Die Eisläuferin - Katharina Münk - E-Book

Die Eisläuferin E-Book

Katharina Münk

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Beschreibung

»Liebes, da ist übrigens etwas, das du wissen musst: Du bist Regierungschefin.« Während ihrer Urlaubsreise mit der Transsibirischen Eisenbahn kommt einer Regierungschefin das Gedächtnis abhanden. In Omsk fällt ihr ein Bahnhofsschild aufs Haupt und stiehlt ihr fortan zwanzig Jahre ihres Lebens und jeden Tag aufs Neue ihre Erinnerungen. Ihr engster Beraterkreis und ihr Mann sind sich einig, diese Unpässlichkeit vorerst geheimzuhalten und die Chefin Tag für Tag neu »auf Schiene« zu setzen. Der Plan funktioniert - allerdings mit einigen Nebenwirkungen: Sie regiert plötzlich, als gäbe es kein Morgen, spontan, unvoreingenommen, ja geradezu leidenschaftlich. Und auf der Suche nach ihrem Gedächtnis kennt sie kein Pardon …

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Katharina Münk

Die Eisläuferin

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2013

© 2011 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41681-8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21415-5

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

Inhalt

Der Aufbruch

Nostalgisch reisen

Die Dame, die am Zug war

Trial and Error

Der Gesundheitsplan

Von der Systematisierung des Alltags

Le point perdu

Das Glockenspiel

Das Interview – Von der Entbehrlichkeit der Erinnerung

Die Baikalwellen und der Abendpfirsich

Die Sache mit der Leidenschaft

Der Tag der offenen Tür

Der halbe Rittberger

Unglück im Glück

Das bin ich nicht

Volles Risiko

Die Sprungkraft

Der Aufbruch

Das Weinglas fiel klirrend zu Boden und zersplitterte in tausend Teile. Sie war hellgrün und recht agil gewesen, musste sich unbemerkt herangeschlichen haben, war mit einem Satz auf den Tisch gesprungen, hatte sich blitzschnell gedreht und dabei den gläsernen Stiel erwischt. Seine Frau nahm es mit Humor: »Ich wusste gar nicht, dass es hier derartig große Eidechsen gibt. Die sind doch sonst eigentlich recht bodentreu und machen nicht so große Sprünge, nicht wahr?«

Sie war davongelaufen in die Nacht, und er blickte immer noch in die Richtung, in die sie verschwunden war.

»So, dann wollen wir mal die Haushaltslage klären.« Eine Antwort auf ihre Frage zur Bodentreue der Eidechsen hatte sie wohl nicht erwartet. Sie stand auf, tupfte mit einer Serviette ihre nun nicht mehr ganz weiße Baumwollhose ab und holte einen Besen aus der Küche, mit dem sie die im Terrassenlicht funkelnden Glasstückchen in eine Ecke zusammenfegte. Es war eine einzige Fünkchenansammlung, die reinste Milchstraße.

»So, das hätten wir.«

Er hasste es, dieses herunterkühlende Element an ihr, das sich wohl aus der Erkenntnis speiste, dass man sich im Leben nicht unnötig aufzuregen habe, noch nicht einmal über randalierende Reptilien. Wo er sie doch mochte, die Reptilien. Sie waren es wert, dass man sich über sie aufregte, fand er.

Es war kurz vor Mitternacht und noch erstaunlich mild auf der dem Innenhof zugewandten Seite des Ferienhauses, wo sich die Terrasse befand. Ohne Ausblick zwar, ohne vorbeiflanierende Menschen, ohne Meeresrauschen, keine Chance auf Ablenkung. Dafür aber Ruhe, eine Verheißung von Ungestörtsein, und das allein war völlig ausreichend. Keine einzige Mücke, auch das bemerkenswert. Ja, besonders über Letzteres konnte er sich richtig freuen, denn die An- oder Abwesenheit von Mücken konnte man nicht planen. Sie waren alle gleich schlimm, von den Ostsee-Bodden über die Kanarischen Inseln bis zur Taiga – mit der einzigen, halbwegs nachvollziehbaren Daseinsberechtigung, menschlicher Eitelkeit durch rötliche, beulenartige Hautveränderungen an den unmöglichsten Stellen Einhalt zu gebieten.

Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und betrachtete sie: Sie saß mit leicht hochgezogenen Schultern an dem schweren, ausgebleichten Holztisch, die Unterarme darauf abgelegt, die Finger ineinander verkreuzt und rund um die Augen ein wenig angestrengt. Das Amt saß ihr noch in allen Knochen. Er hatte versucht, sie ein wenig abzulenken, was ihm nur bedingt gelungen war. Noch auf dem Hinflug hatte sie ihn gefragt, wie viel Zahlenaffinität man wohl vom Volke erwarten könne angesichts der letzten Sparpläne. Ihm war Angst und Bange geworden – nicht wegen der Sparpläne, die ihn ja genauso betrafen, sondern wegen der bloßen Vorstellung, dass er durch eine allzu leichtfertige Antwort auf ihre Frage fatal Einfluss auf die Politik des Landes nehmen könne, und zwar mehr, als ihm lieb war. Er hatte geantwortet: »Zahlenaffinität? Och, ich für meinen Teil mag die Vier, nette Zahl, oder? Und du?« Sie hatte gelacht, und das, so nahm er an, konnte der Lage der Nation nicht geschadet haben.

Allerdings wusste er immer noch nicht, was vor ungefähr vier Wochen wirklich in ihrem Kopf vorgegangen war. Sie hatte die Sache mit sich selbst ausgemacht. Sicher, hinter jeder erfolgreichen Frau stand ein überraschter Mann. Und es gab »Krise«. Sie befand sich gerade in der schwersten, seit sie im Amt war. Das hatte er in der Zeitung gelesen. Aber musste gleich so etwas dabei herauskommen wie das, was sie jetzt allen Ernstes vorhatte? Es war noch nicht einmal Gelegenheit gewesen, sich näher darüber auszutauschen. Sie war immer so schnell wieder weg, husch, und manchmal kam er sich, angesichts der Distanzen, die sie regelmäßig zurücklegte, vergleichsweise unbeweglich vor. Vielleicht würde eine längere gemeinsame Zugfahrt etwas mehr Aufschluss über all das bringen. Ein Windstoß ging knatternd durch die Kanarenpalme im Innenhof.

