Die fabelhafte Welt der Hochsensiblen und Hochbegabten - Corinna Kegel - E-Book

Die fabelhafte Welt der Hochsensiblen und Hochbegabten E-Book

Corinna Kegel

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  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Warum hat Sie der Titel dieses Buches angesprochen? Weshalb halten Sie es in Ihren Händen? Vielleicht ist eine Saite zum Klingen gebracht worden, auch wenn Sie sich dessen (noch) nicht bewusst sind oder Sie den Ton noch nicht hören können? Sie dürfen das Füllhorn jetzt ausgießen über sich! Dieses Buch wird mit Bildern arbeiten, die hoffentlich Ihre Fantasie anregen und Sie dazu verführen, Ihre Gedanken auf Wanderschaft zu schicken, sich zu erinnern, wie das bei Ihnen war und ist, sich in einigen dargestellten Situationen wiederzufinden und Ihre Bilder weiterzuentwickeln. Um dieses Ziel zu erreichen, werde ich Geschichten erzählen: Geschichten von wundervollen Menschen, die klug, vielfältig, einfallsreich, scharfsinnig, fantasievoll, witzig, differenziert, neugierig, zart, feinsinnig, geistreich, mutig und herausfordernd sind. Viele von ihnen durfte ich als Coach eine Zeitlang begleiten, wofür ich sehr dankbar bin. Mitzuerleben, wie diese Schmetterlinge endlich ihren Kokon verlassen, ihre Flügel entfalten, ihre Farben im warmen Sonnenlicht strahlen lassen und Wind unter ihre Flügel bekommen und sich in ihr Element, die Luft, erheben, ist immer wieder ein großes Geschenk für mich und berührt mich sehr.

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Seitenzahl: 305

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Corinna Kegel

Die fabelhafte Welt der Hochsensiblen und Hochbegabten

„Unsere größte Angst ist nicht, dass wir unzulänglich sind; unsere größte Angst ist, dass wir über alle Maßen hinaus machtvoll sind. Am meisten beängstigt uns unser Licht, nicht unsere Dunkelheit.

Wir fragen uns: ‚Wer bin ich, dass ich es wage, brilliant zu sein, großartig, begabt oder fabelhaft?‘ Dabei sollte es eigentlich heißen: ‚Wer bist Du, dass Du es nicht wagst, es zu sein?‘ …

…Wenn wir unser eigenes Licht leuchten lassen, geben wir unbewusst anderen die Erlaubnis, das Gleiche zu tun. Wenn wir uns von unseren eigenen Ängsten befreien, befreit unsere Gegenwart automatisch andere.“

Marianne Williamson

© 2016 und 2023 Corinna Kegel

Dies ist eine Neuausgabe in neuer Ausstattung der 2016 erstmals erschienenen Originalausgabe.

ISBN Hardcover: 978-3-347-82503-1

Druck und Distribution im Auftrag dee Autorin:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Titelbild: Alexej Jawlensky, »Abstrakter Kopf: Inneres Schauen – Rosiges Licht«

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Einleitung

Nur Mut, Sie sind keine Ente – Sie sind ein Schwan!

Die Suche nach dem Spiegel im Märchen

Das Loslassen des alten Selbstbildes

Die Aufgabe: Selbstwert versus Selbstzweifel

Niemand ist eine Insel – ich schon!

Phänomen Einsamkeit

Hollywood entdeckt das Thema

Vielbegabte ticken anders

Schotten dicht auf Hochseeschiffen

Typisch! – Der Zyniker und Misanthrop

Die Parfümeurin und der Sommelier

Phänomen Feinsinnigkeit

Wie entsteht nun eigentlich Hochsensibilität?

Himmel und Hölle der »Hundenase«

Die Gabe der Genussfähigkeit

Die Bedeutung der Achtsamkeit

Eine Achtsamkeitsübung

Ich bin es mir wert!

Typisch! – Der schöngeistige Intellektuelle

Der Neunmalkluge und die Besserwisserin

Phänomen Fehlkontakte

Fakten forschen – welche Freude!

Meetings – Reden ist Silber, Schweigen ist Gold

Smalltalk – Schwerarbeit am kalten Buffet

Wie geht es Dir? – eine einfache Frage und ihre komplizierte Antwort

Man kann’s auch übertreiben – sprachliche Sorgfalt oder Spitzfindigkeit?

Wie behalte ich meine Mitarbeiter?

Typisch! – Der Visionär und Leitwolf

Lauf, Pferdchen, lauf! – im gestreckten Galopp über die Felder

Jonglieren macht Freude!

Die Entdeckung der Langsamkeit

Phänomen Wissensdurst

Die Qual der Wahl – warum kann ich nicht mal bei einer Sache bleiben?

