Die ersten Israelis - Tom Segev - E-Book

Die ersten Israelis E-Book

Tom Segev

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Beschreibung

Geboren im Mai 1948: Das eindrucksvolle Porträt des jungen jüdischen Staates, mit all seinen Hoffnungen und Widersprüchen

Die Staatsgründung Israels im Mai 1948 war eines der wichtigsten und folgenreichsten Ereignisse der letzten hundert Jahre. Wie kein Zweiter versteht es Tom Segev, ein Zeitgemälde der ersten Generation der Israelis mit all ihren Widersprüchen zu entwerfen. Indem er gleichermaßen die großen politischen Zusammenhänge und die individuellen Perspektiven zusammen führt, beschreibt Segev das Bild einer jungen Gesellschaft, die einerseits eine Notgemeinschaft und zugleich tief gespalten war: Immigrierte Holocaust-Überlebende trafen auf Siedler der ersten Stunde, Juden trafen auf Palästinenser.

Dieses Buch ist unerlässlich für ein Verständnis der Konflikte, die die israelische Gesellschaft bis heute beschäftigen und spalten.

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Seitenzahl: 761

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Tom Segev

Die ersten Israelis

Die Anfänge des jüdischen Staates

Aus dem Englischen vonHelmut Dierlamm und Hans Freundl

Pantheon

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 1986 unter dem Titel »1949. The First Israelis« bei Free Press, Macmillan, Inc.

1998 erschien eine überarbeitete Ausgabe bei Owl Books (Henry Holt & Company). Vom Autor durchgesehene Ausgabe.

Bildnachweis

Sämtliche Abbildungen: Israelische Regierung, Presseamt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Pantheon-Ausgabe 2010

Copyright © 1986, 1998, 2008 by Tom Segev

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2008by Siedler Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Umschlaggestaltung: Jorge Schmidt, München

Lektorat: Jan Schleusener, Berlin

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

ISBN 978-3-641-32162-8V001

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe: 60 Jahre später

Vorwort zur englischen Ausgabe

Einleitung

TEIL I

Zwischen Juden und Arabern

KAPITEL 1Die Grüne Linie

KAPITEL 2Von Angesicht zu Angesicht

KAPITEL 3Die Verteilung der Beute

TEIL II

Zwischen Veteranen und Neuankömmlingen

KAPITEL 4Die erste Million

KAPITEL 5Arbeiter und Kämpfer

KAPITEL 6Namenlose Menschen

TEIL III

Zwischen Orthodoxen und Säkularen

KAPITEL 7Jeder im Namen seines Gottes

KAPITEL 8Das Ringen um den Sabbat

TEIL IV

Zwischen Vision und Realität

KAPITEL 9Die Suche nach einer nationalen Identität

KAPITEL 10Immer nur Kabeljau

Anmerkungen

Literaturauswahl

Personenregister

Vorwort zur deutschsprachigen Ausgabe: 60 Jahre später

Als ich Anfang der 1980er Jahre damit begann, die Geschichte der ersten Israelis zu schreiben, stellte sich bei mir bald das Gefühl ein, durch dieses Projekt meine späte Geburt – ich war 1949 erst drei Jahre alt – kompensieren zu wollen. Über kein Ereignis wollte ich als Journalist lieber schreiben als die Entstehung des Staates Israel.

Hätte ich bereits zur Zeit der Staatsgründung als Journalist in Israel gearbeitet und das Land bereist, hätte ich die wahren Hintergründe der Geschichte unmöglich erkennen können. Als ich nach Ablauf der 30-Jahre-Frist endlich Zugang zu den Archiven erhielt, bekam ich viel mehr zu sehen: Zum ersten Mal konnte ich Unterlagen einsehen, die die wahren Vorgänge enthüllten, so auch den in geheimen Sitzungen festgelegten politischen Entscheidungsprozess. In den Unterlagen befanden sich auch die internen Briefwechsel der Entscheider; unter anderem erhielt ich Einblick in das Tagebuch von David Ben-Gurion.

Das war ein außerordentliches Erlebnis. Ich bestellte eine Akte, entnahm daraus ein Dokument und hörte nicht auf zu staunen. Immer wieder dachte ich: Das war nicht das, was man mir in der Schule beigebracht hatte! Der Inhalt, der sich mir offenbarte, war weniger ehrenwert und weniger heldenhaft als das, woran ich gewohnt war zu glauben. Da gab es Akten, die Befehle dokumentierten, die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge zu verhindern und sie aus ihren Häusern zu vertreiben. In der Schule hatten wir darüber nicht gesprochen. Da gab es einen syrischen Präsidenten, der mit Israel hatte Frieden schließen wollen – und Ben-Gurion hatte es abgelehnt, ihn zu treffen. In der Schule hatten wir gelernt, dass unsere Hand immer für den Frieden ausgestreckt sei, dass die Araber sich weigerten, sie zu ergreifen. Ich fand auch Dokumente, die die Diskriminierung der Neueinwanderer aus den arabischen Ländern belegten. Dabei sind wir mit dem Mythos aufgewachsen, in Israel eine gerechte Gesellschaft ohne Diskriminierung aufzubauen.

Gründungsmythen sind wichtig für jede Nation, die sich im Aufbau befindet. Die Anfang der 1980er Jahre freigegebenen Dokumente bewiesen jedoch, wie mächtig die Gründerväter regiert hatten. Es war ihr Wunsch gewesen, dass die neuen Israelis eine Gemeinschaft bilden sollten, um sich einen kollektiven Traum zu erfüllen. Dagegen stand aber, dass man den Bürgern eines der wichtigsten demokratischen Rechte entziehen wollte: Das Recht zu zweifeln. Alles wurde nur schwarzweiß dargestellt: Wir waren die Guten, die Araber waren die Schlechten. Grauzonen kannten wir nicht.

Dieses Buch war der erste Versuch, sich mit der Geschichte eines Landes auseinanderzusetzen, das bis dato keine Historiografie hatte. Es herrschte die offizielle Ideologie; Indoktrination stand auf der Tagesordnung. Die wichtigen Geschichtsbücher wurden oft von den Akteuren selbst geschrieben – von politischen Führern oder Schriftstellern, die für sie arbeiteten. Auch Organisationen und Parteien gebärdeten sich als Geschichtsschreiber. Sie schufen eine Reihe nationaler Mythen und sorgten für ein schmeichelhaftes Selbstbildnis, das bis Anfang der 1980er Jahre Bestand hatte. Dann öffneten sich die Pforten der Archive.

Gleich nach der Veröffentlichung dieses Buches in Israel im Jahre 1984 fand ich mich in einer hochpolitischen Diskussion wieder, die bis heute andauert: Es wurde behauptet, dieses Buch sei ein subversiver Versuch, eine »neue, postmoderne Geschichte« darzustellen, die dem Zionismus feindlich gegenüberstehe. Die zionistische Interpretation der jüdischen Geschichte rechtfertigte die Gründung des Staates Israel. Dieser Ansicht nach wurden die Juden des Landes vor 2000 Jahren in die Diaspora gezwungen. In all den Jahren des Exils hätten sie nie ihren Traum aufgegeben, nach Zion zurückzukehren. Nach dem Holocaust sei die natürliche Existenz der Juden wiederhergestellt worden; sie seien in das Land ihrer Väter zurückgekehrt. Darauf basiere die Gründung des Staates Israel.

Diesen Annahmen kann man natürlich widersprechen, was viele getan haben. Die meisten Juden in der Welt haben sich die zionistische Ideologie nicht komplett zu Eigen gemacht. Aber in einem Staat, dessen Existenz auf grundlegenden historischen Annahmen basiert, kann jeder Riss in existenziellen Mythen als lebensbedrohlich empfunden werden. Deshalb wird der historischen Forschung in Israel ein zentraler Platz im öffentlichen, politischen Dialog eingeräumt; das macht die israelische Politik so spannend.

Mit den Jahren lernten viele Israelis ihre Geschichte klüger und kritischer zu verinnerlichen. Außerdem sind zusätzliche Dokumente zugänglich geworden, die als Basis für viele Bücher dienten: Dieses Buch war das erste einer Reihe von Büchern, die ich schrieb. Zusammen bilden sie eine kollektive Biografie der Israelis. Es folgten viele weitere Studien anderer Historiker. Dennoch wiederholen sich einige der Mythen und Klischees ständig in den Geschichtsbüchern Israels, und bis heute gibt es Menschen, die überrascht sind zu entdecken, dass die Geschichte der Israelis komplexer ist, als sie dachten.

Ich identifiziere mich mit den ersten Israelis und bin manchmal neidisch auf sie, weil sie bei der Geburt einer der dramatischsten Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts dabei waren. Es genügt, sich durch die Internetseiten der UNO, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, der Weltgesundheitsorganisation und der UNESCO zu klicken, um festzustellen, dass es vielen Israelis besser geht als den meisten Bewohnern der Erde. In den Statistiken erfasst sind ca. 150 Länder. Verglichen werden das Bruttosozialprodukt, die Säuglingssterblichkeit, die Lebenserwartung, die Analphabetenrate und ähnliche Parameter. In all diesen Listen befindet sich Israel unter den ersten zwanzig führenden Ländern. Der Lebensstandard und die Lebensqualität in Israel ähneln denen in einigen europäischen Ländern. Die meisten Israelis können davon ausgehen, dass das Leben, das ihre Kinder erwartet, besser sein wird als ihr eigenes und dass ihr Leben besser ist als das ihrer Eltern.

Die ersten sechzig Jahre Israels vergingen mit Kriegen. Als man in den 1950er Jahren über Araber sprach, meinte man nicht die Palästinenser. Sie waren geflüchtet oder wurden vertrieben, bevor die Mehrheit der ersten Israelis ankam. Die Palästinenser saßen irgendwo in Flüchtlingslagern und galten nicht als eine ernstzunehmende Bedrohung. Wenn man »Araber« sagte, meinte man die arabischen Staaten. Die meisten Israelis glaubten, dass der Krieg, der mit einem israelischen Sieg endete, nicht der letzte Krieg sein würde, aber die meisten glaubten, dass die Zeit für Israel arbeitete. Nur wenn Israel stark bliebe, würden die Araber sie eines Tages anerkennen, und es würde Frieden herrschen.