Richtig wohl war ihm bei diesem ganzen Vorhaben nicht. Sein Gesamtinnenwiderstand war schon vorher nicht unerheblich gewesen, und die Sache war riskant, sehr riskant, allein logistisch ein fast unmögliches Unterfangen. Am liebsten wäre er wieder zehn Tage genau da geblieben, wo sie jetzt waren. Selbst Kolumbus hatte sich auf der Durchreise länger hier aufgehalten, als sie es tun würden. Am Ende beruhigte er sich ein wenig damit, dass Männer im Urlaub dahin müssen, wohin ihre Frauen sie buchen – ein recht populäres nationales Problem. Ja, so betrachtet, hätte man einfach annehmen können, sie sei lediglich eine von Millionen von Frauen, die Millionen von Männern Rätsel aufgeben – Teil eines Massenphänomens also und somit unauffällig, völlig unauffällig, geradezu wohltuend normal.

Doch nichts war normal. Nun saß auch schon der Sicherheitsbeamte gemütlich mit ihnen zusammen, denn er wurde immer am zweiten Abend eingeladen. Sie schenkte ein weiteres Mal nach, und wie es aussah, würde sie ihren Plan tatsächlich durchziehen.

»Mein Lieber, du sagst ja gar nichts.«

Er hasste Kosenamen. Sie waren unpräzise, unerwachsen, überflüssig, griffen die ganze Komplexität seiner Selbstbestimmung an. Beruhigend war lediglich, dass sie sie genauso hasste wie er. Aber man hatte ihnen geraten, sich diese unverfänglichen verbalen Vertrautheiten außerhalb der eigenen vier Wände anzugewöhnen, als Alternative zu ihren Vornamen, die zwar erwachsen, aber eben auch verdächtig präzise waren. Ja, hier fing bereits die Schizophrenie ihres Lebens an.

»Nun ja, die Müdigkeit kommt meistens am zweiten Tag, und du bist ja im Training, nicht wahr, Liebes? Ich überlege auch gerade, ob ich heute Abend noch eine Mail ins Institut schicken sollte.« Er versuchte, ein Gähnen vorzutäuschen, reckte die Arme nach hinten, und sein über die Schultern geworfener Pulli fiel zu Boden.

»Schick denen doch eine SMS. Morgen. Gleich um sieben Uhr.« Sie zwinkerte ihm zu. Das konnte sie gut. Eine SMS mit den Augen.

»Nein, nein. Ich bringe es lieber gleich hinter mich. Entschuldigen Sie mich, Herr Bodega.« Er legte die Unterarme auf die Lehnen des schweren Korbsessels, wollte ihn anheben, fand keinen Halt mit den Händen und schob ihn mühevoll nach hinten. Ein schrilles Quietschen ging durch den Innenhof. Niemand würde es hören.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Herr Professor. Und nochmals vielen Dank für die Einladung. Vergessen Sie Ihren Pulli nicht.« Und schon hatte er sich gebückt.

Herr Bodega war seit vier Jahren einer der Sicherheitsbeamten seiner Frau und für den Bereich »Freizeit und Urlaub« zuständig. Er war nett und jung, aber nicht zu nett und nicht zu jung. Er sah gut aus, aber nicht zu gut, konnte ihr nahe kommen und doch Teil der wortlosen Menge sein. Es war sein Job, professionell intim zu sein, immer an ihrer Seite und doch auf Abstand. So etwas gab es noch nicht einmal in der Tierwelt. Er tauchte immer allein auf, war es aber nie, ebenso wenig wie sein Observierungsobjekt. Es gab einen untergeordneten Bodega 2 und einen weiteren Bodega 3, falls Bodega 1 krank wurde oder zu auswärtigen Erkundungen abgezogen wurde. Es gab kein Entrinnen.

Er nickte ihm zu: »Gern geschehen. Wir sehen uns morgen«, schloss langsam die Terrassentür hinter sich und machte sich ans Packen.

»Es ist noch ein kleiner Rest in der Flasche. Kommen Sie, Herr Bodega, Sie werden doch wohl einmal ein drittes Glas Wein mit mir trinken, wenn Sie mir schon in jedem See hinterher schwimmen.« Sie kippte die Flasche tief in das Glas des jungen Herrn neben ihr.

»Ich bin leider dazu angehalten, Chefin«, sagte er. »An Land haben wir den Abstand ja schon auf zweihundert Meter erweitert, wenn ich Sie daran erinnern darf. Das ist das Äußerste.«

»Ich weiß. Und dennoch, Ihre Bindungsenergie ist beachtlich. Wenn ich ein Atomkern wäre, würde ich mir wünschen, Sie wären mein Außenelektron, das irgendwo in einer Umgebung herumschwirrt, die zehntausend Mal größer ist als ich. Da könnten Sie mich schon ein wenig aus den Augen verlieren, nicht wahr?«

»Ja, aber ich bin ja kein Elektron, jedenfalls nicht ausschließlich. Das macht die Sache einfacher.«

»Ich bewundere Ihre Logik, Herr Bodega.« Sie spitzte die Lippen und nippte an ihrem Wein. Sie konnte auf eine sozial äußerst angenehme Weise mittrinken, ohne das Glas nennenswert zu leeren. Er hätte das wissen müssen.

