Die Elbe - Uwe Rada - E-Book

Die Elbe E-Book

Uwe Rada

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Europäische Kulturgeschichte an der Elbe entlang erzählt

Die Elbe ist nicht nur ein großartiger Naturraum, sie ist auch eine europäische Lebensader und lebendige Geschichte im Fluss. Uwe Rada nutzt diesen Strom wie eine Perlenkette, auf die er kleine Geschichten und große Geschichte über außergewöhnliche Orte, besondere Menschen, über Handel und Umwelt, Häfen und Literatur aufzieht.

Als deutsch-deutscher Fluss und als tschechisch-deutscher Fluss verbindet Die Elbe verschiedene Erinnerungsorte zwischen West und Ost. Vor allem aber rückt sie als Naturraum und zunehmend beliebtes Ziel des Kulturtourismus immer stärker in den Blick. Im Einzugsgebiet der Elbe mit seinen Städten Prag, Dresden, Magdeburg und Hamburg konstituiert sich ein Stück Mitteleuropa neu. Indem Uwe Rada dem Lauf des Flusses und seiner Geschichte folgt, gelingt ihm ein außergewöhnlich persönliches Buch über diesen Strom und seine Vergangenheit. Er beschreibt wie das Ahoj nach Tschechien kam und der Moldauhafen nach Hamburg, und er schildert eine spektakuläre Fluchtgeschichte aus seiner eigenen Familie mitten im Kalten Krieg.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 397

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Uwe Rada

Die Elbe

EUROPAS GESCHICHTE IM FLUSS

Siedler

Gefördert wurde dieses Buch durch einen Aufenthalt in der Stipendiatenstätte Schreyahn im Wendland

Erste Auflage

März 2013

Copyright © 2013 by Siedler Verlag, Neumarkter Str. 28, 81673 München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg

Karte: Peter Palm, Berlin

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-09237-5V002

www.siedler-verlag.de

In Erinnerung anmeinen Vater und meine Vorfahren am böhmischen Lauf der Elbe

Inhalt

PROLOG

Flucht auf der Elbe Eine Familiengeschichte

DER 9. APRIL 1948

ELBSCHIFFER AUS LIEBE

BÜRGERLICHER POLITIKER

DER ELBKAHN MIT DER NUMMER ČSPL 346

PERSONA NON GRATA

DER FEBRUARPUTSCH 1948

FLUCHT AUF DER ELBE

ERINNERN AN DEN KALTEN KRIEG

KAPITEL EINS

Von Augustus bis Adenauer Die Elbe und ihre Grenzen

KONRAD ADENAUERS ELBE

SZENEN EINES FLUSSES

EIN RÖMER AN DER ELBE

DIE GRENZFESTE KARLS DES GROSSEN

DIE SCHLACHT BEI LENZEN

MAGDEBURG WIRD METROPOLE

OSTELBIEN UND BISMARCK

ELBEFAHRT DURCH DEUTSCHLAND

KAPITEL ZWEI

Sachsens Glanz und Preußens Gloria Warum Friedrich II. Dresden zerstörte

STAATSBESUCH IN DRESDEN

SACHSENS GLANZ UND PREUSSENS GLORIA

YIN UND YANG AN DER ELBE

DRESDENS INFERNO

KAPITEL DREI

Rausch und Nüchternheit Der Dualismus an der Elbe

DIE SCHLACHT BEI KÖNIGGRÄTZ

DIE SCHLACHT UM MAGDEBURG

DAS BAROCKE FEUERWERK

WEICHES SANDSTEINDRESDEN

DIE HANSE AN DER ELBE

LUTHER IN WITTENBERG

MACHTVERSCHIEBUNGEN AN DER ELBE

NAPOLEON AN DER ELBE

WALLFAHRT AN DER ELBE

HUGO JUNKERS UND DAS BAUHAUS

VOM BAUHAUS ZUR BAUAUSSTELLUNG

KAPITEL VIER

Nachglühen Die Elbe als literarischer Erinnerungsort

KEIN SCHUSS FÄLLT MEHR

DIE TÖDLICHE GRENZE

DIE GEFAHR DER IDYLLE

DIE SCHLACHT BEI GORLEBEN

DIE DÖMITZER EISENBAHNBRÜCKE

KAPITEL FÜNF

Elbe und Moldau Deutscher Fluss, tschechischer Fluss?

DER TSCHECHISCHE NATIONALFLUSS

DIE DEUTSCHE ELBE

ALLEGORIEN VON ELBE UND MOLDAU

MYTHOS MOLDAU

KAMELE AUF DEN ELBWIESEN

DIE EUROPÄISCHE STADT MĚLNÍK

KAPITEL SECHS

Der Fluch der Als-ob-Stadt Theresienstadt sucht seine Zukunft

ASCHE IN DIE EGER

DIE ALS-OB-STADT

KRIEGSHERR AN DER ELBE

SOLDATEN UND ZIVILISTEN

DIE ELBE ERWECKT ZU NEUEM LEBEN

DIE BOTSCHAFT VON TEREZÍN

KAPITEL SIEBEN

Aussig in Ústí nad Labem Die Elbe verbindet

DAS MASSAKER VON AUSSIG

DIE BRÜCKE ÜBER DIE ELBE

DIE SOZIALISTISCHE STADT

DAS VERSCHWUNDENE AUSSIG

DRESDEN NÄHER ALS PRAG

DIE AUFARBEITUNG DES MASSAKERS

EINE STADT SUCHT SICH SELBST

»UNSERE DEUTSCHEN«

KAPITEL ACHT

Der Kampf ums Wasser Hamburg und die Unterelbe

ÜBERFALL AUF DEN GAMMERDEICH

HAMBURGS AUFSTIEG ZUR HANDELSMACHT

DER KAMPF UM DIE SÜDERELBE

DER WASSERKRIEG UM GLÜCKSTADT

DER PORTO FRANCO

DIE HAMBURGER ZOLLFREIHEIT

HAMBURG UND BISMARCK

DER AUSBAU DES HAMBURGER HAFENS

DER JADE-WESER-PORT

KAPITEL NEUN

Böser Ort, guter Ort Eine kleine Umweltgeschichte der Elbe

DER »BÖSE ORT«

DIE DEUTSCHEN UND DIE DEICHE

DEICHBAU AN DER ELBE

DIE ELBE ALS WASSERSTRASSE

DIE SCHWARZE ELBE

DEUTSCHLAND VERSUS TSCHECHIEN

DER GUTE ORT

KAPITEL ZEHN

Von der Sächsischen Schweiz zum deutschen Amazonien Die Erfindung der Elbe

DIE ENTDECKUNG DER SÄCHSISCHEN SCHWEIZ

AUCH BÖHMEN BEKOMMT SEINE SCHWEIZ

LANDSCHAFTEN AN DER ELBE

SCHIFFE, NICHTS ALS SCHIFFE

DEUTSCHES AMAZONIEN

EPILOG

Moldauhafen oder Geschichte im Fluss

MOLDAUHAFEN I

FLÜSSE IN DER GESCHICHTE

GESCHICHTE IM FLUSS

BÖHMEN AM MEER

DIE TSCHECHEN UND IHR MEER

DAS AHOJ IN BÖHMEN

MOLDAUHAFEN II

Dank

Literatur

Zeittafel

Bildteil

PROLOG

Flucht auf der Elbe Eine Familiengeschichte

Josef Novák und seine Frau Štěpánka haben mit ihrem Elbkahn ČSPL 346 ein Stück unbekannte Elbgeschichte aus dem Europa des Kalten Krieges geschrieben.

DER 9. APRIL 1948

Als Ladislav Karel Feierabend mit seiner Familie in der Nacht vom 8. auf den 9. April 1948 in Děčín an der Elbe eintrifft, ist der Kalte Krieg in vollem Gange. Drei Wochen zuvor hat die Sowjetunion aus Protest gegen das Londoner Sechsmächteabkommen den Alliierten Kontrollrat verlassen. Der – ohnehin dünne – Gesprächsfaden zwischen den Siegermächten war gerissen. Zwei Monate später sollten die Westalliierten die Freiheit West-Berlins verteidigen und auf die sowjetische Blockade mit der Luftbrücke antworten.

