Die Enthüllung der Welt - Stefan Schmortte - E-Book

Die Enthüllung der Welt E-Book

Stefan Schmortte

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Beschreibung

Piet van Leeuwen ist der scharfsichtigste Mann des 17. Jahrhunderts, aber das Allerwichtigste in seinem Leben übersieht er. Kleinwüchsig zur Welt gekommen und von seiner Mutter verstoßen, ist ihm wie zum Ausgleich eine ganz besondere Gabe in die Wiege gelegt worden. Seine Augen sind ein Wunder. Selbst winzigste Details, für die seine Mitmenschen blind sind, erkennt er mit seinem besonderen Blick. Seine Andersartigkeit macht ihn schon früh zum Außenseiter. Und die Suche nach dem Allerkleinsten wird zu seinem Lebensthema. Nur mit sehr viel Glück überlebt er seine Kindheit in einem Internat, in dem Gewalt und Missbrauch herrschen. Nach entbehrungsreichen Lehrjahren in Amsterdam eröffnet er in seiner Geburtsstadt Delft ein Tuchhandelsgeschäft. Dort lebt er mit seiner jüdischen Magd Carla unter einem Dach, die er aus einem Hurenhaus freigekauft hat. Keiner in der Stadt ahnt etwas von ihrer geheimen Liebesbeziehung. Und nur die allerwenigsten wissen, was Piet hinten in seiner Werkstatt anstellt, wenn er am Abend seinen Laden schließt. Als die ersten Gerüchte über seine merkwürdige Apparatur in der Stadt die Runde machen, muss Piet um sein Leben fürchten. In den Kreisen der Wissenschaft erntet er mit seiner unglaublichen Entdeckung bald großen Respekt, aber die Liebe seines Lebens verliert er darüber immer mehr aus dem Blick. Die grausame Wahrheit, die ihm Carla die ganze Zeit über verschweigt, erkennt er erst, als das Unheil seinen Lauf bereits genommen hat. Am Ende sieht er nur einen Ausweg, um sich an der Welt und seinem Schicksal zu rächen.

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2017

© 2017 by Lago, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Laura Osswald

Umschlagabbildung: Valentin Agapov/shutterstock.com; bauhaus1000/istockphoto.com

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein

ISBN Print 978-3-95761-175-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95762-091-0

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-092-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für Domenica

Der Teufel steckt im Detail.

Deutsche Redewendung

Inhalt

Impressum

Widmung

Zitat

Inhalt

Erster Teil

1

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5

6

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8

9

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Zweiter Teil

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Dritter Teil

1

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Vierter Teil

1

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6

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24

Epilog

Quellen

Danksagung

Erster Teil

-1-

Es war noch sehr früh am Morgen, als in der niederländischen Stadt Delft, am Ende einer kopfsteingepflasterten Gasse nahe der alten Kirche, ein junger Mann in seinem Haus erwachte, der mehr als jeder andere seiner Zeit einen Blick für die Kleinigkeiten in der Welt besaß.

Vielleicht lag es nur daran, dass er selbst ein bisschen zu kurz geraten war. Auf jeden Fall war er so vernarrt in das Detail, dass er den Blick für das große Ganze darüber häufiger vergaß. Was seine Mitmenschen für belanglos erachteten und nur sehr selten überhaupt registrierten, das zog seinen Blick magisch an: die Tautropfen, die an den Grashalmen klebten, die Asseln, die unter den Steinen lebten, und selbst die Staubkörner, die weithin unbeachtet durch die Luft schwebten. Dem Unscheinbaren und Bescheidenen in der Welt galt seine Gunst. Und deshalb trafen die ersten, zarten Sonnenstrahlen am frühen Morgen seinen eigentümlichen Geschmack auch weit mehr, als wenn sich die Sonne in ihrem Abendrot unanständig groß und wichtig machte.

Aber an diesem frühen Morgen, die Glocken der Oude Kerk hatten gerade fünf geschlagen, störte ihn selbst das milchige Licht des anbrechenden Tages. Der Mann, er hieß Piet van Leeuwen, wälzte sich in seinem Bett unruhig hin und her. Missmutig zog er die Decke über seinen Kopf, um sein gerade erwachtes Bewusstsein noch für einen kurzen Moment zu betäuben.

Er hatte von Carla geträumt und wollte nun nichts lieber, als seinen Traum noch ein wenig fortzuspinnen. Nur für einen klitzekleinen Augenblick wollte er sie noch einmal ganz dicht neben sich spüren und zurück ins Land der Träume sinken. Dorthin, wo das Kleine groß sein konnte und das Große klein. Wo die Gesetze der Logik ihre Gültigkeit verloren und selbst das Unmögliche möglich war.

Piet schloss noch einmal die Augen. Mit Carla wäre alles für ihn möglich. Zu verschmerzen, was hinter ihm lag. Darauf zu vertrauen, dass sich die Gegenwart in ihren kostbarsten Momenten vollkommen im Hier und Jetzt erschöpfen konnte. Und ja, auch zu hoffen, dass jeder neue Tag nun vom trägen Rhythmus der Gewohnheit verschont bliebe. Wenn sie doch nur schon bei ihm wäre.

Gerade mal sechs Wochen war es her, dass Piet nach Delft zurückgekehrt war, um in seinem Geburtshaus in der Hippolytusbuurt ein Tuchhandelsgeschäft zu eröffnen. Er hatte Carla aus einem Amsterdamer Spielhaus freigekauft, was die verbrämte, aber durchaus gebräuchliche Bezeichnung für ein Hurenhaus war. Am 1. November, wenn sie in Ruhe noch einmal über seinen Vorschlag nachgedacht hatte, sollte sie ihm nach Delft folgen. So hatten sie es bei seiner Abreise aus Amsterdam vereinbart.

Piet hoffte inständig, dass dieser Traum nun bald für ihn wahr würde. Dann wäre endlich Schluss mit seiner Einsamkeit, die ihn wie ein Schatten, der nicht weichen wollte, schon so lange begleitete. In seinem Traum hatte er Carla fast riechen können, so nah hatte er sich ihr eben noch gefühlt. Doch das Morgenlicht hatte neben seinem Schlaf auch Carla vertrieben. Und so sehr sich Piet auch mühte, sich ihre Gestalt vor seinem inneren Auge noch einmal heraufzubeschwören, waren die Bilder von ihr doch schon restlos verschwunden.

Nur seine Kopfschmerzen leisteten Piet an diesem frühen Morgen Gesellschaft. Er presste seine Fingerspitzen ganz fest gegen seine Schläfen. Er bereute in diesem Moment, dass er sich gestern Abend mal wieder viel zu tief in die Kleinigkeiten der Welt versenkt hatte. Geschraubt hatte er, gehämmert, gebohrt, gebogen und geschliffen. Bis tief in die Nacht hinein hatte er in der Werkstatt hinter seinem Tuchladen gehockt, um die Mechanik seiner kleinen Apparatur noch weiter zu verfeinern. Gewiss war das der Grund für seine Kopfschmerzen.

Seine Apparatur entführte Piet in eine Welt, so fremdartig und seltsam, dass er an manchen der vergangenen Tage schon geglaubt hatte, er sei vielleicht verrückt geworden. So etwas konnte ja passieren, sogar von einer Stunde auf die andere. Es gab Menschen, die der Irrsinn pflückte wie der Bauer seine Äpfel. Piet wusste um die Launenhaftigkeit der Natur, aber für sich selbst schloss er eine solche Gefahr eigentlich aus. Er war nicht verrückt geworden, und er litt auch nicht unter Wahnvorstellungen. Er hatte sie schließlich mit seinen eigenen Augen gesehen, auch wenn kein Mensch zuvor sie jemals gesehen hatte.

Übellaunig raffte sich Piet aus dem Bett. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Draußen auf dem Marktplatz bauten die Händler schon ihre Stände auf. Er hörte ihre schweren Holzpantinen über das Kopfsteinpflaster klappern. Dazu das Getrappel der Pferdefuhrwerke, das Gackern der Hühner und das Geschnatter der Gänse, die man zum Markt trieb, um sie vor den Augen der Leute zu schlachten. Es war ein Gepolter und Getrampel und alles in allem ein Krach, der es ihm unmöglich machte, noch ein wenig von Carla zu träumen. Aus den Nachbarhäusern klang schon das Klick-Klack-Klick der Webstühle zu ihm herüber. Piet sehnte sich nach der Ruhe eines Sonntagvormittags. Aber es war nicht Sonntag.

Piet öffnete das Fenster. Es war ein bisschen zu kühl für die Jahreszeit, aber nicht weiter außergewöhnlich. Wie jeden Tag hing in den Hinterhöfen bereits die Wäsche zum Trocknen. Über die orangeroten Dächer der angrenzenden Häuser sah er den Turm der Oude Kerk, der wie ein krummer Finger Gottes in die Höhe ragte. So unglaublich schief reckte sich der Turm der alten Kirche in den Himmel, dass es an ein Wunder grenzte, dass er noch nicht in die umliegenden Häuser gestürzt war. Aber was so lange Bestand hatte, dachte Piet, das wird einem wohl auch morgen nicht auf den Kopf fallen.

