Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus - Jochen Hirschle - E-Book

Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus E-Book

Jochen Hirschle

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Beschreibung

Mit der Konsumgesellschaft erschafft der Kapitalismus eine Gesellschaftsordnung, in deren Zentrum nicht mehr die Produktionsstätte steht. Denn während die industriellen Produktionsstätten immer mehr in Billiglohnländer ausgelagert werden, arbeitet die moderne Ökonomie unter Hochdruck mit den Mitteln von Werbung, Produktdesigns und Konsumarchitekturen an der imaginativen Verklärung der Waren. Sie erzeugt eine transzendente Welt, die zur strukturellen und kulturellen Basis des sozialen Lebens wird. Die Produkte in den westlichen Industrienationen treffen schon lange nicht mehr auf ein hinreichendes Maß natürlicher oder tradierter Bedürfnisse von Individuen, die deren Konsum motivierten. Die Wirtschaft muss daher, will sie nicht in Rezession und Krisen versinken, mit ihren eigenen Mitteln den Grundstein für die Erzeugung der Nachfrage legen: Vor unseren Augen verwandelt sich so der öffentliche Raum in eine Konsumwelt aus Shopping Malls, Brand Stores, Multiplex Kinos, Kaffeebars, Clubs, Restaurantketten und Freizeitparks, und zieht das Leben der Menschen in den Bann von Markenprodukten und Konsumpraktiken. Die Wirtschaftssoziologie nimmt diese Veränderungen kaum zur Kenntnis, sie verharrt in ihrer Analyse des Kapitalismus aus der Perspektive der Produktionsfaktoren. Dabei hat sich die moderne Ökonomie längst von ihrem einstigen Epizentrum, der Produktionsstätte als 'stahlhartem Gehäuse der Hörigkeit', verabschiedet. Jochen Hirschle analysiert die Umrisse des neu entstandenen Systems und reintegriert es als soziale Tatsache im Sinne Émile Durkheims in die Soziologie.

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[1]Jochen Hirschle

Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus[2]

[3]Jochen Hirschle

Die Entstehung des transzendenten Kapitalismus

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München

[4]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN(epub) 978-3-86496-018-5

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

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© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012

Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Einbandfoto: © Bigstock

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98

www.uvk.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]Inhalt

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Einleitung: Die Zukunft einer Illusion

1      Modernisierung

1.1   Das Dreistadiengesetz: Auguste Comte

1.2   Sozialer Wandel als Evolution: Herbert Spencer

1.3   Arbeitsteilung und Integration: Emile Durkheim

1.4   Die religiösen Grundlagen der ökonomischen Moderne: Max Weber

1.5   Systemische Evolution: Talcott Parsons

1.6   Systematisierung und Kritik

2      Von der Produktions- zur Konsumgesellschaft

2.1   Die zerstörte Ordnung: Karl Polanyi

2.2   Die disparate Ordnung: Daniel Bell

2.3   Die revidierte Ordnung: John K. Galbraith und Jean Baudrillard

2.4   Die wiedergefundene Ordnung: Mary Douglas und Baron Isherwood

2.5   Zusammenfassung

3      Der transzendente Kapitalismus

3.1   Von der protestantischen Ethik zur kapitalistischen Transzendenz

3.2   Wirtschaftswachstum und Konsum

3.3   Der Wert der Waren

3.4   Konsum als soziale Praxis

3.5   Die generative Matrix des Sozialen

3.6   Rekonstruktion

Literatur[6]

[6]Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1

Die Entstehung des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik

Abbildung 2

Matrimonialer Tausch in Polynesien

Abbildung 3

Entwicklung des Produktionsvolumens (1970-2010)

Abbildung 4

Konsumausgaben für Nahrungsmittel und für Freizeit/Kultur

Abbildung 5

Entwicklung der Werbeausgaben in Deutschland und den USA

Abbildung 6

Transfer kultureller Werte auf Konsumgüter

Abbildung 7

Eindringen des Konsums in die soziale Praxis

Abbildung 8

Verbreitung von Shopping als Freizeitaktivität

Abbildung 9

Synergie-Effekte im System des Konsums

Abbildung 10

Die Verwandlung des Kapitalismus

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1

Techno-ökonomische Struktur und Kultur nach D. Bell

Tabelle 2

Verbreitung kommodifizierter Freizeitaktivitäten

[7]Einleitung: Die Zukunft einer Illusion

Man braucht nur einen Blick in die Marketing-Literatur neueren Datums zu werfen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie prophetisch der Vergleich der Waren des Kapitalismus mit den Fetischen archaischer Völker war, den Karl Marx einst in Das Kapital anstellte. Zwar ist der Kapitalismus dem Stadium der Fetischisierung der Waren längst entwachsen; allerdings nicht deshalb, weil sich mit dem Fortschritt der Menschheit endgültig eine säkulare, rationale ›Vernunft‹ durchgesetzt hätte. Ganz im Gegenteil, wirken die Rituale der Fetischweihe angesichts der neueren Marketingmaßnahmen wie handzahme Versuche der Objektivierung des Transzendenten. An ihre Stelle sind Techniken getreten, die die Züge einer modernen, hocheffizienten Religion tragen. Sie sind dazu in der Lage, Waren systematisch aus der Welt der Gebrauchswerte in die Welt der Imaginationen zu heben und sie damit in ihrem transzendenten und zugleich säkularen (Verkaufs-)Wert zu steigern (Andree 2010: 9).

In den neueren Marketing-Lehrbüchern wird jedenfalls kein Geheimnis mehr daraus gemacht, dass sich Produkte auf gesättigten Märkten nicht in erster Linie aufgrund ihres Gebrauchswerts verkaufen (Keller 2003: 2). Um auf dem Markt bestehen zu können, müssen sie darüber hinaus mit Zeichenwerten ausgestattet werden, die auf eine hinter ihnen stehende Bedeutungsebene verweisen. Mit Hilfe einer Kombination von Maßnahmen wie Werbung, Sponsoring und Design werden profane Waren mit bestimmten kulturellen Vorstellungen versehen, so dass schon ihr Anblick beim Kunden eine Kette positiver Assoziationen und Erinnerungen auslöst (Ullrich 2009: 49).