In Prag hatte die Kommunistische Partei von Klement Gottwald am 25. Februar die Macht an sich gerissen. Nach diesem Putsch war neben Polen und Ungarn nun auch die Tschechoslowakische Republik kommunistisch. Noch am selben Tag war die Geheimpolizei auf der Vořechovka aufgetaucht, einem Villenviertel im Westen von Prag, um Feierabend zu verhaften. Doch den Politiker der konservativen Agrarierpartei, der in der Londoner Exilregierung unter Edvard Beneš noch Finanzminister gewesen und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Unperson geworden war, trafen sie nicht an. Um einem Schauprozess und einem möglichen Todesurteil zu entgehen, hatte Feierabend längst beschlossen, in den Untergrund zu gehen und schließlich mit seiner Familie in den Westen zu fliehen.

An jenem Apriltag des Jahres 1948 ist es soweit. Ein Mittelsmann namens Tonda hatte Kontakt zu Josef Novák aufgenommen, einem Elbschiffer, der die nötigen Papiere hatte, um mit seiner Frau Štěpánka von Prag über die Moldau und die Elbe bis Hamburg zu fahren. In Děčín, auf Deutsch Tetschen, sollten die Nováks Ladislav Feierabend, seine Frau Hana, die gleichnamige Tochter und Sohn Ivo an Bord ihres Elbkahns mit dem Kennzeichen ČSPL 346 holen. Die Spannung war mit Händen zu greifen, wie sich Ladislav Feierabend in seinen Memoiren erinnert: »In der einen Stunde, die wir nach Tetschen fuhren – für mich bedeutete sie eine Ewigkeit –, war ich mit meinen Nerven am Ende. Es überkam uns jedoch ein Gefühl der Befreiung, als wir um vier Uhr in der Früh in den Tetschener Hafen fuhren und Tonda erklärte, er sehe Nováks Schiff. Es war Freitag, der 9. April 1948, wieder ein glücklicher Freitag in meinem Leben.«

Einundsechzig Jahre später treffen mein Bruder und ich in Prag Feierabends Sohn Ivo, der bei der Flucht auf der Elbe einundzwanzig Jahre alt war. Über der Moldau kämpft sich eine schwache Oktobersonne durch den Dunst. Wir gehen mit Ivo am Ufer entlang, sein Blick sucht die Prager Burg. »Am Tag des Putsches«, erzählt er, »habe ich hier mit einer Gruppe Studenten protestiert. Es war eine gespenstische Szenerie. Auf der einen Seite die Demonstranten, auf der anderen die kommunistische Miliz.« Wir kehren ein in das legendäre, inzwischen renovierte »Café Slavia« gegenüber dem Prager Nationaltheater. Der Oberkellner hat nichts gegen einen Filmdreh an einem der Kaffeehaustische einzuwenden. Ivo Feierabend wird der Hauptdarsteller unseres Dokumentarfilms über die Flucht der Familie in den Westen sein. Der emeritierte Professor der Politikwissenschaften an der San Diego State University in Kalifornien erinnert sich nicht nur an die Tage des Februarputsches in Prag, sondern auch an die Nováks, die die Flucht seiner Familie in den Westen ermöglichten: »Wenn ich mir das Foto von Josef Novák anschaue, scheint es, als würde er hier mitten im Café sitzen. Ich würde ihn sofort erkennen. Er war wie seine Frau ein fröhlicher Mensch. Natürlich hatten wir Angst. Noch heute bewundere ich ihre Fähigkeit, völlig ruhig und normal mit der Situation umzugehen. Sie hätten ja wegen uns auffliegen können.«

ELBSCHIFFER AUS LIEBE

Die Flucht auf der Elbe ist eine bislang unbekannte Geschichte aus dem Europa des Kalten Krieges. Sie führte zwei Männer zusammen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Josef Novák wurde am 3. April 1912 in Dittersbach, auf Tschechisch Jetřichov, als Sohn eines Tschechen und einer Deutschen geboren. Damals gehörten die Sudeten noch zur Habsburgermonarchie. Novák hatte vier Geschwister: Agnes, Maria, Hilde und Ladislav. Seinen Vater Josef verschlug es nach der unehrenhaften Entlassung aus dem Militär ins deutschsprachige Starkstadt/Starkov, wo er eine Anstellung als Herrschaftskutscher der Familie von Kaiserstein fand. Dort lernte er seine spätere Frau, Maria Saukel, kennen.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam die Familie auf der Suche nach Arbeit zunächst nach Pilnikau/Pilníkov, später nach Trautenau/Trutnov. Am Fuße des Riesengebirges fand sie eine neue Heimat. Dort herrschte ein gutes nachbarschaftliches Einvernehmen, weiß Nováks Nichte Hana Slávišová: »Damals gab es keine Probleme, wenn Tschechen und Deutsche in einem Haus gewohnt haben. Sie haben sich gut vertragen. Sicher gab es auch Ausnahmen, aber die meisten Leute, die gewöhnlichen Leute, machten keinen Unterschied, ob jemand ein Deutscher oder ein Tscheche ist.«

Dieses Einvernehmen endete auch nicht, als sich Tschechen und Deutsche nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs in der neuen Tschechoslowakischen Republik wiederfanden. In Trautenau an der Aupa, einem linken Nebenfluss der Elbe, ging der junge Josef Novák bei einem Textilwarenhändler in die Lehre. 1936 kam er zum tschechischen Militär und verpflichtete sich als Berufssoldat. Zwei Jahre später lernte er Štěpánka kennen. Die beiden wollten heiraten. Weil Novák vom Verteidigungsministerium keine Heiratsgenehmigung erhielt, quittierte er den Dienst. Mit seiner jungen Frau heuerte er in Prag bei der tschechischen Binnenreederei Československá Plavba Labská (ČSPL) an.

BÜRGERLICHER POLITIKER

Als Josef Novák Binnenschiffer wurde, war Ladislav Karel Feierabend bereits Justizminister der Tschechoslowakischen Republik. Feierabend wurde am 14. Juni 1891 in Kostelec nad Orličí/Adlerkosteletz geboren. In Königgrätz an der Elbe studierte er Jura und Wirtschaft. Ihm und seiner Frau Hana wurden 1927 der Sohn Ivo, zwei Jahre später die Tochter Hana geboren. Die Feierabends pendelten zwischen ihrem Familiensitz auf Gut Miröschau und Prag. Doch dann kamen das Münchner Abkommen 1938, der Anschluss des Sudetenlandes an Hitler-Deutschland und im Frühjahr 1939 der Einmarsch der Deutschen in die so genannte Rest-Tschechei.

Für Ladislav Feierabend begannen dramatische Jahre, erinnert sich Sohn Ivo: »Mein Vater musste nicht nur 1948 aus Prag fliehen, sondern schon einmal vorher, das war 1940. Nach dem Einmarsch der Deutschen war er Mitglied der Protektoratsregierung geworden. Gleichzeitig baute er Kontakte zum tschechischen Widerstand auf. Als das aufflog, musste er das Land verlassen – und ging zu Edvard Beneš nach London.«

Anders als Josef Novák stammte Feierabend nicht aus dem tschechisch-deutschen Milieu, sondern aus einer bürgerlichen tschechischen Familie. Die Gründung der Tschechoslowakischen Republik bot ihm daher ungeahnte Aufstiegschancen. Der promovierte Jurist wurde 1930 Generaldirektor der »Einheitszentrale der Wirtschaftsgenossenschaften« und Vorsitzender der »Prager Produkten-Börse«. Mit der Ernennung zum Präsidenten des tschechoslowakischen Landwirtschaftsverbandes im Jahr 1934 war der Weg in die Politik eingeschlagen. Am 5. Oktober 1938 wurde er zum Justizminister berufen.