Typisch! – Der Tausendsassa

Der Zauberer, die Hexe, der Priester und die weise Frau

Phänomen Spiritualität

Typisch! – Der Prophet, der Wanderer zwischen den Welten und der Straßenkater

Die Prinzessin auf der Erbse

Phänomen Reizüberflutung

Ich fühle was, was Du nicht fühlst

Typisch! – Die Kreative

Balsam für Ihr Nervensystem: absichtslose Zeit und reizarme Umgebung

Der Denker

Phänomen Perfektionismus und wo er uns hinbringt

Realismus versus Perfektionismus

Die Suche nach dem Optimum

Typisch! – Der Scheue

Speisekarten–Sudoku – Kopfarbeit in Zeitlupe

Der Zappel-Philipp

Phänomen Reizüberflutung

Die Nörglerin, der Kontroll-Freak, die Bedenkenträgerin und der Miesmacher

Die unperfekte Welt

Typisch! – Der Reformer

Der Zweifler und der Perfektionist

Phänomen Zweifel

Typisch! – Die Künstlerin

Der Hochstapler – so ganz anders als Felix Krull

Typisch! – Die Schillernde

Pippi Langstrumpf – Freigeist, Non-Konformistin und kreativer Kopf

Phänomen Autonomie

Ansichten eines Clowns

Feinfühligkeit als Führungstool – ein Schatz für mich und andere

Typisch! – Der Einsiedler

Was lange währt, wird endlich gut

Besser spät als nie

Die ungeahnte Kraft aus der Erkenntnis

Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt

Phänomen Selbstwert und wie wir ihn uns geben

Der Pinguin ist so perfekt wie die Giraffe – jedem sein Element

Auf zu neuen Ufern

Die Bremer Stadtmusikanten

Aufbruch in die eigene Welt

Nachwort –

Literaturverzeichnis

Corinna Kegel

Die fabelhafte Welt der Hochsensiblen und Hochbegabten

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Einleitung

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Einleitung

Das Thema Hochsensibilität liegt im Trend ebenso wie das der Hochbegabung, welches nun schon etwas länger für Unruhe und Diskussionen sorgt. Die Zahl der Sachbücher zum Thema steigt, Zeitungen und Zeitschriften springen auf den Zug auf. Immer öfter tauchen die Begriffe auch in fachfremden und nicht »betroffenen« Kreisen auf – aber mal ehrlich! Ist das nicht nur was für Dünnhäutige, Egozentriker oder Eso-Menschen? Früher waren A(D)HS und Allergien angesagt, heute sind’s eben Hochbegabung und Hochsensibilität. Und nun ein weiteres Buch nach all den zahlreichen Veröffentlichungen? Was soll da noch Neues kommen?

Mit derselben Ernsthaftigkeit und Schwere, die seinerzeit die Themen um die Aufmerksamkeitsdefizite begleitet haben, widmet sich nun unsere Gesellschaft den Themen Hochsensibilität und Hochbegabung – dafür sind wir Deutschen ja bekannt. Schwer muss es sein und anstrengend, dann ist es richtig und einem ernsthaften Thema angemessen!

Als vor einigen Jahren Mensa e.V. – der weltweit größte Verein hochbegabter Erwachsener, Jugendlicher und Kinder – in München das Deutschland-Jahrestreffen veranstaltete, titelte die Abendzeitung: Die Superhirne kommen. Kein Wunder also, dass bei dem Wort »Hochbegabung« die meisten Menschen nur an Albert Einstein denken oder an irgendwelche fremdartigen Wesen mit kleinen grünen Antennen auf dem Kopf. So entstehen Vorurteile und Schubladendenken.

Die Psychologie ist eine alte Wissenschaft, doch im Laufe der letzten Jahre hat sie neue Erkenntnisse über eine Gruppe von Leuten gefunden, die ganz offensichtlich anders tickt als die meisten. Auch wenn Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser – im Folgenden bitte ich um Verständnis, wenn ich der besseren Lesbarkeit halber die männliche Wortform wähle, und dazu einlade, dass sich beide Geschlechter angesprochen fühlen mögen – vielleicht erstmalig intensiver den Themen Hochsensibilität und Hochbegabung widmen, haben Sie bitte noch ein wenig Geduld. Eine ausführlichere Darstellung beider Phänomene folgt in diesem Buch, und anhand der vielen Beispiele und Geschichten können Sie sich hoffentlich bald ein lebendiges Bild von diesem variationsreichen Thema machen.

Denn dieses Buch ist explizit kein wissenschaftliches. Auf dem Markt gibt es inzwischen bereits eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die den neuesten wissenschaftlichen Stand der Forschung abbilden. Diese Kenntnisse sind wertvoll und unerlässlich.

Dieses Buch hat jedoch eine andere Herangehensweise – nämlich die über Bilder. Bilder und Geschichten sprechen uns in ganz anderer Weise an und geben uns die Möglichkeit, auf einer tieferen Ebene Dinge zu entdecken, (wieder) zu erkennen und zu verstehen. Dies ist das Prinzip des Geschichtenerzählens und auch des vorliegenden Buches. Deshalb schreibe ich auch so, als redete ich – ein wenig, wie mir der Schnabel gewachsen ist.

In meiner Arbeit als Coach für hochsensible und hochbegabte Erwachsene in meiner Hamburger Praxis ist Humor ganz explizit ein Werkzeug. Humor schafft Abstand, Lachen nimmt vielen unveränderbaren Sachverhalten oft die Schwere aber dem Anliegen nichts von seiner Ernsthaftigkeit. Auch der bewusste Umgang und das Spielen mit Sprache sind mir wichtig. Meine Klienten kennen und schätzen das: mal penibel genau, mal flapsig – ganz, wie die Situation es gerade erfordert.

Ob Sie nun ein alter Hase im Bereich Hochbegabung und Hochsensibilität sind, ob Sie einfach nur neugierig auf ein weiteres Thema und offen für einen neuen Impuls sind, ob Sie mehr über sich oder über einen Ihnen bekannten Menschen erfahren möchten – mein Ziel ist es, beide Phänomene mit Leichtigkeit zu betrachten und auch die zum Staunen zu bringen, die sich in einer Geschichte erkennen oder die mit einem Menschen zu tun haben, der ihnen bislang oft Rätsel aufgab und für dessen Verhalten dieses Buch nun Erklärungen liefert. Nehmen Sie dieses Buch wie ein Lesebuch zur Hand – in das Sie immer wieder eintauchen können, das Ihnen immer wieder neue Facetten dieser Phänomene zeigen kann.