Die zentrale Problemstellung des Marketings besteht daher vorwiegend darin, die Strategien zu ermitteln, deren sich Unternehmen verschiedener Branchen bedienen sollten, um diese Wirkung – die Umwandlung von Gebrauchswertprodukten in Markenprodukte – zu erzielen: »[W]ir sind wild entschlossen, in unserer Nische, in der es nicht allzu viele Marken gibt, eine solche zu werden, zunächst landesweit – und später weltweit« schreibt Tom Peters, einer der Apologeten eines radikalen Marketingansatzes und empfiehlt: »Das bedeutet, wie im Rausch Geld auszugeben, zum Beispiel für Mar[8]ketingmaterial. ›Wie wild‹ (wenn auch sehr gezielt), mit Geld für Werbung um sich zu werfen. Sicherzustellen, dass jedes Detail unserer Botschaft dem Design (einem durchgängigen Thema/einem bestimmten Look) entspricht. Jede Kleinigkeit ist auf die Etablierung unseres Images ausgerichtet« (Peters 1998: 339).

Auch bei Martin Lindstrom, einem Vertreter des Neuromarketings hat sich die Praxis des Verkaufs von Waren längst von den Ansätzen der klassischen Wirtschaftstheorie emanzipiert, die noch von rational handelnden, Kosten und Nutzen abwägenden Akteuren ausgehen. In seinem Bestseller Buy-ology argumentiert er, dass »ganz offensichtlich ein Zusammenhang zwischen Spiritualität und Branding [besteht]« (Lindstrom 2009: 115) und schließt aus Untersuchungen, bei denen die Hirnströme von Konsumenten während der Betrachtung von Produktabbildungen mittels Neuroscannern analysiert wurden, dass »diejenigen Produkte am erfolgreichsten sind, die am meisten einer Religion ähneln«. Er entdeckt nämlich, »dass sich in den Gehirnen der Probanden immer dann, wenn sie starke Marken wahrnahmen – einen iPod, eine Harley-Davidson, einen Ferrari und andere –, die gleichen Aktivitäten abspielten wie beim Anblick religiöser Bilder« (ebd.: 128).

Dabei verdankt der Kapitalismus doch ursprünglich einer ganz anderen religiösen Tatsache seine Existenz. Max Webers Studie über die Entstehung des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik thematisiert jedenfalls nicht die Frage der künstlichen Erzeugung von Warenwerten. Im Zentrum seiner Analyse stand vielmehr die Frage der Steigerung der Produktion. Nicht die Produkte mussten mit imaginären Werten ausgestattet werden, um auf dem Markt bestehen zu können. Der transzendente Wert der Arbeit selbst musste gesteigert werden, so dass die Menschen in der Produktion mehr als nur eine profane ökonomische Tätigkeit erblickten, die sie verrichteten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.

Es bedurfte der religiösen Kodierung des Erwerbslebens, der Herstellung einer Verbindung von Berufserfolg und göttlichem Gnadenstand, »den Gedanken der Notwendigkeit der Bewährung des Glaubens im weltlichen Berufsleben« kulturell zu verankern (Weber 2000 [1904]: 81), um die Menschen dazu zu bewegen, sich im Beruf zu engagieren und damit die Produktion anzukurbeln. Schließlich hatten die Menschen über Jahrhunderte hinweg dem Erwerbsleben nicht viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als nötig war, um ihr traditionell geprägtes Leben aufrecht zu erhalten: »der Mensch will [9]›von Natur‹ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist« (ebd.: 20).

Erst mit der religiösen Überhöhung des Berufslebens in Verbindung mit der Anwendung einer asketisch-rationalen Lebensführung, die sich in der Sphäre der Religion selbst ausgebildet hatte (Knoblauch 1999: 42), konnte sich ein Wirtschaftssystem entwickeln, das die Profitmaximierung und die Akkumulation von Kapital zum Leitprinzip erhob.

Einmal ins Leben gerufen, setzte sich dieses System allerdings schnell über seine religiösen Wurzeln hinweg (Deutschmann 2008: 14). Der Kapitalismus brachte mit der Etablierung des Marktes und der Fabrik seine eigene institutionelle und motivationale Basis hervor, deren Wirksamkeit vorwiegend auf dem Prinzip der Unentrinnbarkeit und weniger auf dem der positiven Motivierung beruhte. Der Fabrikant, der sich den Normen des Wirtschaftssystems nicht beugt, wird »ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird« (Weber 2000 [1904]: 16). Aus der inspirierenden Quelle der Religion, die den Erwerbsprozess anregte, indem sie ihn als Zeichen des Gnadenstandes setzte, war ein »stahlhartes Gehäuse« der Hörigkeit erwachsen, das jegliche Form transzendenter Inspiration im Keim erstickte (ebd.: 153). Der Kapitalismus hatte ein systemisches Eigenleben entwickelt; er breitete sich innerhalb der Gesellschaft aus und unterwarf überall wo er auftrat das Leben seinen eigenen bürokratisch-mechanischen Prinzipien, die keinen Raum für die mystischen Elemente der Religion ließen (Schumpeter 1972: 208).

Doch war dieses System selbst nur eine vorübergehende Erscheinung. Mit zunehmender Rationalisierung der Produktionsverfahren, ihrer technischen Reife und der Institutionalisierung der Instanzen, die die Individuen zum strebsamen Arbeiten motivierten, trat ein anderes Problem in den Vordergrund. Dies lag allerdings nicht im Bereich der Produktion begründet. Allen Unkenrufen zum Trotz blieben die Dynamik und die Innovationsfähigkeit des Kapitalismus ungebrochen. Die Waren strömten in immer größerer Vielfalt und Menge aus den Fabriken.

Stattdessen drängte ein Problem an die Oberfläche, welches seiner Natur nach konsumatorischer Art war und sich bereits in den wirtschaftlichen Krisen der Jahrhundertwende angedeutet hatte (Galbraith 1969: 63ff.). Natürlich [10]führte der Produktionsprozess, indem er die meisten Menschen zu abhängig Beschäftigten machte und Geld zum zentralen Tauschmedium erhob, das Problem der Steigerung des Konsums zum Teil von allein einer Lösung zu. Von nun an mussten die Menschen ja die Waren, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse brauchten, über den Markt beziehen. Die bäurische Lebensweise, die Selbstversorgung und der Tauschhandel waren durch die Industrialisierung selbst weggefegt worden (Fulcher 2007: 26). Allerdings waren dem Konsum dennoch klare Grenzen gesetzt. Zunächst durch die geringen Löhne; aber davon abgesehen vor allem durch die Bedürfnisse selbst. Wie sollte es angesichts gesättigter Grundbedürfnisse der Bevölkerungen der westlichen Industrienationen gelingen, den Absatz der Waren im gleichen Tempo zu steigern wie die Produktion? Welche Motivation sollten die Individuen haben, immer mehr Geld für Waren und Dienstleistungen auszugeben, deren Relevanz für den Bestand ihrer Existenz im Grunde unerheblich war? Dem Kapitalismus drohte auf ganz andere Weise als seine schärfsten Kritiker voraussahen, der Exitus. Wenn sich die Individuen für die Waren, die das kapitalistische Wirtschaftssystem produzierte, nicht mehr interessierten, würde die Wirtschaft dauerhaft stagnieren (Galbraith 1975: 120f., 1972: 224).