Eine Woche zuvor war das Münchner Abkommen unterzeichnet worden, dem der »Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Verwaltung der sudetendeutschen Gebiete« folgte. Das Sudetenland wurde von den Deutschen besetzt. Als Feierabend als Justizminister der Regierung Beran wenig später vereidigt wurde, hatte die Tschechoslowakei ein Drittel ihres Staatsgebiets verloren. Feierabend habe versucht, das Beste daraus zu machen, erklärt der tschechische Publizist Jaroslav Šonka: »Ladislav Feierabend war jemand, der nach dem Münchner Abkommen nach Auswegen suchte.«

Auch als die Nazis am 15. März 1939 in Prag einmarschierten, zeigte sich Feierabend kompromissbereit – zumindest nach außen. Unter den Ministerpräsidenten Rudolf Beran und Alois Eliáš blieb er Minister in der von den Deutschen eingesetzten Protektoratsregierung. In seinen Memoiren verteidigte er diesen Schritt unter anderem damit, dass das Protektorat das einzige Land unter nazistischem Einfluss gewesen sei, das keine antijüdischen Gesetze erlassen habe. Doch insgeheim baute er Kontakte zum tschechischen Widerstand auf. Das Doppelleben flog auf. Im Februar 1940 musste Feierabend über Ungarn, Jugoslawien und Frankreich nach Großbritannien fliehen. Dort wurde er in der Exilregierung unter Beneš Finanzminister. Er vertrat sein Land unter anderem bei der Gründung des Internationalen Währungsfonds IWF in Bretton Woods.

Nach dem Attentat des tschechischen Widerstands auf den stellvertretenden Reichsprotektor Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, wurden Feierabends Vater sowie seine Frau und der Bruder mit seiner Familie am 1. Juli 1942 verhaftet und ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Hana Feierabend überlebte den Krieg im KZ Ravensbrück, sein Vater starb kurz nach der Befreiung im KZ Dachau.

DER ELBKAHN MIT DER NUMMER ČSPL 346

Auch Hana Slávišová, die Nichte von Josef Novák, wird in unserem Film eine Rolle spielen. In ihrer Wohnung am Rande von Trutnov serviert sie Kaffee und süßes Gebäck. Aleš, ihr Mann, hat in einem Schuhkarton die Schifffahrtserlaubnis der Nováks gefunden. Stolz hält er das Patent in der Hand. »Die Eintrittskarte in den Westen«, sagt er, »und natürlich der Rückfahrschein.«

Die Geschichte des Elbkahns ČSPL 346 ist ebenfalls eine Geschichte aus dem Kalten Krieg.

Bei den Beratungen über die Nachkriegsordnung in Europa auf der Potsdamer Konferenz stand auch die Zukunft der Wasserstraßen auf der Tagesordnung. Allerdings hatten US-Präsident Harry S. Truman und der britische Premier Winston Churchill vor allem die Schifffahrt auf dem Rhein, auf der Donau und der Oder im Sinn. Für diese drei Ströme wurden die Bestimmungen des Versailler Vertrags, der die Internationalisierung der Wasserstraßen regelte, ausdrücklich bestätigt. Elbe und Moldau dagegen schafften es nicht auf die Potsdamer Agenda. Die tschechoslowakische Schifffahrt, die angewiesen war auf einen freien Zugang zum Hamburger Hafen und zur Nordsee, fand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs de jure in einem rechtsfreien Raum statt. De facto blieb die Elbe für Schiffe aus der ČSR frei zugänglich. Da sowohl Hamburg als Hafen als auch die Behörden in Prag ein großes Interesse daran hatten, wurden die rechtlichen Bedenken einfach ignoriert. Erst mussten jedoch die Kriegsschäden an der Wasserstraße beseitigt werden, und die waren erheblich, berichtet Ivan Jakubec in seinem Buch Schlupflöcher im Eisernen Vorhang: »Um die Schiffbarkeit wieder herzustellen, wurde in der Zeit vom 14. Juni bis 28. August 1945 eine längere Versuchs- und Besichtigungsfahrt auf der Elbe bis nach Magdeburg unternommen. Dabei stellten die Fachleute fest, dass von den 34 Elbebrücken bis dahin 14 ganz zerstört und weitere beschädigt worden waren, auf Grund lagen 131 gesunkene Schiffe.«

Vor allem die tschechischen Reeder beklagten große Verluste bei den Binnenschiffen: »Nach einer Bilanz vom 1. September 1945 befanden sich von 221 eigenen Schiffen 114 außerhalb des Territoriums der Tschechoslowakei. Insgesamt waren 37 Binnenschiffe beschädigt und weitere 35 völlig zerstört. Im Vergleich zum 1. Januar 1939 hatte es einen Verlust von 70 Wasserfahrzeugen gegeben.«

Trotz des großen wirtschaftlichen Interesses zog sich die Wiederaufnahme des Schiffsverkehrs bis September 1945 hin. Die erste Fahrt ging von Prag nach Schönebeck bei Magdeburg, wo die Kähne mit dem in der ČSR dringend benötigten Salz aus den Salinen in Mitteldeutschland beladen wurden. Regulär wurde die Schifffahrt zwischen Prag und Hamburg erst im November 1945 wieder aufgenommen. Fortan verkehrten sechs Motorgüterschiffe zwischen den beiden Städten – sehr zur Freude der Neuen Hamburger Presse, die zuvor beklagt hatte, dass Hamburg von seinem Hinterland abgeschnitten sei.

Das größte Hindernis stellten schon bald nicht mehr die Schiffswracks auf dem Elbgrund dar, sondern die fehlenden Grenzregelungen zwischen der ČSR und den von den Sowjets beziehungsweise den Briten besetzten Zonen. Vor allem die Sowjetische Militäradministration (SMAD) behinderte immer wieder die Durchfahrt der tschechoslowakischen Schiffe durch die Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Erst bei Verhandlungen auf höchster Ebene gelang im April 1946 der Durchbruch – Stalin persönlich hatte die Ausgabe von Passierscheinen für die Binnenschiffer angeordnet, die an der Grenze bei Hřensko/Herrnskretschen in die SBZ einreisen wollten. Für die ČSR bedeutete dies die Rettung aus höchster Not, denn die meisten Rohstoffe waren inzwischen knapp geworden.

Auch Josef Novák setzte 1946 seine Arbeit als Elbschiffer fort. Er und seine Frau konnten sich sogar einen Traum erfüllen und einen eigenen Kahn erstehen. Das Schiff, das später das Kennzeichen ČSPL 346 trug, war 1906 in der Werft Dresden-Uebigau vom Stapel gelaufen. Das Schifffahrtsregister verzeichnete: »Länge über Steven: 76 Meter. Größte Breite auf Spanten: 10,50 Meter. Tiefgang mit 1000 Tonnen Ladung: 1,90 Meter.«

1948 erhielten Josef und Štěpánka die Genehmigung, Güter durch die Sowjetische Besatzungszone nach Hamburg zu transportieren. Doch das Glück währte nicht lange. Unmittelbar nach dem Februarputsch 1948 wurde die bis dahin private und genossenschaftliche Binnenschifffahrt auf Moldau und Elbe verstaatlicht. Aus der Československá plavební akciová společnost Labská (ČPSL), der tschechoslowakischen Elbe-Schifffahrts-Aktiengesellschaft, wurde die Československá plavba labská (ČSPL), die tschechoslowakische Elbe-Schifffahrt. Der Kahn der Nováks war nun registriert als ČSPL 346. Vier Jahre später kam auch die Oderschifffahrt unter staatliche Regie, und die ČSPL wurde in ČSPLO umbenannt.

Welche wirtschaftlichen Auswirkungen die Verstaatlichung der Elbeschifffahrt für die Nováks hatte, können Hana und Aleš nicht sagen. Tatsache ist aber, dass Novák unmittelbar nach dem Februarputsch und der Gründung der ČSPL Kontakt zu Ladislav Karel Feierabend und seiner Familie aufnahm.