In dieser Beziehung teilte er die Zuversicht der Bürger von Delft. Ihre Selbstgefälligkeit in vielen anderen Dingen des Lebens war ihm trotzdem zuwider. Großspurig waren sie geworden, nur weil sie mit ihren Schiffen nun bis ans Ende der Welt segelten und kistenweise Perlmutt und Pfeffer, Tee und Ingwer, Rattan und Peddigrohr, Nelken und Muskat von den fernen Banda-Inseln oder den Molukken mit nach Hause brachten. Sie fanden keine Städte prächtiger als ihre eigenen und keine Fayencen besser gearbeitet als eben jene, die aus den Werkstätten von Delft kamen.

Prahlerei war das Letzte, was Piet beeindruckte. Und deshalb hatte er sich bis zu diesem frühen Morgen auch noch keiner Menschenseele anvertraut und von seiner sonderbaren Entdeckung erzählt. Er war in jüngster Zeit schon auf so viele Merkwürdigkeiten unter der Oberfläche des unmittelbar Sichtbaren gestoßen. Und nie hatte er sich damit wichtig gemacht. Orangegelbe Kugeln, die aussahen wie stachelige Apfelsinen, hatte er im Blütenstaub der Kürbisse aufgespürt. Feinste geometrische Muster hatte er unter der schleimig grünen Oberfläche der Algen entdeckt, die er aus dem Kanal vor seinem Haus fischte. Aber diese Dinge waren auch nie so lebendig gewesen wie diese rätselhaften Existenzen.

Piet wollte jetzt nicht länger darüber nachgrübeln. Nur Kopfschmerzen bekam er davon, ganz grässliche Kopfschmerzen. Während er noch am Fenster stand, fragte er sich, ob wohl auch Tiere an ihren schlechten Tagen unter einem solchen Brummschädel litten, fand den Gedanken aber genauso abwegig wie die Vorstellung, dass sie Hoffnungen hegten, Furcht vor der Zukunft empfanden oder sich Liebe schworen, die über ihren animalischen Trieb zur Fortpflanzung hinausreichte. Piet hätte an diesem Morgen mit jedem Schwein getauscht, so sehr schmerzte ihn sein Kopf.

Er ging gerade hinunter in die Küche, als es an der Tür klopfte. Piet erwartete an diesem frühen Morgen keinen Besuch. Und den Arzt Hendrik de Gaesbeeck hatte er am allerwenigsten erwartet.

»Ich war gerade in der Nähe«, sagte Gaesbeeck, »und wollte es bei dieser Gelegenheit nicht versäumen, dir endlich meinen Antrittsbesuch abzustatten. Dem verlorenen Sohn der Stadt sozusagen.«

Piet lächelte gequält vor sich hin. Aber es stimmte ja auch irgendwie. Er war wirklich ziemlich verloren gewesen. Um genau zu sein: sechsundzwanzig Jahre, drei Monate und fünf Tage waren vergangen, seit sie ihn aus Delft fortgejagt hatten. Er war noch ein Kind gewesen, damals.

»Darf ich reinkommen?«

Piet führte den Arzt in seinen Tuchladen, den er bisher nur zur Hälfte eingeräumt hatte. Erst in ein paar Wochen, wenn die restlichen Posten Stoff, die er in Amsterdam bestellt hatte, bei ihm eingetroffen wären, wollte er seinen Laden gemeinsam mit Carla eröffnen.

»So, so, ein Tuchhandelsgeschäft willst du hier also eröffnen«, sagte Gaes­beeck.

Betont gelangweilt strich er mit seinen eitel manikürten Fingerspitzen über die Stoffballen, die Piet in den Regalen, gleich links neben der Eingangstür zu seinem Laden, schon einsortiert hatte. Darunter Seide, Leinen, Atlas, Damast und von Silberfäden durchwirkten Brokat.

»Der Tuchhandel ist eine Wissenschaft für sich und nicht die meine«, sagte Gaesbeeck. »Ehrlich gesagt, halte ich auch nicht besonders viel von diesem Gewerbe. Den größten Hohlköpfen setzt ihr spitze Hüte auf, damit sie aussehen wie edle Herren. Und den hässlichsten Weibern stopft ihr so viel Tüll und Taft unter ihre schlaffen Hintern, dass man meinen könnte, man habe die reinste Pracht vor sich. Mit der Wahrheit hat euer Geschäft so viel gemein wie der Anstand mit der Lüge.«

Dieser alte Wichtigtuer. Piet wusste noch nicht, worauf Gaesbeeck eigentlich hinauswollte. Und so hielt es für angebracht, seinen aufkeimenden Unmut vorerst im Zaum zu halten. »Ich glaube, Sie unterschätzen die Kunst, die es braucht, um einen wirklich guten Stoff zu weben«, sagte er nur.

»Kunst nennst du das? Du willst ernsthaft behaupten, dieses hirnlose Klappern der Webstühle da draußen habe etwas mit Kunst zu tun? Ich sage dir, was Kunst ist. Die größte Kunst unserer Tage ist die Wissenschaft, weil sie uns lehrt, was die Welt im Innersten zusammenhält. Was ihr Tuchhändler treibt, ist das genaue Gegenteil davon: Ihr verhüllt die Wahrheit, weil Blendwerk euer Handwerk ist.«

»Ich würde es eher den Dienst am Schönen nennen«, sagte Piet, darum bemüht, Gaesbeecks hochnäsigen Tonfall nachzuahmen, was ihm allerdings nicht besonders gut gelang. Seine Stimme klang immer etwas hell und dünn, wenn er sich aufregte.

Gaesbeeck lachte bitter. »Ja, erzähl mir bitte mehr von der Schönheit, oder besser vom schönen Schein. Aus jeder Ente macht ihr einen Schwan. Wunderbar sehen die Weiber in euren Kleidern aus mit ihren so überaus geschickt ausgestellten Brüsten darin und ihren eng geschnürten Taillen. Aber wenn sie dann nackt vor einem liegen, sieht man die traurige Wahrheit: ihre schlaffen Brüste, ihre von dicken Adern durchfurchten Schenkel und ihre faltigen Bäuche. Erzähle mir also besser nichts von der angeblichen Kunst des Kleidermachens. Euer Gewerbe hängt am Faden des Betrugs. In den Spielhäusern von Amsterdam, dort wo die Sünde … ach, was rede ich eigentlich …«

Ja, was redete Gaesbeeck da eigentlich? Warum ereiferte er sich so? Und was hatte das alles mit ihm zu tun? War doch seine Sache, wenn er in Amsterdam auf eine herausgeputzte Hure hereingefallen war. Dieser Schwätzer. Duzte ihn die ganze Zeit, wie er bestimmt jeden in der Stadt duzte, den er nicht als ebenbürtig empfand. In den Spielhäusern von Amsterdam hatte Piet selbst gesehen, wie sich die angeblich so feinen Herren aufführten. Krakeelten herum und rissen ihre Zoten. Nahmen die Dienste der Mädchen nur allzu gern in Anspruch, um sie danach dreckige Huren zu schimpfen. Inmitten von diesem ganzen Schmutz, der Verlogenheit und Doppelmoral war er dem Schönsten begegnet, das er je zu Gesicht bekommen hatte. Carla. Aber das ging Gaesbeeck nun wirklich nichts an.

»Eigentlich bin ich nur vorbeigekommen, weil …«

Gaesbeeck stockte für einen Moment, trat einen Schritt vor und schaute Piet prüfend in die Augen.

»Es kommt dir vielleicht komisch vor«, sagte er, »aber ich dachte immer, einer mit deinen Augen würde etwas empfänglicher für die Wahrheit in der Welt sein und eine Aufgabe ergreifen, bei der man den Dingen auf den Grund geht. Sozusagen zu ihrem Kern vordringt. Aber wie ich sehe, hast du dich nun entschieden, deine Scharfsichtigkeit an den Tuchhandel zu verschwenden. Oder hast du deine Gabe mit den Jahren etwa verloren?«

Da wusste Piet mit einem Mal, was den Arzt bewogen hatte, ihn an diesem frühen Morgen aufzusuchen. Es war Neugierde, nichts weiter als unverhohlene Neugierde. Die Geschichte lag zwar schon eine Ewigkeit zurück, aber Gaesbeeck hatte sie offenbar bis heute nicht aus dem Kopf bekommen. Er selbst war damals erst vier oder fünf Jahre alt gewesen, aber doch schon alt genug, um sich an ihre erste Begegnung noch sehr lebhaft zu erinnern. Gaesbeecks Haare waren grau geworden, aber ansonsten war er noch ganz der Alte. Derselbe Dünkel, die gleiche selbstgefällige Art. Piets Vater hatte den Arzt auf Drängen seiner Mutter seinerzeit aufgesucht, weil er als Kind einfach nicht hatte wachsen wollen. Und dabei war es dann herausgekommen: seine einzigartige Gabe, seine ihm angeborene Genialität.

Winzigste Staubpartikel, die seinen Blick nur kurz streiften, aufgewirbelt von einem kaum spürbaren Windhauch und so durchscheinend, dass sie für andere Menschen unsichtbar waren, konnte Piet schon als Kind so lange durch die Luft verfolgen, bis sie wieder auf den Boden sanken. Er hätte die Flöhe auf den Köpfen seiner Mitmenschen zählen können und auch die Regentropfen, noch bevor sie auf das Pflaster platschten. Für ihn selbst war das alles nicht weiter außergewöhnlich gewesen. Er wusste damals noch nicht, dass andere Menschen, verglichen mit ihm, blind wie die Maulwürfe durch ihr Leben tapsten.