Der frühe Kapitalismus, der gegenüber dem Menschen ein kaltes, stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit ausgebildet hatte, musste sich wandeln, um nicht in Rezession und Krisen zu versinken. Von nun an war er nämlich wieder auf die Menschen angewiesen: Diesmal nicht mehr in erster Linie als Produktions-, sondern als Konsumtionskräfte. Das Wirtschaftssystem war plötzlich dazu gezwungen, die Menschen zu verführen, ihre Phantasie zu beflügeln und sie für seine Produkte zu gewinnen, statt sie nur als Arbeitskräfte im Prozess der Produktion auszubeuten.

Aber auch diese Aufgabe erfüllte der Kapitalismus als »lernendes System« mit Bravour (Willke 2006: 8). Nachdem er sich von seiner religiösen Wurzel befreit hatte, begann er jene Organe selbst auszubilden, die dazu in der Lage waren, den religiösen Effekt der imaginativen Überhöhung zu produzieren. Ähnlich wie die protestantischen Sekten den beruflichen Erfolg mit der Idee des Gnadenstandes verbanden und dadurch das Berufsleben religiös aufwerteten, begann der Kapitalismus profane Waren durch Assoziationsverfahren mit imaginativen Werten auszustatten, um ihre Attraktivität zu erhöhen.

[11]Im Vergleich zur traditionellen Religion tat er dies allerdings, wie es seine Art ist, auf systematisch rational-effiziente Weise und bildete dazu die »Institution des Marketings« aus (Sheehan 2010: 32). Ihre Aufgabe war es fortan, Waren von ihrem profanen Gebrauchswertdasein zu befreien und sie in die Welt kultureller Imaginationen zu befördern.

Nicht umsonst lehrt die Marketing-Literatur deshalb, dass eine erfolgreiche Werbekampagne den Wert eines Produkts auf dem Markt steigert, indem sie es mit bestimmten positiv kodierten kulturellen Ideen, Bildern, Personen oder Geschichten assoziiert (O'Shaughnessy & O'Shaughnessy 2002: 533). Die Marke wird in dem Moment Realität, in dem der Konsument nicht in erster Linie einen Gebrauchsgegenstand, sondern ein »Fiktionswertversprechen« kauft (Ullrich 2009: 47). Wer im Supermarkt eine Flasche Jack Daniel’s in den Einkaufswagen packt, erwirbt nicht nur eine beliebige Spirituose. Er kauft den daran geketteten Mythos des amerikanischen Westernhelden, der seine Individualität, Freiheit und Männlichkeit in einer von Verordnungen, Bürokratien und Gleichstellungsbeauftragten beherrschten Welt verteidigt (Holt 2006: 371). Die Marke macht die Ware zum Zeichenträger, der die auf sie – durch Werbung – projizierten Bedeutungen widerspiegelt (Baudrillard 1988a: 13). Auch wenn diese Wertebene bloß mental, als Assoziationskette in den Gedächtnissen der Konsumenten existiert (Keller 2001: 14), so stellt sie doch ein zentrales Motiv für das anhaltende Verlangen nach Konsumprodukten im modernen Kapitalismus dar. Die ökonomische Moderne verdankt, mit anderen Worten, ihre Existenz der mythologischen Kodierung der Warenwerte.

Auf der anderen Seite lässt sich die Wirkungsweise des modernen Kapitalismus nicht auf diese Form der abstrakt, imaginativen Überhöhung von Waren mit Hilfe von Marketingmaßnahmen reduzieren. Auch die Imaginationen bedürfen einer praktisch-aktiven Komponente, mit deren Hilfe sie in die alltägliche Lebenswelt der Individuen vordringen. Ähnlich wie die Vorstellung von den Göttern ohne die religiösen Riten, in denen sie gefeiert werden, verblassen würde (Durkheim 1994 [1912]: 467), so sind auch die werbeinduzierten Imaginationen auf ihre Belebung innerhalb der sozialen Praxis angewiesen (Arvidsson 2005: 244). Der Konsum beruht nicht nur auf einer gegenstandslosen Illusion. Er verfügt über eine Vielzahl praktisch-sozialer Mechanismen, mit deren Hilfe er sich in die gesellschaftliche Praxis der Individuen einschreibt.

[12]1) Zum einen dienen die Produkte aufgrund ihrer Zeichenwerte als soziale Marker. Mit Hilfe ihres symbolischen Werts bringen Individuen ihre Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen oder kulturellen Strömungen zum Ausdruck. Für Pierre Bourdieu, der den Marxschen Klassenkampf in modernen Industriegesellschaften von der ökonomischen auf die kulturelle Ebene verlagert sieht (Bourdieu 1996: 17f.), erfüllen sie in erster Linie distinktive Funktion: »Die im objektiven wie im subjektiven Sinn ästhetischen Positionen, die ebenso in Kosmetik, Kleidung oder Wohnungsausstattung zum Ausdruck kommen, beweisen und bekräftigen den eigenen Rang und die Distanz zu anderen im sozialen Raum« (Bourdieu 1996: 107). Die Angehörigen der herrschenden Klassenfraktionen setzen die symbolischen Werte von Waren und Konsumstilen ein, um ihre gehobene Stellung im sozialstrukturellen Gefüge zu signalisieren. Die ständige Variation der Konsummuster geht dabei auf die Tatsache zurück, dass die sozialen Aufsteiger den Stil der herrschenden Klassen zu imitieren trachten, so dass jene gezwungen sind, auf neue symbolische Ausdrucksformen zurückgreifen, um sich weiterhin von den unteren Klassen abgrenzen zu können (McCracken 1990: 93f.). Auf diese Weise entsteht eine Dynamik, die im Bereich des Konsums zu einem permanenten Austausch von Produkten führt und im Bereich der Produktion entsprechend zu einer Ankurbelung der Nachfrage nach neuen bzw. kulturell neu kodierten Waren und Dienstleistungen.

