Die Fährte der Wandler - Leann Porter - E-Book

Die Fährte der Wandler E-Book

Leann Porter

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Beschreibung

Als Goran mit seinem Wolfsgefährten Arion die Goldene Stadt Sanka besucht, hat er nichts weiter im Sinn, als sich von einer unangenehmen Pflicht zu befreien. Aber das Schicksal hat andere Pläne für ihn: Er läuft dem jungen Taschendieb Juri über den Weg. Verwaist, seitdem seine Eltern von Wolfswandlern getötet wurden, ist Juri auf sich alleingestellt. Außerdem macht ihm eine geheimnisvolle Krankheit zu schaffen, für die niemand eine Kur oder auch nur eine Erklärung zu kennen scheint. Daher ist ihm jedes Mittel recht, um Goran zu überzeugen, ihn in das ferne Tal der D'Elen-Heiler zu bringen. An Gorans und Arions Seite bricht er auf, um sich der Wahrheit über sein Anfallsleiden zu stellen. Sie verlangt ihm alles ab – und öffnet gleichzeitig neue Wege, nicht zuletzt die der Liebe. Doch seine neuen Gefährten sind in weit größere Vorkommnisse verstrickt, als er oder sie selbst ahnen. Es geht um nicht weniger als die Zukunft der Sidhe.

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Seitenzahl: 1109

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Leann Porter

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Casandra Krammer

http://www.casandrakrammer.de

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-043-0

Inhalt:

Als Goran mit seinem Wolfsgefährten Arion die Goldene Stadt Sanka besucht, hat er nichts weiter im Sinn, als sich von einer unangenehmen Pflicht zu befreien. Aber das Schicksal hat andere Pläne für ihn: Er läuft dem jungen Taschendieb Juri über den Weg. Verwaist, seitdem seine Eltern von Wolfswandlern getötet wurden, ist Juri auf sich alleingestellt. Außerdem macht ihm eine geheimnisvolle Krankheit zu schaffen, für die niemand eine Kur oder auch nur eine Erklärung zu kennen scheint. Daher ist ihm jedes Mittel recht, um Goran zu überzeugen, ihn in das ferne Tal der D'Elen-Heiler zu bringen. An Gorans und Arions Seite bricht er auf, um sich der Wahrheit über sein Anfallsleiden zu stellen. Sie verlangt ihm alles ab – und öffnet gleichzeitig neue Wege, nicht zuletzt die der Liebe. Doch seine neuen Gefährten sind in weit größere Vorkommnisse verstrickt, als er oder sie selbst ahnen. Es geht um nicht weniger als die Zukunft der Sidhe.

Kapitel 1

Es war keine besonders gute Idee gewesen, sich ausgerechnet unter einem Gewürzstand zu verstecken.

Der Duft von mindestens zehn verschiedenen Currymischungen biss in Juris Nase. Mit angehaltenem Atem kämpfte er gegen den immer stärker werdenden Niesreiz an. Auf dem Stoffmarkt wäre das nicht passiert.

Die Aussicht auf reiche Beute hatte ihn auf den Moirinplatz gelockt. Er drückte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenflügel zusammen und spähte unter den Stoffbahnen hindurch, die der Händler über das verschrammte Holz geworfen hatte, um seinem Stand ein edleres Aussehen zu verleihen. In diesem Moment erfüllten sie außerdem den Zweck, Juri zu verbergen.

Er ignorierte das Kribbeln in der Nase und begutachtete das, was er von den vorbeiflanierenden Marktbesuchern erkennen konnte: die Schuhe. Derbe Stiefel, Sandalen aus rissigem Leder, zierliche Seidenslipper - an den Schuhen konnte man den Reichtum des Besitzers ablesen. Kleidung führte oft in die Irre, zeigte mehr Schein als Sein. Schuhe logen nie.

Juri verdankte die erste Beute des Tages neuen Stiefeln aus istrischem Leder, das sich weich an die Waden seines Besitzers geschmiegt hatte. Auch der gefüllte Geldbeutel, den Juri dem Ahnungslosen flink aus der Gürteltasche gezogen hatte, war aus Leder und zierte nun seinen eigenen Gürtel. Selbst in seiner kauernden Stellung spürte er das befriedigende Gewicht an seiner Seite. Er konnte sich nicht beherrschen, den Beutel gleich hier unter dem Tisch zu öffnen und einen Blick auf den Inhalt zu werfen.

Während er sich mit der rechten Hand weiterhin die Nase zuhielt, ließ er die linke am Gürtel entlanggleiten, strich mit den Fingerspitzen über geschmeidiges Leder, eine Kordel und schließlich den Knoten, der den Geldbeutel verschloss. Er wollte nur …

„Da unter dem Tisch! Er ist unter den Tisch gekrochen, ich habe es genau gesehen!“

Der Klang der durchdringenden Frauenstimme, die den Marktlärm übertönte, ließ Juri zusammenzucken. War etwa er gemeint? Unmöglich, niemand konnte ihn gesehen haben, viel zu rasch war er nach dem zudem noch unbemerkten Diebstahl in der Menge untergetaucht. Andererseits schätzte er die Wahrscheinlichkeit als gering ein, dass sich noch jemand unter einem der Verkaufstische verbarg.

Das Geräusch sich nähernder, bestiefelter Füße, untermalt von Flüchen und Schreien, verwandelte den Verdacht in Gewissheit. Sie waren hinter ihm her.

Der schützende Tischdeckenvorhang wurde fortgerissen. Juri hatte zu lange gezögert. Er blinzelte in die verärgerten Gesichter zweier Männer, deren dunkelblaue Uniformen sie als Mitglieder der Stadtwache auswiesen.

„Sofort raus da und …“

Den Rest hörte Juri nicht mehr. Er warf sich herum und krabbelte auf allen Vieren so schnell er konnte unter dem Tisch entlang, bis er das Ende des Verkaufsstandes erreichte. Er schnellte vor, blieb mit seinem Gürtel an einem Tuchzipfel hängen und riss sich hastig los. Dabei zerrte er das Tischtuch mitsamt den Gewürzschalen zu Boden. Laut scheppernd landeten die flachen Bronzegefäße vor den Füßen der hastig zurückspringenden Kunden. Currypulver in unterschiedlichen Rot- und Orangeschattierungen ergoss sich auf die blauen Steinfliesen des Moirinplatzes.

Er warf einen flüchtigen Blick über die Schulter. Der Schrei des Gewürzhändlers, der in einer Geste hilfloser Verzweiflung die Hände in die Luft warf, verriet, dass er das Farbspiel nicht zu schätzen wusste.

Juri konnte es dem Mann nicht verdenken, verteilte sich doch der Gegenwert mehrerer Monatslöhne eines einfachen Arbeiters auf dem Boden und wurde vermutlich in eben diesem Moment von den Stiefeln der Wachen zertrampelt.

Er hastete weiter, drängte sich durch die Menge.

„Bleib stehen!“

Juri dachte nicht daran. Die glaubten doch nicht im Ernst, dass er auf sie warten und sich festnehmen lassen würde. Offenbar waren sie noch nicht lange bei der Stadtwache.

Er tauchte unter einer Sänfte hindurch, ohne sich um die Beschimpfungen der Träger zu kümmern. Rücksichtlos rempelte er sich einen Weg durch die Marktbesucher. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen, aber noch machte er sich keine Sorgen. Er war kleiner und zierlicher als die Wachen, das verschaffte ihm einen Vorteil.

Ein erneuter Blick zurück zeigte ihm die auf und ab hüpfenden roten Köpfe der Wachen zwischen den Gesichtern der Leute, die sich verwirrt umblickten, um das Ziel der Verfolgungsjagd zu entdecken.

„Haltet ihn!“, brüllte eine der Wachen. „Haltet den Dieb!“

Juri prallte gegen eine mit Einkaufskörben beladene Frau und riss sie um. In einem Gewirr aus Röcken und Paketen gingen sie zu Boden.

„Entschuldigung!“, rief er, rappelte sich auf und wollte weiterlaufen, da schloss sich eine Hand um seinen Oberarm.

„Nicht so eilig, Bürschchen“, knurrte ein Hüne, der ihn um mehrere Köpfe überragte.

Mit der Kraft der Verzweiflung trat Juri ihm zwischen die Beine. Der Hüne stieß einen wüsten Fluch aus und ließ ihn los.

Aus dem Augenwinkel sah Juri, dass die Wachen aufgeholt hatten. Allerdings wurden sie von den verstreuten Einkäufen der Frau aufgehalten. Die Mischung aus Gewürzpulver und einer weißlichen Flüssigkeit, vermutlich Seifencreme, verwandelte die Bodenfliesen in eine rutschige Fläche. Heftig mit den Armen rudernd versuchten die Wachen vergeblich, das Gleichgewicht zu halten, und landeten in dem bunten Matsch. Bei ihren Versuchen, auf die Füße zu kommen, rutschten sie immer wieder aus und behinderten sich gegenseitig. Ihr Schimpfen schallte über den Marktplatz.

Juri rannte atemlos lachend weiter und schickte ein Dankgebet an Moirin. Er war so gut wie gerettet.

Geduckt schlüpfte er zwischen zwei Verkaufsständen hindurch in die Deckung einer langsam durch die Menge rollenden Rikscha. Weder der das Gefährt ziehende Mann noch sein Fahrgast würdigten ihn eines Blickes, sie hatten nur Augen für die Waren und suchten offenbar nach etwas Bestimmtem.