In den Steppen Westsibiriens wäre das mit den zweihundert Metern auch überaus schwierig geworden, vor allem wenn man als Elektron gar nicht wusste, wo man überhaupt nach seinem Atomkern suchen sollte. Sie hatte ihm gegenüber auch nie etwas erwähnt von dieser Sache, mit der sie schon seit Kindheitstagen liebäugelte, von der Reise durch spektakuläre Landschaften, mit einem Himmel von tyrannischer Weite, den sie sonst nur mit einem Glas Wasser vor sich durchflog, Landschaften, die eine Wohltat waren für die Augen und die Seele. Und man konnte einfach nur so dasitzen und sie an sich vorüberziehen lassen wie ein riesiges Bild, auch wenn man mit zweihundert Stundenkilometern durch sie hindurchbrauste.

Sie sah alles schon genau vor sich: den unendlichen Baikalsee, den tiefsten und größten See der Welt, das blaue Auge Sibiriens, den alle Flüsse dieser Erde nicht in einem Jahr füllen könnten – für sie also der perfekte Ort, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Und dann die bujartische Kultur, die breiten Sandstrände des Amur mit Blick auf China, alles ohne Kamerateams, aus einem Abteil der Kategorie »Nostalgie-Komfort« heraus, mit Ohrensessel und Gardinen vor der Landschaft. Kurzum: eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn – in voller Länge, bis nach Wladiwostok. Eine Reise, bei der sie nicht notwendigerweise aussteigen musste, keine Begrüßungskomitees und Musikgruppen in Landestracht mit nach vorne geschobenen Kindern, keine verdammten kleinen weißen Punkte auf dem Boden, auf denen sie zu stehen hatte, keine Verhandlungen, außer denen über die Teesorte am Morgen.

»Hallo? Chefin? Na, Sie scheinen ja gerade ganz weit weg zu sein.«

»Ja, ein Albtraum für Sie, Herr Bodega, nicht wahr? Tja, der Geist ist frei. Das ist meine einzige Chance, diesen Job halbwegs unbeschadet zu überstehen, glauben Sie mir.« Sie neigte den Kopf und grinste.

Bald würde ihr Mann mit dem Packen fertig sein. Sie hatte es ihm immer gern überlassen, er war darin ganz einfach schneller. Er hatte dieses Mal auch die Exekutive in der Reisevorbereitung innegehabt, da sich sein Name in den Buchungsunterlagen etwas unverfänglicher ausmachte als der ihrige – zumindest hatte sie das angenommen. Und als hätte er ihre Gedanken lesen können, ging das Licht im Schlafzimmer aus.

Das war das Zeichen. Sie schaute auf die Uhr und sagte: »Oh, ich muss jetzt los. Der Rotwein, Herr Bodega, Sie werden uns morgen vor zehn Uhr nicht zu Gesicht bekommen, befürchte ich. Ich denke, das kommt Ihnen auch entgegen?«

»Selbstverständlich. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.« Herr Bodega erhob sich ein wenig unkontrolliert und schwankend, was sie mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.

Die Fähre würde den Hafen von San Sebastian um 7.25 Uhr nach Teneriffa verlassen, und der Charterflug nach Barcelona dürfte sich zeitlich so ziemlich mit den ersten morgendlichen Liegestützen Herrn Bodegas decken. Und dann würde er sein Handy anstellen und ihre erste SMS lesen.

Das Taxi war pünktlich. »El puerto de San Sebastian, por favor.« Ihr Mann hatte das Verb unterschlagen, was ihm nichts auszumachen schien, und nahm neben ihr Platz. Sie saß hinten rechts, wie immer. Es war ein herrliches Gefühl, weit und breit keine Menschenseele hinter sich zu wissen, außer der von Herrn Bodega. Sie kam sich vor wie ein junges Mädchen, das von zu Hause abhaut. Dabei hatte sie doch Urlaub, war entschuldigt, durfte schwer erreichbar sein. Und doch beschlich sie ein leises Unbehagen, dass das Volk so etwas wie ihr jetziges Vorhaben möglicherweise nicht guthieß.

Nein, in ihrem Fall hatte Urlaub in landläufigem Sinne schon länger nicht mehr nur mit Erholung zu tun. Urlaub zu machen hieß, so zu sein wie alle, Erwartungen zu erfüllen, den Hauch einer Identifikation aufkommen zu lassen.

Sie fand, dass das Volk es etwas einfacher mit ihr hatte als sie mit dem Volk. Jeder konnte sich ihrer bedienen, es gab auch kein Entkommen, ein Suchauftrag im Internet, und es würde sechsmillionensechshundertfünfzigtausend sachdienliche Hinweise auf sie geben. Ein Leben wie mit Peilsender. Hatte überhaupt irgendjemand auch nur eine Ahnung davon, wie unfrei einen das machte? War da an Urlaub zu denken? Nein. Nichts war normal. Da halfen auch vierzehn Tage La Gomera nichts. Alles Gründe also, um sich wenigstens einmal ein bisschen Freiheit zu genehmigen, nicht zu lang, nicht zu viel, angemessen eben. Und wo war das besser möglich als in den Weiten der Taiga? Ja, mit einigem Humor konnte man sogar den Verdacht hegen, dass viele Menschen im Lande sie gerne genau dorthin wünschten.

Es lag noch ein Nebelschleier über den Wiesen, und wie auch immer die Dinge lagen, es war ihr schon ein wenig nach Aufbruch zumute.