PERSONA NON GRATA

Feierabend kehrte nach dem Krieg aus dem Londoner Exil nach Prag zurück. Doch sein Aufenthalt dort stand unter keinem guten Stern. In ihrem Kaschauer Programm, eine Art Roadmap zur Übernahme der kommunistischen Herrschaft, verbot die Nationale Front, ein Zusammenschluss von Kommunisten, Sozialdemokraten und Nationalen Sozialisten, die konservative Agrarierpartei. Mehr noch: Alle Politiker, die den Regierungen der Zweiten Republik und der Protektoratsregierung angehört hatten, sollten sich vor einem Nationalgericht verantworten. Feierabend war also gewarnt. In seinen Memoiren schrieb er. »Es konnte mir kein schlimmerer politischer Empfang zuteil werden.«

In der neuen Republik gab es für den homo politicus Feierabend keine Zukunft. Er wurde Privatmann. Doch wovon sollte er leben? Einen Antrag auf Rückübertragung des Gutes, auf dem die Familie bis 1942 gelebt hatte und das von den Nazis konfisziert worden war, lehnte die Nationale Front ab. Als Feierabend diesbezüglich bei dem kommunistischen Landwirtschaftsminister Ďuriš vorstellig wurde, herrschte dieser ihn an: »Das würde noch fehlen, dass wir Ihnen den Grundbesitz zurückgeben, während wir ihn anderen Agrariergrößen nehmen.«

In der Agrarkooperative, die er in der Zwischenkriegszeit aufgebaut und als Direktor geleitet hat, durfte Feierabend auch nicht mehr arbeiten. So blieb ihm nichts anderes übrig, als die ihm zugestandene Entschädigung anzunehmen. Allerdings blieb der Familie noch die Villa im Vorort Vořechovka, in der bis April 1945 die Führung der Sowjetarmee logiert hatte, sowie das Landgut Miröschau in der Nähe von Pilsen. Feierabend galt als unerwünschte Person. In seinen Memoiren schreibt er dazu: »Noch schlimmer als unsere wirtschaftliche Situation war die gesellschaftliche Stellung von mir und meiner Familie. Viele ehemalige Freunde und Bekannte wichen uns auf der Straße aus. Wenn sie uns trafen, gingen sie schnell auf die andere Seite und taten, als wenn sie uns nicht sehen würden.«

Das Land, das Feierabend 1940 auf der Flucht vor den Nazis verlassen hatte, stand nun unter dem Einfluss Stalins. Die Verantwortung dafür trug nicht zuletzt Edvard Beneš. Der Präsident der Exilregierung, vor dem Einmarsch der Deutschen ein bürgerlicher Demokrat, hatte sich nach dem Münchner Abkommen enttäuscht vom Westen abgewandt und all seine Hoffnung auf die Sowjetunion gesetzt. 1943 unterzeichnete er in Moskau einen Freundschaftsvertrag mit Stalin. Wenn schon die westlichen Alliierten nicht für den Schutz der ČSR sorgen konnten, so sein Kalkül, müsse es eben die Sowjetunion richten.

Beneš war davon überzeugt, dass die Deutschen die größte Bedrohung darstellten. Folgerichtig kehrte der alte und neue Präsident nicht mit den Amerikanern in sein Land zurück, die vom Westen her nach Pilsen vorrückten, sondern flog im März 1945 mit der Exilregierung von London nach Moskau. Dort bestieg er am 31. März 1945 auf dem Kiewer Bahnhof einen Zug, der ihn über die Ukraine in die Slowakei brachte. In Kaschau, slowakisch Košice, bildete er eine provisorische Regierung. Diese trug das dort verabschiedete Kaschauer Programm der Slowaken mit. Auch weil die Slowakei offen mit einem Beitritt zur Sowjetunion liebäugelte, suchte Beneš die Nähe zu den Kommunisten – und hoffte so, die Einheit des Landes zu retten.

Ladislav Feierabend dagegen kehrte als einziger Minister der Exilregierung vom Westen in die Heimat zurück. Schon das machte ihn den neuen Machthabern verdächtig, sagt der tschechische Publizist Jaroslav Šonka: »Wenn man jemanden eliminieren will, dann zeichnet man in einer totalitären Gesellschaft ein entsprechendes Bild von ihm. Plötzlich hieß es also über Feierabend: Er kollaborierte mit den Deutschen; er war ins imperialistische Ausland geflüchtet. Das hat ihn gefährdet.«

Feierabends Sohn Ivo hat die Atmosphäre der Angst bis heute nicht vergessen: »Gleich nach dem Krieg, in den Jahren 1945 und 1946, wurde mein Vater massiv angegriffen. Sie brandmarkten ihn als Kapitalisten, Imperialisten, als Reaktionär. Unser Leben unter den Kommunisten war ziemlich unangenehm. Die Agrarier wurden der Kollaboration bezichtigt. Was für ein Unsinn.«

Am 2. April 1945 empfing Edvard Beneš seinen in Ungnade gefallenen ehemaligen Minister. Bei der Begegnung in der Prager Burg habe der Präsident ihm erklärt, »dass die politische Situation nicht gut sei. In Moskau seien die demokratischen Parteien dem Druck der Kommunisten unterlegen, der durch die Unterstützung der Sowjetunion und der Roten Armee verstärkt worden sei, und er als verfassungsmäßiger Präsident habe nicht die Möglichkeit gehabt, sich ihren Beschlüssen entgegenzustellen, obwohl er mit vielem nicht übereingestimmt habe.« Immerhin stellte Beneš Feierabend seinen persönlichen Schutz in Aussicht: »Der Präsident sprach lange über meine persönliche Stellung. Er betonte, dass ich für ihn der geblieben sei, der ich in London war, und sprach sein Bedauern über die Passage des Kaschauer Programms aus, der zufolge ich vor ein Nationalgericht gehöre. (…) Vor unserem Auseinandergehen lud der Präsident meine Frau und mich zu einem privaten Mittagessen auf die Burg ein und sagte, er werde veröffentlichen lassen, dass er mich empfangen habe.«

Feierabends Wunsch nach Zulassung einer neuen Agrarierpartei entsprach Beneš nicht. Das stand wohl auch nicht mehr in seiner Macht.

DER FEBRUARPUTSCH 1948

Die Vořechovka, das noble Villenviertel nordwestlich der Prager Burg, wurde im 18. Jahrhundert im französischen Stil bebaut. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde die Gartenstadt der Hauptstadt der unabhängigen Tschechoslowakei eingemeindet. Bis heute hat sich das Viertel im Stadtteil Střešovice seinen Charme bewahrt. Gründerzeitvillen umgeben von Parks und Gärten stehen neben modernen Bauten aus der Zwischenkriegszeit. Einer dieser Gärten rettete Ladislav Feierabend am 26. Februar 1948 vor der Verhaftung. Am Tag zuvor war die kommunistische Machtergreifung erfolgt, der Februarputsch, den die neuen Machthaber »siegreichen Februar« nannten.

Ladislav Feierabend war in der Vořechovka-Straße, als die Geheimpolizei am Tor der Villa klingelte: »Ich schaute hinter dem Vorhang aus dem Fenster und sah am Tor einen unbekannten Mann, der mit Ivo sprach, der ihm öffnen gegangen war. Dann öffnete meine Tochter die Tür zu meinem Zimmer und sagte in einem befehlenden Ton: ›Die Polizei, Vater; fliehe sofort.‹« Dass Ladislav Feierabend ein zweites Mal aus seiner Heimat würde fliehen müssen, war seit Längerem abzusehen. Schon aus den Wahlen zum tschechoslowakischen Parlament 1946 waren die Kommunisten mit 38 Prozent als stärkste Kraft hervorgegangen. Klement Gottwald, der Vorsitzende der KP, wurde Regierungschef. Bei der anschließenden Bodenreform verloren die privaten Landwirte ihren Besitz. Damit war die politische Basis der Agrarierpartei zerschlagen. Eine Demokratie war die ČSR nur noch auf dem Papier, doch einige wichtige Ministerien blieben vorerst in der Hand von Nicht-Kommunisten, darunter das Außenministerium unter Jan Masaryk, dem Sohn des Gründers der ersten tschechoslowakischen Republik.