Juri hielt sich im Schatten des zweirädrigen Wagens, lässig schlendernd, um so unauffällig wie möglich zu wirken. Auf keinen Fall wollte er erneut die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich lenken, die bestimmt die Gänge nach ihm absuchten. Alles in ihm drängte danach, loszurennen und so schnell wie möglich zu verschwinden. Es kostete ihn Kraft, sich zu beherrschen, bis die Rikscha sich endlich auf einer Höhe mit dem Samtariator befand.

Mit wenigen Schritten erreichte er den mit bunten Schnitzereien verzierten Torbogen. Zwei Atemzüge später eilte er bereits durch die engen Gassen des Gewürzviertels, das wegen des Marktes wie ausgestorben wirkte. Sämtliche Händler boten heute ihre Schätze auf dem Moirinplatz feil, die Geschäfte waren geschlossen und zogen darum auch keine Kunden an.

Juri schüttelte das nagende Unbehagen ab. Die Wachen hatten seine Spur verloren, er brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen. Trotzdem bog er mehrmals in Nebengassen ab, statt auf dem Hauptweg zu bleiben. Erst als er sich in den lärmenden Trubel im Stoffviertel mischte, beruhigte sich sein Herzschlag.

Prüfend tastete er nach dem gestohlenen Geldbeutel und atmete auf, als er ihn sicher an seinem Gürtel hängend fand. Nicht auszudenken, wenn er ihn auf der Flucht verloren hätte, so viel, wie er für das Ding riskiert hatte.

Diesmal war es knapp gewesen, verdammt knapp. Am meisten erschreckte ihn, dass er nicht wusste, wie die Wachen ihn unter dem Verkaufsstand entdeckt hatten. Er war sicher gewesen, dass niemand ihn gesehen hatte.

Wurde er unvorsichtig? Langsam? Und das, ohne es zu merken?

Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er den ganzen Tag lang noch nichts gegessen hatte.

Erleichterung durchströmte ihn. Natürlich, es lag am Hunger. Kein Wunder, dass seine Aufmerksamkeit nachließ. Alles, was er brauchte, war ein Happen zu essen.

Er drückte sich in den Eingang eines kleinen Ladens und nestelte an dem Knoten, der den Geldbeutel verschloss, bis er zwei Finger hineinstecken konnte. Er tastete in dem Beutel herum, bis seine Fingerspitzen ein schmales geflochtenes Band berührten. Wie er vermutet hatte: eine Bluthundspur.

Jeder halbwegs kluge Dieb konnte die Schnur finden und entsorgen, genau wie Juri es nun tat. Was er darüber hinaus noch ertastete, gefiel ihm. Fühlte sich nach mindestens zehn Mags an und mehreren Halben und Vierteln. Genug, um Brot zu kaufen oder sogar eine warme Pastete an einem Straßenstand.

Juris Magen krampfte sich bei dem Gedanken an knusprigen Teig mit saftiger Füllung schmerzhaft zusammen. Beinahe glaubte er schon, den Duft einer Lauchpastete zu riechen. Doch so sehr ihn die Vorstellung einer warmen Mahlzeit lockte, zuerst wollte er seine Beute in Sicherheit bringen.

Also verschob er schweren Herzens die Nahrungsaufnahme und fiel in einen schnellen Trab, um möglichst rasch den Unterschlupf zu erreichen. Vielleicht war Nayla dort, und er konnte sie zum Essen einladen.

Der Gedanke gefiel ihm. Nayla hatte ihn in den letzten Wochen oft mit Essen versorgt, das sie von der Arbeit mitbrachte. Es war an der Zeit, dass er sich revanchierte, auch wenn sie sich nie beklagte oder etwas von ihm verlangt hätte.

Er stellte sich ihr erstauntes Gesicht vor, ihr freudiges Lächeln, wenn er sie formvollendet um die Ehre bitten würde, mit ihm essen zu gehen.

Erwartungsvoll beschleunigte er seine Schritte.

Sein Weg führte ihn durch das östliche Sidheviertel, ein für Unkundige verwirrendes Labyrinth aus verwinkelten Gassen, gesäumt von windschiefen Häusern, in deren Erdgeschossen sich zumeist Schenken befanden. Noch waren die Vorhänge hinter den Buntglasfenstern zugezogen, noch brannten die Laternen über den Türen nicht. Nach Einbruch der Dunkelheit würden sich die Straßen mit vergnügungssüchtigen Sankanern und neugierigen Stadtbesuchern füllen, angelockt von den Lustbarkeiten, für die die Sidheschenken Sankas bekannt waren. Mitreißende Musik, Tanz, exotisches Essen und jede Menge Alkohol.

Zwischen den Schenken Rülpsender Ziegenbock und Alter Sidhe führte eine kaum mehr als schulterbreite Gasse zu einer ebenso schmalen Treppe, die sich in engen Windungen entlang der Hauswände bis zu dem Dach hochschraubte, auf dem sich ihr Unterschlupf befand.

Juri balancierte über den Dachfirst, sprang an dessen Ende auf eine Mauerbrüstung und von dort auf ein weiteres flaches Dach. Sicheren Schrittes eilte er durch einen Wald aus Schornsteinen bis zu einem windgeschützten Pavillon, der seit dem letzten Winter seine Zuflucht in Sanka war.

Nayla vermutete, dass ein reicher Kaufmann das wandlose Gebäude als Liebeslaube hatte errichten lassen, um sich dort heimlich mit seiner Sidhegespielin zu treffen. Juri interessierte nur, dass der Ort versteckt und verlassen war.

„Nayla?“ Höflich wartete er einen Augenblick, bevor er eine der Stoffbahnen, die Nayla als Wandersatz angebracht hatte, zur Seite schob.

Die letzten Sonnenstrahlen des Tages drangen durch den Stoff und tauchten den Raum in buntes Licht, in dem die verschlissenen Kissen und Decken wie verzaubert wirkten. Und verlassen.

Enttäuscht streifte Juri die Schuhe ab und tappte barfuß über die flauschigen Teppiche, die Nayla aus dem Badehaus hatte mitgehen lassen. Tatsächlich schien sie alles darangesetzt zu haben, ihre Zuflucht wie ein Liebesnest wirken zu lassen.

Juri ließ sie gewähren. Für seinen Geschmack hätten es auch eine Decke und ein Kissen getan.

Gähnend ließ er sich auf seiner Seite des Pavillons nieder und löste den Geldbeutel vom Gürtel. Die Münzen landeten mit befriedigendem Klimpern auf der Decke. Beinahe zärtlich strich Juri mit den Fingerspitzen über die glänzenden Mags. Zehn, er hatte gut geschätzt. Zusammen mit den kleineren Münzen ergaben sie reiche Beute. Essen für mindestens einen Zehnttag. Für Nayla und ihn. Wenn sie sparsam waren und die Vorräte mit Naylas Spenden aufstockten, sogar noch länger.

Ein Trillern brachte ihn zum Lächeln. Der Ruf des Regenpfeifers war Naylas Art, ihre Ankunft anzukündigen. Sie trug den Duft von Rosenblüten und feuchter Seide in den Pavillon.

„Juri! Gut, dass du hier bist.“ Atemlos strich sie sich eine lockige Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, hinter das Ohr. Die blauen Augen in ihrem herzförmigen Gesicht funkelten vergnügt. „Du glaubst nicht, was ich dir jetzt erzähle!“

Juri drängte den Anflug von Unmut zurück. Er wollte Nayla mit der Essenseinladung überraschen, und nun platzte sie mit irgendwelchen Neuigkeiten heraus und machte seinen schönen Plan zunichte. Doch als er in ihre leuchtenden Augen sah, verdrängte Neugier den leichten Groll.

Statt sich zu setzen, hüpfte Nayla von einem Bein auf das andere und grinste breit.

Juri wusste, was sie erwartete. „Was gibt es denn? Hat der Magode dich zu seiner Lieblingskonkubine gemacht?“

Nayla kicherte entzückt. „Du Spinner. Nein, viel besser! Rate mal, wohin wir gleich gehen!“

Juri spielte gutmütig mit. „Zum Festbankett in den Magodenpalast?“

Der abwegige Vorschlag löste einen erneuten Kicheranfall aus. Nayla ließ sich im Schneidersitz vor ihm nieder und schlug sich begeistert auf die Knie. „Nein! In den Grünen Keiler! Und jetzt rate, wen du dort treffen wirst!“

„Jede Menge trinkfestes Gesindel?“ Juri hoffte, dass sie das Ratespiel bald leid war. Sie schien es kaum erwarten zu können, mit ihrer großartigen Neuigkeit herauszurücken, wenn er ihr aufgeregtes Gezappel richtig deutete.

„Einen Heiler! Einen ganz besonderen!“

Juri horchte auf und beugte sich vor. Im Pavillon war es mittlerweile so dunkel, dass er Naylas Gesichtszüge nur noch erahnen konnte. Er musste schlucken, bevor er sprechen konnte. „Einen D’Elen?“

Die Frage war dumm und entsprach einzig seinem Wunschdenken, und doch stellte er sie, vielleicht angestachelt von Naylas albernem Geplänkel, vielleicht weil immer noch ein Rest Hoffnung in ihm lauerte.

Nayla sog scharf die Luft ein. „Also hast du bereits von ihm gehört?“

Der Boden unter Juri schien zu schwanken. Durch das Rauschen in den Ohren hörte er Naylas Stimme wie von weither. Sie rief seinen Namen. Obwohl er wusste, dass er nichts tun konnte, um das Unheil zu verhindern, krallte er Hilfe suchend die Finger in den Teppich und versuchte, ruhig und tief zu atmen.

Nicht jetzt, nicht schon wieder, nicht ...

Dann packte ihn der Schmerz, der vertraute Feind, grub glühende Krallen in seine Eingeweide und zerrte wüst an jedem Muskel in seinem Körper, schleuderte ihn zu Boden wie einen Lumpen und verschlang ihn schließlich.

