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16 Kurzgeschichten aus den Jahren 2000 bis 2015. Sie erzählen vom Verlassenwerden und Finden. Vom Tod des Partners und der Trauer der Zurückgebliebenen. Von den Schwierigkeiten, einen gemeinsamen Alltag zu gestalten. Zuweilen surreal, oft augenzwinkernd beleuchtem sie die Versuche der Protagonisten, sich ihrer Einsamkeit innerhalb und außerhalb von Beziehungen zu stellen.
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Seitenzahl: 118
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Norbert Krüger
Die Einsamkeit des Künstlers
Kurzgeschichten
Impressum
Copyright © 2022 bei Norbert Krüger
www.norbert-krueger.com
Coverfoto: Urupong Phunkoed / shutterstock.com
Alle Rechte an Text und Bild vorbehalten. Jede Verwendung, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Autors strafbar. Dies gilt auch für die Vervielfältigung, Übersetzung und die Nutzung in elektronischen Systemen.
Sämtliche Namen, Charaktere und Handlungen sind frei erfunden und reine Fiktion des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Unerwartete Begegnung
Mein Zweibeiner ist rollig
Nicht nur Katzen
Novemberregen
Die Einsamkeit des Künstlers
Altherrensommer
Der letzte Sommer
Wenn es Nacht wird
Nachmittag am Pool
Klassentreffen mit Milan
Lonely Wolf
Annäherungen - oder: Versuch über das Begehren
Echo
Claudia
So wie damals
Der gefallene Baum
Anhang
Was sind die Sätze, die mich am stärksten geprägt haben? Waren sie förderlich? Haben sie mich ausgebremst?
Ich saß auf meiner Terrasse und las ein pseudowissenschaftliches Selbsthilfebuch, das mir meine Freundin Jennifer ein paar Tage zuvor in die Hand gedrückt hatte. In der Ferne hörte ich Kinderlachen. Vor mir auf dem Tisch stand eine Schale Milchkaffee. Ein gemütlicher Sonntagnachmittag ging langsam in den frühen Abend über.
Während ich das Buch zur Seite legte, um einen Schluck zu trinken, ließ ich meinen Blick schweifen. Die Obstbäume hatte ich erst im Frühjahr gepflanzt. Im dahinter angrenzenden Garten war lange nicht der Rasen gemäht worden. Und hinter der Buchenhecke zum übernächsten Grundstück ragte eine Wäschespinne hervor. Keine Menschenseele. Und doch fühlte ich mich beobachtet. Ich nahm das Buch in die Hand, legte es aber nach wenigen Sätzen zurück auf den Schoß und sah mich erneut um.
Schließlich fand ich, was mich derart irritierte. Hinter den Rhododendronbüschen entdeckte ich das Gesicht eines Kindes. Ich stand auf und ging auf den Jungen zu. Er rührte sich nicht, starrte mich nur mit leicht zusammengekniffenen Augen an.
„Was machen Sie da?“
„Ich habe Kaffee getrunken. Gelesen. Wohnst du hier irgendwo?“ Das Gesicht kam mir vertraut vor. Rosig. Pausbäckig. Ernst. Viel zu ernst für seine vielleicht acht Jahre.
„Wollte nur mal gucken. Wo ist Ihre Familie?“
„Ich wohne allein hier.“
„Haben Sie keine Familie?“
„Nein. Und du? Wo sind deine Eltern?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Die sind nicht mitgekommen.“ Kurz blickte er zu Boden und verzog ein wenig das Gesicht, so als sei er Kummer gewohnt und rechne nicht wirklich mit seinen Eltern. Dann fragte er: „Keine Kinder?“
Ich kniete mich zu ihm hinunter, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein.
„Nein, keine Kinder“, sagte ich. „Wo wohnst du?“
„Macht Sie das traurig?“
Der Kleine schaute mich an, ohne eine Miene zu verziehen.
„Manchmal, wenn ich sehe, wie andere Kinder aufwachsen, ja. Aber um eigene zu bekommen, braucht es die richtige Partnerin.“
Ich dachte kurz an Jennifer und unsere ewigen Auseinandersetzungen. Aber im Augenblick hatte ich ein vorrangigeres Problem: Was sollte ich tun, wenn es mir nicht gelänge, herauszufinden, wo der kleine Kerl herkam?
„Sind Sie Polizist geworden?“
Die Frage überraschte mich. Als Kind war ich von der Fernsehserie „Hafenpolizei“ fasziniert gewesen und wollte werden wie Kommissar Peters. Aber wem hatte ich davon erzählt? In Gedanken ging ich die Liste meiner Nachbarn durch, konnte mich aber nicht erinnern, jemals von meiner Kindheit gesprochen zu haben.