Ob die Verwendung der symbolischen Werte von Produkten sich lediglich auf den Aspekt der impliziten oder expliziten Distinktion zur Statusregulierung, wie Bourdieu vermutet, beschränkt, sei dahingestellt. Der Gebrauch von Waren zu sozialen Zwecken (Bourdieu 1996: 173), der bereits in archaischen Gesellschaften praktiziert wurde (Polanyi 1978; Levi-Strauss 1981; Douglas & Isherwood 1996), ist jedenfalls durch die Möglichkeiten der industriellen Produktion aber auch durch die Einflussnahme des Marketings auf die kulturelle Wertladung der Waren, intensiviert und verfeinert worden. Mit Hilfe von Werbung und Sponsoring werden schließlich nicht nur arbiträre kulturelle Inhalte an Produkte gebunden. Vielmehr werden Waren systematisch für die Verwendung im sozialen Prozess zugeschnitten. Ob als explizite Statussymbole oder als Zeichen für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten kulturellen Strömung: Die Attraktivität vieler Marken (ob Bekleidungsartikel, Automobile oder Uhren) lässt sich nur im Kontext ihres Werts für den sozialen Tausch verstehen (Holt & Cameron 2010: 84ff.; du Gay [13]1996: 82; Hellmann 2011: 218f.). Eine Ware, deren kultureller Wert gesellschaftlich nicht anerkannt wird, ist im sozialen Tausch und damit auch auf dem ökonomischen Markt, meist wertlos.

2) Über diesen reinen Zeichenwert der Waren hinaus sind viele Produkte für den sozialen Prozess aber auch von strukturell-praktischer Bedeutung. Der Markt stellt nicht nur Zeichenträger und Zeichen für den symbolischen Tausch zur Verfügung. Er dringt in die Kernmatrix des sozialen Lebens auch deswegen ein, weil er die basalen Gelegenheiten für die Durchführung sozialer Tauschhandlungen restrukturiert und vereinnahmt. Er stellt Infrastrukturen zur Verfügung, die soziales Handeln erst ermöglichen, indem sie die Menschen räumlich zusammenführen und Anreize für soziale Interaktionen schaffen. Die Attraktivität von Clubs, Discos, Kinos, Restaurants, Museen, Urlaubsressorts, Freizeitparks oder Fitnesscenter, selbst von Shopping Malls und Einkaufsbezirken lässt sich nur vor dem Hintergrund ihrer sozialen Funktion erklären. Sie führen Menschen zusammen und regen soziale Interaktionen an. Gleichzeitig verschmelzen sie den ökonomischen Akt des Kaufs mit dem sozialen Akt der Herstellung und Reproduktion sozialer Beziehungen. Ihre räumliche Ausbreitung sorgt deshalb dafür, dass die sozialen und kulturellen Praktiken der Individuen zunehmend mit der Tätigung von Kaufakten einhergehen.

Darüber hinaus verbinden sie die kulturellen Imaginationen mit konkreten Anlässen zum sozialen Handeln und machen sie dadurch auf der Ebene der Praxis erst erfahrbar. Die aufwendige architektonische und dekorative Ausgestaltung der Kaufstätten verfolgt in erster Linie den Zweck, den imaginativen Wert der Waren für den Kunden schon beim Kauf erlebbar zu machen (Klein 2005: 159). Produkte werden nicht mehr auf nüchternen Regalen zum Kauf angeboten. Sie werden in eine anregende Erlebniswelt eingebettet. Aufwendige Treppenkonstruktionen, Emporen, Springbrunnen, Lichtspiele, Cafés, Restaurants, Galerien, Laufstege und Bühnen rahmen und verbinden die Kaufstätten. Solche Maßnahmen verstärken nicht nur abermals die Dimension des Zeichenwerts der Waren und rücken den Gebrauchswert in den Hintergrund. Darüber hinaus werten sie den profanen ökonomische Akt des Kaufs von Waren imaginativ auf: Shopping wird zur Freizeitaktivität (Kotler et al. 2011: 46).

3) Gleichzeitig werden aber auch die traditionellen Freizeitaktivitäten konsumatorisch überformt. Der Markt stellt den Konsumenten eine Bandbreite [14]kommodifizierter Aktivitätsschemata und Infrastrukturen zur Verfügung, innerhalb derer sie ihr soziales Leben ausgestalten können. Dazu gehören die Urlaubsressorts, Freizeitparks und Erlebnisbäder, in denen die Familien ihre freie Zeit verbringen, genauso wie die Diskotheken, Clubs und Bars, in denen die Jugendlichen sich treffen, flirten und verlieben. Wenn Eva Illouz in ihrer Studie über den Konsum der Romantik (2007) feststellt, dass Liebespaare romantisches Erleben zunehmend mit den Waren und Dienstleistungsangeboten des Marktes in Verbindung bringen – d.h. mit Urlaubsreisen, Restaurantbesuchen und dem Konsum teurer Produkte – dann ist dies nicht nur ein Zeichen dafür, dass der Markt die kulturellen Imaginationen prägt; sondern vor allem dafür, dass er die materiellen Vermittler zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe die Individuen ihr soziales Leben ausgestalten.

Der Kapitalismus hat mit dem Konsum ein komplexes System ins Leben gerufen, das nicht nur auf der Beflügelung der Phantasie durch die Werbung beruht. Darüber hinaus ist es in der Lage, die konsumatorischen Praktiken systematisch in die soziale Lebenswelt einzuschreiben (Cova 1997: 310). Der Erfolg des Systems basiert auf seiner Fähigkeit, übergreifende positive Imaginationen zu erzeugen und sie punktuell, auf der Ebene der lokallebensweltlichen Praxis der Individuen, zu inszenieren.

Diese ökonomische Wendung sozialer Praktiken erweist sich dabei aber nicht nur für die Wirtschaft als lukrativer Glücksgriff, insofern sich von nun an praktisch mit jedem sozialen Tauschakt potentiell Profit erzielen lässt. Indem der soziale Tausch über das System des Konsums vermittelt wird, entsteht auch eine neue Form der Gesellschaft. Diese verdankt ihre Integration, wenn man darunter die praktische Fähigkeit zur dauerhaften Reproduktion sozialer Beziehungen und Interaktionen versteht, den durch das System des Konsums zur Verfügung gestellten Katalysatoren. In der Konsumgesellschaft werden ein Großteil der sozialen Beziehungen über ökonomisch kodierte Interaktionsschemata reproduziert und damit der tiefenstrukturelle Zusammenhalt der Gesellschaft von der Versorgung mit Waren, Dienstleistungen und Infrastrukturen abhängig.