Später konnten sie für sich in Anspruch nehmen, Recht behalten zu haben: Ägypten hatte einst die Staaten angeführt, die gedroht hatten, Israel zu vernichten, und unterzeichnete nun ein Friedensabkommen mit Israel. Auch Jordanien schloss Frieden mit dem jüdischen Staat. Danach erkannten einige muslimische Staaten Israel an – direkt oder indirekt, öffentlich oder heimlich.

Nach dem Sechstagekrieg von 1967 konzentrierte sich der Streit auf die Feindschaft zwischen Israel und den Palästinensern. Sofort nach dem Krieg gab es Israelis, die für die Gründung eines palästinensischen Staates plädierten. Die meisten gaben diese Idee jedoch auf, und es dauerte nicht lange, bis nur noch die extreme Linke an dieser Idee festhielt. Die Palästinenser ihrerseits verlangten, dass die meisten Israelis in ihre Heimatländer zurückkehren sollten, später kam es dann zu einer Annäherung: Die Mehrheit der Israelis und der Palästinenser erkannte die Notwendigkeit, das Land in zwei Nationalstaaten zu teilen. Die Befürchtung, dass der Iran Kernwaffen entwickeln könnte, führte dazu, dass viele Israelis dafür plädierten, sich um einen Kompromiss mit den Palästinensern zu bemühen. Ohne Gegenleistung lösten sie die Siedlungen im Gazastreifen auf und waren dazu bereit, auch Siedlungen in der Westbank aufzugeben. Manche Israelis sind sogar dazu bereit, die Herrschaft über Jerusalem aufzuteilen.

Scheinbar spricht manches dafür, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Aber viele Israelis glauben nicht daran, dass der Frieden eine Chance hat, und das kurz vor dem 60. Unabhängigkeitstag ihres Landes. Die meisten wollen Frieden und sind bereit, einen bestimmten Preis dafür zu bezahlen; nur wenige von ihnen gehören zu den Hardlinern, die in den Palästinensergebieten leben. Die meisten Israelis unterstützen sie nicht, stehen aber der andauernden Präsenz der israelischen Armee und der Erweiterung der Siedlungen größtenteils gleichgültig gegenüber.

Weil die Mehrheit der Israelis den Glauben an Frieden aufgegeben hat, sieht sie Besetzung, Unterdrückung und Terror als Dauerzustand an. Inzwischen umgeben sich die Israelis mit Zäunen und Mauern, die das Leben der Palästinenser erschweren. Einer der Hauptunterschiede zwischen den Israelis von heute und den ersten Israelis ist, dass das junge Israel den Glauben an Frieden wie einen Gründungsmythos pflegte.

Dass die Aussichten auf dauerhaften Frieden schlecht sind, ist ein guter Grund, woanders zu leben. Aber die meisten Israelis werden bleiben. Sie sind hauptsächlich Nachkommen von Einwanderern; es sind fast eine Million Menschen, die in den letzten zwanzig Jahren nach Israel gekommen sind. Sie wissen, dass es nicht leicht ist, in ein neues Land einzuwandern. Hunderttausende von ihnen besorgen sich europäische Pässe, sogar deutsche, denn wer weiß, was noch passieren wird. Und doch fühlen sich die meisten in Israel zuhause. Im Gegensatz zu den ersten Israelis empfinden sie aber keine Begeisterung mehr darüber, in einem eigenen Staat zu leben.

Manche vergleichen das Leben in Israel mit der Fahrt der Titanic – ein illusorisches Narrenschiff. Es gibt Israelis, die die Zukunft ihres Landes mit Sorge sehen. Sie befürchten, die andauernde Besetzung könnte Israel in ein »Land der Apartheid« verwandeln, wie viele Kritiker das Land bereits heute bezeichnen. Das trifft nicht nur auf die Palästinenser zu, die in den von Israel 1967 besetzten Gebieten leben, sondern auch auf die Araber, die in Israel leben. Jeder fünfte Israeli ist ein Araber. Sie genießen keine volle Gleichberechtigung; viele von ihnen, besonders die Beduinenstämme im Süden des Landes, gehören zu den ärmsten Bevölkerungsschichten. Da tickt eine soziale und politische Zeitbombe. Aber die meisten Juden in Israel weigern sich, Israel als den Staat aller seiner Staatsbürger anzusehen, sie beharren darauf, Israel als ein jüdisches und demokratisches Land zu definieren. Die ersten Israelis kannten dieses Dilemma nicht.

Die meisten Israelis heute sind in einem Maße ernüchtert, realistisch und zynisch, wie es für die ersten Israelis nicht vorstellbar war, und haben ihr Vertrauen in die gesellschaftliche Solidarität verloren – einst einer der Gründungsmythen des Landes. Von der Diskriminierung, die für die ersten Jahre Israels charakteristisch war, ist noch ein Rest geblieben, und er erschwert das Leben bis heute. Unterschiede zwischen den »orientalischen« Juden aus arabischen Ländern und den aus Europa nach Israel gekommenen sind geringer geworden. Allerdings sitzen noch immer überdurchschnittlich viele »orientalische« Juden in Gefängnissen ein, und nur verhältnismäßig wenige von ihnen studieren.

Die Beziehung zwischen der Kultur der »orientalischen« Juden und der Religion hat sich mit den Jahren gefestigt, obwohl die Gründerväter sich, wie in diesem Buch geschildert wird, bemühten, alle Bürger in einem säkularen »Schmelztiegel« zu vereinen. Die Verschmelzung der »orientalischen« Kultur mit der religiösen Tradition erzeugte eine politische Macht, die zur Zeit der ersten Israelis undenkbar war.

Viele Jahre konnte sich Israel von der in diesem Buch geschilderten schrecklichen Geschichte über Hunderte von im Jemen geborenen und »verschwundenen« Kindern nicht befreien. Mit den Jahren beschäftigte sich eine Reihe von Untersuchungsausschüssen mit diesem Thema. Als Ergebnis wurde stets festgehalten, dass die Kinder gestorben und nicht zur Adoption freigegeben worden seien, aber viele der betroffenen Eltern waren nicht bereit, dies zu akzeptieren. Es waren gläubige Menschen, die sich leichter damit taten zu glauben, dass ihnen der Staat die Kinder genommen habe – und nicht Gott.

Einige der Ausgangspunkte der Konfrontation zwischen Staat und Religion in den ersten Jahren der Existenz Israels belasten den Staat noch heute, so auch das Verhältnis der offiziellen Religion zu den vielen Juden, die sich in Israel in den letzten Jahren ansiedelten. Das religiöse Establishment in Israel erkennt viele Einwanderer aus Russland und Äthiopien nicht als jüdisch an. Oft genug sind sie gezwungen, sich mit ähnlichen Problemen wie die ersten Israelis in den 1950er Jahren auseinanderzusetzen. Das betrifft auch rassistische Stigmata, mit denen marokkanische und andere Einwanderer kämpfen mussten, wie auf den folgenden Seiten zu erfahren ist.

Die Auseinandersetzung zwischen frommen und säkularen Juden, die im Zentrum des Lebens der ersten Israelis stand, verläuft heute in einer kompromissbereiteren Atmosphäre. Dies ist das Ergebnis von zwei Prozessen, die sich zunächst zu widersprechen scheinen, sich aber tatsächlich ergänzen. Die eine Million Juden, die aus Russland kam, hat das säkulare Element in der israelischen Gesellschaft gestärkt. Mehr und mehr Fromme erkannten die Grenzen ihrer Macht, sie verstanden, dass sie ihren Glauben nicht dem ganzen Land aufzwingen konnten. Gleichzeitig schlossen die meisten Israelis Frieden mit ihren jüdischen Wurzeln, im Gegensatz zum vom Staat in den ersten Gründungsjahren unternommenen Versuch, die Bürger dazu zu bringen, ihre Vergangenheit auszulöschen und »neue«, säkulare Menschen zu werden.

Man hat den Eindruck, dass die Spannung zwischen frommen und säkularen Bürgern in Israel zurückgegangen ist; Jerusalem und Tel Aviv haben sich arrangiert. Jerusalem, die heilige, fanatische Stadt, 5000 Jahre alt und auf Fels gebaut, wird von Jahr zu Jahr religiöser. Tel Aviv ist säkular, die Stadt sprudelt vor Leben, ist noch keine 100 Jahre alt und auf den Dünen des Mittelmeers entstanden. Von Jahr zu Jahr wird sie weniger ideologisch und immer pluralistischer und individualistischer.

Kurz vor dem 60. Jahrestag der Unabhängigkeitserklärung zeichnet sich in der israelischen Gesellschaft eine Koalition von Minderheiten und »Anderen« ab, ein multikulturelles Kaleidoskop von Identitäten, die sich immer noch schwer damit tun, den gemeinsamen israelischen Nenner zu definieren. In dieser Hinsicht sind alle Israelis immer noch die ersten Israelis. Sie nehmen teil an einem einzigartigen historischen Experiment, das noch nicht gelungen und auch noch nicht gescheitert ist. Das macht ihre Geschichte so spannend.

Tom Segev

Im Januar 2008

Vorwort zur englischen Ausgabe

Einige Zeit nach dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches überraschte mich ein Freund mit einer arabischen Ausgabe, die in Beirut vom Institut für Palästinensische Studien herausgebracht worden war. Ich war vorher über die Übersetzung nicht informiert worden, und natürlich hatte dieses Institut, das der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) nahesteht, weder um Erlaubnis gefragt, noch zahlte es Tantiemen. Dennoch war ich sehr froh darüber, dass das Buch nun auch auf die andere Seite der Frontlinie gelangt war. Als ich später einem Mitarbeiter dieses Instituts begegnete, sagte ich zu ihm: »Ich kenne Sie – Sie haben mein Buch gestohlen.« »Das stimmt«, erwiderte der Mann, »aber Sie haben mein Land geraubt.« Dieser kleine Wortwechsel spiegelt sehr treffend das Diskussionsniveau wider, das in den 1980er Jahren zwischen Israelis und Palästinensern herrschte. Seitdem hat sich zweifellos viel verändert. Die ersten Israelis würden ihr Land heute wohl kaum wiedererkennen.