Ihr Mann fingerte an seinem Rucksack auf dem Schoß. »Ich glaub’s erst, wenn wir in Moskau sind. Meinst du, dass die Pressefotos von der Landung auf der Insel ausreichen, damit sie nicht dahinterkommen?«

»Ich bin zuversichtlich. Wir hatten da ja schon unsere Wanderschuhe an und tragen beide dunkelblaue T-Shirts. Das muss reichen.« Sie zuckte leicht mit der rechten Augenbraue und fuhr fort: »Wer zahlt den Fahrer?«

Nun zuckte er mit der Augenbraue: »Ich habe das ermittelte Entgelt bereits im Voraus privat entrichtet, wenn du das meinst.«

»Wir müssen das ordentlich und transparent regeln.«

»Und der Zeitplan? Bist du überzeugt, dass du mit den fünf Stunden Aufenthalt in Barcelona klarkommst?«

»Ich bin optimistisch, dass wir das schaffen können.« Sie war mit ihren Gedanken schon weiter und nahm nun den Taxifahrer ins Visier. Er hatte buschige Augenbrauen, kleine Augen, einen mürrischen Zug um den Mund, soweit sie das erkennen konnte. Ihr Misstrauen war ihr zuwider, der liebe Gott hatte sie leider mit keiner besonders luftigen Unbekümmertheit oder etwa einem Übermaß an Menschenvertrauen ausgestattet, denn er musste geahnt haben, was einmal aus ihr werden würde. Ihre Augen verengten sich prüfend, doch der Mann vorne links schien sich nicht beirren zu lassen, kein Blick in den Rückspiegel, kein Autogrammwunsch, offenbar auch kein Entführungsversuch, noch nicht einmal ein »Was ich Sie immer schon mal fragen wollte«. Dabei waren das genau genommen sogar die spannendsten Fragen. Und einige Fragen konnten ja so viel mehr aussagen als die Antworten darauf. Sie liebte gute Fragen. In ihrem Verbrauchermarkt, den sie immer noch regelmäßig höchstpersönlich besuchte, hatte eine Kundin an der Kasse einmal von ihr wissen wollen, ob es den italienischen Regierungschef im richtigen Leben wirklich gebe. Sie fand diese Frage äußerst interessant, es erleichterte den Umgang mit ihm fortan ungeheuerlich.

Nach etwa dreißig Minuten Fahrt bog das Taxi abrupt ab und fuhr auf eine Tankstelle zu. Der Fahrer tippte demonstrativ auf seinen fast leeren Tankanzeiger und löste den Anschnallgurt, noch bevor das Fahrzeug zum Stehen kam.

»Ich hol uns was Süßes.« Ihr Mann stieg fast zeitgleich mit dem Spanier aus.

Sie kurbelte das Fenster herunter. Ein strenger Benzingeruch schlug ihr entgegen, aber sie steckte den Kopf trotzdem hinaus, schaute sich um. Außer der Tankstelle und einer verlassenen Baustelle gab es hier kein Haus weit und breit, noch nicht einmal ein weiteres Fahrzeug. Sie war allein. Gab es auf La Gomera eine Untergrundbewegung, eine autonome Szene, Umweltaktivisten? Sie lauschte in die Landschaft, nahm nichts Verdächtiges wahr, räusperte sich, legte die Hand auf den Türgriff, zog ihn vorsichtig an. Eigentlich wäre sie gern ausgestiegen, einfach so, sich ein wenig die Füße vertreten, ein paar Worte mit den Menschen wechseln, wenn sie welche fand. Aber jetzt stieg ihr Mann schon wieder zu. So schnell.

»Es wird heiß werden heute, ist draußen schon ganz drückend. Möchtest du eins?« Er hielt Ihr eine Tüte Lakritzbonbons hin.

»Das ist nichts Süßes, das ist Lakritze.« Sie schaute in die Tüte, guckte ratlos, griff dann doch hinein, nahm ein Bonbon und biss zu. Das Lutschen hatte sie sich abgewöhnt. Als der Fahrer wieder zustieg, war ihr Mund bereits leer. So ging es bis zum Hafen, wo die Fähre schon wartete.

Sie hatten relativ wenig Gepäck dabei, um sich schneller und unauffälliger bewegen zu können. Angesichts der vielen Touristen, die sich bereits jetzt an Bord einfanden, wäre mehr, sehr viel mehr Gepäck allerdings unauffälliger gewesen. Es wurde geschleppt, geschoben, gezogen, dass die Füße vor lauter Transportgewicht keinen Halt mehr fanden in den Sandalen, und man mochte dabei eher an Auswanderung als an Urlaub denken.

Sie gelangte ans Oberdeck, wo es ruhiger war, und stellte ihre Reisetasche neben sich ab. Ihr Blick fiel auf eine Gruppe junger Mütter mit Kindern, die auf jemanden zu warten schienen. Eine wunderbare Kulisse war das, fand sie, hier hatte sich jemand Mühe gegeben, und sie lief mit ausgestreckter Hand auf sie zu.

»Um Himmels willen, komm weg da! Was tust du?« Ihr Mann stürzte von hinten auf sie zu und konnte sie in letzter Minute zurückhalten. Sie brauchte einige Zeit, um wieder zu sich zu kommen. Es war ein Aussetzer gewesen, irgendjemand hatte plötzlich die CD »Nähe demonstrieren« eingelegt, und sie war einfach losgelaufen. Ein Fehler im System. Aber nun war es zu spät.

»Mama, was will die Frau da von uns?«

Sie wollte sich abwenden und über die Schulter rufen: »Oh, Entschuldigung, ich habe Sie verwechselt.« Aber auch dafür war es jetzt zu spät.

Die Mutter des Kindes schwieg, schaute ungläubig, blickte sich um. Es war ein erbärmliches Gefühl, wenn Menschen schweigend und wie versteinert vor ihr stehen blieben oder wie Schatten an ihr vorbeihuschten, ohne jedoch den Blick von ihr zu lassen, statt einfach »Guten Tag« zu sagen. War das denn so schwer?

»Mama, die Tante hat ja Angst.« Die junge Frau brachte ihr Kind in Sicherheit und entfernte sich eilig. Die anderen Frauen und Kinder schlossen sich ihr an.

»Herrje, was ist in dich gefahren?« Ihr Mann würde sie bis zur Ankunft in Teneriffa nicht mehr aus den Augen lassen und sie mit dem Gesicht aufs Meer an der Reling postieren. Langsam, ganz langsam bekam sie eine Ahnung davon, was noch vor ihr liegen mochte. Ihr Handy summte – die ersten Agenturmeldungen des Presseamts trafen wohl in der Innentasche ihrer Wetterjacke ein.