Juri hob mühsam die Lider und blinzelte in Naylas besorgtes Gesicht. Im weichen Schein der Lampe sah sie jung aus, beinahe kindlich. Während er sich noch darüber wunderte, dass er sie nie nach ihrem Alter gefragt hatte, verschwand sie aus seinem Blickfeld. Er schloss die Augen wieder.

Wie nach jedem Anfall war er unendlich müde. Es dauerte jedes Mal länger, bis er hinterher in der Lage war aufzustehen. Die Gewissheit, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis es ihm überhaupt nicht mehr gelang, drängte sich einem düsteren Schatten gleich in sein Bewusstsein.

„Wie lange war ich weg?“, krächzte er. Selbst das Sprechen kostete ihn Kraft.

„Nicht lange.“ Naylas Stimme erklang dicht neben ihm. Er spürte die Kühle eines feuchten Tuchs auf seiner Stirn. „Es ist meine Schuld. Ich hätte nicht …“

„Nein!“ Juri stemmte sich hoch. Seine Arme zitterten. Das Tuch rutschte in seinen Schoß. Fahrig griff er danach und wischte sich über das Gesicht. Der muffige Geruch ließ ihn würgen. Er schluckte krampfhaft. „Ist es nicht.“

Er wusste nicht, was die Anfälle auslöste. Sämtliche Vermutungen hatten sich früher oder später in Ungewissheit verflüchtigt. Ob er hungrig war oder satt, erschöpft oder ausgeschlafen, der Schmerz überfiel ihn, wann es ihm beliebte. Ohne Vorwarnung, ohne Zusammenhang mit irgendetwas, das er tat oder ließ. Es wäre zu einfach, der Erschütterung über Naylas Neuigkeit die Schuld zu geben.

Naylas Neuigkeit!

Juris Herzschlag beschleunigte sich. „Was hast du da vorhin gesagt? Ein D’Elen-Heiler ist in der Stadt?“

Nayla nickte und schlug die Augen nieder. „Ich hätte es dir schonender beibringen sollen. Ich ...“

„Verdammt! Es lag nicht daran!“

Erst als sie zusammenzuckte, merkte Juri, dass er geschrien hatte. Er atmete tief durch. „Entschuldige. Bist du sicher? Dass er ein D’Elen ist? Nicht nur wieder ein geldgieriger Scharlatan, der sich das Haar gebleicht hat? Wie hast du von ihm erfahren?“

Nayla blickte auf, in ihre Augen trat das gewohnte spitzbübische Funkeln. „Bei der Arbeit. Keine Sorge, auf das Wort eines Kunden verlasse ich mich nicht. Ich habe mich selbst vergewissert. Ich erkenne einen D’Elen, wenn ich einen sehe. Er hat letzte Nacht Sprechstunde im Keiler gehalten. Die Schenke war gerammelt voll. Über die Hälfte der Kranken musste ohne Behandlung wieder gehen. Heute wird es nicht anders sein.“

Juri seufzte. Ihm graute bei der Vorstellung, die ganze Nacht in einer stickigen Schenke verbringen zu müssen und, wahrscheinlich vergeblich, um eine Audienz bei dem Heiler zu kämpfen.

Naylas Mundwinkel jedoch zuckten verdächtig, und er schöpfte neue Hoffnung. Erwartungsvoll sah er sie an und fürchtete gleichzeitig ein weiteres der von ihr geliebten Ratespielchen.

„Ich habe mit ihm gesprochen. Du kannst vor der Sprechstunde zu ihm kommen.“ Offenbar sah Juri so schlecht aus, dass sie gleich zur Sache kam. „Er verlangt drei Mags, aber wie ich sehe, hast du reiche Beute gemacht.“ Mit hochgezogenen Brauen blickte sie zu dem im Lampenschein blitzenden Häufchen Münzen neben Juris ausgestreckten Beinen.

„Nayla!“ Erzog sie in eine ungestüme Umarmung. „Du bist großartig!“

Lachend tätschelte Nayla seine Schulter. „Weiß ich doch. Also, fühlst du dich gut genug, um aufzubrechen? Wir sollten bei dem Heiler sein, bevor die Schenke öffnet und der Wahnsinn beginnt.“

Nayla klopfte einen bestimmten Takt an die Tür des Grünen Keilers.

Die Sonne stand bereits so tief, dass ihre letzten Strahlen die schmale Gasse nicht mehr erreichten. Laternenanzünder schlenderten mit langen Stangen an den Häuserreihen entlang und brachten eine Lampe nach der anderen zum Leuchten. Sie entzündeten kein sankanisches Glimfeuer wie in den Vierteln der Reichen, sondern verwendeten schlichtes Öl, das flackernd aufflammte und tanzende Schatten an die Wände malte.

Die ersten Nachtschwärmer zogen an ihnen vorbei, eine fünfköpfige Gruppe von Männern und Frauen, die lachten, plauderten und die Namen der Schenken an ihrem Weg laut vorlasen.

Unruhig schaute Juri sich um. Seit der Flucht vor den Wachen lagen seine Nerven blank. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Gefahr noch nicht ausgestanden war.

Unsinn. Die Wachen hatten ihn, den kleinen Taschendieb, längst vergessen und genossen ihren Feierabend beim Würfeln oder Kartenspielen oder zu Hause bei ihren Familien. Das verräterische Band lag irgendwo im Rinnstein und konnte die Bluthunde nicht auf seine Fährte locken.

Das Messingschild über der Tür der Schenke, das ein grünes Tier zeigte, das entfernt an einen Eber erinnerte, bewegte sich im Wind und quietschte durchdringend.

Juri zuckte zusammen. „Bist du sicher, dass jemand da ist?“, zischte er.

Nayla warf ihm einen finsteren Blick zu und klopfte erneut, diesmal verzichtete sie auf jegliche Finessen und hämmerte lediglich mit der Faust gegen die Tür, die endlich aufgerissen wurde.

„Kommt später wieder, es ist geschlossen!“, knurrte ein Kerl mit blutunterlaufenen Augen und wirrem Haar. Über einer schmierigen Hose wölbte sich ein feister Wanst. Der Mann sah aus, als hätte Nayla ihn aus dem Tiefschlaf gerissen.

„Sei gegrüßt, Willker“, flötete sie. „Wir wollen zu deinem Gast.“

Willker schnaufte und lief rot an. Er packte Nayla grob am Arm und zerrte sie ins Haus. Juri schaffte es geistesgegenwärtig, ihr zu folgen, bevor der Wirt die Tür zuschlug und den Riegel vorschob.

„Bist du verrückt, Mädchen? Von dem Gast darf niemand erfahren!“

Nayla rieb sich den Oberarm und funkelte ihn wütend an. „Ach nein? Außer den Leuten, die letzte Nacht hier auf ihn gewartet, dabei gegessen und getrunken und dir die höchsten Einnahmen dieses Sommers beschert haben?“

Willker winkte ab. „Die armen Schlucker haben sich doch die ganze Zeit an einem Humpen Bier festgehalten. Nur meiner Gutmütigkeit haben sie es zu verdanken, dass ich sie überhaupt in meiner Schenke dulde.“

Nayla gab eine scharfe Erwiderung, aber Juri hörte nur mit halbem Ohr hin. Der Gestank nach abgestandenem Bier, Schweiß und verkochtem Kohl drückte ihm auf den Magen. Er wollte so schnell wie möglich den Heiler sehen, sich vergewissern, dass er wirklich ein D’Elen war und kein Betrüger. Seine Hand zuckte zur Brust und ertastete die flache Erhebung des Beutels, den er unter der Tunika trug. Nur ein D’Elen-Heiler war seine drei Mags wert. Er hatte schon viel zu viel für sinnlose Behandlungen ausgegeben.

„Komm!“ Nayla umfasste sein Handgelenk und zog ihn quer durch den Schankraum zu einer Stiege. Juris Schuhe klebten bei jedem Schritt an den Bodendielen fest.

„Ihr habt Zeit bis zum Klyrasläuten!“, rief Willker ihnen nach.

Nayla gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Er spielt sich auf, als wäre er der Heiler“, flüsterte sie. „Hier geht es rauf.“

Sie huschte voraus, und Juri folgte ihr die abgetretenen Stufen nach oben in einen Flur mit drei geschlossenen Türen. Ein wenig verstand er die Sorge des Wirts. Einen D’Elen-Heiler zu beherbergen, barg ein hohes Risiko. Der Verdienst musste ihn reich entschädigen. Aus reiner Freundlichkeit begab er sich bestimmt nicht in die Gefahr, im Kerker zu landen.

Nayla blieb vor der zweiten Tür stehen und klopfte, zunächst sacht, dann kräftiger. Schließlich hob sie die Schultern, drückte die Klinke nach unten und zog die Tür auf. Der Gestank nach schalem Bier und Erbrochenem schlug ihnen entgegen.

Juri wich zurück und presste sich den Ärmel vor Mund und Nase. Schlimmer als der säuerliche Dunst traf ihn der bittere Duft der Ernüchterung. Er hatte sich vorgenommen, keine großen Erwartungen zu hegen, die nur zu neuerlichen Enttäuschungen führen würden. Jetzt merkte er, dass er sich allen guten Vorsätzen zum Trotz Hoffnungen gemacht hatte. Was konnte er schon von einem Heiler erwarten, der sich dem Gestank nach zu urteilen betrunken und übergeben hatte?

Trotzdem hielt er die Luft an und spähte in die Kammer, die Willker als Gästezimmer vermietete.

Sie war leer bis auf ein Bett und einen Stuhl. Eine Lampe brannte gleichmäßig, wie es nur Glim ermöglichte, und beleuchtete eine zusammengekrümmt auf dem Bett liegende Gestalt.