Die Geschichte dieser ersten Israelis ist für mich letztlich eine Erfolgsgeschichte; ich denke voller Mitgefühl an sie und beneide sie auch ein wenig darum, dass sie teilhaben durften an der historischen Aufgabe, einen neuen Staat aufzubauen. Doch als mein Buch vor zehn Jahren in Israel erschien, löste es eine heftige Kontroverse aus. Die Reaktionen reichten von Scham über Entsetzen bis zu heftiger Ablehnung, weil das Buch ein tief verwurzeltes Selbstverständnis erschütterte und viele allgemein akzeptierte Wahrheiten als Mythen entlarvte. Seine Wirkung war umso durchschlagender, weil sich seine Erkenntnisse fast ausschließlich auf amtliche Dokumente stützten.

Die Geschichte spielt im politischen und kulturellen Diskurs Israels eine immens wichtige Rolle. Die Existenz des Landes beruht auf einer bestimmten Auslegung der jüdischen Geschichte, nämlich der zionistischen. Der offiziellen Version zufolge – die lange Zeit die einzige Version darstellte – war die Geschichte Israels ein Musterbeispiel für die Verwirklichung von Gleichheit und Gerechtigkeit. Doch mein Buch zeigte, dass die historische Entwicklung weit weniger harmonisch und heldenhaft verlaufen war, als man es die Israelis glauben gemacht hatte. Denn es ist wahr: Israel trägt durchaus eine Mitschuld an der Tragödie der palästinensischen Flüchtlinge; es hat nicht alle Chancen genutzt, mit den arabischen Nachbarn Frieden zu schließen, und die Regierung hat bisweilen tatsächlich Neueinwanderer aus den arabischen Ländern diskriminiert. Daher kam es nicht überraschend, dass viele Kritiker wütend reagierten; einige bezeichneten mein Buch gar als Ausdruck post-zionistischen Selbsthasses.

Das Erscheinen des Buches fiel in eine Zeit großer gesellschaftlicher Verunsicherung in Israel, die durch den fortdauernden Libanonkrieg und dreistellige Inflationsraten gekennzeichnet war, um nur zwei Ursachen dieser Instabilität zu nennen. Kurz nachdem das Buch herausgekommen war, veröffentlichte die mittlerweile eingestellte Wochenzeitung Koteret Rashit eine landesweite Umfrage, die ergab, dass sich acht von zehn Israelis persönlich glücklich fühlten, aber sechs von zehn glaubten, dass dies für die meisten anderen Israelis nicht zuträfe. Dieser Widerspruch mag als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Menschen zwar mit ihrem eigenen Leben weitgehend zufrieden waren, im Hinblick auf das Wohl der gesamten Gesellschaft dagegen Unsicherheit vorherrschte. Wäre eine solche Erhebung 1949 durchgeführt worden, hätte sie wohl ein gegenteiliges Ergebnis gebracht: Die ersten Israelis waren persönlich überwiegend unzufrieden, glaubten aber an die Zukunft ihres Landes. Sie hatten einen Traum. Dies ist wahrscheinlich der größte Unterschied zwischen den Israelis von damals und heute.

Doch der Verlust dieses Traums ist nicht durchweg negativ zu werten, denn an seine Stelle trat Selbsterkenntnis. Das israelische Volk ist erwachsen geworden. Der Reifeprozess vollzog sich im Gefolge der Friedensverhandlungen mit Ägypten und Jordanien sowie der Verhandlungen mit den Palästinensern: Die Israelis fühlen sich heute sicherer, und auch ihre wirtschaftliche Lage hat sich deutlich verbessert. Anders als die ersten Israelis, die sich als Kollektiv verstanden, betrachten sich heute die meisten als Individuen. Das Gefühl der Stammeszugehörigkeit, das in den Anfangsjahren Israels eine Notwendigkeit gewesen sein mag, hat mittlerweile viel von seiner Bedeutung verloren, wie auch die politische Ideologie im Allgemeinen. Immer mehr Israelis orientieren sich nicht mehr an der Vergangenheit oder der Zukunft, sondern an der Gegenwart, am Leben selbst. Nachdem sie erwachsen geworden sind, haben sie auch ein gewisses Maß an Selbstkritik entwickelt. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass viele der so genannten »neuen Historiker« an amerikanischen Universitäten studiert haben; eine der wichtigsten Erkenntnisse, die sie mit nach Hause brachten, lautet, dass allgemein akzeptierte Wahrheiten immer wieder hinterfragt und kritisch überprüft werden müssen.

Soweit ich weiß, wurde der Begriff »neue Geschichtsschreibung« in Israel erstmals im Zusammenhang mit meinem Buch verwendet. Aber ich war in keinerlei Hinsicht ein »neuer« Historiker, sofern man darunter einen alternativen oder revisionistischen Historiker versteht. Ich hatte nur das Glück, dass viel Archivmaterial, das früher unzugänglich war, nun der Forschung zur Verfügung gestellt wurde. Und daher erhielt ich die Möglichkeit, eine Geschichte zu erzählen, die noch niemand vor mir erzählt hatte. Dadurch, dass ich dieses Material verwenden konnte, wurde ich, genauer gesagt, zu einem »ersten« Historiker, der sich mit diesem speziellen Zeitabschnitt befasste, und ein Großteil dessen, was man später als »neue Geschichtsschreibung« bezeichnete, ist im Grunde nur eine »erste Geschichtsschreibung«. Bevor die Archive freigegeben wurden, besaß Israel eine nationale Mythologie; erst nach der Öffnung der Archive konnte die wirkliche Geschichte geschrieben werden, und zwar zum ersten Mal. Die wahren neuen Historiker werden jene sein, die das, was wir getan und geleistet haben, neu darstellen und neu bewerten.

In den vergangenen Jahren hat die israelische Regierung die Protokolle der Kabinettssitzungen des Jahres 1949 freigegeben. Die meisten dieser Dokumente waren mir bei der Arbeit an diesem Buch noch nicht zugänglich, obwohl ich inoffiziell in Teile von ihnen Einblick nehmen konnte. Die Freigabe dieser Protokolle zeugt von einem erfreulichen Maß an Liberalität, wenn auch einige nach wie vor geheim bleiben – vor allem jene, die Beweise für die Gräueltaten enthalten, die während des Krieges von 1948 von israelischen Soldaten an Palästinensern verübt wurden, oder jene, in denen Diskussionen hochrangiger Kabinettsmitglieder über die Notwendigkeit der Vertreibung der arabischen Bevölkerung festgehalten sind. So wird es den Israelis auch heute noch verwehrt, die vollständige Wahrheit über ihre Vergangenheit zu erfahren.

Ich möchte die Leser darauf aufmerksam machen, dass neben den neuen Archivmaterialien im vergangenen Jahrzehnt auch zahlreiche weitere Bücher über die Anfangsjahre Israels veröffentlicht wurden. Nachfolgend nur ein paar interessante Titel: Itzhak Levis Erinnerungen an den Unabhängigkeitskrieg von 1948 enthalten einen bemerkenswerten Bericht über das Massaker von Deir Yassin. Benny Morris befasst sich mit den Ursprüngen des arabischen Flüchtlingsproblems in seinem Buch The Birth of the Palestinian Refugee Problem. Eine Reihe weiterer Historiker, darunter Baruch Kimmerling, Ilan Pape, Zaki Schalom, Itamar Rabinovitz, Ayre Shalev und Avi Shlaim, haben verschiedene Aspekte des israelisch-arabischen Konflikts neu untersucht und die offizielle israelische Geschichtsschreibung in Frage gestellt. Mehrere neue Bücher wurden auch über die arabischen Bürger Israels geschrieben, wobei jenes von Uzi Benziman und Attalah Mansour besonders hervorzuheben ist.

Die schmerzliche Geschichte von den jemenitischen Kindern, die erstmals in meinem Buch dargestellt wurde, hat in jüngster Zeit zu einer hitzigen politischen Debatte geführt, die durch ein hohes Maß an Demagogie geprägt war und sogar Gewaltausbrüche nach sich zog. Zwei offizielle Untersuchungskommissionen, neben jener, die ich in meinem Buch erwähne, wurden eingerichtet, um dieser Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Auch der Umgang mit Neueinwanderern wurde in einer Reihe von Arbeiten etwa von Dvora Hakohen, Zwi Tsameret und anderen aufgegriffen. Die Behandlung der Holocaustüberlebenden wurde von Hanna Yablonka untersucht, wie auch von mir in meinem Buch Die siebte Million.

Während Israel den fünfzigsten Jahrestag seiner Staatsgründung feiert, ist seine Gesellschaft weiter durch Grundkonflikte tief gespalten. Israel ist heute zerrissener denn je und gefangen in einem Kulturkampf, einem Krieg zwischen grundlegender Moral und politischen Werten. Ministerpräsident Yitzhak Rabin hat in diesem Krieg sein Leben verloren. Rabin, der erste in Israel geborene Ministerpräsident des Landes, war auch der erste politische Führer, der dem Volk sagte, dass Israels Existenz nicht länger gefährdet und daher die Zeit gekommen sei, die Risiken des Friedens einzugehen. Er verkörperte die Stimme des Optimismus; sein Mörder handelte aus Pessimismus. Diese beiden Grundhaltungen bringen den Konflikt zum Ausdruck, der heute im Herzen Israels tobt.