„Nein, ich bin nicht zur Polizei gegangen. Als ich die Idee hatte, war ich vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Aber mein Vater meinte, dafür müsse man sportlich sein. Und Sport interessierte mich nie sonderlich.“
Ich sah, wie mein Gegenüber den Mund verzog. Offensichtlich machte ihn diese Nachricht traurig.
Endlich kam mir die Erleuchtung. „Bist du Norbert“, fragte ich.
Er nickte leicht.
„Das heißt, du bist ich? Nur viel jünger?“
„Ich wollte sehen, wer ich einmal sein werde“, sagte er. „Und mir gefällt das nicht.“
Sollte ich ihn trösten? Ihm erklären, dass das Leben zuweilen sonderbare Wege geht? Oder ihm vielmehr Mut machen, an seinen Träumen festzuhalten? Ihn darin bestärken, nach der Schule mehr herumzulaufen, zu toben, um Spaß am Sport zu gewinnen? Dann wäre er, wäre ich heute vielleicht wirklich Polizist. Obwohl ich das für keinen übermäßig erstrebenswerten Beruf halte.
„Sind Sie wenigstens viel herumgereist?“
Wir setzten uns auf die Treppenstufen vor dem Haus. Mein Blick verlor sich in der Birkenhecke.
„Ich bin ein wenig herumgekommen, ja. Allerdings nur in Europa. Die anderen Kontinente haben mich nie interessiert.“
„Meine Tante hat die ganze Welt bereist. Von überall hat sie Dias mitgebracht.“
Ich musste lachen.
„Ja, ich weiß. Als sie starb, habe ich ihre Dias geerbt. An langen Winterabenden habe ich die Aufnahmen an die Hofmauer projiziert und mich durch die Welt geträumt. Aber auch da mochte ich die Bilder von Paris am liebsten. Der Eiffelturm direkt vor meinem Fenster, oder die Ufer der Seine von einem Boot aus, das hatte was.“
„Das klingt schön“, sagte mein kleines Gegenüber und spielte ein wenig mit einem Grashalm, den es vom Wegrand gepflückt hatte. In der Luft lag der Geruch von herannahendem Regen.
„Ja, das war schön“, antwortete ich ihm.
„Ich mag Geschichten“, sagte er nach einer Pause.
„Ich auch“, erwiderte ich lächelnd.
„Sind Sie Geschichtenerzähler geworden?“
„So etwas in der Art vielleicht. Ja.“
„Das ist gut.“ Als er das sagte, wandte er sich mir zu und schaute mir direkt in die Augen. Zum ersten Mal huschte ein gewisses Lächeln über sein Gesicht. Dann stand er auf und reichte mir zum Abschied seine Hand. Ich streckte meine Arme aus. Er zögerte, ließ die Umarmung aber schließlich zu.
Gern hätte ich ihm noch etwas mitgegeben für seine Reise. Einen Satz wie „Gib niemals auf“ oder „Lebe deine Träume“. Aber ich ahnte, dass solche Redewendungen ihn überfordern würden. Und ich wusste, er kommt eines Tages dort an, wo ich jetzt stehe. So sah ich ihm zu, wie er den Weg hinunter zur Straße ging. An der Pforte drehte er sich noch einmal um, mir zum Abschied zu winken.
„Weißt du was, Norbert?“, rief ich ihm nach. Er hob leicht die Augenbrauen. Etwas leiser fuhr ich fort: „Freu dich über jeden Fehler, den du machen wirst. Du lernst durch deine Fehler.“
Ich wollte ihn nicht mit Lebensweisheiten drangsalieren. Aber vielleicht, so dachte ich, behält er diesen einen Satz im Hinterkopf. Er würde ihm das Leben leichter machen.
Einen Moment noch sah mich der kleine Norbert an, als erwarte er, dass ich noch etwas zur Erklärung hinzufüge. Als von mir nichts mehr kam, nickte er, so als begreife er wirklich, was ich gesagt hatte. Dann drehte er sich um und ging.
Er riecht anders heute. Ein wenig aufgeregt. So, als habe er sich in Theos Markierungen gerollt. Das ist die Mischung, bei der ich aufpassen muss. Da will jemand in mein Revier.