Man konnte nicht behaupten, dass sie die Einzigen gewesen wären am Flughafen von Teneriffa. Deutsche, fast nur Deutsche. Wenn man Teil der Menge war, konnte das Bad in der Menge schon eine Zumutung sein, fand sie, als sie mit dem Menschenstrom durch die sich öffnenden Glastüren geschoben wurde. Drängeln hatte keinen Sinn, sie war darin auch ein wenig aus der Übung. Bei all dem Geschubse kamen ihr wissenschaftliche Simulationen in den Sinn, die gezeigt hatten, wie sich die Menge unter normalen Bedingungen selbst organisierte. Sie stolperte also mit, überließ sich der Gruppendynamik, und es klappte tatsächlich. In der Halle stürmten sie auf die Eincheckschalter zu. Sie versuchte, sich etwas mehr Freiraum zu schaffen, eine halbe Armlänge vielleicht, aber es gelang ihr nicht. Ihre Mundwinkel erreichten das Kinn. Von Unnahbarkeit keine Spur. Es war ein Kraftakt. Panik machte sich in ihr breit, unter ihrer Schirmmütze wurde die Stirn feucht. Vor Nähe hatte sie berufsbedingt keine Angst, man musste ein Sensorium für die Leute im Lande entwickeln und dies auch zeigen, auf sie zugehen, Brücken bauen. Aber hier gab es keinen Abstand, um Brücken zu bauen. Und wollte irgendjemand hier sie überhaupt sehen, wo doch alle durch sie hindurchzulaufen schienen? Sie suchte mit den Augen einen Fixpunkt am Horizont, aber in dieser Halle gab es keinen Horizont.

Das war er wohl, der Preis der Freiheit. Sie war nicht umsonst zu haben, dachte sie, die Freiheit vom Apparat, von all den helfenden Geistern, die ihr sonst jeden Wunsch von den Lippen ablasen und Korridore durch die Menge schlugen. Ja, hier und jetzt im Aeropuerto de Tenerife, in Caprihose und Sportschuhen, war die Freiheit gerade verdammt gemein zu ihr, trug verschwitzte Hemden und spitze Absätze.

Wo blieb die Würde, so ganz allgemein, von ihrer eigenen ganz zu schweigen? Sie schaute sich fragend um. Es blieb nur die Wahl zwischen Panik oder Paralyse. Sie entschloss sich spontan für die Paralyse, hielt sich am Griff ihrer Reisetasche fest und starrte regungslos nach vorn, als hielte ihr jemand eine Waffe ins Genick. Es würde schon alles irgendwie an ihr vorübergehen.

»Sind wir Economy gebucht?« Bei dieser Frage kam sie sich zwar ein bisschen unsouverän vor, doch sie war nun einmal ganz persönlich für sie und gerade jetzt von großer Bedeutung.

»Ja, sicher sind wir Economy gebucht. In der Business Class fallen wir doch auf.«

»Heißt das, wir gehen davon aus, dass uns all die Leute in der Economy Class weniger schnell erkennen als die wenigen in der Business Class und dass die Menge also keinen statistischen Faktor in Relation zur Wiedererkennungswahrscheinlichkeit hat?«

»Das könnte man behaupten.«

»Ist das nicht irgendwie traurig?«

»Nein, wieso?«

»Hm.« Ja, natürlich kannte sie das Volk, die Bürgerinnen und Bürger auf den Marktplätzen, auf langen Bänken mit einer Bratwurst in der Hand, mit einem wie auch immer gearteten Basisinteresse an ihrer Person. Aber politisch groß geworden war sie mit denen ja nun nicht gerade, ihre Anfänge hatten sich glücklicherweise nicht in Bezirksfeuerwehrhallen abgespielt, auf gespendeten Fliwatüüt-Kinderwippen oder beim Schlagbohren und Stichsägen in einzuweihenden Baumarktketten. Sie hatte höchstens Flugblätter geklebt, allein, aber gern. Wer war das also hier? Waren das überhaupt ihre Wähler? Wohl eher ihre Nichtwähler. Sie ertappte sich dabei, dass diese letzte Annahme sie fast schon wieder beruhigte, denn man konnte nicht sagen, dass sie in diesem Augenblick eine tiefe Sympathie für die Menschen um sie herum hegte – auch wenn sie in dieser Menge gar nicht auffiel, zu keiner anderen Nation gepasst hätte und insofern eben doch deren absolut perfekte Repräsentantin war. Es war besser, und damit beruhigte sie sich letztendlich, wenn man nicht allzu viel darüber nachdachte.

Der Ellenbogen traf ihren Hüftknochen mit vollem Schwung, und sie hätte zurückgeboxt, wenn nicht ihr vibrierendes Mobiltelefon sie gerade in diesem Augenblick abgelenkt hätte. Es war die erste SMS von Herrn Bodega: »Wo sind Sie, Chefin?«

»Ich bin hier, Heinz, watte mal, ich tu den Koffer da erst wech.« Die Frau mit den spitzen Knochen hinter ihr wuchtete in einem Anfall von Freizeitanarchismus ein großes Gepäckstück beiseite, damit ihr Mann schneller Richtung Schalter drängeln konnte.