So erbittert diese Auseinandersetzungen auch sind, bin ich dennoch überzeugt, dass die Israelis in den letzten zehn Jahren ein besseres Verständnis von sich selbst gewonnen haben. Und das ist eine entscheidende Voraussetzung, um den anderen zu verstehen, insbesondere wenn dieser andere ein langjähriger Feind ist. Heute würde ich meinen Kollegen vom Institut für Palästinensische Studien erklären, dass dieses Verständnis für die Palästinenser wie für die Israelis gleichermaßen von elementarer Bedeutung ist. Die mythenbeladene Vergangenheit abzustreifen, ist eine schmerzliche, aber notwendige Aufgabe; es erfordert beträchtliche Anstrengung, sich mit den »ersten Palästinensern« auseinanderzusetzen, die sich anschicken, ihre nationale Souveränität zu erringen, fast fünfzig Jahre, nachdem die ersten Israelis ihre Selbstbestimmung erlangt haben.

1949: The First Israelis wurde vom Verlag Domino Press in Jerusalem herausgebracht; der Verlegerin und Agentin Deborah Harris möchte ich an erster Stelle danken. Die englische Fassung wurde aktualisiert und leicht gekürzt. Das Buch stützt sich auf Hunderte Aktenordner mit Tausenden von Dokumenten. Ich habe sie im Israelischen Staatsarchiv eingesehen, im Zionistischen Zentralarchiv, den Archiven der israelischen Armee und der Haganah, der Ben-Gurion-Stiftung im Kibbuz Sde-Boker, der Israelischen Arbeitspartei, im Kibbuz Hameuhad, in Beit Jabotinsky, Yad Vashem, der Jerusalemer Stadtverwaltung und dem Zentralarchiv für Jüdische Geschichte. Bei der Arbeit mit den Akten erhielt ich auch manch wertvolle Ratschläge, für die ich sehr dankbar bin. Innigen Dank schulde ich auch drei Freunden, die mein Manuskript gelesen haben: Yosef Avner, Abraham Kushnir und Nachum Barnea. Sie waren eine große Hilfe für mich.

Tom Segev

1998

Einleitung

An einem der ersten Tage des Jahres 1949 und einem ihrer ersten Tage in Israel unternahm Rivka Waxmann, eine Neueinwanderin aus Polen, einen Einkaufsbummel in der Herzl-Straße in Haifa und beobachtete dabei zufällig, wie ein Soldat aus einem Jeep stieg und zum Kartenverkaufsschalter des Ora-Kinos ging. Frau Waxmann erstarrte, dann rief sie: »Chaim?« Der Soldat wandte sich ihr zu, und einige Sekunden starrten sich die beiden ungläubig an. Dann streckte die Frau ihre Arme aus und stürzte auf den jungen Mann zu. Sie war seine Mutter.

Zuletzt hatte Frau Waxmann ihren Sohn vor acht Jahren gesehen, als er vierzehn war. Sie waren durch den Krieg getrennt worden, und bis zu ihrem Wiedersehen auf dieser Straße in Haifa hatte Frau Waxmann geglaubt, er sei während des Holocaust umgekommen. Die nachmittags erscheinende Tageszeitung Maariv, damals gerade ein Jahr alt, berichtete noch am selben Tag über dieses Ereignis; es bekam eine symbolische Bedeutung.1

Tausende von Menschen – junger wie alter – waren während der Besetzung ihrer Länder durch die Nationalsozialisten von ihren Liebsten getrennt worden und wussten nicht, was aus ihnen geworden war – in den Ghettos, bei den Deportationen, in den Todeslagern, in den Wäldern. In Israel fanden sie sich entweder rein zufällig wieder oder durch Suchanzeigen in den Zeitungen oder mit Hilfe der herzerweichenden Radiosendung Who Recognizes, Who Knows? »Arieh [Leibush] Kantrowitz, heute im Kibbuz Hazorea, sucht seine Mutter Fanya, geborene Margolin«, lauteten beispielsweise die Anzeigen. »Bluma Langer, geborene Wasserstein, ursprünglich aus Kovno und heute im Einwandererlager in Raanana, sucht ihren Ehemann Aharon Langer. Leah Koren aus Lublin, jetzt in Israel, sucht ihre Schwester Sheina Friedman, geborene Koren.« Sie alle waren Neueinwanderer, die auf der Schwelle zu einem neuen Leben standen.

Die Geschichte der ersten Israelis hat viel zu tun mit Hoffnung und dem Glauben daran, dass es nur besser werden kann – und besser werden wird. Sie handelt von einem Volk, das von einer aufgeklärten und gerechten Gesellschaft träumte, die es jedem Mann und jeder Frau ermöglicht, im Geiste des Gesetzes, der Moral, der Gerechtigkeit und des Friedens sein beziehungsweise ihr Glück zu finden. Bei der Vorstellung seiner ersten Regierung vor der Knesset, dem israelischen Parlament, verkündete Ministerpräsident David Ben-Gurion, der Staat Israel werde sich nicht damit zufriedengeben, dass seine Bürger genügend zu essen und zu trinken erhielten und Kinder großziehen könnten. »Unsere Handlungen und unsere Politik werden nicht allein von wirtschaftlichen Überlegungen geleitet«, erklärte er, »sondern durch eine politische und gesellschaftliche Vision, die uns überliefert wurde von unseren Propheten und die wir übernommen haben aus dem Vermächtnis unser großen Weisen und der Lehrer unserer Zeit.« Ben-Gurion sprach von der Notwendigkeit, »das Verhältnis der Menschen zur Gesellschaft zu verändern« durch das gemeinschaftliche Zusammenwirken im Geiste des wegbahnenden sozialistischen Zionismus. Daher, so fuhr er fort, betrachte es die Regierung »als die Pflicht des Staates, die Förderung dieser Werte [der moralischen Werte der Propheten] mit allen moralischen, gesetzlichen und finanziellen Mitteln zu unterstützen … um die Jugend zu erziehen und das Bild einer jüdischen Nation zu formen, die sich wahrhaftig ihres Ursprungs in der Vision vom Ende der Tage besinnt«.2

Die Zeitungen druckten Fotos von jüdischen Pionieren, von schönen Menschen, die man von unten herauf fotografierte – als stünden sie in gewisser Weise vor dem Horizont der Zukunft. Die Firma Philips veröffentlichte ähnlich aufgemachte Zeichnungen in großformatigen Anzeigen: Ein junges Paar – sie figurbetont, er muskulös, beide Menschen der Arbeit –, hinter ihm eine Karte des Landes mit der pathetischen Unterschrift: »Ein neuer Tag bricht an.«3 Selbstgewisse Zuversicht, die bisweilen ins Triviale oder Lächerliche abzugleiten drohte, war der Stil dieser Zeit.

Der 75. Geburtstag von Staatspräsident Chaim Weizmann, der einst ein einflussreicher Politiker gewesen war, mittlerweile aber zur bloßen Galionsfigur herabgesunken war, nahezu blind und tief enttäuscht, wurde mit zahlreichen offiziellen Feierlichkeiten mit fast königlichem Gepränge begangen. Dieselbe Art von nationaler Begeisterung, militärischer Grandeur und zionistischer Sentimentalität begleitete die Umbettung der sterblichen Überreste von Theodor Herzl, dem Begründer der zionistischen Bewegung. Sein Leichnam wurde aus Wien überführt; die Aktion wurde als historisches Ereignis dargestellt. »Jetzt kommt er!«, verkündete Maariv in großer Aufmachung. Herzl hatte nie in Israel gelebt, aber den Zeitungen zufolge kehrte er nun wieder »heim zu uns«.4

Alle waren sich bewusst, dass sie teilhatten an einer Entwicklung von historischen Dimensionen; jeder wollte sich in den Annalen der Geschichte ein kleines Plätzchen sichern.

Als in Haifa eine Fabrik für Wecker eröffnet wurde, erschienen in Davar Hashavua (der Wochenendbeilage von Davar) Fotos mit der Bildunterschrift: »Der erste Wecker, der in Israel gebaut wurde, ging als Geschenk an Staatspräsident Chaim Weizmann; der zweite Wecker wurde Ministerpräsident David Ben-Gurion zugesandt.«5

Ben-Gurion war an Bord des ersten Zuges, der nach dem Krieg nach Jerusalem fuhr. Dutzende von Beamten drängten sich hinter ihm, um in die Kameras zu blicken, die dieses Ereignis für die Zeitungen und die Nachwelt festhielten. Und sie waren ehrlich bewegt, die Zeugen dieses historischen Ereignisses. Sämtliche israelische Zeitungen brachten das Bild.

Während der Krieg noch tobte, schuf das Land die ersten staatlichen Einrichtungen: Ministerien wurden gegründet und Beamte und Generäle ernannt, Botschafter wurden in jede Hauptstadt der Welt geschickt, die sie empfangen wollte, das Oberste Gericht wurde mit Richtern besetzt. Der Provisorische Staatsrat ebnete den Weg für die Knesset und beugte sich dem Willen seines Sprechers Yosef Shprintsak, eines gewieften kleinen Mannes, den man stets mit einer Zigarre sah und der durch seine Aktivitäten in der zionistischen Bewegung bereits parlamentarische Erfahrungen gesammelt hatte. Ein ausländischer Besucher, der eines Tages zufällig in sein Büro kam, war erstaunt über die Berge von Protokollen, die dort aufgestapelt lagen. »Haben Sie wirklich schon so viele Reden gehalten?«, fragte er. »Das liegt daran, dass wir seit zweitausend Jahren Frieden haben«, erwiderte Shprintsak.