Nayla schob sich resolut an Juri vorbei. Mit sicherem Griff brachte sie die Lampe dazu, heller zu leuchten. „Heiler Amalgaid!“

Die Gestalt regte sich und stöhnte, lallte undeutliche Worte. Juri wandte sich angewidert ab. „Lass uns gehen. Das hat keinen Sinn. Der Kerl ist betrunken.“

„So schnell gibst du auf? Ha!“

Nayla durchmaß mit zwei großen Schritten das Zimmer und packte mit beiden Händen die Waschschüssel, die auf der Fensterbank stand. Juri ahnte, was sie vorhatte und schwankte zwischen Belustigung und Ärger. Ohne zu zögern trat Nayla an das Bett und leerte den Inhalt der Schüssel über dem angeblichen Heiler aus. Der Schwall kalten Wassers brachte ihn zur Besinnung. Keuchend und schnaubend fuhr er hoch und schlug um sich. Langes Haar hing in feuchten Strähnen in ein aufgedunsenes Gesicht, über das Wassertropfen rannen.

„Bei Schuras‘ Arsch!“, fluchte er.

Nayla warf ihm das fadenscheinige Tuch zu, das neben der Waschschüssel gelegen hatte. „Guten Abend“, sagte sie höflich. „Ich bin Nayla. Erinnert Ihr Euch? Wir haben ausgemacht, dass Ihr einen Freund von mir untersucht.“

Amalgaid schwang die Beine aus dem Bett, beugte sich ächzend nach vorn und drückte sich das Tuch vor das Gesicht. Er murmelte etwas Unverständliches.

„Wie bitte?“ Naylas Stimme gewann an Schärfe.

„Kommt später wieder“, nuschelte Amalgaid.

Oder auch gar nicht mehr, dachte Juri ernüchtert. Er gab Nayla ein Zeichen und formte mit den Lippen „Lass uns verschwinden!“

Sie zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf, bevor sie sich wieder an Amalgaid wandte. „Ihr habt es versprochen.“ Sie zögerte kurz. „Wir haben die drei Mags.“

Amalgaid ließ das Tuch sinken und blinzelte sie an. Das Zauberwort Mags schien zu ihm durchgedrungen zu sein.

„Ah. Die schöne Nayla.“ Seine Stimme klang heiser, als hätte er nicht nur eine, sondern gleich drei Nächte durchzecht.

Nayla schnaubte verächtlich. Sie versuchte, die lederbespannte Fensterluke zu öffnen. Mit einem Knirschen gab der Rahmen nach und kippte nach innen. Nayla hatte ganze Arbeit geleistet. Das konnte nur noch ein Handwerker richten. Kühle Abendluft kämpfte sich ins Zimmer. Ohne sich um den angerichteten Schaden zu kümmern, goss Nayla eine verdächtig bräunliche Flüssigkeit aus einem Krug in einen schmierigen Becher und reichte ihn Amalgaid.

Der trank und spuckte aus. „Bei Schuras‘ Arsch! Was ist das für ein Gift?“

„Wasser.“ Nayla warf Juri einen entschuldigenden Blick zu. „Gestern war er nüchtern“, flüsterte sie ihm zu. „Es tut mir leid.“

Juri tat es auch leid. Um die vertane Zeit, um die Mühe, die sie sich gegeben hatte, um seine zerstörte Hoffnung. Mit Amalgaid vermochte er kein Mitleid zu empfinden.

Er verschränkte die Arme und musterte den Sidhe, der nicht im Geringsten dem Bild entsprach, das er sich von den D’Elen gemacht hatte. Statt eines kundigen Heilers, gelehrt und erhaben, sah er einen verlebten Säufer ohne jeglichen Stolz. Das gierige Glitzern in Amalgaids Augen verriet ihm, dass der Kerl nur auf eines aus war: Geld.

„Bist du überhaupt ein Heiler?“, fragte Juri, während er nach äußeren Anzeichen suchte, dass Amalgaid zumindest zum Volk der D’Elen gehörte.

Er besaß ihr hellblondes Haar, so viel erkannte Juri, obwohl die Feuchtigkeit es dunkler färbte. Angeklatscht lag es am Kopf und enthüllte die länglichen spitzen Ohren, die als untrügliches Erkennungszeichen der D’Elen galten. Angeblich zeichneten sie sich zudem durch feine Gesichtszüge und eine schlanke, zierliche Gestalt aus. Schwer zu sagen, ob diese Merkmale auf Amalgaid zutrafen, da er wie ein nasser Sack auf der Pritsche kauerte, das Gesicht verquollen von den nächtlichen Ausschweifungen.

Mit trüben Augen erwiderte er Juris Blick. Niedergeschlagenheit hatte die Gier verdrängt. Er trank einen Schluck aus dem Becher und behielt das Wasser diesmal bei sich. Mühsam versuchte er, sich aufzurichten, was ihm für einen Atemzug gelang, bevor er schwankte und erneut in sich zusammensank.

„Ja, ich bin ein Heiler. Ausgebildet in Elenia.“ In seiner heiseren Stimme schwang bitterer Stolz.

Nayla stieß Juri in die Seite. „Versuch es wenigstens, wo wir schon hier sind“, zischte sie. „Was hast du zu verlieren?“

Drei Mags zum Beispiel. Juri wollte fort. Keinen Augenblick länger wollte er in diesem modrigen Loch bleiben. Auf der anderen Seite wusste er genau, dass er sich spätestens nach dem nächsten Anfall fragen würde, ob der Heiler ihm nicht doch hätte helfen können. Er würde es sich nie verzeihen, wenn er die Gelegenheit nicht ergriff.

Wer konnte schon sagen, wann sich der nächste D’Elen-Heiler in die Stadt wagte. Es gab nur diesen hier und selbst verkatert und ohne die Gewissheit, dass er wirklich ein D’Elen war, mochte er eine bessere Wahl als die anderen Quacksalber sein, die Juri nicht hatten heilen können.

„Was ist nun, Junge? Soll ich dich untersuchen oder nicht?“

Amalgaid gähnte und enthüllte dabei Backenzähne, an denen Essensreste klebten. Nun, immerhin besaß er noch welche. Ein gutes Zeichen. Juri nickte mit mehr Entschlossenheit, als er tatsächlich empfand.

Amalgaid grunzte zustimmend und winkte in Naylas Richtung. „Und du verschwindest, Schönheit.“

Sie zögerte, nickte Juri aufmunternd zu und verließ das Zimmer. Kaum hatte sie leise die Tür hinter sich geschlossen, zerrte Amalgaid sich die nasse Tunika über den Kopf. Seine Haut schimmerte fahl im Lampenschein, sah aber überraschend glatt und fest aus. Keine Spur von Geschwüren oder Entzündungen, wie Juri sie bei einem Trinker erwartet hätte.

Er schöpfte neue Hoffnung. Vielleicht war die Zecherei eine Ausnahme gewesen und er hatte Amalgaid lediglich in einem ungünstigen Moment erwischt. Ein forschender Blick in dessen Gesicht belehrte ihn allerdings schnell eines Besseren. Tränensäcke, schlaffe Wangen und die rot geäderte Nase kündeten von einem langjährigen Lotterleben.

Amalgaid kam schwankend auf die Füße und versuchte, auch die Hose abzustreifen, wobei er das Gleichgewicht verlor. Juri griff unwillkürlich zu und hielt ihn am Oberarm fest.

Unwirsch grummelnd riss der Heiler sich los. Misstrauisch beobachtete Juri, wie Amalgaid sich mit der Bettdecke abtrocknete und sie sich schließlich um die Hüfte wand. Er setzte sich wieder auf das Bett und musterte Juri mit hochgezogenen Brauen. „Deine Gefährtin hat Temperament.“

„Sie ist nicht …“ Juri biss sich auf die Lippe. Es ging Amalgaid nichts an, in welcher Beziehung er zu Nayla stand. Er sollte ihn untersuchen und ihm sagen, an welcher Krankheit er litt. Darauf, dass er ihn heilen konnte, hoffte er angesichts der traurigen Erscheinung schon nicht mehr. „Soll ich mich ausziehen?“

Amalgaid grinste schief. „Wenn du möchtest. Wäre sicher ein schöner Anblick.“

Wut stieg in Juri auf. Mühsam drängte er sie zurück.

Amalgaid musste in seinem Gesicht gelesen haben, dass er verärgert war, und verzog reumütig das Gesicht. „Nur ein Scherz. Versteht ihr Sankaner denn überhaupt keinen Spaß? Setz dich zu mir, Junge. Und dann zeig mir das Geld.“

Da Juri sich nicht dazu überwinden konnte, sich neben Amalgaid auf das nasse Bett zu setzen, zog er den Stuhl näher heran und ließ sich vorsichtig darauf nieder, halb in der Erwartung, er könnte unter ihm zusammenbrechen. Die Sache mit dem Fenster hatte sein Vertrauen in die Einrichtung des Grünen Keilers sinken lassen.

Er zog den flachen Beutel unter der Tunika hervor und schüttelte drei Münzen auf die Handfläche. „Drei Mags.“ Bevor Amalgaid auf die Idee kommen konnte, danach zu greifen, ließ Juri sie zurück in den Beutel gleiten und schob ihn in den Ausschnitt seiner Tunika. „Erst die Arbeit.“

Ohne Vorwarnung schlossen sich Amalgaids Finger um sein Kinn. Im letzten Moment widerstand Juri der Versuchung, sich dem Griff zu entziehen. Er wollte schließlich untersucht werden. Also ließ er mit zusammengebissenen Zähnen zu, dass Amalgaid sein Gesicht ins Licht drehte. „Augen weit öffnen.“

Juri gehorchte. Amalgaids Gesicht kam ihm für seinen Geschmack viel zu nah. Die Alkoholfahne nahm ihm den Atem. Mühsam unterdrückte er ein Würgen und starrte angestrengt ausdruckslos in die Augen des Heilers. Seltsamerweise sahen sie nicht mehr trübe aus. Sie waren von einem hellen, klaren Blau. Durchdringend.