Gaesbeeck hatte ihn mit einem Schröpfschnepper zur Ader lassen wollen, um seine Kleinwüchsigkeit zu kurieren, es sich dann aber anders überlegt und ihn stattdessen einem kleinen Experiment unterzogen. Piet wusste noch ganz genau, was er zu seinem Vater gesagt hatte, als er endlich fertig mit ihm war. »Dein Sohn ist wirklich nicht der Allergrößte«, hatte er gesagt. »Aber seine Augen sind ein Wunder, auch wenn ich von Berufs wegen eigentlich nicht an Wunder glauben mag.«

Was wusste dieser Besserwisser denn schon von den Wundern der Welt? Nichts wusste er von der Kunst, mit der in den Bergen von Siam eine Seide gewebt wurde, die in der Hand so leicht wie eine Feder wog. Und noch weniger wusste er von der Kunst, Gläser zu schleifen, mit denen sich die Wunder der Natur so überaus genau in Augenschein nehmen ließen.

Nur wegen Gaesbeecks bodenloser Überheblichkeit ließ sich Piet aus der Reserve locken. Schon wenig später sollte er es bereuen, aber an diesem frühen Morgen konnte er nicht anders, als auch seinerseits ein bisschen anzugeben.

»Bloß weil Sie fragen, nein, ich habe meine Scharfsichtigkeit keineswegs verloren. Ich sehe die Dinge heute sogar noch sehr viel klarer als früher.«

Dann führte Piet den Arzt in die Werkstatt hinter seinem Laden. Es war ein kleiner, schlauchförmiger Raum, kaum größer als fünf mal zwei Meter. Vor dem bodentiefen Fenster zum Hof stand die Maschine zum Schleifen der Gläser, rechts an der Wand hingen die Werkzeuge in braunen Lederschlaufen in sauberer Ordnung: Zangen zum Zurechtbiegen der Bleche, spitze Dorne, große und kleinere Pinzetten, Messer, Bohrer, Feilen, Zieheisen und Zirkel. In einem hohen Regal daneben: Gläser in unterschiedlichster Form und Farbe. Manche so klar wie Eis, andere bräunlich oder grünlich schimmernd.

»Sieht mir hier nicht gerade nach der Werkstatt eines Tuchhändlers aus«, sagte Gaesbeeck.

»Nein, mit dem Tuchhandel hat das auch nichts zu tun. Ich mache das hier nur zu meinem Vergnügen, mehr nicht.«

»Und? Was willst du mir zeigen?«

»Erlauben Sie mir zunächst eine Frage. Glauben Sie, dass im Essig kleine Tiere leben?«

Gaesbeeck runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen hoch. »Das nenne ich wirklich ein Vergnügen. Kleine Tiere im Essig? Willst du mich für dumm verkaufen? Oder hast du gestern Abend vielleicht etwas zu tief ins Glas geschaut?«

»Ich habe tatsächlich durch ein Glas geschaut. Aber kein Schnapsglas, wenn Sie das meinen.«

Piet öffnete den Kabinettsschrank auf der rechten Seite und nahm eine Holzschachtel heraus. Er wickelte seine kleine Apparatur aus dem roten Samttuch und reichte sie Gaesbeeck.

»Was ist das?«

»Warten Sie.«

Piet klemmte ein Glasröhrchen gefüllt mit Essig in die Halterung vor der Linse. Mit einem spitzen Dorn hatte er das Loch in das dünne Blech getrieben und seine Linse darin befestigt.

»Sie müssen das Instrument hier am Griff halten und durch das Loch schauen«, erklärte er Gaesbeeck, »und halten Sie das Instrument dabei gegen das Licht. Dann werden Sie sehen, dass in einem einzigen Tropfen Essig mehr Leben steckt, als die Stadt Delft Einwohner zählt.«

Der Arzt räusperte sich. Skeptisch nahm er das Instrument in die Hand und schaute hindurch. Dann sagte er für einen kurzen Moment nichts mehr. Piet wusste, dass er in diesem Augenblick sah, was er selbst erst vor ein paar Tagen entdeckt hatte und was zuvor kein anderer Mensch jemals gesehen hatte.

»Was hast du da reingekippt?«

»Nichts habe ich da reingekippt. Es handelt sich um ganz normalen Essig, wie auch Sie ihn zu Hause haben dürften.«

»Lüg mich nicht an. Was zum Teufel hast du da reingekippt?«

Es war Piet eine große Genugtuung, wie blöd Gaesbeeck nun vor sich hin starrte. Aber er glaubte ihm nicht.

Erst als sich Gaesbeeck mithilfe einiger Essigproben, die er in den nächsten Tagen bei ihm vorbeibrachte, selbst davon überzeugte, dass kein Zweifel an Piets Entdeckung bestehen konnte, glaubte er ihm endlich. Und am Ende der Woche sagte der Arzt dann zu ihm: »Ich weiß noch nicht so recht, was ich davon halten soll, aber ich muss zugeben, dass mich das alles etwas ratlos macht. Christoph Kolumbus hat einen neuen Kontinent entdeckt, aber du womöglich ein neues Universum. Wer weiß das schon so genau.«

-2-

Piet war sich anfangs nicht sicher, ob Gaesbeeck ihn für dumm verkaufen wollte. Der leicht spöttische Unterton, als er ihn eine Art Christoph Kolumbus nannte, war ihm keineswegs entgangen. Aber er wusste ja selbst nicht, was er von seiner Entdeckung halten sollte. Er wusste noch nicht einmal, ob man das wirklich Leben nennen konnte: diese merkwürdigen Existenzen, die sich Aalen gleich durch den Essig schlängelten. Kreaturen ohne Augen und Beine. Was sie wohl fraßen? Welches Herz schlug in ihnen? Und was, in aller Welt, erklärte überhaupt ihre Existenz? Für irgendetwas mussten sie ja schließlich gut sein. Selbst ein Scheißhaufen war in dieser Welt doch für etwas gut, und sei es auch nur, weil es sich die Schmeißfliegen darauf gemütlich machten.

War das wirklich Leben im Sinne der Schöpfung? Oder handelte es sich dabei womöglich um irgend so ein diabolisches Gewürm, das sich unsichtbar zwischen die menschlichen Angelegenheiten mogelte? Vielleicht würden sie ja noch wachsen. Vielleicht würden sie so groß wie Regenwürmer, Blutegel oder Blindschleichen. Vielleicht würden Zähne aus ihren unsichtbaren Mäulern hervorbrechen, so mächtig wie die Hauer von Säbeltigern. Aber vielleicht war das alles auch nur Hokuspokus. Vielleicht würden sie nach ein paar Tagen von selbst wieder verschwinden. Aber neben all den anderen Dingen, die Piet in diesen Tagen durch den Kopf gingen, glaubte er das am allerwenigsten.

Und deshalb ärgerte er sich mittlerweile auch darüber, dass er sich dem Arzt gegenüber dazu hatte hinreißen lassen, sich mit seiner kleinen Entdeckung wichtig zu machen. Was hatte sich Gaesbeeck auch so aufplustern müssen wie eine dumme Sumpfohreule? Kommt einfach so bei ihm vorbei und hält ihm schlaue Vorträge. Er hätte besser seinen Mund gehalten, auch wenn er ihm das Versprechen abgenommen hatte, über diese Geschichte vorerst zu schweigen. Wie sollte er sicher sein, ob er Gaesbeeck auch wirklich trauen konnte? Vielleicht machten in der Stadt nun ja schon die unmöglichsten Gerüchte über ihn die Runde.

Erst vor zwei Tagen war in seinem Laden ein eigenartiger Kerl aufgekreuzt, ein Maler. Er stellte sich ihm als Carel Fabrist vor und machte ein paar verdächtige Andeutungen. Piet hatte ihn auf möglichst elegante Art loswerden wollen, aber der Kerl ließ sich nicht so schnell abwimmeln. Unverschämt neugierig war sein Blick gewesen. Er hatte ihn taxiert wie ein seltenes Insekt, und Piet war sich beinahe sicher, dass er von der Sache irgendwie Wind bekommen hatte.

»Wir sollten miteinander reden«, hatte der Maler zu ihm gesagt. »Besuchen Sie mich die Tage doch in meinem Atelier in der Voldersgracht.«

Piet legte keinen gesteigerten Wert auf Fabrists Bekanntschaft. Aber er wollte doch in Erfahrung bringen, was Gaesbeeck diesem Kerl möglicherweise erzählt hatte. Es war noch nicht so lange her, dass selbst in einem Land wie Holland die Scheiterhaufen gebrannt hatten, wenn einer behauptete, er könne das Unsichtbare sichtbar machen. Er musste jetzt auf der Hut sein.

Als Piet am Morgen des 12. Oktober 1654 sein Haus in der Hippolytusbuurt verließ und sich auf den Weg zu Fabrist machte, blickte er noch einmal kurz in den Spiegel. Manchmal, wenn er sich selbst in die Augen schaute, kam es ihm beinahe so vor, als würde sich darin der Kosmos im Kleinen spiegeln. Mit der Pupille als zentralem Gestirn in der Mitte und der gefärbten Regenbogenhaut als Himmelszelt. Es gab Menschen mit blauen, grünen oder braunen Augen. Manche, wie die von Carla, funkelten unter dem satten Grün goldgelb wie Bernstein, und andere waren kalt und tot wie die Augen von Fischen. Er fragte sich dann, ob es überhaupt möglich sei, die Welt auf die gleiche Art zu betrachten, oder ob jeder Mensch nicht vielleicht ein Gefangener seiner ihm eigenen Sinnesnatur war.