Die Mitglieder der Knesset diskutierten unter anderem auch über die Größe und die Zusammensetzung des Parlaments. Die Delegierten der kleinen Fraktionen plädierten für die maximale Zahl von Abgeordneten (171), die Vertreter der großen Fraktionen wollten nur relativ wenige Volksvertreter (71). Man einigte sich schließlich auf 120 Parlamentarier, was der Zahl der Mitglieder der Großen Knesset zur Zeit des Zweiten Tempels entsprach. Vergleichbare Entscheidungen waren jeden Tag zu treffen. »Das ist eine Festlegung für kommende Generationen«, seufzte ein Führer der Mapai, der bedeutendsten sozialdemokratischen Partei, während der Debatte über die Zusammensetzung der Regierung, und ein anderer klagte: »Ich habe nicht viel Erfahrung im Aufbau eines Landes.«6 Die Mapai hatte seit vielen Jahren alle Institutionen der jüdischen Gemeinschaft im Land beherrscht. Ihre Führer hatten den Kampf gegen die britische Herrschaft maßgeblich bestimmt, und ihre Handlungen waren bereits ein Vorgriff auf die Staatsgründung und den Unabhängigkeitskrieg gewesen.

Die erste Knesset war eine sehr homogene Versammlung: Die Abgeordneten waren in der überwältigenden Mehrheit Männer (es saßen nur elf Frauen im Parlament), und 70 Prozent der Parlamentarier waren in Osteuropa geboren, meist in Russland oder Polen. Die meisten waren entweder politische Aktivisten, Funktionäre oder Rechtsanwälte und meist über fünfzig oder sechzig Jahre alt.

Die Hälfte der Mitglieder der ersten Knesset waren Delegierte des 32. Zionistischen Weltkongresses gewesen, der 1946 in Basel getagt hatte. Ein Drittel der Abgeordneten hatte auch der Vierten Repräsentativen Versammlung angehört, der ranghöchsten gewählten Institution der jüdischen Gemeinschaft in Palästina während der britischen Mandatszeit.

Diese Faktoren sorgten für eine gewisse Kontinuität des demokratischparlamentarischen Systems und ließen den Eindruck entstehen, dass überhaupt kein revolutionärer Umbruch stattgefunden habe. »Ich kann den Konservatismus meiner Revolutionäre nicht mehr ertragen«, seufzte Ben-Gurion häufig.7

In der ideologischen Grundeinstellung des gesellschaftlichen und politischen Establishments vermischte sich auf eigenartige Weise rabbinische Überlieferung aus Osteuropa mit der marxistischen Botschaft der enthusiastischen, konspirativen russischen Revolutionsbewegung.

Die Männer der ersten zionistischen Einwanderungswellen, bis in die 1920er Jahre hinein, waren stolz auf ihre Errungenschaften und hielten mit glühendem Eifer an jenen Traditionen fest, die sich aus ihren persönlichen Kämpfen und ihrer harten, aufreibenden Arbeit entwickelt hatten. Doch ihr unerbittlicher Konservatismus war nur schwer erträglich für jene, die offen waren für Neues, für Innovationen und Veränderungen. »Es entstand gewissermaßen eine israelische Mayflower-Elite«, schrieb der Wirtschaftswissenschaftler David Horowitz, »deren moralische Autorität so unerschütterlich war, dass sie zu einer geschlossenen Kaste wurde, die sich nicht nur gegen neue Mitglieder abschottete, sondern auch gegen neue Ideen.«8

Da sich die ältere Generation an ihre Posten klammerte, taten sich die Jüngeren schwer, in einflussreichere Positionen aufzusteigen, und nicht zuletzt deswegen waren die tonangebenden Politiker meist schon ziemlich betagt. Glühender Nationalismus, soziales Pathos und das Gefühl, sich noch immer im Untergrund zu befinden, waren die prägenden Merkmale dieses Establishments – es war eine puritanische, heldenmütige, halsstarrige, von revolutionärer Ideologie beseelte, in ihrem Denken und Handeln aber dennoch konservative Gruppe.

Es war letztlich David Ben-Gurion, dem die Aufgabe zufiel, die Kontinuität und Stabilität dieses Systems zu wahren, und er symbolisierte es auch wie kein anderer. Im Jahr 1949 war der Mann mit dem weißen Haarschopf, der im polnischen Plonsk geboren worden war, 63 Jahre alt und hatte schon reichlich politische Erfahrung gesammelt. In seiner unangefochtenen Stellung und der Fülle seiner politischen Macht kamen seine Führungsfähigkeiten wie auch seine Entscheidungsfreudigkeit zum Ausdruck. Seine Umgebung betrachtete ihn als die Quelle aller Autorität, als jenen Mann, der Präzedenzfälle schuf und die Grundwerte verkörperte; manche hielten ihn sogar für die Personifikation der Geschichte.*

Aus Ben-Gurions Tagebüchern, Briefen und sonstigem dokumentarischen Material geht hervor, dass er sich eingehend um alle Einzelheiten der großen nationalen Entscheidungen kümmerte, wie auch um viele andere Angelegenheiten. Folgender Tagebucheintrag von Freitag, dem 11. März 1949, zeigt, wie intensiv sich Ben-Gurion mit den tagespolitischen Fragen beschäftigte:

Heute Morgen rief [Generalstabschef] Yaakov Dori an und teilte mir mit, dass gestern um Mitternacht unsere Fahne über der Bucht des Roten Meeres aufgezogen wurde. Wir haben Eilat erreicht … Geht es jetzt in Richtung Westbank? Die Rhodes-Verhandlungen [über einen Waffenstillstand] werden entscheidend sein … Wir müssen uns darauf vorbereiten, innerhalb von vier Jahren 800 000 Einwanderer aufzunehmen. Wie viele Fabriken werden benötigt werden, welche Art von Industrie muss aufgebaut werden, welche Gebiete müssen besiedelt werden, wie viel Geld wird das alles kosten, welche Ausrüstung wird benötigt werden, was muss ein- und was muss ausgeführt werden? … Wir müssen mit allen kommunalen und städtischen Verwaltungen über ihre Entwicklungspläne sprechen und klären, welche von ihnen Unterstützung durch die Regierung brauchen und welche nicht. Wie steht es mit den Maschinen in den Fabriken, kann man sie erneuern oder verbessern? Welche Wirtschaftszweige können nach Jerusalem verlegt werden? … Eine Straße muss von Beersheba aus gebaut werden, nach Süden, zum Toten Meer … Es gibt einen Plan, Wasser aus dem Toten Meer abzupumpen und es direkt zum Mittelmeer zu leiten … Arbeiterkomitees sollten eingerichtet werden, um den Staat zu unterstützen, auf der Grundlage des Regierungsplans für die Förderung der Berufsausbildung, der Verbesserung des Lebensstandards, der Steigerung der Produktion und der Anpassung der Arbeitsgesetze … Und wir müssen mehr Zeit gewinnen! Wie soll man das alles schaffen innerhalb der 24 Stunden eines Tages?! Ich muss einen rigiden Tagesablaufplan aufstellen – für das Verteidigungsministerium (die Treffen mit dem Generalstab, den Spitzenbeamten des Ministeriums und den Repräsentanten der Marine und der Luftwaffe), die Wirtschaftsplanung (die Treffen mit den Ministern für Finanzen, Arbeit, Landwirtschaft, Industrie und Rationierung), die Koordination der Arbeit der Ministerien, den Austausch mit den Arbeitern, mit den Vertretern der akademischen und der freien Berufe, den Armeekommandeuren, für die Besuche von Lagern, Fabriken und Siedlungen, für den Empfang von Besuchern, das Lesen von Material, das Schreiben. Wir brauchen Verbindungsoffiziere: zu den Ministerien (mindestens zweimal wöchentlich Berichte über ihre Arbeit), zu den Arbeitsorganisationen (regelmäßige Berichte, mindestens zwei- oder dreimal in der Woche, über die Entwicklung der Beschäftigung und der Arbeitslosenzahlen), zu den Wohnungsbaubehörden (Umsetzung von Plänen, Vorbereitungen und Engpässe), zu den Siedlungsbehörden, zu den Arabern, zu den Vertretern der Industrie, zur Bankenwelt, zum Wissenschaftsrat, zur Rüstungsindustrie, zu den Versorgungseinrichtungen, zur Polizei und dem Inlandsgeheimdienst, zum Außenamt (Gespräche mit den arabischen Staaten, Verhältnis zu den Großmächten Russland und Amerika sowie den Ländern im Osten und Westen, die Verbindungen zur Jewish Agency und den jüdischen Gemeinden in der Diaspora, zur Gewerkschaftsbewegung), zur Presse – der israelischen, der jüdischen und der sonstigen. Wir müssen anfangen, eine Reihe von Gesetzen auszuarbeiten: 1. Gleichberechtigung der Bürger, Religionsfreiheit, Freiheit des Gewissens, der Sprache, der Bildung und der Kultur, Gleichberechtigung der Frauen, Vereinigungsfreiheit und Redefreiheit, allgemeines Wahlrecht. 2. Gesetz zur allgemeinen Wehrpflicht. 3. Nationalisierung der Wasserquellen, der Rohstoffvorkommen, des ungenutzten Landes. 4. Kontrolle der Einfuhren und der Preise. 5. Steuersystem: progressive Einkommenssteuer, Erbschaftssteuer, Gewinne. 6. Förderung der Geburtenrate. 7. Allgemeine Bildung. 8. Demobilisierungszuschüsse. 9. Arbeitsgesetze. 10. Eingangsvoraussetzungen für den öffentlichen Dienst.10*

Die ersten Israelis führten nicht nur den siegreichen Unabhängigkeitskrieg, sie errichteten auch die ersten staatlichen Institutionen, wählten die erste Knesset, verabschiedeten die ersten Gesetze und bauten neue Siedlungen, um die Einwanderer aufnehmen zu können – ungefähr alle drei Tage entstand eine Siedlung oder rund hundert im Jahr. Gleichzeitig zogen sie Wohnkomplexe für Veteranen hoch, errichteten Industrieanlagen, schufen Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, gründeten das Weizmann-Institut für Wissenschaft, die Medizinische und die Juristische Fakultät an der Hebräischen Universität und publizierten die erste Ausgabe der Encyclopedia Hebraica – jeder Tag brachte neue Errungenschaften und Innovationen von großer Kühnheit, die sich in atemberaubendem Tempo vollzogen. Diese ersten Israelis durften mit gutem Grund optimistisch und selbstgewiss in die Zukunft blicken.