„Nach oben sehen.“

Auch Amalgaids Stimme klang verändert. Der beruhigende, gleichzeitig bestimmende Klang war so, wie Juri sich den eines Heilers vorstellte. Eines guten Heilers. Von den Quacksalbern war nie einer auf die Idee gekommen, ihm in die Augen zu blicken. Sein hektischer Atem beruhigte sich. Er blickte auf Amalgaids Anweisungen hin in verschiedene Richtungen und ließ zu, dass der Heiler seinen Hals und Nacken abtastete und ihm schließlich die Fingerspitzen an die Schläfen legte, erst sacht, dann mit mehr Druck. Seine Hände fühlten sich kühl und feucht an.

„Schließ die Augen. Atme tief durch. Langsam. Ein. Und aus.“

Wärme floss in Juris Glieder. Er war unendlich müde. Nach einem Anfall schlief er für gewöhnlich und spürte jetzt, wie sehr ihm die Ruhe fehlte. Einen weiteren tiefen Atemzug lang wehrte er sich gegen den Schlaf.

Warum eigentlich? Was schadete es, wenn er sich dem warmen Fließen hingab, sich hinabsinken ließ in die Welt der Träume.

Leise drang Amalgaids Stimme an sein Ohr. Er verstand die Worte nicht, nahm aber wahr, dass sie ihn tiefer in den Schlaf geleiteten. Er ließ es geschehen.

„Drei. Spann deine Armmuskeln an. Zwei. Öffne die Augen. Eins. Du bist wach und fühlst dich frisch und erholt.“

Juri blinzelte verwirrt in ein fremdes Gesicht. Nein, nicht fremd. Das war der Heiler. Erschrocken wollte er hochfahren, doch Amalgaid umfasste seine Schultern und hielt ihn fest.

„Warte! Nicht so schnell. Wie fühlst du dich?“

„Bin ich eingeschlafen?“ Unsicher forschte Juri in Amalgaids Augen nach Antworten. Wie fühlte er sich? Als hätte er stundenlang geschlafen.

„Wie lange …“

„Nicht lange.“

Amalgaid ließ ihn los und strich sich mit beiden Händen das immer noch nasse Haar hinter die Ohren. „Seit wann hast du die Anfälle?“

Woher wusste er davon? Furcht krallte sich in Juris Magen, bis ihm einfiel, dass Nayla es ihm gesagt haben musste.

„Seitdem ich dreizehn bin. Anfangs waren sie noch selten.“

„Wie oft hast du sie jetzt?“

„Manchmal jeden Zehnttag. Manchmal ein paar Zehnttage nicht.“ Juri rutschte auf dem Stuhl nach vorn. „Wisst Ihr, was mir fehlt? Kann man es heilen?“

Amalgaids Gesicht hatte sich verändert. Juri erkannte nun den Sidhe in ihm. Unter dem aufgedunsenen Fleisch sah er die hohen Wangenknochen, die geschwungene Kinnlinie, die schmale Nase. Erst wagte er nicht, in seine Augen zu sehen, aus Angst, was er in ihnen lesen könnte. Als er doch hineinblickte, schimmerten sie mild, verständnisvoll.

„Ich fürchte, es gibt keine Heilung. Das, woran du leidest, ist keine Krankheit, wie du sie kennst.“

Es dauerte, bis Amalgaids sanft gesprochene Worte ihren Weg in Juris Kopf fanden. Er wiederholte sie in Gedanken ein paar Mal, ohne ihren Sinn entschlüsseln zu können.

„Was soll das heißen?“ Seine Zunge fühlte sich taub an. Es fiel ihm schwer, die Frage zu stellen, die ihm bereits zehn Heiler mit „Ja“ beantwortet hatten. „Werde ich sterben?“

Amalgaid setzte zum Sprechen an, schwieg dann aber. Er rutschte auf dem Bett hin und her und sah sich im Zimmer um, als suchte er nach einer passenden Antwort. Schließlich blickte er an ihm vorbei.

Juri ballte die Hände zu Fäusten. Wenn er ihm jetzt eine Weisheit wie „Wir werden alle sterben, früher oder später“ auftischte, konnte er die Bezahlung vergessen.

Endlich hörte Amalgaid auf, einen Punkt hinter Juris rechter Schulter anzustarren und blickte ihm fest in die Augen. „Du musst nach Elenia gehen.“

„Warum? Ihr seid doch ein Heiler. Ihr seid dort ausgebildet worden. Könnt Ihr mir nicht helfen?“ Zu Juris Ärger klangen seine Worte wie ein verzweifeltes Flehen.

Amalgaid senkte den Blick. „Nein. Geh nach Elenia. Bald. Am besten sofort. Wenn du es nicht tust, wirst du sterben.“

Juri erstarrte. Alles in ihm gefror zu Eis. Er hätte darauf gefasst sein müssen, schließlich hörte er das nicht zum ersten Mal, und doch traf ihn die Voraussage diesmal wie ein Schlag in den Bauch. War es, weil er zum ersten Mal das Gefühl gehabt hatte, dass ein Heiler etwas von seinem Fach verstand? Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Er hatte keine Zeit, sie zu ordnen.

„Was fehlt mir denn? Was ist das für ein merkwürdiges Leiden? Kann mir in Elenia jemand helfen? Wie viel Zeit habe ich noch? Warum …“

Die Tür flog auf. Nayla stürzte ins Zimmer, packte Juris Arm und zerrte ihn vom Stuhl hoch. „Wir müssen verschwinden! Sie sind hier!“

Von unten aus der Schenke drangen barsche Stimmen und das Poltern von Schritten zu ihnen herauf, gefolgt von den unverkennbaren Geräuschen harter Stiefelsohlen auf morschen Treppenstufen.

Juri ließ sich zur Tür ziehen, riss sich dort aber los und drehte sich zu Amalgaid um, der stocksteif auf der Pritsche saß. „Bitte, sagt mir …“

„Geh nach Elenia!“

Der beschwörende Klang von Amalgaids Stimme verfolgte Juri den Flur entlang. Statt zur Treppe zu rennen, zog Nayla ihn in die entgegengesetzte Richtung, in eine Nische hinter der letzten Tür. Sie drückten sich eng an die nach Schimmel stinkende Wand. Nur eine flackernde Öllampe spendete Licht auf dem Flur. Das könnte ihre Rettung sein.

„Seht in allen Zimmern nach!“

Angesichts der herrischen, befehlsgewohnten Stimme zuckte Nayla zusammen. Juri spürte, dass sie zitterte und sich enger an ihn drängte, hielt die Luft an und kniff die Augen zu, als könnte er damit das Unvermeidliche verhindern.

Einen Atemzug später malte helles Licht rote Flecken auf seine geschlossenen Lider. Er riss die Augen auf und war zunächst geblendet, bis die schattenhafte Gestalt vor ihm die Lampe senkte. Mit einem Blick erfasste Juri die schwarze Uniform der Magra, der Elitewachen des Magoden. Er hörte Nayla ein entsetztes Quieken ausstoßen und wusste, dass er etwas tun musste. Wegrennen.

Stattdessen stand er da wie gelähmt und starrte in das weiße Gesicht. Er nahm jede Einzelheit wahr. Die scharf geschnittenen Züge, die markante Nase, die geschwungenen Lippen mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln, die dunklen, kühn gebogenen Brauen über tiefblauen Augen.

Augen, die sich in sein Innerstes zu bohren schienen und selbst das sahen, was er vor sich versteckte.

„Lauft“, sagte der Magra leise.

Nayla behielt die Tür im Blick, während sie die zweite Schale Eintopf in sich hineinschaufelte, als hätte sie einen Zehnttag gehungert. Die Hand, mit der sie den Löffel hielt, zitterte immer noch.

Auch Juri spürte die Anspannung in jedem Muskel. Der Magra hatte sie laufen lassen. Aus welchem Grund sollte ihm gleichgültig sein. Und doch konnte er nicht aufhören, darüber nachzugrübeln.

„Das war Al’Thane“, murmelte Nayla zum wiederholten Mal wie einen Bannspruch und mit vollem Mund. Sie saßen eng aneinandergedrängt auf einer Bank im Tanzenden Krieger. Die Schenke machte ihrem Namen zumindest zum Teil Ehre, denn zwischen den Tischen wirbelten Frauen und Männer in unterschiedlichen Stadien der Trunkenheit umher, mehr oder weniger im Einklang mit dem Lärm, den eine Gruppe von vier Musikern verursachte und den Juri beim besten Willen nicht als Musik bezeichnen konnte. Ein Gespräch war nur möglich, wenn man mit dem Mund fast auf Tuchfühlung mit dem Ohr des Zuhörenden ging.

Nach ihrer kopflosen Flucht aus dem Keiler hatten Nayla und Juri in der gut besuchten Schenke Zuflucht gesucht. Im Schutz der feierfreudigen Gäste wollten sie warten, bis die Magra aus dem Viertel verschwunden waren.

Auf Naylas Drängen hatten sie Eintopf bestellt, doch so sehr Juris Magen knurrte, brachte er kaum einen Bissen hinunter. Er stocherte in seiner Schale und lauschte schweigend Naylas wegen des Lärms nur teilweise verständlichem Wortschwall, in dem es um den gefürchteten Al’Thane ging, den Hauptmann der Magra.