Was Carla wohl darüber dachte? Ob sie wohl schon genauso sehnsüchtig den Tag erwartete, bis sie endlich bei ihm wäre? Ob sie wohl schon die Stunden zählte, die sie noch voneinander trennten? Vielleicht wäre es besser gewesen, sie gleich mit nach Delft zu nehmen, dachte Piet.

Bei ihrem Abschied in Amsterdam hatte ihm Carla versichert, dass sich jetzt alles zum Guten wenden würde. Hoffentlich behielt sie recht damit. Sie hatte ihn zum Abschied auf seine großen blauen Augen geküsst und ihm dann alle Farben aufgezählt, die sie darin entdeckte: Azurblau, Ultramarinblau, Kobaltblau, Nachtblau, Türkis-, Himmel-, Indigo- und Lilienblau. »Deine Augen erinnern mich an das Meer zu Hause«, hatte sie zu ihm gesagt. »Deine Augen sehen aus wie ein Ozean voller blauer Möglichkeiten.«

So etwas Schönes hatte zuvor noch kein Mensch zu Piet gesagt. Und allein schon deshalb musste er sich jetzt davon überzeugen, dass seine kleine Entdeckung da draußen nicht schon für dummes Gerede sorgte. Es ging nicht allein um seine Sicherheit, sondern auch um die von Carla. Und so machte sich Piet schließlich auf den Weg zu Fabrist.

Der 12. Oktober 1654 war ein geschichtsträchtiger Tag im Kalender der Stadt Delft – auch wenn an diesem Morgen noch nichts darauf hinwies, dass dieser Tag ein besonderer werden könnte.

-3-

Carel Fabrist, der damals noch kein stadtbekannter Säufer war und fest davon überzeugt, aus ihm könne ein sehr viel besserer Maler werden als Jan Vermeer, bei dem die wohlhabendsten Bürger von Delft gerade ihre Bilder in Auftrag gaben, hatte für Piets Besuch bereits alles vorbereitet.

Von der Hippolytusbuurt in die Voldersgracht war es nur ein kurzer Weg von nicht einmal zehn Minuten. An der Ecke zum Halsteeg bog Piet rechts ab. Ein Fischhändler bot auf der Straße seine Waren an: Barsch und frischen Hering. Eine alte Frau mit Holzpantinen an ihren nackten Füßen saß neben den Bottichen und schlitzte den Fischen die Bäuche auf. Sie schuppte die Häute glatt, pulte die Gedärme heraus und warf sie achtlos auf die Straße. Ein paar Möwen tanzten vor ihren Füßen herum und pickten die Reste auf.

Piet ging weiter am Kanal entlang und bog dann links in die Voldersgracht ein. Er passierte Holzwerkstätten, Böttchereien und Korbmacherbetriebe. Hier ganz in der Nähe hatte auch sein Vater einst sein Geschäft geführt, aber das war schon eine kleine Ewigkeit her. Vor einem Laden, der Stoffe verkaufte, stoppte Piet kurz und betrachtete die Ware in der Auslage. Den roten Samt fand er schlecht gefärbt, das Leinen zu grob gewebt und auch die Seide von höchstens durchschnittlicher Qualität. Nein, diese Konkurrenz musste er wirklich nicht fürchten. Er würde in seinem Tuchladen weit bessere Ware anbieten.

Bei diesem Gedanken hellte sich seine Miene etwas auf. In ein paar Wochen würden die Leute schon sehen, dass er ein ganz hervorragender Tuchhändler war – ganz egal, was sie hinter seinem Rücken nun womöglich schon über ihn tuschelten. Am Abend würde er die Fensterläden schließen und sich in seinem Leben endlich zu Hause fühlen. Er würde das Brot mit Carla teilen und auch die Liebe, wenn es Nacht wurde. Vielleicht waren seine Befürchtungen ja auch übertrieben. Vielleicht wusste der Maler gar nichts von seiner kleinen Entdeckung.

Fabrist begrüßte Piet an der Tür überaus entgegenkommend, so, als hätte er ihn bereits erwartet. Er trug ein kleines Mädchen auf seinem Arm, vielleicht vier oder fünf Jahre alt.

»Wer ist Krummnase?«, fragte das Mädchen. Fabrist entschuldigte sich sogleich bei Piet. »Sie ist noch ein Kind. Sie weiß nicht, was sie sagt.«

»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Sie wissen doch, Kinder und Betrunkene sagen immer die Wahrheit.«

Piet nahm der Kleinen ihre vorlaute Art wirklich nicht übel. Es stimmte ja auch, dass seine Nase ein bisschen krumm geraten war.

»Das ist meine Tochter Marejke«, stellte ihm Fabrist seine Tochter vor. »Und das ist Piet van Leeuwen. Gib ihm die Hand. Ich werde ihn malen.«

»Wegen seiner krummen Nase?«

»Du hältst jetzt besser deinen Mund und gehst zu deiner Mutter in die Küche.«

Fabrist setzte das Mädchen auf den Boden, gab ihr einen Klaps auf den Hintern und entschuldigte sich ein zweites Mal für seine vorlaute Tochter. »Du darfst ihr nicht böse sein. Sie ist ansonsten ein sehr braves Mädchen. Und lassen wir doch bitte die Förmlichkeit. Ich heiße Carel. Aber die meisten nennen mich einfach nur Fabrist. Komm doch bitte rein.«

Piet zögerte. »Was soll das heißen, du willst mich malen?«

»Komm doch erst mal rein. Mein Atelier ist oben unterm Dach. Ich gehe am besten vor.«

Das Holz knarzte unter ihren Schuhen, als sie die enge Stiege nach oben nahmen.

»Also noch mal, was soll das heißen, du willst mich malen?«, fragte Piet, als Fabrist die Tür seines Ateliers hinter sich schloss.

»Ich will einen Wissenschaftler malen und ich will, dass du mir Modell dafür stehst.«

»Ich bin nur ein einfacher Tuchhändler. Wie kommst du darauf, ich sei ein Wissenschaftler?«

Zwar erledigte Piet seine Studien durchaus mit der Ernsthaftigkeit eines Wissenschaftlers, auch wenn seine Disziplin noch eine sehr junge war und ein Name dafür noch nicht einmal erfunden, aber er wollte den gleichen Fehler jetzt nicht noch einmal begehen und nach Gaesbeeck auch noch Fabrist ins Vertrauen ziehen. »Ich bin der falsche Mann«, sagte er nur.

»Nein, du scheinst mir genau der richtige zu sein. Bevor ich dich in deinem Laden aufgesucht habe, war mit meiner Frau bei Gaesbeeck, wegen ihres dummen Hustens, der einfach nicht besser werden will. Irgendwie kamen wir auf dich zu sprechen. Gaesbeeck erzählte mir, dass du keineswegs nur ein einfacher Tuchhändler seist, sondern äußerst bewandert auf optischem Gebiet und die Wissenschaft womöglich vor einer bahnbrechenden Entdeckung stände. Er nannte dich den Mann der Stunde.«

»Das hat er gesagt?«

»Ja, so drückte er sich aus.«

Piet war überrascht. Gut, er hatte den Arzt mit seiner Entdeckung in aufrichtiges Erstaunen versetzt, aber Gaesbeeck hatte ihn doch zugleich spüren lassen, dass man die Beurteilung dieser Entdeckung besser den studierten Männern der Wissenschaft überließ. Männern wie ihm und nicht einem Tölpel von Tuchhändler. So hatte er sich zwar nicht ausgedrückt, aber Piet war sich ziemlich sicher, dass Gaesbeeck so etwas in der Art gemeint haben musste, als er ihn einen Christoph Kolumbus nannte. Es schien ihm ziemlich offensichtlich, dass er diese Bemerkung nur spöttisch gemeint haben konnte. Am meisten aber ärgerte ihn nun, dass dieser alte Wichtigtuer entgegen ihrer Verabredung seinen Mund doch nicht hatte halten können.

»Was hat dir Gaesbeeck sonst noch erzählt?«

»Nicht viel. Er sprach von einer kleinen Apparatur, die du angeblich erfunden hast. Und dass einem dieses Ding einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnet.«

Dass es genau dieser Blick war, der seine Neugierde weckte, ließ Fabrist unerwähnt. Vermeer, so erzählten es die Maler in der St.-Lukas-Gilde, sollte angeblich eine Camera obscura benutzen, um den Detailreichtum in seine Bilder zu zaubern. Fabrist war neidisch auf dessen Erfolg. Auch wenn er Vermeer bei jeder Gelegenheit schlechtmachte, wusste er doch sehr genau, dass er ihm mit seiner Kunst weit überlegen war. Nur deshalb hatte er Piet heute eingeladen. Er hoffte, dass Piet vielleicht noch etwas Besseres zu bieten hatte als eine Camera obscura. Etwas, das ihn endlich in die Lage versetzen würde, Vermeer zu übertrumpfen.