In Unternehmen wird das Thema – euphemistisch ausgedrückt – nicht gerade mit den offenen Armen aufgenommen. Dabei ist jeder außergewöhnlich begabte Angestellte einer Firma ein potenzieller Gewinn. Diesen Reichtum nicht zu nutzen, ist aus meiner Sicht eine volkswirtschaftliche Verschwendung. Und doch verschanzen sich Personaler, Entscheider und Führungskräfte noch zu oft hinter dem Satz: Meine Mitarbeiter sind nicht hochbegabt. Sprich: Wer hier hochbegabt ist, entscheide ich. Und dass nur ja niemand besser sei als ich. Und da Menschen mit diesen besonderen Talenten offenbar bedrohlich wirken oder als arrogant abqualifiziert werden, weil sie angeblich etwas Besseres sein wollen, werden sie nicht nur nicht extra gefördert, sondern oft in ihrer Entfaltung sogar besonders beschnitten.

Gleichwohl kommt die neueste Umfrage zur Einstellung der Deutschen zu Intelligenz und Hochbegabung zu einem ermutigenden Ergebnis. Das Strategie-Team von MinD (Mensa in Deutschland e.V.) hat mit Spezialisten aus der Hochbegabtenforschung und Öffentlichkeitsarbeit der Universität Duisburg-Essen eine repräsentative Internet-Umfrage mit 1029 deutschen Erwachsenen zwischen 18 und 69 Jahren mittels Multiple-Choice-Fragen durchgeführt, die u. a. folgende Ergebnisse lieferte: Interesse für das Thema bekundeten zwei Drittel der Befragten. Nur 15 Prozent hatten bei dem Begriff »hochbegabt« negative Assoziationen, 41,2 Prozent gaben Neutralität und 44 Prozent sogar eine positive Haltung gegenüber Hochbegabung an. Dabei beeinflusst persönliche Erfahrung mit Hochbegabten die Haltung positiv. 50 Prozent der Befragten glauben an eine höhere Leistungsfähigkeit von Hochbegabten, rund 70 Prozent an ein höheres intellektuelles Potenzial, zwei Drittel allerdings auch daran, dass diese Personengruppe sozial problematischer ist. Letzterem widerspricht die Forschung, die Hochbegabten nahezu die gleichen sozialen und emotionalen Fähigkeiten bescheinigt wie normal Begabten. Die Darstellung in den Medien tendiert allerdings oft in Richtung »verrücktes Genie«. (Die Originalstudie finden Sie unter: Baudson, T.G. (2016): The mad genious stereotype: Still alive and well. Frontiers of Psychology, 7, S. 368)

Erlauben Sie mir eine kurze Begriffsklärung: Von Hochbegabung sprechen wir ab einem IQ von 130. Das entspricht den intelligentesten zwei Prozent der jeweiligen Bevölkerung. Als höchstbegabt gelten Menschen mit einem IQ-Wert ab 145. Bereits ab einem IQ von 120 verfügen Menschen über eine deutlich überdurchschnittliche intellektuelle Begabung. Insgesamt fällt in diese letzte Personengruppe etwa jeder zehnte Bundesbürger. Für die Hochbegabten ergibt sich rein rechnerisch allein für die Bundesrepublik Deutschland bei einer Bevölkerung von 80 Millionen die stattliche Zahl von ca. 1,6 Millionen. Tatsächlich aber sind sich die wenigsten Menschen ihrer außergewöhnlichen Talente bewusst: Wir sprechen somit von einem enormen Potenzial, das – oft nicht erkannt oder gar gefördert – häufig von seinen Trägern ungenutzt bleibt.

Schwieriger zu fassen (und auch zu messen) ist da die Hochsensibilität. Immer wieder höre ich: Sind wir denn nicht alle ein wenig hochsensibel? Die Menschen begegnen diesem Phänomen mit großer Skepsis oder völligem Unverständnis, machen sich oft lustig darüber und distanzieren sich. Vielleicht gehören Sie, liebe Leser, ja auch zu den Hochsensiblen? Sie sind es gewohnt, sich in andere hineinzuversetzen, zu erspüren, was diese brauchen, doch was ist mit Ihrem Bedürfnis nach Verstanden- und Akzeptiertwerden, so wie Sie sind? Schließlich haben Sie oft einen sehr langen Weg hinter sich, bis es Ihnen selbst gelingt, Ihre Talente wahrzunehmen, sie wertzuschätzen und sich Schritt für Schritt mit Ihrem neuen Selbstbild auszusöhnen.

Vorurteile, Häme und Zynismus bringen uns den Phänomenen Hochbegabung und Hochsensibilität genauso wenig näher wie falsche Rücksichtnahme und übervorsichtiges Verhalten. Stattdessen braucht es einen offenen Blick, Neugier und eine Leichtigkeit, die es erlauben, die eine oder andere Geschichte mit Vergnügen zu lesen und vielleicht zuzulassen, dass wir uns darin wiedererkennen. Könnte es sein, dass Freude über diese besonderen »Gaben« entstehen darf, wenn es ein Buch schafft, Ihnen, liebe Leser, ein Schmunzeln zu entlocken über Ihre Eigenart, von der eine dieser Geschichten handelt?