Seit Stunden steht mein Zweibeiner in der Küche am Ofen. Normalerweise begnügt er sich damit, sein Essen in den kleinen Kasten mit der Klingel zu stellen, damit es dampft, wenn er es essen will. Mir gibt er es immer direkt aus dem Kühlschrank. Sämtliche Versuche, ihm klarzumachen, dass ich körperwarme Mahlzeiten genau wie er schmackhafter finde, sind bisher gescheitert.
Wir haben eine klare Regelung. Wenn er einen Dosenöffner braucht, um an das Essen zu gelangen, ist es für mich. Wenn es reicht, die Pappe abzureißen, ist es für ihn. Wenn es frisch aus der Einkaufstasche kommt und am Herd warm gemacht wird, ist es für eine Sie.
Frauen sind ein Problem. Sie dringen nicht nur in mein Revier ein, sie nehmen meinen Menschen auch mit in ihres. Er ist weniger zu Hause. Kann keine Türen aufmachen. Vergisst im schlimmsten Fall, mir mein Essen hinzustellen. Frauen kümmern sich nicht um Rangfolgen. Sie meinen, sie brauchen nur zu kommen, und schon sind sie der Liebling. Gegen Zweibeiner bin ich machtlos. Der Platz auf seinem Schoß, mein Platz, bleibt frei, damit sie bei Bedarf ihren Kopf darauf legen kann. Natürlich bleibt mir die Freiheit, mich zu verkrümeln oder ihn eine Weile nicht anzusehen. Aber das hilft nicht, sie zu vertreiben. Dafür habe ich einen anderen, effektiveren Trick gefunden.
Für den Moment bleibt mir nichts, als meinen Kopf an seinen Beinen zu reiben. Es ist gut, ein paar Marken zu setzen. Zwar glaube ich, dass Zweibeiner sie gar nicht riechen können. Aber mich beruhigt es, wenn er ein wenig nach mir duftet.
Jemand klingelt an der Haustür. Mein Zweibeiner verzieht sein Gesicht, als wolle er mit seinen Lefzen den Geruch des frisch angemachten Futters tief in sich einsaugen. Aber ich habe herausgefunden, dass Zweibeiner ihren Mund auseinanderziehen, weil sie nicht vernünftig schnurren können. Sie zeigen damit: Alles in Ordnung, keine Gefahr – ich bin dir wohlgesonnen. Das ist wohl der Grund, warum Menschen so selten die Augen schließen, wenn sie zusammen sind. Sie würden nicht mehr erkennen, wer ihnen gut ist und wer nicht.
Vor der Tür steht eine Sie. Zwei Hinterläufe in leichten Hosen, kein Problem für meine Krallen. Europäische Langhaar, dunkle Mähne. Sieht nicht viel anders aus als die anderen Sies, die hier gelegentlich ihre Runde drehen. Mal sehen, wie lange es diesmal dauert.
Die beiden geben Köpfchen, ganz klassisch. Dass sie ihren Kopf schräg legen, ist ein Bluff. Ich habe es überprüft: Zweibeiner haben überhaupt keine Duftdrüsen hinter den Ohren. Keine Chance, auf diese Art das Gegenüber zu markieren und so für einen gemeinsamen Duft zu sorgen.
Auch die Sie verzieht ihren Mund. Sie holt eine Flasche aus ihrer Tasche und überreicht sie ihm. Hat sich also rumgesprochen. Meinen Wassernapf vergisst er auch regelmäßig nachzufüllen.
Die beiden maunzen sich an, mit jenen gutturalen Lauten, die wohl nur für sie einen Sinn machen. Immer und immer wieder. Ich rechne fast damit, dass sie sich gleich auf den Boden rollt, aber vielleicht hofft sie, es kommen noch andere Zweibeiner, damit sie etwas größere Auswahl hat. Außerdem rollen Frauen meist erst über den Boden, wenn sie sich schon für einen Partner entschieden haben.
Mein Mensch holt das Essen. Ich werfe einen Blick in meinen Futternapf. War klar. Hey, werfe ich in das allgemeine Gemaunze ein. Denkt ihr bitteschön auch an mich? Oder geht das jetzt schon los mit dem Vergessenwerden?
Die Sie hat mich bemerkt. Manche Zweibeiner haben ein ausgeprägtes Revierverhalten. Kaum merken sie, dass eine Katze im Raum ist, schauen sie mir tief in die Augen und gehen auf mich zu. Aber so leicht lasse ich mich nicht vertreiben. Auch die Katzenmama-Nummer zieht bei mir nicht. Von wegen mit der Hand mein Fell putzen. Das erlaube ich nur meinem Mitbewohner. Andere, die es versuchen, bekommen dafür meine Krallen zu spüren.