[15]Ziel und Anlage der Untersuchung

Die vorliegende Abhandlung verfolgt das Ziel, den Prozess der Entstehung der Konsumgesellschaft aus wirtschaftssoziologischer Perspektive nachzuzeichnen und in einen breiteren soziologischen Theoriekontext zu integrieren. Es geht also nicht vorwiegend darum, eine Untersuchung über die spezifische Entwicklung des Konsumverhaltens der Individuen in den westlichen Industrienationen vorzulegen. Vielmehr soll erstens analytisch geprüft werden, inwiefern die Entstehung der Konsumgesellschaft als logische Fortschreibung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu verstehen ist. Und zweitens gilt es, die sozialen und kulturellen Konsequenzen aufzuspüren, die diese Entwicklung nach sich zieht.

Der Konsum wird dabei nicht nur als Artefakt der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, sondern auch als soziale, gesellschaftskonstituierende Größe untersucht. Diese Untersuchung knüpft einerseits an Karl Polanyi (1978 [1944]) an, insofern sie im Kern davon ausgeht, dass jede Wirtschaftsordnung nicht außerhalb der Gesellschaft existieren kann. Die Anlage der Ökonomie prägt notwendigerweise das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Auf der anderen Seite steht jedoch Emile Durkheims religionssoziologischer Ansatz Pate. Der durchdringende Erfolg des Konsums, so die Argumentation, ist als soziales Phänomen zu verstehen. Er geht nicht auf eine blinde, hedonistische Veranlagung der Individuen zurück, sondern basiert in erster Linie auf der Tatsache, dass er soziale Funktionen erfüllt; das heißt, ähnlich wie die Religion, als Vermittler und Katalysator des sozialen Prozesses fungiert.

Um dieses Ziel zu verfolgen, ist die Untersuchung in drei Kapitel unterteilt. Die ersten beiden erfüllen die Aufgabe, klassische und neuere Ansätze sozialen und ökonomischen Wandels zu skizzieren und sie für den analytischen Teil fruchtbar zu machen. Das dritte Kapitel stellt den Hauptteil der Untersuchung dar. Hier wird das Konzept des ›transzendenten Kapitalismus‹ abgeleitet und ausgeführt.

Im ersten Teil sollen die klassischen Ansätze zur Entwicklung der Gesellschaft zu Wort kommen, die als Modernisierungstheorien gelten können: Dazu zählen die Ansätze von Auguste Comte, Herbert Spencer, Emile Durkheim, Max Weber und Talcott Parsons. Auch wenn diese Ansätze teils verschiedene Anliegen verfolgen und unterschiedle Methoden zum Einsatz bringen, so stellen sie doch das klassische Repertoire der Soziologie im Hin[16]blick auf die Analyse sozialen Wandels zur Verfügung. Ihre Skizzierung verfolgt deshalb zwei Ziele: Zum einen sollen die in vielen neueren Ansätzen latent vorhandenen Annahmen über Wandlungserscheinungen expliziert werden. Auf diese Weise lässt sich, zweitens, der Ansatz, der in der vorliegenden Arbeit skizziert werden soll, präziser in die klassische Literatur einordnen aber auch von ihr abgrenzen.

Das zweite Kapitel wirft einen Blick auf einige (neuere) Autoren, die auf je spezifische Weise mit den Modernisierungsansätzen und den mit ihnen verbundenen Annahmen brechen. Dazu zählen neben Karl Polanyi insbesondere Daniel Bell, John K. Galbraith, Jean Baudrillard und Mary Douglas und Baron Isherwood. Die Brüche, die sie skizzieren, beziehen sich dabei auf vier Ebenen:

1) Bei Polanyi wird die ökonomische Modernisierung, die in den klassischen Ansätzen als Fortschritt gefeiert wird, als Werk der Zerstörung eines bis dahin gesunden gesellschaftlichen Gefüges beschrieben. Die Industrialisierung und der mit Hilfe politischer Maßnahmen durchgesetzte kapitalistische Markt zersetzen das soziale und kulturelle Leben der Menschen; die Familienbande ebenso wie die nachbarschaftlichen Beziehungen und die ökologische Lebenswelt. Die Tatsache, dass der selbstregulierende Markt die Gesellschaft nicht vollständig zerstört, verdankt sich nur der Tatsache, dass er durch politische Interventionen an seiner weiteren Entfaltung gehindert wird. Die Moderne überlebt also nicht aufgrund ihrer evolutionären Überlegenheit gegenüber der traditionellen Gesellschaft, sondern aufgrund der Wiederbelebung basaler archaischer Mechanismen.

2) Auch Daniel Bell setzt der Vorstellung einer harmonischen Modernisierung ein Ende. Bei ihm stehen die Widersprüche im Zentrum, die sich zwischen den verschiedenen Sphären der Gesellschaft, insbesondere der Kultur und der techno-ökonomischen Struktur ergeben. Während Parsons von einer aufeinander bezogenen Evolution der Teilsysteme ausgeht, verdeutlicht Daniel Bell, dass die Moderne vielmehr in einer Kakophonie mündet. Die konsumatorisch-hedonistischen Werte, die sich im Bereich der Kultur herausbilden stehen den prostestantisch-asketischen Werten im Bereich der techno-ökonomischen Struktur immer unversöhnlicher gegenüber.

3) Auch John K. Galbraith stellt das Verhältnis von Produktion und Konsumtion explizit ins Zentrum seiner Analyse. Mit dem Konzept des Dependence Effects weist er allerdings darauf hin, dass sich die ›natürliche Ord[17]nung‹ von Produktion und Konsumtion im Zuge des Wachstums der Wirtschaft umkehrt. Der moderne Kapitalismus bedient nicht mehr präexistente Bedürfnisse von Individuen, indem er auf sie zugeschnittene Waren produziert. Unter der Bedingung gesättigter Grundbedürfnisse wird es vielmehr zu einem dringlichen Problem der Wirtschaft, die Kontrolle über die Erzeugung der Nachfrage zu gewinnen. Das bedeutet, dass die Wirtschaft selbst die Bedürfnisse der Individuen mit Hilfe von Marketingmaßnahmen hervorbringt, die sie auf der anderen Seite, mit Hilfe der Waren, die sie produziert, befriedigen will. Der Kapitalismus ist zu einem System mutiert, dass nur noch seine eigene Existenzgrundlage, die auf stetigem Wirtschaftswachstum beruht, zu reproduzieren sucht, wohingegen das Wohl der Individuen längst in den Hintergrund gerückt ist. Der Hedonismus, der bei Daniel Bell noch als einseitige degenerative Erscheinung der Kultur definiert wird, erweist sich bei Galbraith als Produkt der techno-ökonomischen Sphäre selbst.