Also, wann spricht man von Hochsensibilität? Hochsensible Menschen verfügen über ein Nervensystem, das es ihnen ermöglicht, empfindsamer und feiner wahrzunehmen als die meisten anderen Menschen. Wenn Sie so wollen, fehlen ihren Nervensystemen die Filterfunktionen. Während ein »normales« Nervensystem einen Großteil der eintreffenden Reize (Geräusche, Gerüche, Berührungen, Licht etc.) ausfiltert, sieht sich eine hochsensible Person immer mit einer wesentlich größeren Reizintensität konfrontiert, die es zu verarbeiten gilt. Mehrere oder alle ihre Sinne sind empfänglicher für Reize. Es ist leicht vorstellbar, als wie belastend das empfunden werden kann. Nicht nur die Reizaufnahme, sondern auch die Reizverarbeitung geschieht anders als bei normal sensiblen Menschen. In der Literatur wird meist von 15 – 20 Prozent hochsensibler Personen ausgegangen. Ich persönlich halte diese Zahl für deutlich zu hoch – danach wäre etwa jeder fünfte Mensch hochsensibel, was meinen Erfahrungen widerspricht. Dagegen gehe ich von einem Anteil von ca. 5 -10 Prozent der Menschen aus und teile diese in der Praxis gewonnene Meinung mit meiner Coaching-Kollegin Anne Heintze (Kunkat, 2015, S. 130).

In diesem Buch verwende ich ausschließlich den Begriff der Hochsensibilität. Den mancherorts gebräuchlichen Begriff der »Hochsensitivität« halte ich für einen Übersetzungsfehler, einen »false friend«, und somit für ungeeignet zur weiteren Unterscheidung: Dr. Elaine Aaron, als klinische Psychologin die Pionierin der Hochsensibilitätsforschung, prägte 1991 den Begriff »Highly Sensitive Person«. »Sensitive« heißt ins Deutsche übersetzt »sensibel« (das englische »sensible« dagegen »vernünftig« oder »sinnvoll«). Erklärungen zur Entstehung von Hochsensibilität finden Sie im Kapitel Die Parfümeurin und der Sommelier.

Warum nun hat Sie der Titel dieses Buches angesprochen? Weshalb halten Sie es in Ihren Händen? Vielleicht ist eine Saite zum Klingen gebracht worden, auch wenn Sie sich dessen (noch) nicht bewusst sind oder Sie den Ton noch nicht hören können?

Sie dürfen das Füllhorn jetzt ausgießen über sich! Dieses Buch wird mit Bildern arbeiten, die hoffentlich Ihre Fantasie anregen und Sie dazu verführen, Ihre Gedanken auf Wanderschaft zu schicken, sich zu erinnern, wie das bei Ihnen war und ist, sich in einigen dargestellten Situationen wiederzufinden und Ihre Bilder weiterzuentwickeln.

Um dieses Ziel zu erreichen, werde ich Geschichten erzählen: Geschichten von wundervollen Menschen, die klug, vielfältig, einfallsreich, scharfsinnig, fantasievoll, witzig, differenziert, neugierig, zart, feinsinnig, geistreich, mutig und herausfordernd sind. Viele von ihnen durfte ich als Coach eine Zeitlang begleiten, wofür ich sehr dankbar bin. Mitzuerleben, wie diese Schmetterlinge endlich ihren Kokon verlassen, ihre Flügel entfalten, ihre Farben im warmen Sonnenlicht strahlen lassen und Wind unter ihre Flügel bekommen und sich in ihr Element, die Luft, erheben, ist immer wieder ein großes Geschenk für mich und berührt mich sehr.

Die verschiedenen Kategorien in diesem Buch sollen Ihnen die Orientierung und das Auffinden dessen, was Sie interessiert, erleichtern: Die meisten Kapitel stehen unter dem Vorzeichen eines bestimmten Phänomens, gefolgt von zahlreichen Geschichten unterschiedlicher Länge aus beruflichen und privaten Begegnungen mit Hochbegabten und Hochsensiblen, manchmal kommentiert. Wenn Sie mögen, wählen Sie sich die eine oder andere aus. Viele tragen verwandte Züge, denn die Personen verfügen ja immer über eine Vielzahl von Eigenarten. Die Typisch-Geschichten am Ende jedes Kapitels beschreiben als eine Art Zusammenfassung die Besonderheiten am Beispiel jeweils einer für das Kapitel charakteristischen Person.

Selbstverständlich entspringen die Namen der Personen einzig meiner Fantasie. Einige Details in den Beschreibungen habe ich verändert oder verfremdet, um Anonymität und Vertraulichkeit zu garantieren. Die wesentlichen Züge jedoch habe ich erhalten, um ein möglichst genaues Bild zu zeichnen. Die Typisierungen, die ich vorgenommen habe, sind immer nur ein Näherungsversuch. Jeder Mensch hat so unendlich viele Facetten, dass ich jeweils nur ein oder zwei Merkmale herausgegriffen habe, die für eine Person prägend sind.

Freude zu wecken, das ist mein Ziel mit diesem Buch. Freude über Potenziale, neue Horizonte und Perspektiven, Freude an Ihren Fähigkeiten, Freude, dass Ihnen manche Dinge leichter fallen als anderen, Begeisterung für Ihren unstillbaren Wissendurst, für Ihre vielfältigen Talente, für Ihre vielschichtigen Wahrnehmungen, tiefen Gefühle und feinen Sinne, für all das, was diese Sinne Ihnen ermöglichen an Genuss, Erfassung der Welt und ihren Menschen. Ich möchte in Ihnen Dankbarkeit wecken für all die Energie, die daraus entspringt, ein begabter Mensch zu sein, und für all die Bereicherungen, die Ihnen Ihre komplexen Begabungen verschaffen, und zuletzt Demut in dem Bewusstsein, dass Ihnen all das geschenkt wurde ohne Ihr Zutun – einfach so.