Das geht so nicht! Sie hätte es fast laut gesagt, biss sich aber auf die Lippen. Es hätte auch keinen Unterschied gemacht, denn hier gönnte jeder nur einer einzigen Person Aufmerksamkeit: sich selbst. Insofern ging es doch sehr politisch zu, fand sie. Offenbar war man nicht in den Urlaub gefahren, um andere Menschen und andere Orte zu sehen, sondern vielmehr um sich selbst unter anderen Menschen an anderen Orten zu sehen. Herrje, wer rettete dieses Volk? Nein, sie hatte es längst aufgegeben, und jetzt wusste sie auch, warum. Sie ging einen Schritt zurück, zog die Schultern hoch und tippte: »Lieber Herr Bodega, wir haben uns auf den Weg gemacht. Also, ich glaube, wir schauen nach vorne. Und so wollen wir weitermachen. Gruß, die Ihrige.«

»Du musst aufschließen, sonst gehen wieder welche dazwischen!«

Sie schaute ihren Mann über die Schulter hinweg etwas länger an als sonst. War er jetzt einer von denen? Im Zug nach Wladiwostok würde das alles anders sein. Abteil. Kategorie Bolschoi-Platinum. Sie waren fast am Eincheck-Schalter angekommen, nur noch eine Person stand vor ihnen. Ihr Mann riss ihr den Pass aus der Hand, und sie entrüstete sich: »Ich bitte dich, ich dachte, ich würde ohne Organisationsstab reisen können. Man wird doch wohl noch alleine einchecken können.«

Er behielt die Pässe und Tickets zwischen seinen Fingern, dass die Kuppen weiß wurden: »Alle Männer machen das hier so. Wir wollen doch nicht auffallen.«

»Das sehe ich anders. Ich kenne mich aus mit ›allen Männern‹. Und schließlich steht mein Amt doch nicht als Berufsbezeichnung in meinem Pass, oder?«

»Pst, nicht so laut! Du hoffst doch nur, dass dich endlich einer erkennt.«

»Das ist gemein.« Sie hatte keine Lust mehr auf derartige Spielchen und gab vorerst nach, äußerlich zumindest, trat einen Schritt zurück. Sollte er nur machen. Sie konnte im passenden Moment jederzeit von hinten eingreifen. Sie wurde ruhig. Aber die gefühlte Temperatur um sie herum sank um mindestens zwanzig Grad.

Der Mitarbeiter des spanischen Bodenpersonals zog ihre Dokumente von der Theke zu sich herüber, ohne aufzuschauen. »Window or aisle?«

»One window, one aisle seat, please.«

Sie boxte ihm in die Rippen. »Ich will Gang. Ich kenne bereits die Kartografie aller Länder dieser Welt.«

»Du musst aus dem Fenster gucken, ob du willst oder nicht. Alle Frauen wollen das. Irgendjemand könnte deine Gesichtszüge erkennen.«

»Das ist doch albern.«

»Here you are, have a nice journey, move on please.«

Sie gingen weiter.

»Ich fasse es nicht.«

»Was ist denn?« Ihr Mann bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Touristenströme.

»Der hat mich nicht erkannt. Der kennt meinen Namen nicht. Der ist noch nicht einmal ins Grübeln gekommen, nicht einmal für einen kleinen Moment!«

»Na, Gott sei Dank. Wo um Himmels willen liegt das Problem?«

»Adenauer wäre das nicht so ergangen.«

»Huch, der gleich. Ja, also Adenauer fuhr wohl eher zum Boulespielen mit dem Auto über die Alpen oder so. Vergiss das Weitergehen nicht.« Er legte seine Hand auf ihren Rücken und schob sie ein wenig nach vorn.

Sie blieb wieder stehen. »Ich fasse es nicht. Niemand erkennt mich.« Jetzt brach es aus ihr heraus, und sie staunte im selben Moment über sich selbst: Das war es also, was ihr die ganze Zeit zu schaffen gemacht hatte: das Nicht-Erkannt-Werden, es war Segen und Fluch zugleich. Denn sie fühlte sich so gänzlich anders, als ihre Umgebung sie wahrnahm, bewegte sich in einer seltsamen Zwischenwelt, kam sich beobachtet vor, obwohl niemand sie ansah. Und das war schon ein wenig enttäuschend, fand sie.

»Was willst du denn von einem spanischen Flughafenbediensteten erwarten, um Himmels willen! Und nun geh doch bitte weiter.«

Sie blieb stehen. »Keiner erkennt mich hier!« Sie riss sich das Käppi vom Kopf. »Siehst du? Was tue ich nicht alles, um der Politik ein Gesicht zu geben! Und jetzt will niemand reingucken!«

»Herrje, pass doch auf, deine Haare!«

»Das ist mir ganz egal. Über die ist schon alles geschrieben worden.«

Es summte. »Chefin, ersuche Sie dringend um Standortangabe. WO SIND SIE? Bod«

Das war eine willkommene Ablenkung, und sie antwortete gleich: »Die Frage stellt sich für mich anders. Wir haben heute so einiges, also uns selbst, auf den Weg gebracht. Und diesen Weg werden wir weitergehen. Wir haben noch keinen Standort. Es ist alles in Ordnung, vertrauen Sie mir. Gruß, die Ihrige«

»Hat man Sie entführt? Bod«

»Nein, das würde niemand tun. Der Finanzhaushalt ist leer. Wir haben uns kurzerhand selbst entführt.«

Im Terminal für den Flug nach Barcelona ging es ihr zusehends besser. Die Touristenmassen lichteten sich, und die Spanier um sie herum wurden vom Kollegen regiert. Dafür trug sie keine Verantwortung.

Er betrachtete seine Frau aus den Augenwinkeln. Sie saß vornübergebeugt auf ihrem Sitz, versunken über ihrem Handy wie ein Teenager. Seit man ihr das mit den Textbausteinen erklärt hatte, kam sie nicht mehr los davon. Sie konnte immer noch nicht blind und unauffällig ihre SMS eintippen, hielt das Gerät mit beiden Händen fest, was ein wenig mühevoll aussah, obwohl es ihr keine Mühe bereitete.

Er war, das musste er zugeben, mehr denn je beunruhigt über ihre derzeitige Gemütsverfassung. Sie war doch vor dem Amt auch schon unbeaufsichtigt gereist. Er wusste nicht, warum sie jetzt einen solchen Staatsakt daraus machte. Gut, es war ein Unterschied, ob man morgens ins Institut oder in die Welt zu gehen hatte. Und trotzdem: Sie machte es ihm nicht immer leicht, ihr zu folgen, und das lag nicht an der Welt, sondern ein kleines bisschen auch an ihr, fand er. Er legte zu seiner eigenen Beruhigung seinen Arm um sie.