Es war von Anfang an eine sehr ungleiche Interessenlage, die Piet und Fabrist zeitlebens aneinanderketten sollte. Und so nahm schon dieser erste Morgen, den sie miteinander im Atelier des Malers verbrachten, einen für beide Seiten unvorhersehbaren Verlauf. Piet ließ sich trotz seiner Bedenken von Fabrist porträtieren, weil er in Erfahrung bringen wollte, was genau der Maler von seinen Studien wusste und wer sonst noch alles in der Stadt davon Kenntnis besaß. Und Fabrist nahm das Porträt zum Vorwand, um mehr über diese kleine Apparatur zu erfahren, die einem angeblich einen ganz neuen Blick auf die Welt eröffnete.

»Also gut«, sagte Piet.

»Vertrau mir, du wirst es bestimmt nicht bereuen. Stell dich bitte da vorne an den Tisch.«

Auf dem Tisch lag ein schwerer, aufgeschlagener Foliant. Im Hintergrund stand ein wuchtiger Eichenschrank, darauf ein Globus. Fabrist gab Piet einen Stechzirkel in die Hand und bat ihn, diesen locker zwischen seinen Fingern zu halten. »Schau direkt ins Licht«, sagte er. »Am besten schaut du so, als ob du gerade einen großen Gedanken fassen würdest.«

Piet fand die Anweisungen des Malers merkwürdig. Was für einen großen Gedanken denn? Wie guckt man, wenn man etwas Großes denkt? Er dachte sowieso sehr viel lieber über die Kleinigkeiten in der Welt nach. Dass Fabrist seine Haltung korrigierte und in dabei am Kinn berührte, empfand er als unangenehm. Körperliche Nähe war ihm noch immer sehr fremd, und er hatte auch noch nie einem Maler Modell gestanden.

Piet zweifelte noch einmal kurz, ob es wirklich eine so gute Idee sei, sich von Fabrist malen zu lassen. Von Carla hätte er sehr gerne ein Bild besessen. Es wäre ihm ein kleiner Trost gewesen, solange er noch auf sie warten musste. Wäre er selbst in künstlerischen Dingen etwas talentierter gewesen, hätte er von ihr das schönste aller Bilder gemalt. Ihr Haar war so schwarz wie eine Nacht ohne Sterne, ihre Lippen weicher noch als Samt und ihr Gesicht so symmetrisch geschnitten wie ein zweitüriger Altar. Von Carla ein Bild zu besitzen wäre wunderbar gewesen. Aber von sich selbst? Ehrlich gesagt, Piet fürchtete sich ein wenig vor dem Bild, das Fabrist von ihm entwerfen würde.

»Warte«, sagte Fabrist, »zieh deine Jacke aus. Nimm stattdessen diesen Gelehrtenmantel hier.«

Der Mantel war von kobaltblauer Farbe und fühlte sich weich und kostbar an. Samt von ausgesucht guter Qualität, das erkannte Piet mit dem fachkundigen Blick eines Tuchhändlers. Die Ärmel waren weit geschnitten, und am Kragen zierte eine hellrote Applikation aus Brokat den Stoff. Piet streifte den Gelehrtenmantel über und stellte sich dann wieder an den Tisch, wie es der Maler von ihm verlangte. Was ihn überraschte, war die Tatsache, dass der Mantel mehr oder weniger passte. An den Armen schlackerte der Stoff ein bisschen über die Handgelenke, aber die Länge an den Beinen stimmte so ungefähr. Fabrist hatte seinen Skizzenstift kaum zur Hand genommen, als er das Gespräch erneut auf die keine Apparatur lenkte.

»Erzähl mir etwas mehr von deinen Studien. Offen gesagt, bin ich nicht so richtig schlau geworden aus dem, was der Arzt erzählt hat.«

»Ich glaube nicht, dass es dich interessieren würde«, gab sich Piet einsilbig.

»Du täuschst dich. Ich würde wirklich sehr gerne etwas mehr darüber erfahren.«

»Was genau willst du denn wissen?«

»Was das für Gläser sind, die du in deiner Werkstatt schleifst. Stellst du Brillen her?«

»Nein, eine Brille brauche ich für meine Augen nicht.«

»Aber der Arzt sagt, du schleifst Gläser.«

»Das stimmt.«

Hatte ihn sein Verdacht also doch nicht getrogen. Gaesbeeck hatte sehr viel mehr über seine Studien verraten, als der Maler eben zugegeben hatte.

»Und wozu schleifst du diese Gläser, wenn du keine Brille brauchst?«, fragte er.

»Man sieht damit etwas mehr«, antwortete Piet knapp. »Was hat Gaesbeeck sonst noch erzählt?«

»Er sprach von merkwürdigem Leben, das du mit deinen Gläsern entdeckt hast. Und dass er sich selbst noch keinen Reim darauf machen könne. Aber dass die Sache ziemlich aufregend sei. Und er selbst auch sehr beeindruckt.«

»Der Arzt übertreibt. Ich mache das nur zu meinem privaten Vergnügen.«

»Trotzdem, diese Apparatur, von der er gesprochen hat, worum handelt es sich dabei genau?«

»Das ist schwer zu erklären.«

»Hast du schon einmal von der Camera obscura gehört?«, fragte Fabrist.

»Ja, ich hörte in Amsterdam davon.«

»Es wird behauptet, man könne damit sehr weit entfernte Gegenstände so nah an sich heranholen, dass man alle Details, ihre Geometrie und ihren Aufbau sehr viel besser erkenne als mit bloßem Auge.«

»Ich hörte davon.«

»Ist deine Apparatur von ähnlicher Natur?«

»Nein.«

»Sondern?«

»Wie schon gesagt, das ist schwer zu erklären.«

Dieser gottverdammte Heimlichtuer, ärgerte sich Fabrist. Trotzdem fragte er jetzt nicht weiter nach. Er spürte instinktiv, dass es keinen Sinn machen würde, auf eine schnelle Antwort zu drängen. Er musste darauf warten, dass sich Piet von selbst erklärte. Manchmal, wenn die Leute nicht mit der Sprache herausrücken wollten, hielt man am besten den Mund. So lange, bis ihnen das Schweigen irgendwann peinlich wurde und sie einem Dinge erzählten, die sie eigentlich gar nicht erzählen wollten. Mehr als einmal hatte Fabrist erlebt, dass sich die Leute um Kopf und Kragen redeten, wenn man sie nur ließ. Die nächste halbe Stunde widmete er sich ausschließlich seinem Bild. Er konturierte Piets Kinn, seine Wangen und auch seine Augen, die er bemerkenswert groß und blau fand. Als er schon nicht mehr damit rechnete, überhaupt noch eine Antwort zu erhalten, nahm Piet das Gespräch von selbst wieder auf.

»Wenn ich mich nicht täusche, zeigt einem die Camera obscura die Dinge auf dem Kopf, also verkehrt herum. Das ist bei meiner Apparatur nicht der Fall. Und um dir die Wahrheit zu sagen, mich interessieren die weit entfernten Dinge auch nicht besonders, jedenfalls nicht in einem räumlichen Sinne. Mir geht es mehr um die Dinge, die wir direkt vor unserer Nase haben, mit bloßem Auge aber trotzdem nicht erkennen können.«

Darum bemüht, möglichst beiläufig zu klingen, so, als würde ihn die Sache nur am Rande interessieren, sagte Fabrist: »Als Maler bin ich daran gewöhnt, meine Umgebung sehr genau zu beobachten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die Dinge, die ich direkt vor meiner Nase habe, nicht sehen kann.«

Piet wurde jetzt langsam etwas gesprächiger. »Glaub mir«, sagte er, »auch meine Beobachtungsgabe ist nicht die schlechteste. Ich bin zwar kein Maler wie du, aber es gibt Dinge auf der Welt, für die wir Menschen blind sind.«

»Du sprichst in Rätseln, mein Freund. Was sollen das für Dinge sein?«

»Nichts weiter Aufregendes«, ruderte Piet zurück. »Ich glaube nicht, dass du daran Gefallen fändest.«

»Doch, doch. Als Maler interessiert mich alles, was mir die Welt etwas genauer zeigt. Erklär es mir bitte.«

Piet, der sich eigentlich nicht weiter dazu hatte äußern wollen, aber doch einigermaßen stolz auf das neue Glas war, das er erst gestern Abend geschliffen hatte, gab seine Zurückhaltung, wenn auch nur zögerlich, nun mehr und mehr auf. Es schmeichelte seiner Eitelkeit, dass Fabrist ein so aufrichtiges Interesse an seinen Studien zeigte. Und außerdem schien er nicht zu jener Sorte Leute zu zählen, die gleich den Teufel an die Wand malten, wenn sie von etwas Fremdem, für sie Ungewohntem hörten. Vorsichtig fragte Piet: »Glaubst du, dass es ein Leben jenseits des bloßen Augenscheins geben könnte?«

»Ich weiß noch immer nicht, worauf du hinauswillst.«

»Ich frage dich, ob du dir vorstellen kannst, dass um uns herum eine Welt existiert, von der wir bislang nichts ahnen?«

Fabrist legte seinen Pinsel zur Seite. »Haben die Dinge, von denen du redest, Farben?«, fragte er möglichst unverfänglich.