Jean Baudrillards Konsumtheorie schließt nahtlos an Galbraiths Ausführungen zum Dependence Effect an. Allerdings münzt er dessen Ansatz in eine soziologische Theorie, die die Kontrolle über die Nachfrage nicht über die Erzeugung individueller Bedürfnisse, sondern über die Produktion eines sozialen Systems des Konsums erklärt. Durch Marketingmaßnahmen und die Wirkung der Medien wird der Konsum zum zentralen Kommunikationsmittel der Gesellschaft erhoben. Die Nachfrage muss nicht mehr über die Motivierung einzelner Individuen zum Konsum spezifischer Produkte hergestellt werden, sondern kann systemisch über die Kontrolle des Kommunikationssystems reguliert werden: wer nicht konsumiert wird aus dem sozialen System der Gesellschaft exkludiert.

4) Während Baudrillard die soziale und kulturelle Dimension des Konsums als spezifisch modernes Artefakt interpretiert, deuten Mary Douglas und Baron Isherwood den modernen Konsum vielmehr als archaisches Phänomen. Die Tatsache, dass Waren sich über Zeichenwerte verkaufen, d.h. kulturelle Werte zum Ausdruck bringen, ist demnach kein eigentümliches Phänomen der Konsumgesellschaft. Bereits in archaischen Gesellschaften werden soziale Ränge und der Status bestimmter Personen und Gruppen über den kulturell-symbolischen Tausch festgelegt. Der Gebrauchswert der Waren bezeichnet demnach schon immer nur eine Seite des Werts eines Objekts, wohingegen sein sozialer und kultureller Wert im Kontext des gesellschaftlichen Tauschs selbst bestimmt wird.

[18]Im drittenTeil werden diese theoretischen Elemente systematisch verarbeitet und mit weiteren Bestandteilen, insbesondere der kulturtheoretisch inspirierten Konsumtheorie Grant McCrackens, angereichert. Zunächst wird die ökonomische Entwicklung anhand einiger statistischer Basisparameter empirisch beschrieben. Danach geht es um die theoretische Bestimmung der verschiedenen Wertebenen der Waren und um die Beleuchtung der Rolle, die das Marketing im Prozess der Zuweisung von Zeichenwerten spielt. Schließlich wird die Frage behandelt, auf welche Weise der Konsum Zugang zur sozialen Praxis erlangt, d.h. in die Lebenswelt der Individuen vordringt und dadurch den Charakter eines gesellschaftlichen Phänomens annimmt. In diesem Schritt wird insbesondere die Rolle der infrastrukturellen Ausbreitung des Konsums erörtert und seine Funktion als gelegenheitsstrukturelle ›Basis‹ und kultureller ›Überbau‹ für die Entstehung und Reproduktion sozialer Beziehungen untersucht. Unter Anwendung der Konzepte, die Emile Durkheim in seinen religionssoziologischen Schriften entwickelt hat, wird der Konsum dabei als generative Matrix des Sozialen analysiert. Der Kapitalismus, so das Resümee, stellt mit dem System des Konsums, ähnlich wie die Religion, Verfahren zur Verfügung, mit deren Hilfe der basale Mikroprozess des sozialen Handelns angeregt und katalysiert wird. Auf diese Weise wird die Gesellschaft nicht nur zu einem Anhängsel des Marktes, sondern der Kapitalismus selbst zum zentralen Prinzip der Erzeugung des Sozialen.

[19]1     Modernisierung

Die Welt des 19. Jahrhunderts ist im Aufbruch. Die durch die Aufklärung und die industrielle Revolution in Gang gesetzten Prozesse haben ein Eigenleben entwickelt, das alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens durchdringt und zu verändern beginnt. Die Industrialisierung zersetzt die organisch gewachsenen, agrarisch geprägten wirtschaftlichen Strukturen der Gesellschaft (Geißler 2006: 22f.). Das produktive Zentrum der neuen Welt wird in die Stadt verlagert (Bayly 2006: 212f.). Mit der Urbanisierung und der Entstehung der Großstädte intensiviert und beschleunigt sich der soziale Tausch: »Die Großstadt wirkte als Triebkraft ökonomischer Kreisläufe und als Multiplikatorin gesellschaftlicher Bewegung« (Osterhammel 2009: 360). Die bäurische Existenzweise, in dem der einzelne einen festen Platz innerhalb der Gemeinschaft und der Familie einnimmt, in der die Ehe im Dienst der Reproduktion des traditionellen Lebens steht, beginnt sich aufzulösen (Luhmann 1994). Die traditionelle Ordnung der Gesellschaft wird zerrüttet. Die Aristokratie verliert mehr und mehr an Einfluss gegenüber den neuen Machteliten, die aus den großbürgerlichen Unternehmerfamilien stammen (Osterhammel 2009: 1064). Die Bedeutung der großen Kirchen beginnt zu schwinden. Nicht nur werden sie in Europa zunehmend aus dem Bereich der weltlichen Macht verdrängt (Marramao 1996: 22). Darüber hinaus verlieren sie auch an prägender Kraft auf das Denken und lebensweltliche Handeln der Individuen. Innerhalb der Eliten bilden sich alternative Ideologien, Denk- und Lebensansätze aus (Taylor 2007: 423). Friedrich Nietzsche verkündet den Tod Gottes; Karl Marx begreift die religiöse Ordnung als Produkt weltlicher Herrschaftsinteressen. Die Kunst emanzipiert sich von ihrer Rolle als religiösem Dienstleister und entwickelt Inhalte, Stile und Formen, die einer eigenen Logik gehorchen (Berger 1967: 107).

Dieser, in der Verpuppung befindlichen Gesellschaft, nehmen sich die ersten Soziologen an. Sie bemühen sich, die Entwicklungen, deren Auswirkungen überall sichtbar sind, aber deren zugrundeliegende Prinzipien noch verborgen scheinen, zu erklären und ihre Richtung und Ziel zu bestimmen.