»Weißt du, der Flieger wird mit dir oder ohne dich fliegen. Und die Transsibirische Eisenbahn wird mit dir oder ohne dich fahren. Ist das irgendwie nicht auch ein beruhigendes Gefühl? Schalt doch einfach mal ab.«

Sie schien seine Worte überhört zu haben, war mit ihren Gedanken schon wieder weiter: »Hier, guck mal.« Sie hielt ihm das Handydisplay gegen die Brillengläser. »Das Spiel kann beginnen. Herr Bodega rüstet sich bereits gegen den KGB, den Mossad, die CIA, Libyen, die internationale Drogenmafia, den britischen Geheimdienst. Köstlich.«

Er seufzte kaum hörbar auf.

Der Flug verlief unauffällig, auch wenn er hätte schwören können, dass sie sich gewünscht hätte, diskret erkannt zu werden – um sich anschließend in die First Class hinaufstufen zu lassen. In solchen Momenten durchschaute er sie immer noch recht gut. Zumindest nahm er das an.

Nostalgisch reisen

Barcelona, 25 Grad Celsius, sonnig. Zumindest bekam man durch die Glasscheiben des Terminals eine Ahnung davon.

Fürst Wassili trat zu Anna Pawlowna heran, küsste ihr die Hand, wobei er ihr den Anblick seiner parfümierten, schimmernden Glatze darbot, und setzte sich dann in aller Seelenruhe auf einen Lehnensessel.

Das Handy summte wieder. Sie klappte das Buch zu und schaute zu ihrem Mann, der neben ihr eingeschlafen war, zu seinen Füßen ein Stapel Zeitungen.

»Chefin, ich werde jetzt den Sicherheitsapparat in Berlin informieren müssen. Bod«

»Ich verstehe Sie. Ich bin ganz auf Ihrer Seite. Aber wir machen das anders. Gruß, die Ihrige«

»Noch einmal: WO SIND SIE? Bod«

»Ich reite gerade mit Fürst Andrei die Truppenlinien ab. Gruß, die Ihrige«

»Wie? Bod«

»Mit Tolstoi, in Krieg und Frieden, Seite 228. Gruß, die Ihrige«

»Achten Sie auf die Aktivierung Ihres Krypto-Chips! Bod«

»Herr Bodega, wer bin ich denn? Natürlich tausche ich mich mit Ihnen verschlüsselt aus!«

»Sie tun das aber mit Worten! Werden Sie mir jetzt endlich sagen, wohin die Reise geht? Bod«

»Kannst du nicht mit dem Getippe aufhören? Die Leute gucken ja schon.« Ihr Mann war wach geworden.

»Ich sage ganz klar, ich tue das alles für uns. Die SMS an und für sich ist eine sehr interessante, zeitsparende Form der Kommunikation, und außerdem muss ich dafür sorgen, dass Bodega keinen Unfug anstellt. Im Flieger muss ich das Gerät sowieso abstellen.«

»Eben. Vielleicht wäre es besser gewesen, dich einfach mit einem eingebauten Peilsender durch die Welt zu schicken. Hat es bei deiner Kontrolle nicht gepiept?«

Sie schaute etwas säuerlich und ging jetzt aufs Ganze: »Herr Bodega, ich bin auf dem Weg nach Moskau und werde mich in den kommenden sechs Tagen im geschlossenen Abteil der Transsibirischen Eisenbahn aufhalten – also in Sicherheit, aber eben ohne Sie. Andere Leute müssen das auch schaffen. Gruß, die Ihrige«

»Warum hat man mich nicht informiert? Bod«

»Weil dies Urlaub und kein Versteckspiel ist. Jedenfalls betrachte ich das so.«

»Ich muss den Organisationsstab informieren.«

»Gar nichts müssen Sie. Gehen Sie eine Runde schwimmen.«

»Das kann ich nicht.«

»Natürlich können Sie schwimmen. Es gilt, sich den Herausforderungen, die vor uns liegen, zu stellen. Gruß, die Ihrige«

»Das kann mich meinen Job kosten. Bod«

»Ich klappe jetzt zu und schalte ab.«

Also Krieg und Frieden: Sie hatte lange überlegt, ob sie die knapp eintausendfünfhundertsechzig Seiten durch halb Europa tragen sollte, aber es war das im wahrsten Sinne schwerste und anspruchsvollste Buch, das sie auf die Schnelle hatte finden können. Man musste etwas Abwechslung ins Leben bringen, fand sie. Es schien ihr zudem die passende Lektüre zu sein für eine Reise durch die alten Landschaften Russlands, und das Werk würde sich auf dem Mahagoni-Klapptischchen ihres Abteils sicher gut machen.

Und dann würde sie ganz bei ihnen sein: bei Andrej, dessen Familie ihn tot wähnt, und seiner Frau, schwanger mit seinem Sohn, ach. Und als sie in den letzten Wehen liegt, kommt der tot geglaubte Andrej tatsächlich zurück und muss zusehen, wie seine Frau im Kindbett stirbt. Manchmal sprang sie vor auf diese Stelle im Buch.

»Mussten es denn unbedingt eintausendfünfhundert Seiten sein, Liebes?« Ihr Mann hatte die Schuhbänder gelockert und die Beine auf das Bordgepäck gelegt. »Sollen wir nicht ein bisschen reden? Weißt du, ich bin ja schließlich auch kein unbeschriebenes Blatt.« Sie schaute auf: »Sicher, ich kann wahrlich nicht sagen, dass es in meinem Leben einen Mangel an Intrigen, Bündnissen, Hoffungen und Enttäuschungen gäbe, den ich durch Lektüre kompensieren müsste, aber weißt du, es ist ganz gut, sich die Systematik dieser Dinge nochmals in ihrer ganzen Dimension vor Augen zu führen und sozusagen Napoleon über die kleine Schulter zu gucken, wenn er in Russland einmarschiert. Man weiß nie, wofür das gut ist.«

Er fing wieder an, tief ein- und auszuatmen, sein Kopf war nach vorne weggekippt, und sie las weiter.