»Mal mehr, mal weniger. Es kommt darauf an, was man betrachtet. Manches ist farbenprächtiger als die Blumen auf einer Sommerwiese, anderes transparenter noch als Glas.«

»Was ist mit den fremden Lebewesen, die du angeblich entdeckt hast? Haben die Farben?«

»Was genau hat der Arzt dir davon erzählt?«

»Nichts weiter. Nur, dass sie quicklebendig auf ihn wirkten.«

»Mehr nicht?«

»Er sprach von einer Flüssigkeit, in der sie angeblich herumschwimmen, und dass sie uns sehr viel näher seien, als uns allen vielleicht lieb ist. Ich habe keine Ahnung, was er damit meint. Aber ehrlich gesagt, geht mir diese Heimlichtuerei auch gehörig gegen den Strich. Sag mir doch einfach, was es damit auf sich hat. Was ist das für eine Flüssigkeit? Und was sind das für Lebewesen, die der Arzt animalcules nennt? Lassen wir doch endlich dieses blöde Drumherumgerede.«

Piet schwieg. Und je länger er schwieg, desto mehr verlor Fabrist seine Geduld. »Glaub mir«, sagte er schließlich, »es nicht gut, die Menschen im Ungewissen zu lassen. Es gibt Männer wie Gaesbeeck und mich, die finden deine Geschichte aufregend. Aber es gibt da draußen auch andere Leute, denen könnten solche Geschichten Angst einjagen.«

»Angst?«

»Ja, Angst. Oder glaubst du etwa, man würde in der Stadt nicht schon darüber reden? Alles, was unsichtbar ist, aber dennoch vorhanden, wie du behauptest, verängstigt die Menschen. Nur Geister sind unsichtbar, und vor denen fürchten sie sich normalerweise.«

Dieser Gedanke war Piet auch schon gekommen. Fabrist hatte recht. Wenn Gaesbeeck dem Maler von seiner Entdeckung erzählt hatte, dann hatte er bestimmt auch noch anderen Leuten davon erzählt. Vielleicht verdächtigte man ihn nun schon, in seinem Haus einen bösen Zauber zu treiben, mit dem Leibhaftigen unter einer Decke zu stecken oder was immer sie sich sonst noch in ihren dummen Köpfen zusammenreimen mochten.

»Lass mir Zeit«, sagte Piet. »Vielleicht zeige ich dir meine Apparatur in den nächsten Tagen einmal. Vielleicht sieht ein Maler wie du ja mehr, als ich selbst bisher zu erkennen vermag. Vielleicht fehlt es mir an der nötigen Fantasie.«

Nicht völlig befriedigt, aber für den Moment doch zumindest beschwichtigt, wandte sich Fabrist wieder seiner Leinwand zu. Er korrigierte Piets Haltung noch einmal und wies ihn an, sein Gesicht mehr zum Licht zu drehen. Danach stand Piet wieder leblos wie eine Puppe vor dem Fenster. Nur seine Augen waren die ganze Zeit über in aufgeregter Bewegung. Noch nie hatte Fabrist einen Menschen gemalt, der seine Hände so stillhalten konnte, wie Piet es tat. Seine Hand hielt den Stechzirkel so gleichmäßig abgewinkelt als sei er an ihm festgewachsen. Sein Kinn sackte keinen Millimeter nach unten, und er verlagerte auch sein Gewicht nicht von einem Bein auf das andere. Er zuckte noch nicht einmal mit den Wimpern. Es schien beinahe so, als hätte er aufgehört zu atmen.

Die nächste Stunde verbrachten die beiden, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Fabrist, der schon sehr viele Menschen porträtiert hatte, staunte über Piets Reglosigkeit. Und was er ihm eben von seiner Apparatur erzählt hatte, weckte seine Neugierde weit mehr, als er zu erkennen gab.

Farbenprächtiger als die Blumen im Sommer, transparenter noch als Glas. Fabrist konnte sich nur sehr schwer vorstellen, dass irgendetwas farbenprächtiger sei als eine Sommerwiese. Und nichts, was durchscheinender war als Glas. Aber wenn es stimmte, was dieser kleine Kerl da eben behauptet hatte, dann musste er es unbedingt mit eigenen Augen sehen. Er musste nur eine kleine Gefälligkeit in sein Bild legen. Dann würde er schon mit der Sprache herausrücken. Fabrist wusste um die Eitelkeit der Menschen. Mehr noch als dem Geld waren sie den Komplimenten zugetan, die Männer ebenso wie die Frauen.

Nach einer weiteren halben Stunde, ohne dass Piet sich einen Millimeter bewegt hätte, sagte Fabrist: »Es ist gut für heute. Wir machen morgen weiter.«

»Darf ich es sehen?«

Piet zog den Gelehrtenmantel aus und legte den Zirkel zurück auf den Tisch.

Fabrist stand hinter seiner Staffelei und wischte seinen Pinsel mit einem alten Lappen ab. »Das Bild?«

»Ja, ich würde es gerne sehen.«

»Normalerweise zeige ich meine Arbeiten erst, wenn sie fertig sind. Aber bitte, wenn du unbedingt willst.«

Piet betrachtete das Gemälde. Die Figur war zwar erst angedeutet, aber er erkannte doch schon, dass der Mann auf dem Bild ihm schmeichelte. Nur der leichte rote Ton in den Haaren, wo Fabrist schon etwas mehr Farbe aufgetragen hatte, erinnerte ihn von Ferne an seine eigenen Haare. Und vielleicht auch noch der Kehlkopf, der auf dem Bild ebenso deutlich hervorstach, wie ihm sein eigener Adamsapfel unter dem Kinn herumwippte. Insgesamt aber wirkte der Mann auf dem Bild sehr viel stattlicher, als er sich selbst empfand, irgendwie respektabler.

Wer behauptete, dass Piets Anblick etwas gewöhnungsbedürftig sei, lag damit nicht ganz falsch. Seine Nase war so krumm wie die eines Schlägers, die unzählige Male gebrochen schien. Seine Mundwinkel reichten ihm, wenn er lachte, bis zur Nasenspitze. Aber das kam nur sehr selten vor. Piet war in seinem bisherigen Leben kaum einmal zum Lachen zumute gewesen. Eingerahmt war sein Gesicht von hellroten, fast orangefarbenen Haaren, die am Morgen manchmal so weit von seinem Kopf abstanden, als hätte er sie in Zuckerwasser getränkt. Am meisten aber litt Piet – neben seiner krummen Nase und seinem leicht nach innen gedrehten rechten Fuß, der ihn zeitlebens humpeln ließ – unter seinem zwergenhaften Auftritt. Wenn er sich auf seine Zehenspitzen stellte und seinen Rücken ganz gerade durchstreckte, maß er gerade mal einen Meter neununddreißig.

Dass die Natur, die manchmal von durchaus ausgleichender Gerechtigkeit sein kann, ihn im Gegenzug mit außergewöhnlicher Scharfsichtigkeit belohnt hatte, tröstete Piet über seinen Makel nicht hinweg. Wie die meisten Menschen litt auch er stärker unter seinen Defiziten, als er sich über seine Vorzüge freuen konnte. Er litt unter seiner krummen Nase, seinem Hinkefuß und seiner Kleinwüchsigkeit. Und so hatte er auch nichts gegen die Schmeichelei einzuwenden, die Fabrist in sein Bild gelegt hatte. Allzu gerne wollte er sich selbst so sehen. Vor allem wollte er, dass Carla ihn auf diese Art betrachten könne. Völlig auszuschließen war das streng genommen nicht. Jeder sah in einem Menschen letzten Endes doch etwas anderes. Und die Liebe konnte, wie allgemein behauptet wurde, ja für so manches im Leben blind sein.

Zumindest hatte ihn Carla nicht spüren lassen, dass sie sich an seinem Äußeren störte, in keinem der kostbaren Augenblicke, die sie in Amsterdam miteinander verbracht hatten. Sie hatte seine Klugheit gerühmt und seine Geschichten, mit denen er sie zum Staunen brachte. Sie war voll der Dankbarkeit über sein großzügiges Wesen gewesen, als er sie aus dem Spielhaus freigekauft hatte. Sie hatte zu ihm gesagt, dass seine Augen sie an das Meer zu Hause erinnern würden. Piet wusste, dass Carla das Meer über alles liebte. Er hoffte nur, dass es nicht bloß Dankbarkeit sei, die sie für ihn empfand.

Als Piet das Atelier des Malers verließ, war er beinahe guter Dinge. Vielleicht sah ja auch ein Mann wie Fabrist in ihm etwas mehr als nur die krumme Nase und den Hinkefuß. Und so beschloss er, vorerst auch die Gerüchte zu vergessen, die über ihn in der Stadt möglicherweise schon die Runde machten. Aber deshalb brannte sich ihm dieser Tag nicht so tief in sein Gedächtnis ein. Dass Piet den 12. Oktober 1654 zeitlebens nie vergessen konnte, hatte nichts mit Fabrist zu tun.

-4-

Piet hatte das Atelier des Malers gerade verlassen und bog von der Voldersgracht in die Papenstraat ein, als eine gewaltige Explosion die Erde unter ihm beben ließ. Alle Menschen auf der Straße duckten sich, und auch Piet zog den Kopf ein. Wer etwas in seinen Händen trug, ließ es augenblicklich fallen. Zwei Brauereipferde, die einen Leiterwagen mit Bierfässern hinter sich herzogen, stemmten sich auf ihren Hinterläufen dem Himmel entgegen. Sie wieherten so jämmerlich, als würden sie gleich geschlachtet.