In Amerika nähern sich die Menschen dem Thema Reichtum, gleich welcher Art, von einer ganz anderen Seite: Es wird öffentlich darüber gesprochen, wie viel jemand verdient, wie reich jemand ist und auch, wie begabt und talentiert. Der IQ von in der Öffentlichkeit stehenden Personen wird in Zeitschriften abgedruckt. Und niemand kommt auf die Idee, diesen Menschen ihren Reichtum zu neiden, zu missgönnen, zu schmälern oder ihnen diesen als ungerechtfertigt abzusprechen. Die Menschen erleben diese Information als Ansporn, es diesen Reichen gleich zu tun. Sie sehen die Herausforderung, die darin liegt, eine ähnliche Leistung zu vollbringen. Und dort, wo Reichtum angeboren ist wie nun mal bei der Begabung, dort wird er neidlos anerkannt und bewundert.

Leben ist wachsen. Und mit jeder Erkenntnis, die wir Menschen über uns gewinnen, wächst ein weiterer Jahresring. Wir entdecken, wer wir wirklich sind. Wir erlangen immer mehr Gewissheit, wie wir gemeint waren – von Anfang an. Und sich dieser ursprünglichen Zeichnung einer Persönlichkeit zu nähern, Schritt für Schritt mit jeder neuen Erkenntnis, das lässt eine tiefe Freude entstehen, weil wir immer mehr in Kongruenz kommen mit unserem Ursprung. Wunderbarer als Rainer Maria Rilke kann es niemand ausdrücken: … ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, … Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. (Rilke, 2013, S. 112)

Es ist mir ein Anliegen zu betonen: Hochbegabung und Hochsensibilität sind Geschenke! Deshalb will und werde ich auch nicht von »Betroffenen« schreiben. Das erinnert an eine Krankheit, die Sie getroffen, oder ein Unglück, das Sie ereilt hat. Manchmal werde ich im Vorgespräch zu einem Coaching gefragt, ob ich meine Leistungen über die Krankenkasse abrechnen kann. Darin wird der große Irrtum, der falsche Ansatz sichtbar: Hochbegabung ist genauso wenig eine Krankheit wie Hochsensibilität! Und damit sind die beiden auch nicht »heilbar«. Es liegt in meiner Verantwortung als hochbegabter und/oder hochsensibler Mensch, mit diesen Begabungen umgehen zu lernen. Ich kann die Verantwortung nicht jemand anderem aufbürden – und sei es der Krankenkasse. Wir sind nicht krank, wir sind reich beschenkt mit einer Vielzahl von Genüssen, Empfindungen, Gefühlen und Wahrnehmungen, mit einem wachen Geist, der unglaublich schnell und komplex arbeitet und der sich Welten erschließt, die den meisten anderen Menschen verborgen bleiben. Das ist wundervoll, das ist wahrer Reichtum, ein Geschenk, das uns zufiel und für das wir nichts tun mussten. Es ist eine Gnade, als hochsensibler Mensch so tief empfinden zu können, bei einem Musikstück oder einem Geruch im Herzen berührt zu sein, besonders tiefe Begegnungen mit anderen Menschen zu erleben, Dankbarkeit und Demut spüren zu dürfen, als Hochbegabter den Rausch der Geschwindigkeit zu genießen beim Austausch mit einem anderen klugen Geist, das Gefühl der Inspiration zu erleben im Geben oder Erfahren … – die Liste ist endlos, so komplex wie unser Geist und unser Fühlen.

Aus diesem Grund verwende ich statt des Begriffes der »Betroffenen« den der »Beschenkten«, denn das sind sie. Sie, die Talentierten und Hochsensiblen, also vielleicht auch Sie, sind beschenkt mit einem Reichtum, dessen Umfang Sie selbst manchmal noch gar nicht richtig ermessen können.

Und für die Kehrseite dieses Reichtums – und jeder Reichtum hat eine – brauchen Sie neben Geduld – nicht gerade eine verbreitete Eigenschaft bei Vielbegabten, – Offenheit, Verständnis und der Bereitschaft, sich mit Ihrer Vergangenheit zu versöhnen, oft eine gehörige Portion Humor, um mit diesem Geschenk umzugehen. Davon können alle hochsensiblen Personen (im Folgenden der Einfachheit halber mit HSP abgekürzt) und Hochbegabten (ab jetzt mit der Abkürzung HB bezeichnet) ein Lied singen. Humor hilft, die Leichtigkeit zurückzugewinnen, die einem Geschenk angemessen ist, selbst wenn man es sich nicht ausgesucht hat. Aber so ist das mit Geschenken: Sie kommen auf uns zu, unverdient, oft überraschend, und wir wissen nicht, was sich darin verbirgt – eine Wundertüte sozusagen. Lassen Sie uns, liebe Leser, diese Wundertüte gemeinsam öffnen und Freude daran haben, was zum Vorschein kommt!

Und um es noch einmal mit Rilke zu sagen: … Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein. (Rilke, 2013, S. 112)

In diesem Sinne nehmen Sie dieses Buch zur Hand und sehen Sie es als Mut-Mach-Buch, als Kaleidoskop der vielen Facetten von Hochsensibilität und Hochbegabung. Ich möchte Ihnen Mut machen, all das Wunderbare zu entdecken, was in Ihnen noch schlummert, alle Geschenke auszupacken, die Sie mitbekommen haben und all die Wunder zu sehen, die in Ihrer persönlichen Wundertüte verborgen sind und darauf warten, von Ihnen ans Licht gebracht zu werden.

Diese Freude an den Geschichten, vor allem aber an sich selbst – die wünsche ich Ihnen von Herzen. Viel Spaß beim Auspacken!