Juri fiel schwer zu glauben, dass ein hohes Tier wie er persönlich loszog, um einen D’Elen-Heiler zu verhaften, und noch schwerer, dass er sie einfach laufen ließ.

„Hast du seinen Blick gesehen?“, rief Nayla ihm ins Ohr. „Ich sage dir, er hat in meine Seele geschaut.“

„Blödsinn“, knurrte Juri und schielte misstrauisch zu seinem Sitznachbarn, aber der klatschte den Takt des Liedes mit und stampfte begeistert mit den Füßen, ohne ihr Gespräch zu beachten. Naylas Atem strich über Juris Hals. „Was hat der Heiler mit dir gemacht?“

„Wieso fragst du? Du hast doch an der Tür gelauscht.“

Sie setzte sich gerade hin, hob das Kinn, verschränkte die Arme und schob die Unterlippe vor.

Trotz aller Sorge musste Juri schmunzeln. „Ich bin froh, dass du es getan hast. Was genau hast du gehört?“

Er musste beinahe brüllen, um sich verständlich zu machen, aber er wusste, dass Nayla gute Ohren hatte. Trotzdem tat sie, als hätte sie ihn nicht gehört. Mit hochgezogenen Brauen beobachtete sie scheinbar interessiert die Tanzenden. Sie war schon mehrmals aufgefordert worden, und jetzt kämpfte sich ein vierschrötiger Kerl mit einem buschigen Bart und lüsternem Blick, den er keinen Augenblick von Nayla wandte, durch die Menge. Hastig beugte sie sich zu Juri. Die Entscheidung, den Mann abzuwimmeln und mit Juri zu reden, war eindeutig zu seinen Gunsten ausgefallen.

„Er hat gezählt. Dann habe ich einige Zeit nichts mehr gehört. Bis er wieder gezählt hat, aber rückwärts, von zehn bis eins. Danach hast du gesprochen. Hat er dich in einen Schlaf versetzt?“

Bevor Juri antworten konnte, legte sich eine Pranke auf Naylas Schulter. „Tanz mit mir, Kleine!“, dröhnte die tiefe Stimme des Bärtigen.

Statt ihn abzuschütteln, griff Nayla in den Bart und zog ihn näher an sich heran, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Der Bärtige riss die Augen auf, wurde bleich unter der sonnenverbrannten Haut und riss sich hastig los.

Juri sah zu, wie er sich einen Weg zur Theke bahnte, ohne sich umzudrehen. „Was hast du ihm gesagt?“

Sie verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. „Dass mein Bruder, der Wirt, ein Gelübde abgelegt hat. Der Erste, der mit mir tanzt, muss eine Lokalrunde geben, damit er sicher sein kann, dass meine Verehrer es ernst meinen.“

„Und das hat er dir geglaubt?“

Unwahrscheinlich war das nicht. Juri hatte schnell gelernt, dass die Bürger der Goldenen Stadt es liebten, Gelübde abzulegen. Mit einem Rucken ihres Kopfes zeigte Nayla Richtung Theke. Der Bärtige redete auf den Wirt ein und zeigte auf Nayla. Nach einem gelangweilten Blick nickte der Wirt, ohne das Zapfen der nächsten Humpen zu unterbrechen.

„Er mag mich“, erklärte Nayla, ohne mit der Wimper zu zucken.

Juri wandte sich ab, damit der Bärtige nicht sah, dass er lachte. Doch schon nach den ersten Glucksern verstummte er. Wie konnte er lachen, nachdem er eben erst sein Todesurteil vernommen hatte? Wieder einmal. Nur mit dem Unterschied, dass es zur Abwechslung aus kundigem Munde gekommen war. Amalgaid mochte ein Säufer sein. Er war aber auch ein D’Elen-Heiler. Und er hatte die Wahrheit gesagt. Juri hatte es in seinem Blick gesehen.

„Du brauchst einen Führer.“ Naylas Stimme, dicht an seinem Ohr, riss ihn aus seinen Gedanken. „Er hat gesagt, dass du nach Elenia gehen sollst.“

Wieder lachte Juri, bitter diesmal. Schließlich war er auch ohne den Rat eines Heilers auf die Idee gekommen, nach Elenia zu reisen und dort um Hilfe zu bitten. Aber man ging nicht einfach nach Elenia.

Wie alle Sidhestädte lag sie für Uneingeweihte verborgen. Menschen und selbst die meisten Sidhe konnten sie nur mit einem Führer erreichen, der die Gunst der Bewohner genoss. Da diese schwer zu erlangen war, konnte man die wahren Führer an zwei Händen abzählen. Zehnmal so viele boten ihre Dienste an, ohne je auch nur in die Nähe einer Sidhestadt gekommen zu sein, was sie aber nicht daran hinderte, Reisende auszunehmen und unterwegs sitzen zu lassen oder gar auszurauben. Die vertrauenswürdigen Führer ließen sich noch teurer bezahlen.

„Der letzte, den ich gefragt habe, wollte fünfzig Mags. Und das war einer, der kein Zertifikat vorweisen konnte. Also war er vermutlich kein echter Führer, sondern ein Betrüger.“

Nayla griff nach seiner Hand und drückte sie. „Ich helfe dir. Einen guten Führer zu finden und das Geld aufzutreiben.“

Juri warf ihr einen Seitenblick zu, flüchtig nur, damit sie nicht sehen konnte, dass ihm ungewollte Tränen in die Augen stiegen. Ihr blondes Haar, das sie zu unzähligen Zöpfen geflochten trug, in die bunte Wollfäden geschlungen waren, umgab ihr schmales Gesicht wie ein Büschel Kornähren. Den breiten Mund hatte sie zu einem aufmunternden Lächeln verzogen.

Juri richtete den Blick wieder auf die Tanzenden, entzog Nayla die Hand aber nicht. Das Gefühl ihrer schlanken, kräftigen Finger auf seinen beruhigte ihn.

„Warum tust du das?“, murmelte er, zu leise, als dass sie es hätte hören können.

Ihre Nasenspitze berührte seine Ohrmuschel. „Weil du mein Freund bist. Weil ich verdammt noch mal nicht will, dass du stirbst.“

Sie zupfte an seinem Haar, bis er sie ansah. Ihr Grinsen enthüllte spitze Eckzähne. Mit den Lippen formte sie Worte, die in dem lauten Gesang untergingen. Juri verstand sie dennoch, denn auch er konnte ein wenig Lippenlesen: So einfach ist das.

Schweigend schritten sie durch die Gassen des Schenkenviertels. Draußen war es kaum leiser als im Tanzenden Krieger. Gruppen von Menschen und Sidhe torkelten an ihnen vorbei, die meisten sangen Trinklieder. Leichte Opfer.

Juri huschte um diese Nachtzeit oft wie ein Schatten an ihnen vorbei und erleichterte sie um ihre Geldbeutel. Erst in der nächsten Schenke bemerkten sie, dass sie bestohlen worden waren. Juri zählte dann längst seine Beute. Leider war die erfahrungsgemäß nicht sehr reichhaltig. Wenn die Schenkengänger betrunken genug waren, um sich gut bestehlen zu lassen, hatten sie das meiste ihres Geldes bereits in Alkohol umgesetzt. Die Diebestouren auf den Märkten und am Hafen fielen einträglicher aus, bargen aber auch größere Gefahren, entdeckt zu werden. Kurz bevor sie die Treppe zu ihrem Unterschlupf erreichten, biss Rauch in Juris Nase.

„Riechst du das?“ Er blieb stehen und hielt Nayla am Ärmel fest.

Sie sog hörbar Luft ein und schüttelte den Kopf. „Was denn?“

Juri hob witternd das Kinn. Verbrannte Seide und Wolle. Er erstarrte. Hitze flutete durch seinen Körper. Er ahnte, was der Geruch zu bedeuten hatte. Ihr Versteck brannte.

„Lass uns weitergehen, ich bin todmüde. Morgen Mittag habe ich einen Auftritt, da muss ich ... he, was ist?“ Naylas Geplapper hallte in Juris Ohren, ohne ihn zu erreichen.

Er täuschte sich bestimmt. Er musste sich täuschen. Wer hätte ein Interesse daran, ihre Unterkunft zu verbrennen? Hatten die Wachen sie entdeckt? Es musste so sein. Sie waren ihm doch auf den Fersen geblieben. Oder in dem Geldbeutel war ein weiteres Bluthundband versteckt gewesen, und nun hatten sie ihr Versteck verbrannt und warteten darauf, dass sie herbeieilten, um zu retten, was noch zu retten war.

Er hätte den ganzen Beutel wegwerfen sollen. Aber er hatte nichts bemerkt. Sonst hatte er es immer gewusst. Lag es an den Anfällen? Konnte er sich nicht länger auf seine Sinne verlassen?

Wie angewurzelt blieb er stehen und ließ sich von Betrunkenen anrempeln. Benommen stolperte er, von Nayla gezogen, in den Schutz einer Häuserwand.

Verschwommen tauchte ihr Gesicht vor ihm auf. „Juri! Was hast du? Ist das wieder einer der Anfälle?“

Juri wünschte, es wäre so. Er musste mehrmals schlucken, bevor er sprechen konnte. „Ich glaube, ich habe Mist gebaut“, krächzte er.

Nayla kicherte. „Wäre nicht das erste Mal. Lass uns nach Hause gehen, du kannst es mir auf dem Weg erzählen. So schlimm wird es schon nicht sein.“

Nach Hause. Und wenn er sich irrte?