Bevor Piet halbwegs begriff, was um ihn herum geschah, donnerte es zum zweiten Mal. Ein ohrenbetäubender Lärm, noch furchterregender als beim ersten Knall, schwängerte die Luft. Die Pferde wieherten jetzt noch lauter, und der Mann auf dem Bock konnte sie nicht länger im Zaum halten. Sie rissen an ihren Halftern, verkeilten ihre Leiber im Sprung und begruben den Karren, die Bierfässer und auch den Kutscher unter sich.

Piet drückte sich an die nächstbeste Hauswand. Am Ende der Straße brachen schon die ersten Gebäude in sich zusammen. Balken, Ziegel, Türen und Fenster flogen durch die Luft. Wo eben noch eine Reihe massiver Backsteinhäuser gestanden hatte, blieben nur ein paar Mauern stehen, die nun wie faule Zähne in den Himmel ragten. Piet kniff die Augen zusammen. Kaum zehn Meter weit konnte er noch blicken. Der Rauch brannte in seinen Augen, und die Luft schmeckte nach Schwefel. Seine Ohren waren wie betäubt. Schreiend rannten Männer und Frauen an ihm vorüber, und wer ihnen im Weg stand, wurden einfach niedergetrampelt.

Pferde und Kühe durchbrachen ihre Gatter, Hühner flatterten aufgeregt durch die Luft, Hunde heulten wie Wölfe, und Gänse lernten ganz plötzlich das Fliegen. Innerhalb weniger Minuten geriet in der Stadt alles aus den Fugen. Auf die großen Explosionen folgten kleinere. Holz splitterte, Ziegel zerbarsten, und Fensterscheiben krachten klirrend auf das Pflaster.

Aus Angst vor den herabfallenden Trümmern hielt sich Piet in der Mitte der Straße und kämpfte sich langsam vor in Richtung Groote Markt. Das Pflaster war aufgerissen. Er kletterte über Schuttberge und Leichen. Unmittelbar vor der dritten großen Explosion, aber das bildete er sich vielleicht auch nur ein, zog ein Klagelaut über die Dächer von Delft – so unheilvoll, als würde einer seine Posaune auf ihren dunkelsten Tönen blasen.

Piet warf sich jetzt wieder bäuchlings auf den Boden und presste seinen Kopf zwischen seine Hände. Er roch die Erde, die aus den Ritzen des Kopfsteinpflasters hervorquoll. Als die Explosion nach Sekunden langsam verebbte, es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, blinzelte er vorsichtig durch seine verschränkten Arme. Die Sonne war schwarz umrandet wie von einem Trauerflor, und der Mond, dessen Konturen noch schwach am Horizont zu erkennen waren, sah aus wie in Blut getränkt.

Vor ihm auf dem Pflaster, nur wenige Meter von ihm entfernt, blickte ihm eine Frau entgegen. Ihre Haut war zartrosa wie frische Kirschblüten und ihre langen Haare flachsblond. Starr vor Entsetzen fixierte sie ihn mit ihren weit aufgerissenen Augen. Piet wollte den Blick von ihr abwenden, aber es gelang ihm nicht. Wie ihre Augen um Gnade flehten. Ihr Hals hing in blutigen Fetzen unter dem Kinn. Der Rest ihres Körpers fehlte. Mit Mühe bezwang Piet seinen Ekel und kroch auf seinem Bauch zu ihr rüber. Als ihr Blick brach und hart wie Glas wurde, schloss er ihr die Augen. In Amsterdam hatte er einen Matrosen einmal behaupten gehört, dass der Kopf enthaupteter Menschen noch für ein paar Minuten weiterlebe. Piet hatte das damals nicht glauben wollen, aber jetzt glaubte er es.

Die Bäume um den Groote Markt herum waren ohne Blätter und ihre Stämme schwarz wie Holzkohle. Die Häuserzeile auf der Nordseite der Nieuwe Kerk gab es nicht mehr. Körperteile von Menschen und Tieren lagen wie Unrat auf dem Pflaster verstreut. Blutige Flügel von Gänsen, die Gedärme von Kühen und die abgerissenen Glieder von Menschenleibern. Der Platz sah aus, als sei das Jüngste Gericht über die Stadt gezogen.

Piet sah die von Asche grauen Menschen über den Groote Markt wanken. Manche saßen zusammengekauert auf dem Boden und wimmerten leise vor sich hin. Andere schrien vor Schmerz über ihre Verletzungen. Piet robbte weiter vorwärts. Er wagte nicht, aufzustehen. Er fürchtete die nächste Explosion. Er wollte nicht sterben. Nicht jetzt, wo er den Zipfel des Glücks das erste Mal in seinem Leben zu fassen bekam. Für Carla wäre er gestorben, aber nicht ohne sie.

Für einen Sekundenbruchteil durchzuckte Piet der bange Gedanke, dass womöglich er selbst der Grund für diese Katastrophe sei. Lässt Gottes Allmacht Feuer über die Stadt regnen, weil ich seine Schöpfung allzu neugierig ins Visier genommen habe? Ist es Frevel, was ich mit meiner Apparatur anstelle? Wenn man diese merkwürdigen Existenzen nicht mit eigenen Augen sehen konnte, hatte Gott ja vielleicht einen guten Grund, sie vor den Augen der Menschen zu verbergen. Piet, der schon sehr lange nicht mehr an Gott glaubte, weil er seinen Glauben sehr früh in seiner Kindheit verloren hatte, war sich in diesem Moment nicht sicher, ob Himmel und Hölle nicht doch existierten.

Während die Feuer in den Straßen loderten, sah Piet eine größere Gruppe Menschen vor dem Hauptportal der Nieuwe Kerk auf die Knie sinken. Ganz eng drängten sie sich aneinander. Manche hielten sich dabei an den Händen fest. Vor ihnen, mit dem Rücken zur Kirche, stand ein Mann, der seine Arme weit ausbreitete. Piet konnte ihn durch die Rauchschwaden nicht erkennen. Aber seine Stimme klang bis zu ihm herüber.

»Bereut, was ihr getan habt«, rief der Mann.

»Ja, wir bereuen«, antworteten ihm die Menschen wie im Chor.

Jeder, der dort vorne niederkniete, bereute. »Wollt ihr versprechen, künftig keine Götzen mehr anzubeten?«, rief der Mann der knienden Menge zu.

»Ja, das wollen wir.« Alles versprachen sie herzugeben, wenn Gott sie bloß verschonen möge.

»Wollt ihr versprechen, dass ihr euer Leben von Grund auf ändern werdet?«

»Ja, auch das wollen wir.«

»Wollt ihr ab heute ein gottgefälliges Leben führen, weder Unzucht treiben noch lügen? Wollt ihr den Herrn loben und preisen?«

»Ja.«

Nie wieder, schworen die Menschen auf ihren Knien, wollten sie mehr zum Geld als zu ihrem Gott beten.

Bestimmt hundert Menschen duckten sich vor dem Portal der Nieuwe Kerk, über ihnen der wabernde Höllenrauch. Auf alles versprachen sie zu verzichten, nur nicht auf ihr armseliges, kleines Leben. Hätte in diesem Moment ein Racheengel seine Arme durch die Wolken gestreckt und eine Räucherpfanne, gefüllt mit glühenden Kohlen, über ihnen ausgeschüttet, wäre niemand erstaunt gewesen, auch Piet nicht. Die Katastrophe war so ohne jedes Beispiel und ohne jeden erkennbaren Grund, dass nur göttlicher Zorn als Ursache dafür in Betracht kam. Piet wollte sich gerade wieder auf seine kurzen Beine rappeln, als die Erde unter ihm zum vierten Mal bebte. Wieder schützte er seinen Kopf mit den Armen, und dieses Mal betete er dabei still vor sich hin. Das hatte er schon ewig nicht mehr getan. Aber weil vor dem Sterben nun einmal das Beten kommt, betete jetzt auch er.

Piet krallte sich mit gekrümmten Fingern in den Boden. Als sich der Donner zum vierten Mal legte, war auch die Häuserzeile auf der Südseite der Kirche in sich zusammengebrochen. Aber er lebte noch. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel nicht weiter auf, dass er humpelte. Fast alles, was sich noch bewegte, humpelte. Nur die Menschen, die vor dem Hauptportal der Kirche knieten, rührten sich nicht vom Fleck. Sie beteten jetzt sogar noch ein bisschen lauter. Ein alter Mann hielt Piet fest, gerade als er an der Menge vorbeiwollte. »Bereue, bevor es zu spät ist. Gott wird uns alle strafen.«

In diesem Moment wäre Piet beinahe selbst auf die Knie gesunken. Seine Sinne waren so verwirrt, dass er fürchtete, gleich würde der Stern Wermut seinen Schatten über die Stadt senken und das Wasser in den Kanälen vergiften. Vier laute Explosionen hatte er gehört, und ihn ängstigte die Vorstellung, drei weitere würden jetzt noch folgen. Ganz klar sah er das Unglück mit einem Mal vor sich. Hatte das Grollen vorhin nicht genauso geklungen, als würde einer seine dunkle Posaune blasen?

»Hast du die Posaune auch gehört?«, fragte er den Alten. Der Mann reagierte nicht. Er wiederholte nur seine Aufforderung, diesmal noch drängender. »Knie nieder und bereue.«

In Piets Kopf hämmerten die Worte.

Und der erste Engel blies seine Posaune. Und es verbrannte ein Drittel des Landes, ein Drittel der Bäume und alles grüne Gras.