[20]In dieser Zeit liegen die Wurzeln der Modernisierungstheorien, die im folgenden Kapitel skizziert werden. Obgleich die Wandlungen mit tiefgreifenden ökonomischen, kulturellen und sozialen Verunsicherungen der Menschen einhergingen, weisen die frühen Theorien die für das Zeitalter charakteristische positive Grundstimmung auf. Die Entwicklung wird zunächst, insbesondere bei Auguste Comte und Herbert Spencer, als Fortschritt gelesen; die Verwerfungen lediglich als zeitweilige Regressionen auf dem Weg in ein besseres Zeitalter.

Auguste Comte und Herbert Spencer stehen, wenn auch in deutlich unterschiedlichen Traditionen verortet, für eine radikale Variante der Modernisierungstheorie. Während Comte mit dem Dreistadiengesetz die Entwicklung der Menschheit vom religiösen über das metaphysische zum positiven Zeitalter als Fortschrittsgeschichte des Denkens hin zur Durchsetzung der Vernunft deutet, unterstellt Herbert Spencer eine strukturell-evolutionistische Entwicklungslinie. Demnach tendieren alle Gesellschaften zur zunehmenden funktionalen Differenzierung und im gleichen Entwicklungsgang zu einer Intensivierung der Abhängigkeiten der einzelnen Teile. Diese Entwicklung wird dabei ganz und gar positiv gedeutet: Resultat des Prozesses ist nicht nur die Entstehung eines komplexen Gesellschaftskörpers, in der die verschiedenen Bestandteile – von unsichtbarer Hand geleitet – kooperativ miteinander verbunden sind, sondern auch ein stetiges Wachstum der Zufriedenheit und des Glücks der Menschen.

Auch Emile Durkheim ist dem modernisierungstheoretischen Glaubenssatz noch tief verbunden. Gleichzeitig fügt er ihm jedoch erste Haarrisse zu. Zwar scheint es zunächst, als habe er mit dem Konzept der organischen Solidarität eine Antwort auf die Frage der moralischen Integration der modernen Gesellschaft gefunden. Doch erweist sich dieses schon bald als unhaltbar. In seiner weiteren Schaffensperiode wird er deshalb immer mehr zum Diagnostiker der Krisen der ökonomischen Moderne.

Max Webers Sichtweise auf die Modernisierung bricht in zweierlei Hinsicht mit den Perspektiven von Comte, Spencer und Durkheim. Zum einen sieht er die Konsequenzen der Entstehung der modernen Wirtschaftsordnung in einem weitaus düsteren Licht. Der einzelne bekommt es mit einem ›stahlharten Gehäuse der Hörigkeit‹ zu tun, das dem sorglos, tradierten Leben ein jähes Ende bereitet. Zum anderen verdankt sich die Entstehung der Moderne weniger einem allgemeinen, universalen Gesetz, das der gesell[21]schaftlichen Entwicklung zugrunde liegt. Vielmehr stellt die Moderne aus seiner Sicht eine spezifisch okzidentale Erscheinung dar, die aus der jüdisch-christlichen Tradition erwächst. Nur insofern die aus dieser kulturellen Tradition hervorgehenden protestantischen Sekten dem Erwerbsleben jene eigentümliche, künstliche Wendung gaben, konnte die ökonomische Moderne aus der Taufe gehoben werden. Der Prozess der Modernisierung erweist sich als kulturelle Besonderheit des Westens und nicht als Spitze gesellschaftlicher Evolution, wie Herbert Spencer oder – in abgewandelter Form – Auguste Comte vermuten.

Die Rettung der Idee eines evolutionistischen Modernisierungsmodells, das sowohl Durkheim als auch Weber bereits verworfen hatten, verdankt die Soziologie Talcott Parsons. Obgleich Parsons in seiner systemisch-funktional gewendeten Variante der Modernisierungstheorie an Durkheim und Weber anzuknüpfen versucht, tritt er doch in Wirklichkeit in die Fußstapfen von Spencer. Seine Theorie sozialen Wandels begreift die Entwicklung von Gesellschaften als Prozess, innerhalb dessen sich nacheinander bestimmte Institutionen herausbilden, die die Leistungs- und Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft nach innen (Integration) und außen (gegenüber der Natur und anderen Gesellschaften) verbessern. Zwar gehorcht dieser Prozess nicht den eisernen Gesetzen der Natur. Allerdings werden die kulturellen Grundlagen der Entwicklung, die Weber betont, vor allem als kreative Erfüllungsgehilfen struktur-funktionaler Erfordernisse gedeutet und weniger als generative Prinzipien, die zu kulturspezifisch variierenden Entwicklungslinien führen. Auch die Bedenken Durkheims im Hinblick auf die Solidarität moderner Gesellschaften werden struktur-funktionalistisch hinweggefegt; Integration durch die Herausbildung spezieller Institutionen, die die kollektive Wertesozialisation übernehmen, von oben verordnet. Darüber hinaus passen sich die Werte den Erfordernissen des Gesellschaftskörpers selbst an. In komplexen, arbeitsteilig organisierten Gesellschaften wird der Grad der Toleranz abweichenden Verhaltens angehoben. Das Wertesystem liberalisiert sich, so dass die Individuen ihren je spezifischen Tätigkeiten und Denkweisen nachgehen können, ohne dass die Integration des ganzen Gesellschaftskörpers gefährdet würde.

Die nachfolgenden Skizzen der Ansätze von Comte, Spencer, Durkheim, Weber und Parsons verfolgen nicht das Ziel, deren Werke in aller Breite auszuführen. Dieser Aufgabe haben sich eine Vielzahl anderer spezifischer [22]Abhandlungen und allgemeiner Lehrbücher zugewandt. Vielmehr geht es darum, die zentralen Konzepte und die Kernannahmen dieser klassischen Theorien aufzuarbeiten, die explizit auf die Erklärung sozialen und ökonomischen Wandels zielen, um sie für die nachfolgende Untersuchung fruchtbar und kritisierbar zu machen.