Nur Mut, Sie sind keine Ente – Sie sind ein Schwan!

– vom Suchen und Finden des eigenen Wertes

Kennen Sie noch das Märchen vom hässlichen Entlein und dem schönen Schwan, liebe Leser? Es ist die Geschichte einer Reise zu sich selbst, der verzweifelten Suche nach Spiegeln im Außen, in denen wir uns reflektieren und erkennen können, und des schrittweisen Erfahrens, welches unsere wahre Natur ist.

HB und HSP verhalten sich oft jahre- und jahrzehntelang wie das junge hässliche Entlein in dem Märchen von Hans-Christian Andersen. Sie wissen nicht um ihr eigenes Potenzial – wie denn auch, wenn es niemanden gibt, der sie spiegelt? Sie sehen nur, dass die anderen irgendwie anders sind, und die Mehrheit hat Recht. Irgendwie fühlen sie sich falsch, deplatziert, schräg, abnorm, auffällig, anders, eigenartig – jedenfalls nie richtig, adäquat, passend und konform im Verhältnis zu anderen, schon gar nicht in Zufriedenheit und Harmonie mit sich selbst. Sie haben ja nur den Kosmos ihres eigenen Kopfes. Wie also sollen sie es besser wissen? Wie soll ein Kind wissen, dass andere Kinder anders denken, fühlen und wahrnehmen als es selbst? Es kann sich doch nur an sich selbst orientieren. Gleichwohl scheint alles, was ihnen im Außen entgegenkommt, anders zu sein.

Und da es zu den menschlichen Grundbedürfnissen gehört, sich zugehörig zu fühlen, suchen sie Anschluss, Gemeinschaft, Erkennen im Anderen. Die Gemeinschaft sichert unser Überleben, und so ist die Suche danach ein Impuls, der so lange nicht versiegt, bis wir diese Gruppe oder diese Gemeinschaft mit Geborgenheit, Sicherheit und Akzeptanz gefunden haben. HB und HSP suchen oft lange verzweifelt nach Menschen, die so ticken wie sie – aber es scheint sie nicht zu geben. Zuhause lehrt die Familie sie, sich nicht wichtiger zu nehmen als die Geschwister. Im Kindergarten und in der Schule werden die Schwächeren gefördert, die Stärkeren und Klügeren brauchen doch ohnehin keine Unterstützung – so auch heute leider noch oft die gängige Meinung. Das Kind lernt: Ich gehöre nicht dazu. Die anderen sind richtig, ich bin falsch. Was muss ich also tun, um richtig zu werden, um so zu sein wie die anderen? Warum langweile ich mich bei Dingen, die anderen Kindern Freude bereiten? Warum kann ich über deren Witze nicht lachen? Warum lacht niemand über das, was ich komisch finde? Weshalb sind andere Kinder weniger neugierig als ich? Und warum scheinen sie unempfindlicher, nehmen sich weniger zu Herzen und grübeln weniger? Warum ist mir oft das Herz so schwer, während die anderen unbekümmert herumtollen? Sehen die denn nicht all die aufregenden Dinge, die ich sehe?

Jedes dieser Kinder kennt von Anfang an ein tiefes Einsamkeitsgefühl, das umso stärker wird, je offensichtlich verbundener sich der Rest einer Gruppe durch gemeinsame Interessen, Werte oder Erlebnisse fühlt, und je weniger es sich selbst als passend und dazugehörig empfindet.

Die Suche nach dem Spiegel im Märchen

1843 veröffentlichte Hans-Christian Andersen sein Märchen vom hässlichen Entlein, das hier als Allegorie dienen soll für die langsame, doch unaufhaltsame Entwicklung und Bewusstwerdung eines besonderen Wesens, das gegen alle Widerstände zu sich selbst findet und sich selbst voller Freude annimmt. Darf ich Ihnen die Geschichte noch einmal ins Gedächtnis rufen?

Es ist Sommer auf dem Land, und der Storch klappert ägyptisch. Liebevoll zeichnet Andersen die ländliche Idylle, in die das Entlein als Störenfried hineingeboren wird. Es braucht länger, als all seine Geschwister, die schon lange vor ihm aus den Eiern gekrochen sind. Die Entenmutter ist froh, als es endlich da ist, und verteidigt es, auch wenn es so ganz anders ist, als erwartet. Im Grunde ist es doch ganz hübsch, wenn man es nur recht betrachtet. Die Entenmutter tut ihr Bestes, ihre Jungen in die Welt einzuführen. Bei der alten Ente und später der beißenden Ente stößt sie auf wenig Gegenliebe mit ihrem tollpatschigen, grauen Kind, ebenso wenig wie bei den Hühnern und den Gänsen. Von Anfang an muss sich das Entlein daran gewöhnen, als Außenseiter angegriffen zu werden und sich zu bescheiden. Spott und Häme werden so lange über ihm ausgeschüttet, bis es selbst davon überzeugt ist, eine Missgeburt zu sein. Es versteckt sich im Moor, wird von der Bäuerin entdeckt und von Kater und Henne in ihrer Überheblichkeit verachtet. Denn sie glaubten, dass sie die Hälfte (… der Welt) seien, und zwar die bei weitem beste Hälfte. Die Restriktionen beginnen. Das Entlein glaubte, dass man auch eine andere Meinung haben könne. Aber dagegen wissen die Bewohner des Hofes schon ein Kräutlein. Heute würden wir das, was dem Entlein widerfährt, Mobbing nennen. Es wird systematisch entmutigt, gedemütigt und gebrochen. Es soll Dinge tun, die seiner Natur zuwiderlaufen, und anderes unterlassen, was ihr zutiefst entspricht. Die Mobbing–Parteien stützen sich gegenseitig, die Szenerie ist vollkommen absurd. Es ist schwer, solche Drangsal unbeschadet zu überstehen. Die erste Begegnung mit seinen Schwanengeschwistern weckt im Entlein die Sehnsucht und ist bereits im Herbst ein Vorbote für das neue Leben im Frühling. Nur knapp überlebt es den Winter. Gerettet vom Bauern, vollkommen verängstigt durch die vergangenen Erfahrungen, veranstaltet es ein rechtes Durcheinander in der Bauernfamilie und muss auch hier wieder flüchten. Endlich, endlich kommt das Frühjahr. Andersen mag über die Zeit dahin gar nicht berichten: Aber all die Not und das Elend, welche das häßliche Entlein in dem harten Winter erdulden musste, zu erzählen, würde zu trübe sein. Doch jetzt wendet sich das Blatt. Das vorgebliche Entlein kommt zu Kräften und findet den Mut, den anderen Schwänen entgegen zu schwimmen. Nicht nur, dass diese es wider Erwarten freundlich begrüßen, auch die Kinder erkennen in ihm plötzlich einen neuen Schwan. Alles, alles hat sich über den Winter verändert. Die Schwanengemeinschaft nimmt das neue Mitglied herzlich auf, die Menschen nennen den Schwan schön, jung und prächtig, und plötzlich werden Brot und Kuchen ins Wasser geworfen. Das Schönste aber ist, dass der Schwan sein Spiegelbild und damit seine eigene Schönheit entdeckt und ein selbstbewusstes Mitglied der neuen Gemeinschaft wird.