Doch in ihrem unerschütterlichen Glauben verschlossen sie mehr als einmal die Augen vor der Wirklichkeit. Sechs von zehn Israelis waren der Ansicht, dass für Männer, die in der Schlacht gefallen waren, keine Todesanzeigen in den Zeitungen erscheinen und ihre Namen auch nicht, wie damals üblich, an den Straßen angeschlagen werden sollten, um die Öffentlichkeit nicht negativ zu beeinflussen.13 Tausende Familien im ganzen Land trauerten um die Kriegstoten, denn 6000 Israelis – einer von hundert Einwohnern – hatten in den 14 Monaten zwischen November 1947 und Januar 1949 ihr Leben verloren. Zehntausende waren verwundet worden, und Zehntausende weitere Soldaten, die demobilisiert worden waren, wollten wieder in ihr bürgerliches Leben zurückkehren. Gezeichnet von Kriegsneurose oder dem Heimkehr-Schock, fiel es ihnen schwer, sich wieder zurechtzufinden; viele fühlten sich fremd in der Gesellschaft, für deren Verteidigung sie gekämpft hatten. Die Geschichte der ersten Israelis ist daher auch eine Geschichte von Kummer und menschlichem Leid.

In der ersten Hälfte des Januars 1949 machte ein Reporter der Nachmittagszeitung Yediot Aharonot einen Spaziergang durch eine schmale Gasse in Jaffa. »Ich erlebte eine wahrhaft bedrückende Szene«, schrieb er später, »Menschen, die Koffer schleppten, Pakete mit ihren wenigen Haushaltsgütern, Decken, Matratzen, Möbeln, gefolgt von weinenden Frauen und Kindern … Wohin wollten sie? Sie waren auf der Suche nach einer Unterkunft für die Nacht.«14 Es handelte sich um Neueinwanderer. Hunderte von ihnen, berichtete der Reporter, strömten täglich nach Jaffa und suchten nach Wohnungen, die von ihren bisherigen arabischen Bewohnern verlassen worden waren.* Die meisten dieser Wohnungen waren bereits belegt, aber dennoch kamen immer mehr Einwanderer. Zehntausende lebten in Zeltlagern. Und dann gab es noch die Araber, die im Land geblieben waren – ein geschlagenes, gedemütigtes und verängstigtes Volk.

Abu Laban, ein Führer der arabischen Gemeinde von Jaffa, saß damals im Gefängnis. Er wurde entgegen einer Entscheidung des Obersten Gerichts, das seine Freilassung angeordnet hatte, in administrativem Gewahrsam gehalten. Unter Bezug auf diesen Fall schrieb die Tageszeitung Haaretz in einem Leitartikel: »Wir befinden uns in einem entscheidenden Stadium der Geschichte unseres jungen Staates, in der sich sein Ansehen bildet und seine Traditionen geformt werden, und es wäre ein schlechtes Zeichen, wenn aus dem Kampf zwischen der Autorität des Rechts und der Macht des Regierungshandelns nicht das Recht als Sieger hervorgehen würde.«16

Anders als die Gewerkschaftszeitung Davar, die einem naiven, fast feierlichen Glauben anhing und durchdrungen war von einer großen Vision, gab sich die in Privatbesitz befindliche Haaretz bissig und skeptisch, erlag häufig ihrer Neigung zur Zuspitzung und Arroganz und sah sich daher bisweilen heftiger Kritik ausgesetzt.

In einem der wenigen Artikel, die in diesem revolutionären Jahr erschienen und die Unterschrift von Gerschom Schocken trugen, dem Chefredakteur von Haaretz, wurde verlangt, das Symbol des Staates unverzüglich zu ändern, denn es sei »ästhetisch verabscheuungswürdig und ein Beispiel für den Mangel der israelischen Regierung an Geschmack, Kultur und ästhetischem Empfinden«. Schocken schimpfte über die Gestaltung der Menora (des siebenarmigen Kerzenleuchters), der Buchstaben und der Olivenzweige (die ihm zu groß erschienen), »all dies in einem Plakat, das der Trophäen würdig ist, die den Siegern von Sportwettkämpfen verliehen werden«.17 In Leserbriefen an die Zeitung klagten die Menschen über überfüllte Busse, die Stadtverwaltung, die die Straßen nicht saubermachte, den ständigen Mangel an Kleingeld und das niedrige kulturelle Niveau der Beamten, die beschlossen hatten, eine Luxussteuer auf Klassik-Schallplatten zu erheben. Im Sommer beschäftigte sich Haaretz ausführlich mit einer Reihe von sexuellen Übergriffen, die im Land Aufsehen erregten, und bezeichnete diese als »Erscheinungsformen der Demoralisierung, die der Krieg bei Siegern wie Besiegten gleichermaßen hervorgebracht hat«.18 Acht Monate nach der Unabhängigkeitserklärung vom Mai 1948 veröffentlichte die Zeitung einen Artikel, der eine jener Neuerungen dieser Zeit enthielt, die länger Bestand haben sollten: Der Ausdruck Zionismus wurde darin in einer Anspielung auf leeres, schwülstiges Gerede verwendet.

Das Land wurde von einer Welle der Opferbereitschaft und von enthusiastischem patriotischen Pioniergeist erfasst, der auf die Förderung des Gemeinwohls gerichtet war. Daneben aber gab es auch weiterhin das natürliche menschliche Streben nach einem guten Leben und die Sorge um das eigene Wohlergehen, das häufig aber nur auf Kosten anderer zu erreichen war. Manche hatten während des Krieges geplündert und geraubt, andere danach, und ziemlich schnell entstand ein florierender Schwarzmarkt. Die ersten Israelis waren somit auch nicht tugendhafter als jene, die nach ihnen kamen.

Einige Monate nach der Gründung des Staates warnte David Ben-Gurion: »Wir werden die zionistische Bewegung enttäuschen und das Ziel verfehlen, wenn wir plötzlich darüber zu philosophieren anfangen, wer wir sind und was wir sind. Jetzt haben wir es einzig und allein mit pragmatischen Fragen zu tun, und diese müssen wir lösen …«20 Er neigte dazu, sich mehr mit den Problemen des Staates als des Einzelnen zu beschäftigen, und in dieser Hinsicht unterstützten ihn auch die meisten Schriftsteller dieser Generation, die in der ersten Person Plural schrieben und dachten. Das große menschliche Drama der Zeit wurde nicht als Konflikt zwischen dem Individuum und der Gesellschaft begriffen, sondern als eine Reihe von kollektiven Auseinandersetzungen: zwischen Juden und Arabern, zwischen Veteranen und Einwanderern sowie zwischen dem religiösen und säkularen Lager – und all dies fand vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen der hochfliegenden Vision und der profanen Wirklichkeit des täglichen Lebens statt.

Ben-Gurion versuchte auf seine eigene unnachahmliche Weise mit den Schwächen der Vision zurechtzukommen: Zweimal lud er in diesem Jahr eine große Gruppe von Schriftstellern und Intellektuellen zum Gespräch und verlangte von ihnen – gewissermaßen in der Manier eines Gewerkschaftsbosses –, dass sie sich gemeinsam dafür einsetzten, die Stimmung im Lande zu verbessern. Manche Intellektuelle beschäftigten sich mit grundlegenden existenziellen Fragen – verwirrte Vagabunden, die hin und her gerissen waren zwischen der jüdischen Vergangenheit und der israelischen Gegenwart, zwischen der Verleugnung der Diaspora und einem Gefühl von gesamtjüdischer Solidarität, zwischen Humanismus und Moralität und der Realpolitik der Regierung, und sich noch immer auf der Suche nach ihrer Identität und ihrem Weg befanden. Einer von Ben-Gurions Gästen stellte sogar die Frage, ob es für das Volk überhaupt noch ein Ziel, einen Sinn gebe. Das war Martin Buber. »Haben wir eigentlich noch ein Ziel?«, überlegte er laut, woraufhin ihn der Ministerpräsident ungeduldig unterbrach. Der Wortwechsel zwischen den beiden wirkte wie ein Dialog zwischen einem Priester und einem Propheten.

»Wir haben über ›Befreiung‹ gesprochen, die Befreiung des Bodens, die Befreiung der Arbeit«, erklärte Buber. »Wir haben sogar über die Befreiung des Menschen in Israel gesprochen. Diese Frage wurzelte in unserer Auffassung vom Glauben, aber diesen Bestandteil haben wir zerstört. Wir sprachen über die Befreiung des Bodens und meinten damit, ihn zu jüdischem Boden zu machen. Aber zu welchem Zweck brauchen wir jüdischen Boden?«

»Um Brot aus der Erde sprießen zu lassen«, entgegnete Ben-Gurion.

»Wofür?«, wiederholte Buber.

»Um es zu essen.«

»Wofür?«, drängte Buber.

»Genug jetzt!«, herrschte ihn Ben-Gurion an, mittlerweile leicht erregt. »Er stellt Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Genügt es nicht, Brot aus der Erde sprießen zu lassen? Das genügt ihm nicht. Um die Unabhängigkeit zu erlangen? Auch das ist ihm nicht ausreichend. Um das jüdische Volk zu befreien? Selbst das genügt ihm nicht. Professor Buber fragt immer wieder nach dem Warum. Vielleicht kennt er ja die letztgültige Antwort, doch das bezweifle ich. Also frage ich ihn: Was sollen all diese Fragen?« Ben-Gurion bestritt anderen nicht das Recht, Zweifel anzumelden. »Man kann Fragen stellen«, räumte er ein, »aber zuallererst müssen wir den Staat aufbauen.«21

Während der Ausarbeitung der Unabhängigkeitserklärung verlangte Felix Rosenblüth (der sich kurze Zeit später in Pinchas Rosen umbenennen und Justizminister des Landes werden sollte), dass in dem Dokument die Grenzen des Landes aufgeführt werden sollten. Ben-Gurion war dagegen, und zwischen den beiden Männern entspann sich folgende Debatte:

Rosen: »Es stellt sich die Frage nach den Grenzen, die man nicht ignorieren kann.«

Ben-Gurion: »Alles ist möglich. Wenn wir hier entscheiden, dass die Landesgrenzen nicht erwähnt werden sollen, dann werden wir nicht darauf eingehen. Nichts ist apriorisch.«

Rosen: »Es ist nicht apriorisch, sondern eine rechtliche Frage.«

Ben-Gurion: »Das Gesetz ist das, was die Menschen dazu erklären.«

Ben-Gurion ging davon aus, dass die Grenzen des Landes die Ergebnisse des Krieges widerspiegeln würden, der noch nicht zu Ende war, und dass diese Grenzen schließlich weiter gesteckt sein würden als der Grenzverlauf, der in der Teilungsresolution der Vereinten Nationen von 1947 festgelegt worden war.* Die ersten Israelis pendelten ständig zwischen diesen beiden Polen, einer legalistischen Haltung, die sich des Unmöglichen bewusst war und einer pragmatischen Position, die verbunden war mit der Überzeugung, dass alles machbar sei.