Juri klammerte sich an den Gedanken wie an ein rettendes Seil, an dem er sich weiterzog, neben Nayla her, durch einen wirren Traum aus ineinanderfließenden Gestalten, Tönen und Farben. Er musste sich irren. Es durfte nicht sein, dass er für seine Fahrlässigkeit derart teuer bezahlen musste. Dass Nayla dafür zahlen musste.

Doch der Gestank wurde stärker, je mehr sie sich der engen Gasse näherten. Als Juri den Rauch in die Nacht steigen sah, über dem Haus, auf dem sich der Pavillon befand, befunden hatte, verließ ihn der Rest trügerischer Hoffnung.

„Nayla“, sagte er matt und blieb stehen. Seine Beine trugen ihn nicht länger. Mit letzter Kraft stützte er sich an der Wand ab. „Wir können da nicht hin. Sie haben unser Versteck entdeckt.“

Nayla fuhr zu ihm herum. Sie stand genau unter einer Straßenlaterne. Der flackernde Schein des brennenden Öls tauchte ihr Gesicht abwechselnd in Schatten und Helligkeit. „Das kann nicht sein.“

An ihrer Stimme hörte Juri, dass sie es bereits begriffen hatte. Der Rauch biss in seiner Kehle. „Es ist meine Schuld. Der Geldbeutel …“

Nayla hob die Hände und drückte die Fingerspitzen gegen ihre Schläfen. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein. Nein, sag, dass du das nicht getan hast. Sag, dass du den Geldbeutel nicht mitgenommen hast. Sag, dass du …“ Ihre Stimme wurde immer schriller, bis sie verstummte und Nayla trocken aufschluchzte.

Juri stieß sich von der Wand ab und taumelte zu ihr. „Ich habe eine Bluthundschnur darin gefunden und dachte, das wäre alles. Ich konnte doch nicht wissen ... Vielleicht ist es auch nicht der Grund. Du weißt, dass ich es merke, wenn eine Spur auf einem Beutel liegt. Vielleicht haben irgendwelche Leute unser Versteck entdeckt und es aus Spaß in Brand gesetzt. Oder der Hauseigner hatte genug davon, dass wir sein Dach besetzen.“ Er hob die Hand, um ihren Arm zu berühren, hielt aber mitten in der Bewegung inne.

Nayla wandte sich von ihm ab und zog die Schultern hoch. „Aus Spaß? Hauseigner? Wie konntest du“, sagte sie gepresst. „Wie konntest du so dumm sein. Du hast dich einfach auf deine Nase verlassen, obwohl ich dich immer gewarnt habe. Keiner außer den Bluthunden kann eine Spur wittern. Auch du nicht! Warum bist du nicht sichergegangen und hast den Beutel weggeworfen?“

Juri fiel keine Antwort ein. Er war sich immer so sicher gewesen, doch jetzt traute er sich selbst nicht mehr über den Weg. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn er seinen Fehler auf die Krankheit hätte schieben können. Einfach und feige. Die Schuld lag bei ihm, aus welchem Grund auch immer er die wichtigste Diebesregel außer Acht gelassen hatte: Nimm niemals den Geldbeutel mit heim.

Es kam nicht oft vor, aber es bestand immer die Möglichkeit, dass ein Geldbeutel mit einer Spur belegt war. Ein Bluthund konnte sie aufnehmen und sich von ihr geradewegs zum Dieb führen lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Beutel diese Gefahr barg, stieg mit dem Wert des Inhalts. Wer viel Geld hatte, konnte sich auch eine Spur leisten.

Juri hätte es wissen müssen. Er hätte den Geldbeutel sofort loswerden müssen. Stattdessen hatte er sich nach dem Fund des Bandes in Sicherheit gewiegt und sich wie immer auf seinen Instinkt verlassen, eingebildet und allzu überzeugt von sich.

Er hatte die verdammte Spur in ihre Zuflucht geschleppt. Ihre Zuflucht, die nun in Schutt und Asche lag. Der Ort, der von allen, an denen Juri in Sanka gelebt hatte, einem Zuhause am nächsten kam. Schlimmer noch, er hatte Naylas Vertrauen missbraucht. Sie war es gewesen, die ihn unter der Brücke aufgelesen und mitgenommen, die mit ihm ihr Geheimnis geteilt hatte. Nun dankte er es ihr mit Zerstörung.

„Es tut mir leid“, flüsterte er, obgleich er wusste, dass keine Entschuldigung der Welt je wieder gutmachen konnte, was er ihr angetan hatte.

Nayla murmelte etwas.

Froh darüber, dass sie noch mit ihm redete, beugte Juri sich mit angehaltenem Atem vor. Nayla richtete sich auf, drehte sich zu ihm um und stieß ihn mit beiden Händen heftig von sich. Er taumelte zurück, stolperte und landete auf dem Hinterteil. Der Schmerz, der sein Rückgrat hinauf raste, war nichts im Vergleich zu dem, der in seinem Herzen wühlte.

Mit brennenden Augen blickte er zu Nayla auf. Ihre schlanke Gestalt wurde vom Licht der Laterne angestrahlt, sodass es aussah, als stünde ihr Haar in Flammen.

„Geh weg“, stieß sie hervor. „Hau ab und lass mich in Ruhe!“

Die Tür des Rülpsenden Ziegenbocks flog auf und spuckte eine Gruppe lachender Männer auf die Straße. Einer von ihnen ging wild gestikulierend rückwärts, stolperte über Juri und stürzte, wobei er ihn umriss. Juri schlug mit dem Kopf auf. Dumpfer Schmerz jagte durch seine Schläfen.

„Geschieht dir recht“, hörte er Naylas Stimme durch das Rauschen in seinen Ohren. „Lauf mir bloß nicht nach!“

„He, was liegt denn da?“ Raues Gelächter, grobe Hände, die nach seinen Armen griffen und ihn hochzogen. Er versuchte, sich loszureißen, doch sie hielten ihn erbarmungslos fest.

„Langsam, Kleiner. Streit mit deiner Freundin? Falls du hinter ihr herwillst, vergiss es. Die ist längst fort.“

Juri musste mehrmals blinzeln, bis er mehr als verschwommene Schemen erkannte. Vier riesige Kerle, die sich wie Brüder ähnelten, umringten ihn. Das rötlich schimmernde Haar trugen sie im Nacken zusammengebunden, und trotz des trüben Laternenlichts sah Juri, dass ihre Haut in einem hellen Bronzeton schimmerte.

D’Enai. Die Steppensidhe kehrten oft in die Ziege ein, weil dort angeblich das beste Steppenbräu Sankas ausgeschenkt wurde. Trotz ihres Rufs als wilde Krieger wirkten sie nicht bedrohlich. Sie musterten Juri eher gutmütig.

„Geht’s wieder? Entschuldige, ich wollte nicht über dich stolpern“, brummte derjenige, der ihn immer noch festhielt.

Energisch machte Juri sich los. „Meine Schuld“, sagte er. Wie wahr. Alles war seine Schuld. Er sah sich nach Nayla um, konnte sie aber nirgends entdecken. Die Männer hatten recht, sie war sicher längst fort.

„Unsinn. Brent hat mal wieder vergessen, dass er hinten im Kopf keine Augen hat.“

Einer der D’Enai schlug Juri auf die Schulter und brachte ihn damit beinahe erneut zu Fall. „Komm mit, wir geben dir auf den Schreck ein Bier aus.“

Die Einladung erschien allzu verlockend, doch zunächst musste er sich vergewissern, dass Nayla keine Dummheiten anstellte. Er suchte noch nach einer Ausrede, als der D’Enai namens Brent seinen Nebenmann anstieß. „Lass ihn, der will der Kleinen hinterher.“

„Bleib lieber beim Bier, Junge, das wird dich nie enttäuschen.“

„Daran erinnere ich dich morgen, wenn du kotzend über dem Abort hängst.“

Sich gegenseitig anrempelnd gingen die Männer zurück in die Ziege. Offensichtlich hatten sie vergessen, dass sie die Schenke eben erst verlassen hatten, genauso, wie sie auch Juri bereits vergessen hatten, der die Gelegenheit nutzte und sich im Schatten der Häuser davonstahl.

Den Rauch in der Nase huschte er lautlos durch enge Durchgänge zwischen Mauern, kletterte über Bretterzäune und balancierte über Dachfirste. Er näherte sich dem Dach, auf dem der Pavillon gestanden hatte, auf einem anderen Weg, der zwar länger, aber schlechter einsehbar war, in der Hoffnung, unentdeckt zu bleiben, falls sich noch jemand dort aufhielt.

Schon bald war er froh über den Umweg, denn als er zwischen den Schornsteinen hindurch schlich, vernahm er gedämpfte Stimmen. Mit rasendem Herzen drückte er sich gegen die bemoosten Steine eines Kaminschlots. Zunächst verstand er nur Bruchstücke der Unterhaltung, doch dann drehte sich der Wind, und er hörte sie deutlicher.

„… lange genug gewartet.“

„Wenn du die Hütte nicht abgefackelt hättest, wäre sie längst hier aufgetaucht. Sie hat den Rauch bemerkt und sich verpisst.“

„Ist mir gleich, dann versuchen wir es eben wieder im Badehaus. Jedenfalls haben wir sie eingeschüchtert, wie er es verlangt hat. Vielleicht ist sie jetzt gesprächiger.“

Juri erstarrte. Was wollten die Kerle von Nayla, warum musste sie eingeschüchtert werden? Er biss die Zähne zusammen und beugte sich langsam nach vorn, um einen Blick auf die Täter zu erhaschen.

Vor den qualmenden Überresten des Pavillons machte er zwei schattenhafte Gestalten aus, die sich über eine tragbare Glimlampe beugten.