»Wie groß ist doch die Welt!«, sagten alle Jungen, denn nun hatten sie freilich viel mehr Platz als in dem engen Ei.

Alle Jungen haben die gleiche Sicht von der Beschaffenheit der Welt. Wie soll da jemand hineinpassen, der eine andere Perspektive oder Weitsicht hat und der vielleicht die Weltsicht der Jungen in Frage stellt? Dieses Wesen stellt eine Bedrohung dar.

»Glaubt nicht, dass dies die ganze Welt ist«, sagte die Mutter. »Die erstreckt sich noch weit über die andere Seite des Gartens, gerade hinein in des Pfarrers Feld. Aber da bin ich noch nie gewesen!«

Eben. Es ist nämlich gefährlich, sich zu weit vorzuwagen. Und damit niemand in Gefahr gerät, die These der gefährlichen, beschränkten Welt durch neue Erfahrungen in Frage zu stellen, wird von Anfang an darauf geachtet, dass niemand aus der Schar ausschert und alle den gleichen Horizont haben.

Lösungsversuche für dieses Dilemma gibt es zwei: entweder den Rückzug, um sich dem Blick der anderen zu entziehen, die den Außenseiter als Provokation empfinden. HB und HSP haben ein Leben lang Übung darin, sich der Umgebung bis zur Unkenntlichkeit anzupassen, sich zurückzunehmen und all das, was sie wissen und wahrnehmen, zu verleugnen – um nicht anzuecken mit einer als voreilig oder neunmalklug empfundenen Aussage, um nicht aufzufallen mit unorthodoxen Lösungswegen, um nicht als Miesepeter zu gelten, weil sie die Konsequenzen der Handlungen betrachtend Fehler früher erkennen, kurz, um nicht zu sein wie sie sind bzw. anders zu scheinen als es ihre Natur ist. Eine der negativen Folgen des Rückzugs ist jedoch, dass niemand das eigene Selbstbild mehr in Frage stellt oder korrigiert. So bleibt das Entlein weiter in dem Glauben, hässlich zu sein und fühlt sich in diesem Glauben sogar noch bestätigt.

»Gott sei Dank!«, seufzte das Entlein, »ich bin so hässlich, dass mich selbst der Hund nicht beißen mag.« Und so lag es ganz still, während die Schrotkugeln durch das Schilf sausten und ein Schuss nach dem anderen knallte.

Der andere, wesentlich produktivere Lösungsversuch folgt der großen Sehnsucht nach Neuland, nach spannenden Entdeckungsreisen, vielleicht auch schon dem tiefen, inneren Wissen um die eigenen Fähigkeiten …

Da bekam das Entlein große Lust, auf dem Wasser zu schwimmen, und sagte es auch der Henne. »Was fällt dir ein?«, fragte die. »Du hast nichts zu tun und hast nur Flausen im Kopf! Lege Eier oder schnurre, dann werden sie dir schon vergehen.« »Aber es ist so schön, auf dem Wasser zu schwimmen«, sagte das Entlein. »Und es ist so herrlich, auf den Grund zu tauchen!«

… und eine große Lust am Ausprobieren derselben, am Kräftemessen – nicht mit anderen, sondern mit sich selbst, am Lösen von Problemen, am Genuss der eigenen Erlebnisfähigkeit und Tiefe der Gefühle und daran, immer mehr von dieser Welt zu erfassen, zu durchdringen, zu verstehen und zu erkennen … und auch daran, sie weiterzudenken, zu analysieren, zu verändern und zu bewegen.

Am nächsten Tage war schönes, herrliches Wetter. Die Sonne schien auf alle grünen Kletten. Die Entenmutter ging mit ihrer ganzen Familie zu dem Kanal hinunter. Platsch, da sprang sie schon ins Wasser. »Rapp! rapp!«, sagte sie, und ein Entlein nach dem anderen plumpste hinein. Das Wasser schlug ihnen über dem Kopf zusammen, aber sie kamen gleich wieder empor und schwammen ganz prächtig. Die Beine gingen von selbst, und alle waren sie im Wasser; selbst das hässliche, graue Junge schwamm mit.