Am 29. November 1947 hatte die UN-Vollversammlung für eine Teilung Palästinas in zwei Staaten gestimmt, einen jüdischen und einen arabischen. Der zionistische Traum sollte nun wahr werden, viele Generationen nachdem das jüdische Volk seine politische Selbstbestimmung eingebüßt hatte und aus seinem Heimatland vertrieben worden war. Doch durch diesen Beschluss war die Existenz der beiden neuen Staaten noch nicht gewährleistet. Zwischen dem 29. November 1947 und der Unabhängigkeitserklärung am 14. Mai 1948 wurde das Land von einer Welle des Terrors und des Blutvergießens heimgesucht, wobei Tausende Menschen ihr Leben verloren und Hunderttausende (meist Araber) gezwungen wurden, ihre Häuser zu verlassen. Solange die Gewalt anhielt, war die Lebensfähigkeit des jüdischen Staates höchst zweifelhaft. Und als Israel schließlich am 14. Mai 1948 seine Unabhängigkeit erklärte, befand es sich mitten in einem Krieg, der noch weitere sechs Monate andauern sollte, in denen es bisweilen sehr fraglich erschien, ob Israel als Sieger daraus hervorgehen würde.

Auch als sich schließlich sein Sieg abzeichnete und die ersten Regierungsbehörden geschaffen wurden, blieb noch immer unklar, ob Israel ein Staat werden würde, der auf Rechtsstaatlichkeit beruhte. Denn in den ersten Monaten fiel es den Bürgern des jungen Landes schwer, sich auf allgemeine Grundsätze zu verständigen – so sehr, dass manche Beobachter gar schon den Ausbruch eines Bürgerkriegs befürchteten. Wenige Wochen nach der Proklamation der Unabhängigkeit erschien die Altalena vor der Küste, ein Schiff, das Einwanderer und Waffen für die als Abweichler geltende rechtsgerichtete antibritische Terrorgruppe Irgun Zvai Leumi (IZL) an Bord hatte. Ben-Gurion behauptete, das Schiff sei ausgesandt worden, »um die israelische Armee zu vernichten und den Staat zu zerstören«, und befahl, es unter Feuer zu nehmen (nachdem die meisten Einwanderer in Sicherheit gebracht worden waren).24 Das Schiff ging in Flammen auf und sank, was zu vielen Toten und Verwundeten führte. Im Juli 1948 geriet Ben-Gurion mit der Linken in Konflikt, als mehrere ranghohe Offiziere Beförderungen für einige Kollegen verlangten, die mit der linksgerichteten Mapam in Verbindung standen. Als Ben-Gurion dieses Ansinnen zurückwies und einige Offiziere daraufhin aus Protest zurücktraten, bezeichnete der Ministerpräsident deren Verhalten als eine »politische Meuterei«.25 Einige Tage später wurde in einem anderen Zusammenhang der Ingenieur Meir Tubiansky zu einem verlassenen Haus in der Nähe der Hauptstraße nach Jerusalem gebracht und nach einer Farce von einem Prozess, der ihm keine Gelegenheit dazu gab, sich zu verteidigen, wegen Spionage für die Briten erschossen. Über dieses Verfahren wurden keine Aufzeichnungen angefertigt; die »Anklage« und die »Strafe« wurden erst schriftlich fixiert, nachdem der »Angeklagte« tot war. Sowohl der »Prozess« als auch die »Hinrichtung« wurden auf Initiative von Isser Be’ery durchgeführt, eines der Leiter des israelischen Geheimdienstes. Während dieser Zeit operierten die rechtsgerichteten antibritischen Untergrundorganisationen noch immer in Jerusalem, und im September ermordeten Mitglieder der Lethi (die so genannte Stern-Bande) den UN-Vermittler Graf Folke Bernadotte, der einen Vorschlag für ein Friedensabkommen ausgearbeitet hatte, das dazu geführt hätte, dass Israel einige Gebiete, die es im Unabhängigkeitskrieg erobert hatte, wieder hätte abtreten müssen.

All diese Ereignisse fanden in einem Zeitraum von kaum sechs Monaten statt und markierten den Übergang von Chaos zu Recht und Ordnung in einem neuen Staat. Das folgende Jahr, 1949, unterschied sich deutlich vom Vorjahr. Während sich der Kampf um den Aufbau des Staates und der Krieg zu dessen Verteidigung – und zur Ausdehnung seiner Grenzen – dem Ende näherte, verlagerte sich das Interesse auf eine Reihe von Entscheidungen, welche die Art und den Geist des Lebens in Israel bestimmen und die ersten Israelis zu einer geeinten, doch auch pluralistischen Gesellschaft zusammenführen sollten; die ersten Entscheidungen des Jahres 1949 waren ausgeprägt politischer und militärischer Natur.

* Folgende Episode verdeutlicht anschaulich, welch herausragende Stellung er besaß. Im April 1949 hielt Ben-Gurion eine politische Besprechung ab. Aus dem Protokoll dieses Treffens geht hervor, dass er es vorzeitig verließ. Nachdem er gegangen war, verstrickten sich die Anwesenden in eine langwierige Diskussion darüber, was eine bestimmte Bemerkung von ihm bedeutet haben könnte. Die einen interpretierten seine Worte auf die eine, andere auf die andere Weise, wobei ihn alle wörtlich zitierten, um ihre Auslegung zu stützen. Unter den Teilnehmern befand sich auch Mosche Dayan.9

* Dass die Mapai in dieser Aufzählung fehlt, ist nicht verwunderlich. Zu dieser Zeit war Ben-Gurion kaum mehr parteipolitisch aktiv. Er erschien nur noch sporadisch vor den Führungsgremien der Partei, und jeder seiner Auftritte geriet zu einem Ereignis. Die Rolle der Partei im politischen Entscheidungsbildungsprozess war nach der Staatsgründung stark in den Hintergrund gerückt.

In Ben-Gurions Tagebüchern finden sich seitenweise statistische Daten, die er mit akribischem Fleiß abschrieb. Die Eintragungen in seine Notizbücher müssen jeden Tag einige Stunden beansprucht haben. Sogar während der Sitzungen und Konferenzen machte er Aufzeichnungen. Wenn er ein Buch vollgeschrieben hatte, gliederte er es in ein Inhaltsverzeichnis und ein Register ein. Zusätzlich schrieb er Hunderte von Briefen, in denen er nahezu sämtliche relevanten Themen anschnitt. Während des Unabhängigkeitskriegs schickte Ben-Gurion dem Chefredakteur der Mapai-Tageszeitung Hador einen Brief, dem er einen Artikel über die Fabeln Äsops beilegte, der in dieser Zeitung erschienen war. Er zählte sieben Fehler auf, die in dem Artikel enthalten waren, angefangen mit der hebräischen Schreibweise von Äsops Namen.11 Einem kleinen Mädchen namens Ronnie Baron in Tel Aviv erklärte er in einem Brief, wenn er ein privates Auto besäße, würde er sie gerne jeden Tag zum Kindergarten fahren und dort wieder abholen, aber als Verteidigungsminister könne er ihrem Wunsch leider nicht entsprechen und ihrem Onkel nicht gestatten, sie in seinem Armeefahrzeug zu fahren, »denn dieses Auto gehört der Nation und dem Staat«.12 Hunderte Bürger erhielten Schreiben ähnlicher Art von ihm.

* Die Araber von Jaffa hatten rund acht Monate zuvor die Stadt verlassen. Einer von ihnen schilderte ihren Abzug mit fast den gleichen Worten, die der israelische Journalist in seinem Bericht über die Ankunft der Einwanderer verwendete: »Der Anblick der Menschenmenge, der Frauen und Kinder, die unter der Last der Koffer und Pakete ächzen, während sie in einer düsteren Kolonne zum Hafen von Jaffa ziehen, hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck bei mir.« Viel später wurde der Verfasser dieser Zeilen weltweit bekannt als Abu Iyad, stellvertretender Vorsitzender der PLO, oder Jassir Arafat.15

* In den folgenden Monaten wurde eine Unterscheidung getroffen zwischen den Gebieten, die im Teilungsplan ursprünglich dem jüdischen Staat zugeschlagen worden waren, und den neu eroberten Gebieten, vor allem in Galiläa, die als »verwaltete Territorien« bezeichnet wurden. Kurze Zeit später entschied in Haifa ein Bezirksrichter namens Mosche Etsioni, dass die Souveränität des Staates Israel in erster Linie aus dem natürlichen und historischen Recht des jüdischen Volkes hervorgehe, so dass die in der UN-Resolution genannten Grenzlinien keine Festlegung der Grenzen des Staates darstellen könnten. Auf der Grundlage dieses Urteils stellte das Gericht einen Bewohner des arabischen Dorfes Shfaram unter Anklage, der des Schmuggels bezichtigt wurde und zu seiner Verteidigung angeführt hatte, dass das israelische Gericht unzuständig sei, weil er das Vergehen außerhalb der Grenzen Israels begangen habe.