»Ich liebe euch alle; ich habe niemandem Böses getan; wofür leide ich? Helft mir doch!«, sagten ihre Augen. Sie sah ihren Mann; aber sie begriff nicht, welche Bedeutung es hatte, dass er jetzt vor ihr stand. Fürst Andrei ging um das Bett herum und küsste sie auf die Stirn.

Und so verbrachte sie lesend die Stunden auf dem Flug nach Moskau, an so mancher Stelle durchaus um völkerfreundliche Neutralität bemüht, was ihr nicht immer ganz gelang.

Es war bereits halb sieben Uhr morgens, als sich die Kutusowsche Armee, die bei Olmütz lagerte, zu einer Truppenschau vor den beiden Kaisern, dem russischen und dem österreichischen, für den nächsten Tag zurecht machte und sie endlich in Moskau landeten.

Die Erleichterung über den bisher so unkomplizierten Verlauf der Reise schlug langsam um in diebische Freude, denn was ihnen nun bevorstand, war eine wirkliche Verheißung von Freiheit. Ungestörtsein war eine Sache, aber wirklich Verschwinden eine andere.

Am späten Nachmittag standen sie auf dem roten Teppich. Es war offensichtlich eine dünne Auslegeware, die an den äußeren Kanten flatterte und tiefe, dunkle Spuren an den Stellen hatte, wo sich alle Reisenden mit einem letzten Schritt in den Zug beförderten. Eine kleine Musikkapelle spielte russische Folklore, es wurde Krim-Sekt gereicht, und seine Frau sagte: »Das ist ein schöner Teamgedanke und stimmt ein auf die Reise.« Er musste an die Frauengruppe auf der Fähre denken und schob sie galant Richtung Abteil, bevor sich irgendjemand näher mit ihrem Gesicht beschäftigen konnte oder gar sie sich mit den Mitreisenden.

Im Innern roch es nicht nach Zug, sondern tatsächlich noch nach Eisenbahn, als hätte jemand ein Raumspray »Transsibirischer Orient-Express« oder »Charme der Zwanziger Jahre« versprüht. Er holte tief Luft, denn Charme konnte nie schaden, und strich im Vorbeigehen mit der flachen Hand über die Mahagoni-Verkleidungen der Abteiltüren. Gepflegte Patina, wohin er auch blickte. Es roch auch schon ein wenig nach deftiger russischer Küche, die mit Sicherheit serviert werden würde, noch bevor sie das Moskauer Umland hinter sich gelassen hatten.

Er hatte an nichts gespart, hatte lange geschwankt zwischen der Abteilkategorie »Nostalgie-Komfort« in einem Wagenteil, der unter Nikita Chruschtschow für die sowjetische Regierung gebaut worden war, und eben jener Bolschoi-Kabine, in der sie jetzt standen. Das war zwar die modernere, aber vor allem höchst zweckmäßige Variante, mit Kleiderschrank, eigener Dusche und genügend 220-Volt-Steckdosen für Fön und Handy-Aufladung. Der eigens für sie abgestellte Servicemitarbeiter war mit einer entsprechenden finanziellen Zuwendung zu absolutem Stillschweigen verpflichtet worden. Man war ja schließlich nicht irgendwer, auch wenn man so tat.

Er schaute zu ihr hinüber: »Na, wie gefällt es dir?«

»Oh, dies wird eine Reise voller Höhepunkte werden, und wir dürfen auf ihren Verlauf gespannt sein.« Sie stand noch ein wenig verloren in der Mitte des Abteils und schaute unschlüssig auf die sich gegenüber liegenden Sitzplätze. Er kannte das. Bevor sie gedanklich beim Worst-Case-Szenario (vorwärts fahren) ankommen würde, musste er sie unterbrechen. »Versuch dich doch einfach auf die positiven Aspekte eines Sitzes in Fahrtrichtung zu konzentrieren.«

»Also, ich mag Rückwärtsfahren auch ganz gern. Hm.«

Für solche Fälle gab es einfache Lösungsmöglichkeiten. Er nahm eine Münze und warf sie. Kopf. Sie würde vorwärts fahren müssen.

Sie wusste, dass Bodega und sein Team so schnell nicht würden nachreisen können. Er würde es wahrscheinlich auch gar nicht wagen, wenn sie es nicht wollte, denn absolute Transparenz erforderte absolute Loyalität im engsten Kreis. Das gesamte innere System hätte sonst gar nicht funktionieren können. Doch er war europaweit gut vernetzt, hätte die Staffel an seine russischen Kollegen abgeben können, für die allerdings die Transsibirische Eisenbahn mit einer inkognito reisenden Regierungschefin darin zu schön gewesen wäre, um wahr zu sein. Nein, so dumm würde er nicht sein. Und die Wege Sibiriens waren weit. Doch sie würden kürzer werden, wenn sie sich sie vornahm.

»Herr Bodega, hallo? Schwimmen Sie noch? Gruß, die Ihrige«

»Sie fahren aber nicht weiter in die Mongolei oder gar bis Peking? Bod«

»Mongolei? Putscht die Opposition daheim? Gibt es Aufstände von sogenannten Parteifreunden, die sich in der Sommerpause in rote Sessel unter freiem Himmel setzen, sodass ich in der Mongolei Exil suchen müsste?«

»Wo genau werden Sie den Zug verlassen?«

»Also, ich glaube, es muss dann entschieden werden, wenn es entschieden werden muss. Gute Nacht, Herr Bodega!«

»Gute Nacht, Chefin. Ich erwarte morgen früh weitere Informationen von Ihnen. Wer passt auf Sie auf? Bod«

»Mein Mann.«

»Hat er eine Nahkampfausbildung? Bod«

»Ja, Herr Bodega, die hat er. Gute Nacht.«