mal in der Gegend. Und dieses Mal hat er die Leiche gefunden. Er wohnt in der Nähe, war mit dem Hund draußen … sowohl damals als auch jetzt.«

Backman betrachtete ihn ungläubig.

»Findest du, das klingt glaubwürdig?«, fragte sie. »Dass sich dieselbe Person … wie hast du es genannt? … in der Gegend befindet? Bei zwei Fällen?«

»Nicht besonders«, stimmte Barbarotti zu und schaute auf die Uhr. »Aber wir werden ihn in zehn Minuten treffen, vielleicht können wir mit unserer Einschätzung bis dahin warten.«

»Und wir wissen immer noch nicht, wie die neue Leiche heißt?«

Barbarotti schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

»Wie hieß die von 1975?«

Barbarotti befragte ein Papier auf dem Schreibtisch. »Maria Winckler«, erklärte er. »Fünfundzwanzig Jahre alt. War Aushilfslehrerin in der Kymlingeviksschule. Englisch und Französisch, hat erst einen guten Monat dort gearbeitet, als es passierte.«

»Hier aus der Stadt?«

»Zugezogen«, sagte Barbarotti. »Auch das ziemlich frisch.«