TEIL I

Zwischen Juden und Arabern

KAPITEL 1

Die Grüne Linie

Am Abend des 31. Dezember 1948 schloss James McDonald, ein in Israel dienender amerikanischer Diplomat, die Vorbereitungen für die Neujahrs-Party ab, die er am folgenden Tag in Tel Aviv geben wollte, und fuhr so schnell wie möglich zum Galei-Kinneret-Hotel in Tiberias, wo David Ben-Gurion Urlaub machte. McDonald, später der erste US-Botschafter in Israel, übergab dem israelischen Ministerpräsidenten ein Ultimatum von Präsident Truman, in dem dieser von Israel verlangte, die Streitmacht zurückzuziehen, die die Grenze zu Ägypten überschritten hatte und auf die Sinai-Halbinsel vorgedrungen war. Das amerikanische Schreiben war in Reaktion auf eine Bitte aus London verfasst, und es war hart formuliert. Wenn Israel sich weigere, seine Truppen aus dem Sinai zurückzuziehen, hieß es darin, würden die Vereinigten Staaten ihre Beziehungen zu Israel »einer Neubewertung unterziehen«. Während der amerikanische Gesandte auf eine Antwort wartete, las Ben-Gurion langsam Trumans Brief. Er monierte den groben Ton des Schreibens, versprach aber, seine Truppen auf die israelische Seite der Grenze zurückzuziehen. Damit hatte Israel keine Chance mehr, den Gaza-Streifen einzunehmen.1

Als die Nachricht von McDonalds Besuch Yigal Allon, den Kommandeur der Südfront, erreichte, versuchte dieser, die Operation im Sinai zu retten. Er eilte zurück nach Tel Aviv und sprach dort zunächst mit dem amtierenden Generalstabschef Yigael Yadin, dann mit Außenminister Sharett und schließlich mit Ben-Gurion selbst. Allon gelang es, dem Ministerpräsidenten die Zustimmung für eine letzte weitere Operation abzuringen: einen Angriff auf die Stadt Rafah. Doch die Operation scheiterte, auch wenn es gelang, die ägyptischen Truppen im Gaza-Streifen abzuschneiden. Die israelische Armee hielt nun den gesamten nördlichen Negev mit Ausnahme des Gaza-Streifens und des so genannten Faluja-Kessels besetzt. Einige Tausend ägyptische Soldaten waren in diesem Kessel immer noch eingeschlossen, darunter auch Gamal Abdel Nasser. Doch die Israelis konnten die Eingeschlossenen nicht überwältigen. »Die Ägypter haben gelernt, wie man kämpft«, berichtete Ben-Gurion dem Kabinett, und am selben Tag entschieden sich die Minister für einen Waffenstillstand.2 Ben-Gurion betrachtete das Erreichte als großartigen Erfolg, auch wenn Faluja und Gaza nicht gefallen waren. »Dies ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Frieden und zur Festigung des Staates Israel«, schrieb er in sein Tagebuch. »Wenn wir mit den Ägyptern ein Abkommen erreichen, und dieses ›wenn‹ wiegt schwer, dann wird es leichter für uns, auch mit Transjordanien und den anderen ein Abkommen zu erreichen.«3

An einem Abend dieser Woche nahm sich Ben-Gurion Zeit, um sich einen sowjetischen Kriegsfilm anzuschauen, zu dem ihn der sowjetische Minister Pavel Iwanowitsch Jerschow eingeladen hatte. »Als die sowjetischen Flugzeuge gerade einen Bombenangriff flogen, ertönte eine Luftschutzsirene. Jerschow, der neben mir saß, wollte die Vorführung abbrechen. Ich erhob Einspruch, und die Vorführung ging weiter. Etwa eine halbe Stunde später kam die Entwarnung. Aber hinterher erfuhr ich, dass der Flughafen in Lydda bombardiert und die Messehalle des 82. Bataillons getroffen worden war. Ein Soldat war tot und zwei waren verwundet. Der Film: reine Propaganda.«4 In derselben Woche wurde der Hafen von Tel Aviv beschossen, und Jerusalem wurde aus der Luft bombardiert, wobei eine Wand des Shaarei-Tsedek-Hospitals zusammenbrach und mehrere Fußgänger verletzt wurden.5 An der Südgrenze des Staates gab es immer noch Feuergefechte, obwohl die Regierung sich für den Rückzug aus dem Sinai entschieden hatte. »Yigael [Yadin] hat den Verdacht, dass auch unsere Soldaten nicht aufgehört haben, obwohl Yigal Allon heute Morgen von ihm den ausdrücklichen Befehl erhalten hat«, schrieb Ben-Gurion. »Yadin glaubt, dass die Mitglieder des »Clans«: [Itzhak] Rabin, Itzhak Sade und andere, ihm [Allon] gesagt haben, er solle weitermachen, als er wieder in den Süden kam.«6

Doch dies waren die letzten Feuergefechte, und der Krieg mit den arabischen Staaten endete mit zwei Luftkämpfen, in denen fünf britische Flugzeuge abgeschossen wurden. Ein britischer Pilot wurde getötet und zwei gefangengenommen. Israel behauptete, die britischen Flugzeuge seien in seinen Luftraum eingedrungen und über seinem Territorium abgeschossen worden, doch das entsprach nicht der Wahrheit. Ben-Gurion übertrug das Telegramm von der Südfront in sein Tagebuch, in dem es hieß, dass Allon die Trümmer der abgeschossenen Flugzeuge »aus offensichtlichen Gründen« aus dem ägyptischen Gebiet habe abtransportieren und auf israelischem Gebiet verstreuen lassen.7*

Einige Stunden nach diesem Vorfall kehrte Ben-Gurion sehr guter Dinge nach Tiberias zurück. »Es war ein herrlicher Tag«, schrieb er in sein Tagebuch. »Ging der Krieg heute zu Ende?«9 Vier Tage später hob das Zivilverteidigungskommando den Verdunklungsbefehl für die Fenster und Straßenlampen in Wohngebieten auf, und obwohl der Befehl für Industriebetriebe und geschäftliche Einrichtungen noch in Kraft blieb, war die unmittelbare Gefahr vorüber. Im gelben Saal des Hotel des Roses auf Rhodos waren die Vorbereitungen für die Eröffnung der Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Israel und Ägypten über die neue Grenze, die unter der Bezeichnung Grüne Linie bekannt werden sollte, inzwischen abgeschlossen.

Ben-Gurion wäre es lieber gewesen, wenn die Waffenstillstandsgespräche statt auf Rhodos in Jerusalem oder an der israelisch-ägyptischen Grenze oder auf hoher See an Bord eines unter UN-Flagge fahrenden Schiffes stattgefunden hätten. Aber er kämpfte nicht darum.10 Auf der Nordspitze der Insel schien immer noch der Geist von Graf Folke Bernadotte zu spuken, des UN-Vermittlers, der vier Monate zuvor in Jerusalem ermordet worden war.11 Der schwedische Diplomat hatte sein Hauptquartier auf die Insel verlegt und sie als idealen Ort für Friedensverhandlungen beschrieben, weit weg von Hass und Geschützfeuer, aber nahe genug an den internationalen Verbindungswegen.12 Auch Mosche Dayan sollte eines Tages angenehme Erinnerungen mit der Insel verbinden, auf der »Tausende von Schmetterlingen in allen Größen und Farben zwischen den Büschen umherflatterten wie in einer Szene aus einem Märchen«.13 Das Hotel des Roses war für seine schlichte, altertümliche Atmosphäre bekannt – der richtige Hintergrund für Journalisten und Diplomaten, Millionäre und Spione, um bei Whisky und Limonade die Ellbogen aneinander zu reiben. Oberstleutnant Itzhak Rabin wurde direkt aus dem Schlachtfeld im Negev nach Rhodos geflogen; er erinnerte sich gern an die saftigen Steaks, die er dort aß.14 Und Walter Eitan, der Generaldirektor des israelischen Außenministeriums, berichtete, dass die Ägypter Süßigkeiten der berühmten Kairoer Konditorei Groppi hätten einfliegen lassen.15 Der UN-Vermittler und Leiter der Gespräche war Dr. Ralph Bunche, ein schwarzer Amerikaner. Der ausgezeichnete und humane Diplomat sollte für seine Anstrengungen später den Friedensnobelpreis erhalten. Er und seine Referenten wohnten in einem Flügel des Hotels, und die Ägypter und Israelis waren in einem anderen Flügel untergebracht, wobei die Ägypter das Stockwerk über den Israelis bewohnten. Bei ihrer Ankunft am Donnerstag, dem 13. Januar, wurden die Delegationen von schweren Stürmen und Regenfällen empfangen.

Ben-Gurion war keineswegs versöhnlich gestimmt. Er sagte bei einer der Besprechungen mit seinen Referenten:

Vor der Gründung des Staates, am Vorabend seiner Entstehung, war unser wichtigstes Interesse die Selbstverteidigung … Viele glauben, dass wir immer noch in diesem Stadium sind. Aber jetzt geht es um Eroberung, nicht mehr um Selbstverteidigung. Was die Festlegung der Grenzen betrifft: Sie ist eine offene Frage. Sowohl in der Bibel als auch in unserer Geschichte gibt es alle Arten von Definitionen der Grenzen unseres Landes, also sind uns keine wirklichen Grenzen gesetzt. Keine Grenze ist absolut. Bei einer Wüste kann man die Grenze genauso gut auf deren anderer Seite ziehen und bei einem Meer auf der anderen Seite des Meeres. Die Welt ist schon immer so gewesen. Nur die Bedingungen haben sich geändert. Wenn sie einen Weg finden, um andere Sterne zu erreichen, dann wird vielleicht die ganze Erde nicht mehr genügen.16

In seinem Tagebuch brachte Ben-Gurion seine Haltung präziser zum Ausdruck: »Frieden ist sehr wichtig, aber nicht um jeden Preis.«17