Da haben wir ihn, den ersten Schritt hin dazu, sich einzuordnen, sich zu verleugnen und sich »passend« zu machen. Dort beginnt das Dilemma. Von jüngster Kindheit an lernen HSP und HB Mimikry bis zur Perfektion, sonst würde die Psyche des Kindes Schaden nehmen am Anderssein. Kein Mensch hält es auf Dauer aus, als einziger einer Gemeinschaft auszuscheren. Er verleugnet sich, stellt sich dümmer als er ist, gibt Interesse vor, wo er keines hat – nur, um dazuzugehören. Und die innere Einsamkeit wächst, je mehr sich HSP und HB durch ihre Anpassungsversuche von der ihnen eigenen Natur entfernen. Sie verlieren den Kontakt zu ihren Bedürfnissen, zu ihren Wahrnehmungen, zu sich selbst.

Aber die anderen Enten ringsumher betrachteten sie und sagten ganz laut: »Sieh da, nun sollen wir noch den Anhang haben! Als ob wir nicht schon so genug wären! Schaut nur, wie das eine Entlein aussieht, das wollen wir nicht dulden!«

Die Versuche, sich anzupassen, sind zum Scheitern verurteilt: Machen Sie, liebe Leser, ruhig weiter damit, sich wie eine Ente zu benehmen! Ziehen Sie Ihren wunderbar langen, eleganten Hals ein (das gibt Nackenprobleme und der Orthopäde freut sich), reden Sie sich Entenfutter schmackhaft (und verderben sich den Magen), versuchen Sie das Entengeschnatter zu lernen (und scheitern Sie kläglich) und legen Sie Ihre majestätisch großen, kräftigen Flügel an.

»Ihr versteht mich nicht«, sagte das Entlein. »Wir verstehen dich nicht? Wer soll dich denn verstehen! Du wirst doch wohl nicht klüger sein wollen als der Kater oder die Frau.«

Im Märchen beißt das Huhn das hässliche Entlein fort. Auch die Magd des Märchens kann mit der zu großen, fehlfarbigen Ente nichts anfangen. Jede Ente sieht, dass Sie keine von ihnen sind, jede! Der einzige, der es nicht sieht, solange er sein Spiegelbild nicht im Wasser erblickt, sind Sie. Sie gehören zwar zur Gattung des Federviehs, aber Sie sind keine Ente. Und Sie werden keine. Auch nicht, wenn Sie sich noch so sehr anstrengen.

Eines Abends verschwand die Sonne ganz groß und herrlich rot am Horizont. Da kam ein ganzer Schwarm mit herrlich großen Vögeln aus dem Busch. Sie waren blendend weiß, mit langen, geschmeidigen Hälsen. Es waren Schwäne, und diese hatte das Entlein noch nie gesehen. Die Schwäne stießen einen lauten Schrei aus, breiteten ihre prächtigen langen Flügel aus und flogen aus der kalten Gegend in wärmere Länder fort. Sie stiegen hoch und höher, und dem hässlichen Entlein wurde gar sonderbar zumute. Es drehte sich im Wasser rundherum, streckte den Hals in die Luft und tat einen so lauten Schrei, dass es sich selbst davor fürchtete.

Da ist es wieder, dieses innere Wissen darum, dass Sie nicht so sind wie die anderen, die Sie gerne so hätten wie sich selbst. Diese tiefe Gewissheit, dass da mehr ist. Da blitzt in manchen Begegnungen ein kurzes Erkennen auf, das dann aber wieder verlischt und das die vielbegabte Person nicht interpretieren kann. Denn dafür fehlt ihr Vergleich und Spiegelung. Die Einsamkeit wird nach diesem Aufblitzen des Erkennens noch stärker empfunden als zuvor. Erst wenn sich derartige Begegnungen wiederholen oder wenn eine Art Mentor das Potenzial der Person wahrnimmt, als bemerkenswert hervorhebt und weckt, dann kann der Lichtstrahl der Selbsterkenntnis langsam das Dunkel erhellen. Oft dauert es Jahre und Jahrzehnte, bis die Person endlich mit Gewissheit erfährt, was mit ihr los ist, weshalb sie sich so anders fühlt und weshalb sie nie richtig dazugehört. Manchmal ist es ein Fachbuch zum Thema, in dem die Person sich wiederfindet. Manchmal ist es ein Zeitungsartikel über Hochsensibiltität oder Hochbegabung, bei dessen Lektüre die Person sich fragt, woher der Autor so genau weiß, wie es ihr geht. Der beschreibt mich in meinen Selbstzweifeln, meinem Anecken mit anderen Menschen, meinem Perfektionismus, meiner Schwierigkeit, mich nicht in Details zu verlieren und Entscheidungen zu treffen – wie kann das sein? Ein anderes Mal ist es vielleicht eine »zufällige« Begegnung mit einem Menschen, der selbst vielbegabt ist und im anderen sofort dessen Potenzial erkennt. Wenn ein Mensch nämlich erst einmal für das Thema sensibilisiert ist, gibt es tausend kleine Zeichen, an denen er erkennen kann, dass sein Gegenüber ebenfalls herausragend klug und empfindsam ist. Vielleicht gibt es dann eine Aufforderung, sich doch einmal zu informieren oder einem Test zu unterziehen. Und gewiss wird dieser Mensch davon berichten, wie bereichernd und entspannend die Gesellschaft von anderen HSP und HB ist, in deren Gesellschaft er endlich so komplex, schnell, feinfühlig und brillant sein kann, wie es ihm entspricht.