„Zeig mal her.“

„Nicht viel, aber immerhin. Machen wir halbe-halbe“, knurrte einer der Männer. „Ihm erzählen wir aber nichts davon. Ihm ist sowieso alles gleichgültig, der will nur die Auskunft.“

„Hauptsache, die Kleine redet endlich. Stures Ding.“

„Aber hübsch.“

Die Männer lachten leise. Juri hörte das Klimpern von Münzen. Wut stieg in ihm auf. Nicht genug damit, dass sie den Pavillon niedergebrannt hatten, jetzt stahlen sie auch noch die restlichen Münzen seines heutigen Raubzugs.

Ob er Nayla über einen Kunden ausfragen wollte, um ihn erpressen zu können? Nayla hatte ihm erzählt, dass so etwas durchaus vorkam. Einige ihrer Kolleginnen verdienten sich auf diese Art ein einträgliches Zubrot. Viele Badehausgäste wollten um jeden Preis vermeiden, dass gewisse Lustbarkeiten, denen sie in Privatbaderäumen nachgingen, an die Öffentlichkeit gerieten. Oder an das Ohr einer eifersüchtigen Ehefrau.

In seine Überlegungen vertieft bekam Juri zu spät mit, dass die Männer die Verteilung der Beute beendet hatten und über das Dach marschierten, genau an seinem Versteck vorbei. Mit angehaltenem Atem presste er den Rücken gegen den Schornstein und kniff wie im Keiler, als er sich mit Nayla in der Nische verborgen hatte, die Augen zu. Anders als im Keiler blendete ihn dieses Mal kein Glimlicht.

Die Schritte wurden erst lauter, um dann zu verhallen. Die Brandstifter hatten ihn im Schatten nicht bemerkt.

Keuchend rutschte Juri an dem Schlot hinab auf das Dach und legte die Stirn auf die angezogenen Knie. Es dauerte, bis das Zittern nachließ.

Als er es schließlich wagte, zum Pavillon zu gehen, fühlten seine Knie sich immer noch weich an. Von Naylas Heim, das für kurze Zeit auch ihm ein Zuhause geboten hatte, war bis auf die verkohlten Holzbohlen, die das Dach aus Zeltstoff gestützt hatten, nichts übriggeblieben. Die bunten Kissen, die Seidentücher, die gewebten Decken - nur noch ein Haufen glimmender Asche.

Juri stand mit hängenden Armen da. Er war zu müde, um mehr zu empfinden als ein dumpfes Gefühl der Erleichterung darüber, dass es nicht seine Schuld und auf seine Sinne weiterhin Verlass war.

Tropfen um Tropfen traf Juris Stirn, zerplatzte und strich mit feuchten Fingern hinab zu seinem Haaransatz, um kribbelnd über die Kopfhaut zu rinnen. Wohin er den Kopf auch drehte, die Tropfen verfolgten ihn, bis er schließlich den Versuch aufgab, in den Schlaf zu flüchten.

Stöhnend setzte er sich auf. Es gab keine Stelle an seinem Körper, die nicht schmerzte. Die Erinnerung an die vergangene Nacht tauchte auf wie ein nach einer Mücke schnappender Fisch in einem trüben Teich und verschwand, bevor Juri sie greifen konnte.

Mit geschlossenen Augen lehnte er sich an den modrigen Brückenpfeiler. Dessen Gestank überdeckte einen anderen, der sich immer wieder in seine Nase stahl.

Rauch. Verbrannte Seide. Verkohlte Kräuter.

Scharf sog er die Luft ein, um den Brandgeruch mit dem brackigen Gestank des Kanals zu vertreiben. Er hätte gerne noch ein wenig geschlafen, die Nacht war zu kurz gewesen, als dass er sich hätte erholen können.

Der nächste Tropfen traf sein geschlossenes Augenlid, und er stieß ein wütendes Knurren aus. Dies war einer der Tage, an denen die ganze Welt sich gegen ihn verschworen hatte. Wenn er es recht bedachte, hatte die Pechsträhne bereits am Vorabend begonnen. Er hätte im Pavillon bleiben und schlafen sollen, statt den D’Elen-Heiler aufzusuchen.

Und wozu? Um zu verbrennen?

Nachdem der Bann gebrochen war, überflutete ihn Bild um Bild der vergangenen Geschehnisse. Er ließ sie rasch vorübertreiben, besonders den Besuch bei dem Heiler. Dennoch schlichen dessen Worte sich wieder und wieder in sein Bewusstsein.

„Geh nach Elenia. Am besten sofort. Wenn du es nicht tust, wirst du sterben.“

Juri wischte sich mit den Handflächen über das feuchte Gesicht. Die Brücke hatte ihm Schutz vor dem nächtlichen Regenguss geboten, doch jetzt rann das Wasser aus allen Ritzen und Löchern. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den unzulänglichen Zufluchtsort zu verlassen, zumal er wusste, dass die Stadtwachen ihn bald vertreiben würden. Nachts duldeten sie die Obdachlosen unter den Brücken, tagsüber sollte ihr Anblick den braven Bürgern und staunenden Gästen erspart bleiben.

Die Sonne ging soeben auf und ließ die Dächer der umliegenden Häuser in einem satten Goldton erstrahlen. Sanka, die Goldene Stadt, das Ziel vieler Reisen, Herz der Hoffnung, ein strahlender Traum, der für einige wenige rasch in ein schmerzhaftes Erwachen umschlug.

Für die meisten aber bot Sanka alles, was sie sich wünschten und mehr: Hunderte von Tempeln, bunte Märkte, Bibliotheken mit Schriften aus allen bekannten Ländern, Akademien mit den fähigsten Gelehrten und eifrigsten Schülern, Gärten, in denen die seltensten Pflanzen gediehen, Künstler- und Musikerviertel, Vergnügungsviertel, in denen ein jeder zu seinem Recht kam, mochte sein Begehr auch noch so ausgefallen sein. Nicht zuletzt war da noch die große Arena, in der alle zwei Jahre während der sankanischen Spiele Kämpfer aus aller Welt ihr Können bewiesen.

Über allem thronte die Zitadelle, der Palast des Magoden, des Herrschers, über der Stadt, und überblickte die in der Sonne glitzernden Bauten, zwischen denen Wasserfälle in gezähmten Kaskaden ins Meer rauschten, ebenso von schimmernden Regenbögen überspannt wie von filigranen Brücken, die der Schwerkraft zu spotten schienen.

Unter einer von ihnen rappelte Juri sich ächzend auf und blickte in den noch fahlen Morgenhimmel, vor dem Kuppeln aus farbigem Glas die ersten Sonnenstrahlen auffingen. Trotz allem Unbill wurde ihm das Herz weit, schien seinen Brustkorb sprengen zu wollen und schlug kräftig und gleichmäßig, erinnerte ihn daran, dass er jung war, lebendig, und das auch bleiben wollte.

Mit neuem Schwung zog er sich an den Streben der Brücke nach oben, schwang sich über die Brüstung und breitete die Arme aus, als könnte er die Stadt umarmen. Sanka hatte ihn nicht mit offenen Armen empfangen, ihn Dreck und Armut schmecken lassen und nicht nur einmal kräftig in den Hintern getreten, und doch konnte Juri sich keinen schöneren Platz zum Leben vorstellen. Selbst nach fünf Wintern entdeckte er ständig neue Wunder und erlebte Augenblicke wie diesen, in denen er, hungrig und fröstelnd zwar, einfach nur dankbar war, dass er einen weiteren Tag in ihren Straßen verbringen durfte.

Der Verlust des Pavillons, der ihm in der Nacht wie ein herber Rückschlag erschienen war, konnte ihm nun nur noch ein bedauerndes Kopfschütteln abringen. Er hatte es nie lange an einem Platz in der Stadt ausgehalten. Entweder war er vertrieben worden oder hatte einen besseren Ort gefunden, an dem er eine Weile übernachten konnte. Nayla war da wie er. Sie hatte sicher einen neuen Unterschlupf gefunden. Vermutlich einen besseren, als eine Brücke. Juri blinzelte in die Sonne, und zum ersten Mal streifte ihn der Verdacht, dass es möglicherweise sogar besser war, dass er sich nicht länger in der Bequemlichkeit der vermeintlich sicheren Zuflucht von Naylas Pavillon und ihrer Fürsorge verstecken konnte. Wohin das führte, hatte er gesehen. Er war unvorsichtig und träge geworden, hatte das Vertrauen in seine Fähigkeiten und Instinkte verloren.

Sanka hatte ihn wieder einmal kopfüber in den Schmutz ihrer Gassen gestoßen und ihn damit aus einer Gleichgültigkeit gerissen, die ihm zum Verhängnis geworden wäre. Stillstand bedeutete Tod. Das hatten die Worte des Heilers ihm nur zu deutlich gezeigt. Er brauchte einen Plan, und zwar einen besseren als den Willen, einen weiteren Tag mehr schlecht als recht über die Runden zu kommen.

Während er ziellos durch die erwachenden Straßen schlenderte, wurde ihm klar, dass es nur einen Weg gab. Er musste endlich einen vertrauenswürdigen Führer finden und ihn dazu bringen, ihn nach Elenia zu geleiten. Besser heute als morgen.

Auch die anderen Heiler, die ihn untersucht hatten, hatten ihm seinen Tod vorhergesagt, doch in ihren Augen hatte Juri nichts als Ratlosigkeit gesehen. In Amalgaids Blick dagegen hatte er Wissen gefunden, die Kenntnis darüber, was die Anfälle hervorrief. Der D’Elen-Heiler hatte seine Weisheit zwar nicht mit ihm geteilt, doch sein Ratschlag hatte glaubwürdiger geklungen als alle fadenscheinigen Ausflüchte der anderen Heiler zusammen.