1.1   Das Dreistadiengesetz: Auguste Comte

Auguste Comtes Modell zur Erklärung der Entwicklung von Gesellschaften ist ein Werk der Aufklärung. Es ist geprägt »[v]om Glauben an die universale Mission der naturwissenschaftlichen Denkweise und Methode« (Bock 2000: 42) und deshalb streng dem Positivismus verschrieben. Eine erste Kernannahme besteht darin, dass sich Gesellschaften nach bestimmten natürlichen Gesetzmäßigkeiten entwickeln (Comte 1977[1842]: 1). Zwar können in diesem Entwicklungsgang Störungen auftreten. Allerdings handelt es sich dabei lediglich um »aus individuellen Einwirkungen stammenden Unregelmäßigkeiten«, die in den Hintergrund treten, sobald man den Fortschritt »größerer Völkerschaften« in Betracht zieht (Comte 1977: 93).

Zweitens zeichnet sich Comtes Theorie dadurch aus, dass er die Triebfeder dieser Entwicklung in erster Linie in der Entwicklung des menschlichen Geistes sieht. Der Wandel der Gesellschaft ist im Kantschen Sinne »als sinnliches Scheinen des Geistes« zu verstehen (Kofman 1990: 225); er wird durch die Veränderungen der Denkweisen des Menschen geleitet (Comte 1977: 92). Allerdings sind die Denkweisen selbst durch übergreifende Entwicklungsgesetze determiniert. Im Dreistadiengesetz unterscheidet Comte (in Anlehnung an Henri de Saint-Simon) drei Entwicklungsstufen der Menschheit, die durch die Genese spezifischer Denkmethoden geprägt sind:

Der menschliche Geist wendet in allen seinen Untersuchungen der Reihe nach verschiedene und sogar entgegengesetzte Methoden bei seinem Philosophieren an; zuerst die theologische Methode, dann die metaphysische und zuletzt die positive. Die erste ist der Punkt, an dem die Erkenntnis beginnt; die dritte der feste und endgültige Zustand, die zweite dient nur als Übergang von der ersten zur dritten (Comte 1977: 2).

[23]Aus der Anwendung dieser verschiedenen Methoden resultieren aus Comtes Sicht drei verschiedene gesellschaftliche Zustände.

1) Primitive Gesellschaften befinden sich im theologischen Stadium, das im allgemeinen dadurch gekennzeichnet ist, dass natürliche Vorgänge »als die Taten weniger oder zahlreicher übernatürlicher Wesen, und deren Einwirkungen auf die Welt« erklärt werden (Comte 1977: 2). Comte unterteilt das theologische Stadium wiederum in drei verschiedene Unterstufen: Die erste Stufe, die in einfachen archaischen Gesellschaften vorherrscht, zeichnet sich durch die Verbreitung des Fetischismus als Religion aus. Hier werden »alle äußeren natürlichen wie künstlichen Dinge mit Leben beseelt« (ebd.: 173). Comte bezeichnet diese Stufe der Entwicklung zwar als »Zustand der Blödheit und des Wahnsinns«, erkennt jedoch im Fetischdienst durchaus erste Anzeichen geistiger Tätigkeit, mit der sich der Mensch von den höheren Tieren zu unterscheiden beginnt (ebd.: 173). Auf der anderen Seite steht der Fetischglaube jedoch der Herausbildung einer komplexeren Gesellschaftsform im Weg, insofern er auf eine Familie oder eine Person beschränkt bleibt und deshalb »die Entwicklung gemeinsamen Denkens nicht gestattet« (ebd.: 179). Deshalb stellt die Herausbildung des Polytheismus (in der Antike), mit dem der Glaube an unsichtbare Götter einhergeht, einen Fortschritt gegenüber dem Zeitalter des Fetischismus dar. In moralischer Hinsicht ist der Polytheismus aufgrund seines gegenüber dem Fetischismus »allgemeineren und abstrakteren Charakters« (ebd.: 190) in der Lage eine Mehrzahl von Menschen unter seinem Banner zu vereinen, d.h. ein soziales Band zwischen Individuen zu knüpfen und damit kollektives Handeln zu ermöglichen (ebd.: 206-207). Aber auch in wissenschaftlicher, künstlerischer und ökonomischer Hinsicht stellt der Polytheismus einen Fortschritt dar. Die »Erzeugung von Göttern« ist nach Comte »der erste Versuch einer spekulativen Tätigkeit«, der die Menschheit im Hinblick auf die Entdeckung von »natürlichen Gesetzen« voranschreiten lässt (ebd.: 196). In künstlerischer Hinsicht beflügelt der Polytheismus aus dem gleichen Grund die Phantasie und verdrängt damit das Übergewicht des Gefühls, das laut Comte das Kennzeichen des Fetischglaubens ist, insofern dieser darin besteht »dass die äußeren Dinge, bis zu den trägsten, mit Leidenschaften und Begehrungen erfüllt vorgestellt werden« (ebd.: 175). Im Hinblick auf die Ökonomie geht Comte schließlich davon aus, dass der Fetischglaube, weil er »den Stoff vergöttlichte«, den Eingriff in die äußere Welt untersagt, und damit die ökonomische Entwicklung, d.h. [24]die Herausbildung des Handwerks und des industriellen Eingriffs in die Natur erschwert. Diese Schranke wird durch die symbolische Trennung zwischen Gottheit und den äußeren Dingen, die der Polytheismus ins Leben ruft, aufgelöst.

Der letzte theologische Zustand wird schließlich durch die Entstehung des Monotheismus und den Übergang ins Mittelalter bezeichnet. Nach Comte zeigt sich in der Ablösung der »Menge von launenhaften Gottheiten« durch einen einzigen universellen Gott in erster Linie eine weitere Verallgemeinerung und Abstrahierung des Denkens (ebd.: 227). Damit verbunden ist der schrittweise Vollzug der Trennung von Politik und Religion, d.h. von Staat und Kirche, wodurch die Herausbildung einer »universellen Moral« ermöglicht wird (ebd.: 231). Die Moral erhebt sich außerhalb und über die Politik. Diese Entwicklung hat im Hinblick auf die Integration einer Gesellschaft zwei Vorteile. Zum einen können verschiedene soziale Gruppen (Klassen, Stände) unter einem moralischen Dach vereinigt werden, insofern selbst der ärmlichste Christ berechtigt ist, »auch den mächtigsten Herrn an die Vorschriften der gemeinsamen Lehre zu erinnern« (ebd.: 235). Gleichzeitig ermöglicht die von der Politik unabhängige universelle Moral die religiöse Integration verschiedenster territorialer Verwaltungsbereiche und fördert somit die »Vereinigung der christlichen Nationen in eine politische Familie unter Führung der Kirche« (ebd.: 249).