Im Jahr nach den Wahlen stand Masaryk vor seiner größten Bewährungsprobe. Um Europa dauerhaft zu stabilisieren, hatte sein US-Kollege George C. Marshall ein milliardenschweres Wirtschaftsprogramm aufgelegt. »Everything west of Asia«, so Marshall, sollte von dem Programm profitieren. Auch Prag wollte vom Marshallplan etwas abbekommen. Am 4. Juli 1947 beschloss die Regierung einstimmig – also mit Zustimmung Gottwalds –, an der Marshallplan-Konferenz in Paris teilzunehmen. Doch dann kam in letzter Minute das Veto aus Moskau. Gottwald, Masaryk und der ebenfalls nichtkommunistische Justizminister Prokop Drtina reisten zu einem Blitzbesuch in die Sowjetunion, wo Stalin tobte. Der Marshallplan sei ein »feindlicher Akt«, erklärte er und verbot kategorisch, Hilfe aus diesem Programm in Anspruch zu nehmen. Noch in der Nacht kabelte Gottwald Stalins »Njet« in die tschechoslowakische Hauptstadt.

An diesem Tag, urteilt der Historiker Josef Korbel, »verlor die Tschechoslowakei ihre Unabhängigkeit«. Jan Masaryk hatte die Zeichen der Zeit durchaus verstanden: »Wir haben ein neues München«, sagte er in Anspielung auf das Desinteresse der Westmächte angesichts der Bedrohung Hitlers: »Ich fuhr nach Moskau als der Außenminister eines souveränen Staates; ich kam als Stalins Knecht zurück.« Ein Jahr später, am 10. März 1948, wurde Masaryk vor dem Fenster seines Amtssitzes tot aufgefunden. Die Behörden sprachen von Selbstmord, die Bevölkerung dagegen vom »dritten Prager Fenstersturz«. Bei der Beerdigung hielt Präsident Beneš nur eine kurze Ansprache, Hauptredner war Ministerpräsident Klement Gottwald.

Ladislav Feierabend litt nach dem Tod des Außenministers unter »starken seelischen Depressionen«. Seit der Demütigung in Moskau war die endgültige Machtübernahme nur noch eine Frage der Zeit. Am 10. Februar 1948 war es soweit. Aus Protest gegen die Politik der Kommunisten erklärten zwölf nichtkommunistische Minister ihren Rücktritt. Sie forderten Neuwahlen. Klement Gottwald verlangte dagegen, Beneš solle eine rein kommunistische Regierung bilden. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, marschierten in Prag Milizen und Betriebskampfgruppen auf. Am 25. Februar gab Beneš, die tragische Figur der tschechischen Nachkriegspolitik, nach. Damit waren für Ladislav Feierabend die Würfel gefallen.

Als die Geheimpolizei vor seiner Villa auftauchte, war er vorbereitet. Alles ging ganz schnell: »Es war keine Zeit für irgendwelche Fragen. Ich eilte in den Vorraum zur Garderobe, nahm meinen Wintermantel und den Hut und enteilte über die Halle und das Wohnzimmer in den Wintergarten. Ich hatte einen Koffer mit allen Habseligkeiten vorbereitet, hatte aber keine Zeit, ihn mitzunehmen. Im Wintergarten zog ich mich an und entfernte mich über unseren und den Garten des Nachbarn schnell von dem Haus. Ich sah, dass auf der Straße Na Vořechovce zwei Polizeiautos standen, und begann wie wahnsinnig zu laufen.«

FLUCHT AUF DER ELBE

Mehr als sechzig Jahre später stehe ich mit meinem Bruder am Elbhafen von Děčín. Still schaukeln die Kähne auf den Wellen. Nur noch wenige Binnenschiffe sind auf der Elbe unterwegs. Den Bauplan des Kahns ČSPL 346 hat uns Jiří Aster, der Direktor der Tschechisch-Sächsischen Häfen, besorgt. Ein Foto haben wir zu unserem Bedauern nicht auftreiben können. Um uns ein Bild vom Innern des Kahns zu machen, sind wir auf die Memoiren von Ladislav Feierabend und die Erinnerung seines Sohnes Ivo angewiesen. Über die erste Begegnung mit den Nováks hat Ladislav Feierabend geschrieben: »Nach einer halben Stunde saßen wir bereits in der Schiffswohnung von Josef und Štefa Novák, sehr angenehmen Leuten, und erhielten die Versicherung, dass jetzt alles gewonnen und der Grenzübertritt nur ein Kinderspiel sei. In Anwesenheit von Tonda zahlte ich Novák sogleich die 100000 Kc als Entlohnung für die Fahrt, wie vereinbart worden war. Der Satz von 25000 Kc pro Person war dem Risiko angemessen, das Novák auf sich nahm. Er sagte, wir seien seine ersten Kunden. Unsere Entlohnung sei die Grundlage für ein kleines Kapital, das er sich zusammensparen wolle, um selbst ins Exil gehen zu können.«

Kaum waren die Feierabends an Bord, wurden sie in die Geheimnisse des Elbkahns eingeweiht. Ihr Zuhause für die nächsten sieben Tage wurde die Zwischenwand, die Rumpf und Kabine trennte. Ivo erinnert sich noch gut an die Enge: »Natürlich hatten wir Angst. Die Nováks waren ziemlich mutig, uns mit auf das Schiff zu nehmen, zumal wir eine schwere Erkältung hatten. Als wir uns während der Kontrollen im Schiff versteckten, mussten wir unsere Gesichter in dicke Pullover oder Decken hüllen, damit man unser Husten oder Niesen nicht hörte.«

Dennoch war dieser 9. April für die Feierabends eine große Erleichterung. Ladislavs Leben im Untergrund war vorbei. Die ersten drei Wochen nach der Flucht hatte er bei einer Familie in Prag gelebt, deren Adresse ihm Tonda, der Mittelsmann, gegeben hatte. Danach hatte er sich in Südböhmen versteckt. Endlich stimmte seine Frau zu, mit der Familie das Land zu verlasssen und in den Westen zu ziehen. Ein erster Plan, mit Skiern über den Böhmerwald nach Bayern zu fliehen, wurde verworfen. Tonda hatte einen anderen Weg gefunden, erinnerte sich Feierabend: »Er erscheine auf den ersten Blick ein wenig romantisch, sagte er, sei aber mit geringerem Risiko verbunden. Die Flucht erfolge auf einem Elbkahn durch die Sowjetische Besatzungszone nach Hamburg, das sich in der englischen Zone befinde. Es sei ein ganz neuer Weg, den noch niemand gegangen sei.« Tonda weihte sie sogar schon in einige Einzelheiten ein: »Wir würden zwischen der Rumpfwand des Schiffes und der Zwischenwand versteckt werden, die den Rumpf vom Wohnraum des Schiffers abteile. Es sei ein Versteck, das bisher nur zum Schmuggeln von Waren gedient habe. (…) Ein weiterer Vorteil sei, dass die Grenze zur Sowjetischen Besatzungszone nicht allzu streng bewacht werde, da es niemandem einfalle, aus der kommunistischen Tschechoslowakei in die sowjetische Falle zu fliehen.«

So spielend leicht, wie Josef Novák später behauptet hat, war der Grenzübertritt von einem kommunistischen Land ins andere aber keineswegs. Am Nachmittag des 10. April 1948 legt der Kahn der Nováks in Děčín ab. Schon kurz hinter Děčín, in Herrnskretschen, erwartet sie die sowjetische Kontrolle. Wie sie diese erste Herausforderung bestehen, wird Ivo Feierabend nie vergessen: »Die Kabine war voller russischer Soldaten. Beide, Josef und Štefa Novák, haben die Situation auf eine sehr natürliche Art und Weise bewältigt. Sie haben den Soldaten Drinks angeboten. Man sagte sich damals ja, die Russen würden alles trinken, selbst Rasierwasser. Es lief also ziemlich gut. Noch heute bewundere ich ihre Fähigkeit, völlig ruhig und normal mit der Situation umzugehen, ohne die Unternehmung zu gefährden oder Nervosität erkennen zu lassen.«