Piet schaute auf die Bäume auf dem Groote Markt, deren Stämme schwarz wie Pech dastanden und deren Blätter allesamt verschwunden waren. Er blickte hinüber zum Kanal und sah die zerborstenen Lastkähne darauf. Brennende Holzplanken schwammen auf dem Wasser.

Und der zweite Engel blies seine Posaune. Und ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer leben, kam um, und ein Drittel der Schiffe wurde vernichtet.

Piet schaute nach oben, wo er die Sonne kaum noch finden konnte.

Und der dritte und der vierte Engel bliesen ihre Posaune. Da wurde ein Drittel der Sonne und ein Drittel des Mondes und ein Drittel der Sterne getroffen, sodass sie ein Drittel ihrer Leuchtkraft verloren.

Es hätte nicht viel gefehlt, und Piet wäre tatsächlich auf seine Knie gesunken – ohnmächtig die drei Explosionen erwartend, die jetzt noch folgen würden. Am meisten fürchtete Piet die fünfte Posaune. Wenn er mit seiner Vermutung richtiglag, würde sich bei ihrem Klang der Schacht des Abgrunds unter ihnen öffnen. Heuschrecken würden aus der Erde hervorkriechen und die Menschen fünf Monate lang quälen – mit Bissen, schlimmer noch als die Stiche von Skorpionen. Genauso stand es in der Offenbarung des Johannes.

Schweißperlen rollten über Piets Stirn, und rote Flecken bedeckten seine Wangen. Bildete er sich das alles bloß ein? Oder war es tatsächlich das Jüngste Gericht Gottes, das über die Stadt zog? Der Alte zerrte weiter an seinem Ärmel. »Bete, bevor es zu spät ist.«

Trotzig riss sich Piet los. Nein, er würde nicht niederknien. Das alles waren doch nur Ammenmärchen, die man den Menschen auftischte, um sie auf die Kirchenbänke zu zwingen. Ausgedacht von den selbst ernannten Stellvertretern Gottes, um die Menschen zu knechten. Beten, dachte Piet, hatte noch nie geholfen. Eben gerade hatte er still vor sich hin gebetet. Und mit welchem Ergebnis? Die Häuser um ihn herum waren trotzdem zusammengestürzt und die Menschen darin gestorben. Wenn es Gott wirklich gab, scherte er sich nicht um jene, die zu ihm beteten.

Piet hetzte vor bis zum Kanal. Er lief vorbei an umgestürzten Handkarren und Pferdefuhrwerken, stieg über noch mehr Leichen und zerborstene Fensterscheiben. Er sah Frauen, die ihre Kinder vor den umstürzenden Trümmern mit ihren Leibern zu schützen versuchten, und Männer, die das Feuer mit dem Wasser aus den Kanälen bekämpften. Am Haus des Fischhändlers wechselte er die Straßenseite. Die Frau, die dort am Morgen neben den Bottichen mit Barsch und Hering gesessen hatte, lag tot auf dem blutroten Pflaster. Das Loch in ihrem Bauch war größer noch als eine Faust, und über die wulstigen Ränder quollen ihre Eingeweide nach draußen. Ein Köter saß auf ihren Beinen und schlug seine Zähne in das wunde Fleisch. Er knurrte böse, als Piet an ihm vorüberhumpelte.

An der Ecke zur Choorstraat fiel Piet eine junge Mutter in die Arme. »Hilf mir«, schrie sie. »Meine Tochter liegt da unter den Steinen. Wir müssen sie ausgraben.« Hinter der Frau, dort, wo früher ein Haus gestanden haben musste, klaffte ein tiefes Loch, das sich mit schwarzem Wasser füllte. Piet erkannte, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Er ließ die Frau stehen und humpelte weiter. Der Schwefelgeruch machte ihm das Atmen schwer. Er hustete und hielt sich Mund und Nase zu.

Gerade, als er die Hippolytusbuurt erreichte, bebte die Erde zum fünften Mal. Piet sah durch die Rauchschwaden hindurch die Magd des Nachbarn auf die Straße stürzen und den schmalen Riss, der sich in der Hauswand hinter ihr bildete. Wie ein Kartenhaus brach das Gebäude in sich zusammen. Die Magd schrie irgendetwas, aber ihre Worte gingen in dem Lärm unter.

Reglos blieb Piet für einen Moment an der Ecke stehen. Alle Explosionen zuvor hatten sich in rascher Folge ereignet. Erst als er fast sicher war, dass der Spuk nun ein Ende hatte, humpelte er weiter. Außer der Magd standen noch fünf, sechs andere Leute auf der Straße. Soweit es Piet erkennen konnte, waren bis auf das Haus des Nachbarn alle Gebäude in der Straße unversehrt geblieben. Auch sein eigenes Haus stand noch.

Im Vorübergehen fasste Piet die Magd tröstend am Arm. Vor ein paar Stunden noch hatte sie die Wäsche im Hof aufgehängt und ein Lied vor sich hin gesummt. Piet hatte sie von seinem Fenster aus beobachtet und sich gefragt, ob wohl auch Carla bei ihrer Arbeit singen würde. Nur zwei, drei Stunden war das her. Aber jetzt hatten selbst die Vögel aufgehört zu zwitschern. Über der Hippolytusbuurt lag eine unheilvolle Stille.

Die Magd schaute Piet an, fassungslos. Sie spuckte vor ihm aus und lief dann schnell fort. Sie rannte, als sei der Teufel hinter ihr her. Als Piet die Tür zu seinem Haus öffnete, schielten die Leute auf der anderen Straßenseite zu ihm herüber. Sie steckten die Köpfe zusammen. Sie taten ihm nichts. Also auch nichts Gutes. Verdammt, dachte er.

Er schloss die Tür hinter sich zweimal ab. Drinnen im Haus beruhigte er sich langsam. Keine Kachel war von den Wänden gefallen. Die Regale im Tuchladen standen unverrückt an der Wand, darauf die Stoffballen, die er schon einsortiert hatte. Alles war heil geblieben. Piet ging in die Werkstatt und öffnete den Kabinettschrank. Er nahm das Holzkästchen heraus, in dem er seine Apparatur unbeschädigt wiederfand. Dann sackte er auf dem Hocker vor seiner Schleifmaschine in sich zusammen. Der Schlund des Abgrunds hatte sich nicht geöffnet. Es waren keine Heuschrecken über die Erde hergefallen, und es hatte auch keiner seine Räucherpfanne mit glühenden Kohlen über der Stadt ausgeschüttet. Was auch immer die Ursache der Katastrophe gewesen sein mochte, mit Gottes Strafgericht hatte das bestimmt nichts zu tun, beruhigte er sich. Er war froh, noch am Leben zu sein, auch wenn er in diesem Moment am Sinn des Lebens zweifelte. Die Liebe war vielleicht ein Grund zum Leben. Vielleicht war Carla ein Grund. Aber was war selbst die Liebe wert, wenn es dem Schicksal gefiel, einem das Glück unversehens aus den Händen zu reißen?

Piet hätte später nicht sagen können, wie lange er untätig in seiner Werkstatt gehockt hatte. Aber es war schon dunkel geworden, als es an seine Tür klopfte. Draußen war ein Wind aus südwestlicher Richtung aufgefrischt, der die Fackeln der Helfer immer wieder ausblies. Piet hatte sich an keiner ihrer Hilfsaktionen beteiligt. Er hatte weder Wasser aus den Kanälen geschöpft, um die Feuer zu löschen, noch hatte er unter den Schuttbergen nach Überlebenden gegraben. Er hatte einfach nur so dagesessen. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, noch einmal nach draußen zu gehen. Es gab weit kleinere Katastrophen in der Welt, für die irgendeiner büßen musste. Dass die Magd des Nachbarn vorhin vor ihm ausgespuckt und die Leute auf der Straße argwöhnisch zu ihm herübergeschielt hatten, war ihm Warnung genug. Erst das Klopfen an der Tür riss Piet aus seinen Gedanken. Es regnete in dichten Strömen, und Gaesbeeck triefte vor Nässe.

»Ich wollte nur kurz bei dir vorbeischauen und sehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Mit mir oder mit meiner Apparatur?«

»Darf ich reinkommen?«

Piet hielt Gaesbeeck die Tür auf, ging vor in die Küche und zündete die Tranfunzel auf dem Tisch an.

»Hast du einen Schnaps?«

»Nur Wasser.«

»Dann eben Wasser.«

Gaesbeeck trank sein Glas hastig aus.

»So eine Schweinerei«, sagte er. »Mindestens tausend Tote liegen da draußen auf den Straßen. Glaub mir, wäre heute nicht Schweinemarkt in Schiedam abgehalten worden und Jahrmarkt in Voorburg, wäre die Zahl der Opfer wohl noch weit höher. Und das alles nur wegen diesem Schwachkopf von Sekretär.«

»Sekretär?«

»Ja, Soetens, Cornelis von Soetens, um genau zu sein, seines Zeichens Sekretär der Nationalversammlung.«

»Ich verstehe nicht.«

»Aber du kennst das Geheimnis von Holland, oder? Weißt du, wie viel Schießpulver im Keller unter dem alten Klarissenkloster eingelagert war? Ich kann es dir sagen. Vierzig Tonnen, damit die Engländer, die Franzosen oder die Spanier eine böse Überraschung erleben, wenn es ihnen mal wieder einfällt, einen Krieg anzuzetteln.«

Langsam begriff Piet, was Gaesbeeck ihm zu erklären versuchte.