Natürlich ärgert es mich, dass er ihr zu Essen gibt. Gut, wenn er meint, sie könne sich nicht selbst ernähren, meinetwegen. Ich bringe ihm ja auch gelegentlich Selbsterlegtes vorbei, um ihm zu zeigen, dass Jagen ganz einfach ist. Aber er ist ein hoffnungsloser Fall. Dosen treibt er immer wieder auf, aber selber Beute erlegen gelingt ihm einfach nicht. Wenn ich ihm einen Vogel oder eine Maus anschleppe, gewöhnt er sich vielleicht an den Gedanken, dass Essen nicht notwendigerweise in Dosen gehört.
Aber warum will er sie, die noch nie hier gewesen ist, unbedingt füttern? Traut er ihr nicht zu, allein für ihre Ernährung zu sorgen? Ich bin nicht sicher, ob sie das als Kompliment versteht.
Mein Zweibeiner und sie maunzen sich weiter an. Ihre Stimmen sind leiser geworden. Seine ist tiefer als sonst, mit einem warmen Timbre, so, als würde er gleich anfangen zu schnurren. Sie macht abwechselnd helle und dunkle Geräusche, fast eine Art Schnattern, als habe sie einen Vogel vor dem Fenster entdeckt. Sonderbar.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Lage zu klären. Mit einem gezielten Sprung lande ich auf den Oberschenkeln meines Zweibeiners. Dieser Schoß ist besetzt, Frau. Ich bin sein Mitbewohner, ist das jetzt klar?
Sie scheint nur bedingt beeindruckt zu sein, lässt ihn nicht aus den Augen. So gefährlich ist er nun auch nicht, dass jede seiner Regungen zählte. Aber sie ist angriffslustig. Zeigt ihm die Zähne und erwidert seinen Blick.
Ich rechne jeden Augenblick damit, dass er mich vom Schoß wirft, um den Tisch geht und ihr zärtlich in den Nacken beißt. So würde das Theo jedenfalls machen, der grau getigerte Kurzhaar, der hinter der Mauer wohnt. An ihrer Stelle würde ich jetzt ein paar Mal fauchen, nur pro forma, damit sich mein Zweibeiner nicht zu sicher ist. Wer von den beiden springt jetzt zuerst auf, wer weicht zurück?
Ich beschließe, die Initiative zu übernehmen. Ich wechsle auf die Beine der Sie. Zögere einen Moment, aber ich habe das Überraschungsmoment auf meiner Seite. Bäuchlings lasse ich mich nieder, fahre die Krallen aus. Schon habe ich ihre Aufmerksamkeit. Geht doch.
Es gibt zwei Arten von Menschen. Die einen fangen an, mich zu streicheln, wenn ich auf ihrem Schoß lande. Das wäre jetzt OK. Immerhin habe ich ja den ersten Schritt getan. Die anderen versuchen, mich vom Schoß zu schubsen. Das wäre besser. Mit denen habe ich leichtes Spiel.
Auch diese neue Frau versucht zögerlich, mich von meinem Platz zu vertreiben. Aber es reicht schon, ein wenig zu fauchen, um ihr diese Idee zu vermiesen. Mein Zweibeiner nennt mich beim Namen, in einem Tonfall, der mich vorsichtig werden lässt. Aber erst, als er mich packt und von ihrem Schoß hebt, gebe ich nach.
Nach einer kurzen Pause, in der mich die beiden links liegen lassen, setze ich mich der Frau zu Füßen und beginne mich zu putzen. Völlig harmlos, nicht einmal mein Mensch kann etwas dagegen haben. Genüsslich fahre ich mit der Pfote durch mein Fell, immer schneller, dass die Haare nur so fliegen. Warte einen Moment. Lege mit einer neuen Haarwolke nach.
„Hatschi.“
Ich habe es gewusst. Pech gehabt, Dosenöffner. Diese Sie wird die Nacht nicht hier verbringen. Da magst du noch so rollig sein. Notfalls komme ich zu euch ins Bett und kuschle mich an deine Nase, junge Frau. Spätestens, wenn sie mitten in der Nacht einen Niesreiz bekommt und ihre Augen anfangen zu tränen, wird sie mein Revier verlassen. Es gibt zwei Arten von Zweibeinern. Die, die mit uns Katzen leben können und die anderen. Du gehörst definitiv zu den anderen.
Sehnsüchtig blickte Andreas auf die Tauchausrüstung, die an der holzgetäfelten Wand seines Ferienbungalows hing.