Vierzig Kilometer elbabwärts kommt dann der nächste Schreck. Als sie Dresden passieren, traut Ivo Feierabend seinen Augen nicht: »Es kam nicht oft vor, dass wir während der Flucht die Kabine verließen und uns auf dem Deck des Kahns aufhielten. Einmal aber, es war Kapitän Nováks Idee, hat er uns hochgerufen. Das war, als wir an Dresden vorbeifuhren. Schaut euch das an, sagte er. Er hatte recht, es war unglaublich. Wir sahen einige Leute, die am Ufer Wäsche gewaschen haben. Irgendeine Treppe führte hinunter zum Fluss. Von Dresden war nichts mehr übrig geblieben - wirklich. Dieses Bild steht mir immer noch vor Augen.«

Und noch etwas wird Ivo Feierabend nicht vergessen. In Wittenberge, kurz vor der britischen Besatzungszone, droht die Flucht zu scheitern: »Einen ziemlichen Schreck bekamen wir, als es plötzlich hieß, das Boot könne nicht mehr weiterfahren. Der Grund war die Berlin-Blockade der Sowjets. Deswegen gab es ein Embargo. Zusammen mit anderen Schiffsführern ist Josef Novák dann mit dem Auto nach Berlin gefahren. Als er zurückkam, hatte er eine gute Nachricht mitgebracht: Wir können weiterfahren, sagte er.«

Es war zwar nicht die Berlin-Blockade, die sie aufhielt, die sollte erst im Juni beginnen, doch auch so war die Abfertigung in Wittenberge die heikelste Station auf der Strecke Prag – Hamburg. Das geht auch aus den Monatlichen Berichten über die Binnenschifffahrt des Hafens Hamburg hervor. Darin wird festgehalten, dass es am sowjetisch-britischen Grenzübergang regelmäßig lange, teils mehrtägige Wartezeiten gegeben habe. Mit dem Beginn der Berlin-Blockade und der alliierten Luftbrücke wurde die Abfertigung am 26. Juni 1948 dann komplett eingestellt. In der sowjetischen Zone blieben 51 und in der britischen Zone 57 Schiffe und fünf Schlepper liegen. Darüber hinaus warteten in Hamburg zwanzig beladene Schiffe darauf, die Fahrt Richtung Prag anzutreten. Der Schiffsstau infolge der Blockade war teilweise bis zu vier Kilometer lang. Hätten die Nováks und Feierabends ihr Fluchtunternehmen zwei Monate später gestartet, hätte es kein Happy End gegeben. So aber haben beide Familien Glück. Nach der Rückkehr aus Berlin hält Josef Novák mit dem Passierschein den Schlüssel zur Freiheit in der Hand. Für die Feierabends steht das Tor nun weit offen.

Nachdem wir den zweiten Kaffee bestellt haben, kommt Ivo zum glücklichen Ende, der Ankunft im Westen: »Dann kam der Moment, in dem uns Josef Novák mitteilte, dass wir die sowjetische Zone verlassen hätten und uns nun in der britischen Besatzungszone befänden. Kapitän Novák entschied, dass wir nicht mit ihm zusammen in den Hamburger Hafen fahren sollten. Zu viele Spione, sagte er, die könnten ihn und seine ungewöhnliche menschliche Ladung entdecken. Vielleicht hat er dabei auch an seine Crew gedacht.«

Die Feierabends steigen in ein kleines Ruderboot, Josef Novák rudert sie nach Lauenburg: »Das war das letzte Mal, dass ich Josef und Štefa Novák gesehen habe. Natürlich waren wir ihnen sehr dankbar. Nicht nur, weil sie uns die Flucht ermöglicht haben, sondern auch für ihre Wärme. Rückblickend würde ich sagen: Das war das Beste, was mir passieren konnte – dieses gottverdammte Land zu verlassen.«

Auch Ladislav Feierabend hat diesen Moment in seinen Memoiren beschrieben: »Nach einigen Stunden hatten wir bereits die sowjetische Zone verlassen. Dies war ein Augenblick, den ich nicht so schnell vergessen werde. Die Nervenanspannung, unter der ich seit meiner Flucht von der Vořechovka, also volle sieben Wochen, lebte, ließ auf einmal nach. Ich fühlte mich wie neugeboren. Wir waren endgültig den Fängen der Kommunisten entkommen. Der Entschluss, mit dem Schiff zu fliehen, hatte sich als richtig erwiesen.«

ERINNERN AN DEN KALTEN KRIEG

Unser letzter Dreh findet im Hamburger Moldauhafen statt, den Josef und Štefa Novák ansteuerten, nachdem sie die Feierabends in Lauenburg abgesetzt hatten. Mit der Elbe und dem tschechischen Hafenbecken im Hamburger Freihafen liegt Böhmen tatsächlich am Meer.

Der Moldauhafen war damals ein belebter Umschlagplatz für Schmuggler und Fluchthelfer, aber auch für den tschechischen Geheimdienst und seine Spitzel. Dass Hamburg ein gefährliches Pflaster ist für Fluchthelfer, wissen Josef und Štefa Novák, unvorsichtig sind sie nicht. Aber ihr Geld reicht noch nicht für den großen Traum Amerika. Weitere Fluchtfahrten folgen. Doch eines Tages werden sie gewarnt. Aus den Staatssicherheitsakten des Geheimdienstes STB geht hervor, dass ihnen bei der Einreise in die ČSR die Verhaftung gedroht hätte. Im April 1949 beschließen Josef und Štefa deshalb, in Hamburg zu bleiben.

Wie Ladislav Feierabend und sein Sohn Ivo emigrieren die Nováks in die USA. Josef Novák arbeitet in Cleveland/Ohio als Stahlarbeiter. Einmal noch soll er Ladislav Feierabend begegnen, doch das Wiedersehen ist enttäuschend, sagt Hana Slávišovás Mann Aleš: »Als sie dann in Amerika waren und Onkel erfahren hat, wo Feierabend wohnt, ist er zu ihm gefahren und wollte von ihm Unterstützung bei der Arbeitssuche, aber Feierabend hatte wohl genug eigene Sorgen. Onkel sagte, dass er quasi einen Kaffee bekommen hat – und dann ist er wieder gegangen.«

Im Herbst 1989 greift die große Geschichte ein zweites Mal in das Leben der Nováks und Feierabends ein. Josef und Štefa Novák erleben den Fall der Berliner Mauer und die Prager Revolution in Cleveland/Ohio. Ivo Feierabend lebt als Professor der Politikwissenschaften in Del Mar in Kalifornien. Das Ende des Kommunismus ist nicht nur das Ende der Teilung Europas. Es ermöglicht Josef und Štefa Novák auch die Rückkehr in die Heimat. Das kommunistische Regime ist nun Geschichte, ebenso sind es die Schrecken des Geheimdienstes.

Auch für Ivo Feierabend – sein Vater Ladislav verstarb am 15. August 1969 während eines Skiurlaubs in Österreich – schlägt der Herbst 1989 ein neues Kapitel in der Geschichte auf: »Als die Samtene Revolution in der ČSSR begann, war ich wie elektrisiert. Völlig überrascht war ich aber nicht. Als mir klar wurde, dass Gorbatschow tatsächlich etwas zu sagen hatte, wusste ich, dass die Sowjetunion zerfallen würde. Die Sowjetunion war immer schon eine Fiktion gewesen.«

Zwar kann Ivo am 17. November 1989 nicht in Prag sein, als die Menschen mit Blumen über die Milizen siegen. Doch auch einige Tage später kann er die vibrierende Atmosphäre des Umsturzes erleben: »Meine Begeisterung während der Samtenen Revolution war enorm. Ich war berührt von diesem Wunsch nach Freiheit und Demokratie. Eine Errungenschaft der Zivilgesellschaft. Stellen sie sich vor: Tausende und Hunderttausende sind auf den Straßen, und die Straßen bleiben sauber. Kein Fenster ging zu Bruch, nichts. Die Demonstranten haben ausländische Fernsehteams sogar gebeten, nicht in die Blumenrabatten zu treten. Unglaublich, aber wahr.«

Josef und Štěpánka Novák beschließen nach der Samtenen Revolution nach Tschechien zurückzukehren. Da man Josef Novák in der ČSSR wegen Republikflucht und Schleusung in Abwesenheit zum Tode verurteilt hatte, war ihm eine Rückkehr bis dahin nicht möglich gewesen. Im Herbst 1989 hält ihn aber nichts mehr in Cleveland/Ohio, weiß seine Nichte Hana: »Er wollte in Tschechien sterben und vor allem in Trautenau, weil er hier lange gelebt hat. In Amerika hat er das Alter in irgendeinem Altersheim gefürchtet. Er sagte, dass die Heime nicht sehr gut sind. Die Pflege sei dort schlecht, und das hat er gefürchtet. Er sehnte sich danach, zurückzukommen.«

In Trautenau an der Aupa endet die Flucht der Nováks endgültig. Sie kehren nach vierzig Jahren zurück an den Ort, an dem alles begonnen hatte. Štěpánka Novákova stirbt am 12. Dezember 1993, ihr Mann am 13. Februar 1999. Der Friedhof ist nicht weit entfernt von dem Haus, in dem Hana und Aleš leben. Ein Wiedersehen mit Ivo Feierabend war ihnen nicht vergönnt.

Aber die Geschichte von der Flucht kann Josef Novák noch erzählen. Sie wird Teil eines europäischen Erinnerns, das mit den friedlichen Revolutionen 1989 begonnen hat, ein Erinnern, das noch nicht abgeschlossen ist und immer wieder Wunden aufreißt.

Draußen ist der Nebel dichter geworden. Nur noch schemenhaft ist die Moldau zu erkennen. Die Prager Burg ist im Dunst verschwunden. Wir sind am Ende des Interviews und der Geschichte zweier Familien, die unterschiedlicher nicht sein können. Dennoch ist es eine gemeinsame Geschichte, eine deutsch-tschechisch-amerikanische Heimatgeschichte, die ohne die Wende vielleicht in Vergessenheit geraten wäre. Doch seit dem Herbst 1989 kann man diese Geschichte erzählen – in Deutschland und in Tschechien.

Die Geschichte ist auch meine und die meines Bruders: Josef Novák, der Elbschiffer, der Ivo Feierabend und seine Familie in den Apriltagen des Jahres 1948 auf der Elbe in den Westen brachte, war der Bruder unserer Großmutter Agnes, die Hana und Aleš noch immer Aneška nennen. Die Geschichte von Josef Novák ist für mich also nicht nur eine der vielen Episoden aus der Zeit des Kalten Krieges. Sie verbindet mich auch mit der Geschichte meiner Familie im Böhmischen und mit der Elbe, auf der mein Großonkel so viele Jahre zu Hause war.

KAPITEL EINS

Von Augustus bis Adenauer Die Elbe und ihre Grenzen

Die Elbe als Grenze: Dieses Bild hat den Strom geprägt. Adenauer zog die Vorhänge zu, wenn er mit dem Zug die Elbe überquerte. Er wollte die »asiatische Steppe« nicht sehen. Wo einst die innerdeutsche Grenze verlief, verkehren heute wieder Fähren.

KONRAD ADENAUERS ELBE

Konrad Adenauer war ein Mann des Rheins. Geboren wurde der erste Kanzler der Bundesrepublik am 5. Januar 1876 in Köln. Auch den größten Teil seines Jurastudiums absolvierte er – in Bonn und in Freiburg – am heimatlichen Strom. Ebenso rheinisch verlief Adenauers politische Karriere. Als Mitglied der katholischen Zentrumspartei wurde er 1906 Beigeordneter seiner Geburtsstadt und drei Jahre später erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters. 1917 zog er selbst als Chef ins Kölner Rathaus ein. Adenauer war damals der jüngste Oberbürgermeister des Kaiserreichs. Der Mann vom Rhein pflegte eine ostentative Distanz zur Regierung im fernen, preußischen Berlin. »Wir leben alle unter dem gleichen Himmel«, sagte Adenauer einmal, »aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.«

In den Anfangsjahren der Weimarer Republik wurde Adenauers Aversion gegen das Deutschland östlich der Elbe zum politischen Programm. Wie sollte der jungen Demokratie zu mehr Stabilität verholfen werden? Preußens Ministerpräsident Otto Braun, ein Sozialdemokrat, plädierte für ein starkes Preußen mit Berlin als politischem Zentrum. Adenauer setzte dagegen ganz auf die zivilisierende Kraft des Rheinlandes, was ihm später den Vorwurf des Separatismus einbrachte. Tatsächlich gab es 1923 den Versuch, eine »Rheinische Republik« vom Reich abzulösen. Spiegel-Gründer Rudolf Augstein bezeichnete Adenauer posthum sogar als »die wichtigste Figur für die Abtrennung«.

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Konrad Adenauer dem Rhein treu. Geschickt setzte er durch, dass Bonn am Rhein und nicht Frankfurt am Main 1949 zur Hauptstadt der neuen Bundesrepublik wurde. Berlin war nun auch politisch weit entfernt. Selbst als Bundeskanzler, erinnert sich der 1922 geborene Sozialdemokrat Egon Bahr, habe Adenauer mit Berlin gefremdelt. Bahr war während der dramatischen Tage des Mauerbaus unter dem Regierenden Bürgermeister Willy Brandt Leiter des Presse- und Informationsamtes in West-Berlin. Damals habe man im Rathaus Schöneberg über den fernen Kanzler in Bonn gelästert: »Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten kommt schneller über den Ozean als Adenauer über den Rhein.«

In der Tat: Als Willy Brandt unmittelbar nach dem Bau der Mauer am 13. August 1961 zum Krisengipfel an die Spree lud, kam Präsident John F. Kennedy zwar nicht persönlich, schickte aber Vizekanzler Lyndon B. Johnson. Egon Bahr: »Er war tatsächlich früher in der Stadt als der Bundeskanzler. Dabei spielte nicht nur die Abneigung Adenauers gegen Berlin eine Rolle. Wir waren ja auch im Wahlkampf.«

Die Grenze, die Adenauer nur widerwillig überschritt, war die Elbe. Fast schon legendär ist ein Brief von 1946 an den in die USA emigrierten ehemaligen Kölner Sozialdemokraten William Sollmann: »Die Gefahr ist groß. Asien steht an der Elbe«, schrieb Adenauer und umriss damit schon sein späteres politisches Programm der Westbindung der Bundesrepublik. »Nur ein wirtschaftlich und geistig gesundes Westeuropa, zu dem als wesentlicher Bestandteil der nicht von Russland besetzte Teil Deutschlands gehört, kann das weitere geistige und machtmäßige Vordringen Asiens aufhalten.« Das war, drei Jahre vor Gründung der Bundesrepublik und der DDR, eine deutliche Absage an die Wiedervereinigung und ein ganz unverblümtes Plädoyer für die Teilung Deutschlands. Was aber waren die Motive des rheinischen Politikers Adenauer, der die Elbe nicht nur als politische, sondern sogar als Kulturgrenze verstand? Bot diese Grenze dem Rheinländer einen willkommenen Anlass, späte Rache am ungeliebten und ehedem preußischen Berlin zu nehmen?

Es kam wohl beides zusammen. Zunächst war da der katholische CDU-Politiker, der wie zu Weimarer Zeiten gegen den sozialdemokratischen und protestantischen Osten kämpfte. Um seine Wahl zum Kanzler der neuen Bundesrepublik nicht zu gefährden, verzichtete Adenauer 1949 sogar auf ein eigenständiges Bundesland West-Berlin. Die ungeliebte (und sozialdemokratische) Exklave wäre nämlich im Bundestag stimmberechtigt gewesen. Das Kalkül ging auf, aber äußerst knapp, denn Adenauer wurde mit nur einer Stimme Mehrheit gewählt.

Und da war noch immer das alte Ressentiment, das viele Rheinländer gegen Ostelbien hegten, das Land der Junker und des preußischen Obrigkeitsdenkens. Schon zu seiner Zeit als Kölner Oberbürgermeister hatte Adenauer auf den Dienstreisen nach Berlin die Vorhänge des Abteils zugezogen, wenn der Zug die Elbe überquerte. Er wollte, wie er sagte, »die asiatische Steppe nicht sehen«.

Adenauers Polemik gegen ein »Asien an der Elbe« hat aus einem Abschnitt von 94 Kilometern das gemacht, was fortan für den 1094 Kilometer langen Strom stand: Elbe gleich innerdeutsche Grenze, innerdeutsche Grenze gleich Elbe. An diesem Strom, so die Botschaft, gab es kein Sowohl-als-auch, sondern nur ein Entweder-oder. Hermetisch trennte die Elbe die Deutschen und mit ihnen Europa in ein Hüben und Drüben. Hüben entfalteten sich die junge westdeutsche Demokratie und das mit amerikanischer Hilfe ermöglichte Wirtschaftswunder. Die Bundesrepublik wurde ein verlässlicher Partner Frankreichs und der Vereinigten Staaten. Drüben hingegen herrschten Willkür, Planwirtschaft, die SED-Diktatur. Dabei gab es durchaus andere Bilder der Elbe, wie das weltweit bekannte Foto zeigt, dem die Amerikaner den Titel Yanks meet Reds gaben.

Vom Kalten Krieg ist noch nichts zu spüren, als sich am 26. April 1945 drei Soldaten der 58. US-Gardeschützendivision und drei Rotarmisten der 69. Infanteriedivision auf den Überresten der Torgauer Elbbrücke die Hand reichen. Freundlich ist die Atmosphäre, aber auch etwas reserviert. Die Rotarmisten stehen rechts im Bild, einer trägt eine Schapka, ein anderer eine Offiziersmütze, der Kopf des Dritten ist unbedeckt. Die US-Soldaten tragen Helme und klettern den Sowjets, die ihnen die Hände reichen, entgegen. Nicht nur an dieser Szene lässt sich erkennen, dass das Bild gestellt ist; einer der US-Boys schaut ganz unverblümt, wenn auch etwas schüchtern in die Kamera. Doch die Inszenierung schlug ein. Kurz nach dem Shooting, am Abend des 26. April 1945, wurden drei gleichlautende Presseerklärungen veröffentlicht. Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion verkündeten, dass der Hitler-Faschismus besiegt sei. Das Bild mit dem »Handschlag von Torgau« ging um die Welt.

Die eigentliche Begegnung von US-Truppen und Roter Armee fand schon am Tag zuvor statt. Mit einem Schlauchboot hatten drei Amerikaner bei Strehla die Elbe überquert und dort um 13.30 Uhr den russischen Oberstleutnant Alexander Gordejew getroffen. Freilich taugte die Szenerie nicht zum symbolischen Handschlag: Auf den Elbwiesen in Lorenzkirch lagen die Leichen hunderter deutscher Zivilisten. Auch ein zweites Treffen in Burxdorf blieb protokollarisch wenig ergiebig. Weitaus symbolträchtiger waren da die Reste der gesprengten Elbbrücke in Torgau, der Ort der dritten Begegnung an diesem 25. April, erinnert sich der US-Soldat William Robertson: »Ich bewegte mich auf die Brücke zu, doch der befreite russische Kriegsgefangene erreichte sie als Erster. Er schwang sich auf den Träger und begann, voranzukriechen. Von der anderen Seite näherte sich ein russischer Soldat über denselben Träger. Ich kroch dem russischen Kriegsgefangenen nach. Gleich hinter mir folgten Fähnrich Peck und Frank Huff. Der Rest der Patrouille blieb beim Jeep. Paul fotografierte uns.«

Auch diese Begegnung, die Robertson in seinen Memoiren beschreibt, ist nicht die, die auf der berühmten Fotografie zu sehen ist. Der für die Fotografen und die Weltöffentlichkeit bestimmte Handschlag wurde einen Tag später wiederholt. Gleichwohl gibt Robertsons Schilderung etwas vom Geist der Anti-Hitler-Koalition in den letzten Kriegstagen wieder: »Um 16.45 Uhr standen wir drei Amerikaner mit den Russen am Ufer, lachten und schrien, klopften uns gegenseitig auf den Rücken und schüttelten viele Hände. Frank, George und ich schrien auf englisch, unsere Gastgeber auf russisch. Keiner verstand den anderen, aber das Gefühl der Gemeinsamkeit war unmissverständlich. Wir waren alle Soldaten, Kameraden in Waffen. Wir hatten einen gemeinsamen Feind besiegt. Der Krieg war vorbei, der Frieden nahe.«

Wie ernst es beiden Lagern mit diesem Frieden war, zeigt der weitere Lebensweg der Beteiligten. Der US-Schütze Joe Polowsky, der bei der ersten Begegnung dabei war, wurde nach seiner Rückkehr in die USA nicht müde, den 25. April 1945 als Weltfriedenstag der Vereinten Nationen zu propagieren – allerdings ohne Erfolg. Schließlich praktizierte Polowsky seinen eigenen Friedenstag – und demonstrierte jedes Jahr am 25. April auf der Michigan Avenue Bridge in Chicago seinen »Elbe Day«. In den Vereinigten Staaten belächelt und auch strafrechtlich wegen antiamerikanischer Umtriebe verfolgt, avancierte Polowsky im realsozialistischen Lager zum Friedenshelden. Dem US-Veteran schien es zu gefallen. Er starb 1983. Seinem letzten Willen folgend wurde er in einem Ehrengrab auf dem evangelischen Friedhof in Torgau bestattet. Ein US-Soldat fand seine letzte Ruhe jenseits des Eisernen Vorhangs: Das war Polowskys Beitrag zur Überwindung des Kalten Krieges – und auch der Adenauerschen Elbgrenze. Heute ist Joe Polowsky – wie auch William Robertson – Ehrenbürger der Stadt Torgau.

SZENEN EINES FLUSSES

Nein, in den Olymp der deutschen Ströme wird es die Elbe nicht mehr schaffen. Der ist dem »Vater Rhein« vorbehalten oder, wenngleich schon etwas balkanisch, der Donau. Dennoch ließ die Elbe die Deutschen nie kalt, auch wenn der Blick sich dabei auf den jeweils »eigenen« Abschnitt des Stroms konzentrierte.

In Torgau erinnern Denkmäler und Gedenktafeln an den »Elbe Day«, der eine ganz andere Botschaft bereithielt als der Kalte Krieg, der ihm folgte. In Dresden ist die Elbe Teil einer jahrhundertealten Kulturlandschaft, vor der sich schon Canaletto mit seinen Stadtveduten verneigte. In Dessau ist es neben dem Bauhaus das Wörlitzer Gartenreich, jene Symbiose von Schönheit und Aufklärung, mit der die Fürsten von Anhalt-Dessau der Elbe huldigten. In Tschechien gilt – wie früher in Böhmen – die Elbe ganz im Gegensatz zur Moldau als »deutscher Fluss«. Und in Hamburg heißt es, die Elbe komme ohnehin von der See. Ebbe und Flut im Hamburger Hafen seien Beweis genug. So ist die Elbe ein Puzzle, das sich bis heute nicht zu einem großen Ganzen zusammenfügen möchte.

Wenn überhaupt, dann ist die »ganze Elbe« das Thema europäischer Akteure wie der Stiftung »Brücke/Most« in Dresden und Ústí nad Labem oder von Künstlern wie dem Fotografen Jörg Vanhöfen. 1998 begab sich der Mitbegründer der Fotoakademie am Berliner Schiffbauerdamm im Auftrag des Schweizer Magazins Du auf eine fotografische Elbreise und schuf dabei eine ganz eigene Ästhetik des Stroms. Vanhöfen will die Elbe zunächst in Schutz nehmen. Auf seinen Fotografien schiebt sich fast ausnahmslos eine pastellene Unschärfe zwischen Gegenstand und Betrachter. Mělník, Pillnitz, Meißen und Hamburg-Sankt Pauli scheint gemeinsam, dass sie ihre beste Zeit hinter sich haben. Was geblieben ist, wird in mildes Licht getaucht, weil der ungeschützte Blick womöglich schmerzen würde. Nein, zum Heldentum taugt der Fluss nicht, den Vanhöfens fotografische Malerei zeigt, aber immerhin hat er einen Anfang und ein Ende. Und überall ist er derselbe, in Tschechien und Deutschland, in Dresden und Hamburg. Vanhöfen zeigt eine Elbe, die über der Geschichte steht.