Die Rache des Sidhe - Leann Porter - E-Book

Die Rache des Sidhe E-Book

Leann Porter

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Beschreibung

Silvo, ein junger Sidhe, lebt als Sklave in einem Bordell. Seine gesamte Familie wurde von Menschen getötet. Allein der brennende Wunsch, Rache an den Mördern zu üben, hält ihn am Leben. Doch als der vermeintliche Mörder plötzlich vor ihm steht, ändert sich alles. Joran gehört zu den "Weißen Reitern", Elitekämpfern, die für ihren Hass auf Sidhe bekannt sind. Aber Joran scheint anders zu sein. Ist er wirklich der Mann, den Silvo gesucht hat? Und warum schafft Silvo es nicht, ihn zu töten?

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Leann Porter

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2014

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com/

Motive:

© Stepán Kápl – fotolia.com

© Bernd S. – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-944737-34-8

ISBN 978-3-944737-35-5

Prolog

Er blieb vor dem verwitterten Wohnwagen am Rande des Lagers stehen und betrachtete das über die Tür gemalte Auge. Wie vor jedem Besuch war er angespannt. Was mochte er diesmal erfahren? Oder würden nur verschwommene Fetzen einer verlorenen Erinnerung aus dem Dunkel des Vergessens auftauchen, zu flüchtig, um sie zu begreifen?

So sehr er die Stunden bei der Seherin Farina herbeisehnte, so sehr fürchtete er sich auch davor. Das starre Auge schien ihn zu verhöhnen, sich über sein Zögern lustig zu machen.

„Es wird nicht besser, wenn ich hier Wurzeln schlage“, wies er sich streng zurecht. Was immer er sehen würde, es waren nur Bilder in seinem Geist. Sie konnten ihm nichts anhaben.

Seine Hand glitt in die Tasche und legte sich um einen Glasflakon, von schützendem Leinen umhüllt.

Er atmete tief durch, stieg die drei wackligen Stufen zur Tür hinauf, klopfte energisch und trat ein, ohne auf eine Antwort zu warten.

Nach der Mittagssonne draußen war er in dem dunklen Wagen einen Moment lang völlig blind. Er blieb stehen und wartete, bis seine Augen sich an das von roten Samtvorhängen gedämpfte Licht gewöhnt hatten. Der Duft von Räucherstäbchen und Kräutertee stieg in seine Nase. Einen Niesreiz unterdrückend tastete er sich weiter vor. Die Sonne hatte den Wagen aufgeheizt. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Im Zwielicht machte er die vertraute Gestalt der Seherin aus, die wie üblich in ihrem Sessel kauerte, der Tür zugewandt. Ihr ausgemergelter Körper war trotz der Hitze in ein Wolltuch gehüllt. Graue Haarsträhnen ringelten sich über gebeugte Schultern.

„Du kommst spät“, sagte sie mit volltönender, kräftiger Stimme, die ihr hohes Alter Lügen strafte.

„Aber nicht mit leeren Händen.“

Er zog das Bündel aus der Tasche und wickelte den Flakon aus. Farinas tief in den Höhlen liegende Augen leuchteten auf.

„Du bringst mir einen neuen Duft.“

Er legte den Flakon in ihre ausgestreckte Hand und sah zu, wie sie den gläsernen Stöpsel aus dem Flaschenhals zog, sich das Fläschchen unter die Nase hielt und mit geschlossenen Augen einatmete.

„Ein Frühlingstag, ein schönes junges Mädchen, das auf seinen Liebsten wartet.“

Ihre Stimme klang, als sei sie selbst dieses Mädchen.

Silvo setzte sich auf den niedrigen Hocker zu ihren Füßen und wartete geduldig, bis sie den Flakon verschloss und auf ein Regal an der Wand neben ihrem Sessel stellte. Dort reihten sich bereits ähnliche Fläschchen, einige schlicht, andere kunstvoll verziert. Farinas Fingerspitzen glitten mit einer zärtlichen Geste über ihre Schätze und verharrten kurz auf Silvos Gabe, bevor die alte Frau sich zu ihm umwandte. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, war streng, ihr Ton hingegen sanft.

„Du suchst einen Blick in die Vergangenheit. Es ist gut, sich erinnern zu wollen. Erhoffe dir nichts. Sei bereit für Schmerz und Trauer. Bist du stark genug, dich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen, Silvo?“

Er nickte stumm. Diesen Satz kannte er bereits auswendig. Er hob Farina sein Gesicht entgegen, senkte die Lider und spürte, wie ihre Finger federleicht über seine Stirn strichen, sich auf seine Schläfen legten. Sobald Farina ihn berührte, verlangsamte sich sein Puls. Mit jedem tiefen Atemzug schwand mehr von der nervösen Anspannung, die ihn den ganzen Tag gequält hatte. Zuerst wurden seine Arme und Beine warm und schwer, dann sein ganzer Körper.

Es ging jedes Mal schneller. Er verglich den Zustand, in den Farina ihn versetzte, mit dem Einschlafen. Dem kurzen Moment zwischen Schlafen und Wachen, der oft mit einem Gefühl des Fallens verbunden war. Auch jetzt fiel er und ihm wurde übel. Er atmete ruhig weiter und wehrte sich nicht. Es war leichter, wenn er nicht dagegen ankämpfte. Bei seinen ersten Besuchen hatte er sich unwillkürlich gegen die Berührung von Farinas Geist gesperrt und war mit heftigen Kopfschmerzen dafür bestraft worden. Mittlerweile wusste er, dass er seine Gedanken vertrauensvoll fließen lassen musste, statt zu versuchen, sie vor der Seherin zu verbergen.

Zwei Herzschläge später befand er sich in dem Haus seiner Kindheit. Eine karge Hütte nur. Ersterbende Flammen in dem kleinen Kamin. Das Lächeln seiner Mutter.

Er wollte an dieser Stelle verweilen, doch das war nicht möglich. Die Gewissheit dessen, was kommen musste, ließ ihn erbeben.

Konnte er es diesmal sehen? Erkannte er endlich, wer seine Familie umgebracht hatte?

Die schmerzlich vertrauten Schreie ließen ihn zusammenzucken, und er kämpfte gegen den Drang, zu fliehen. Er musste bleiben. Er musste es wissen. Er kannte die verzweifelten Schreie, voller Schmerz und Angst, hörte sie jede Nacht in seinen Träumen. Sie verfolgten ihn, wohin er auch ging. Sie würden erst verstummen, wenn der Tod seiner Familie gerächt war. Darum musste er bleiben, obwohl alles in ihm sich heftig sträubte. Wie einfach wäre es, sich Farinas Berührung zu entziehen und in gnädiges Vergessen zu sinken. Wie oft hatte er diesen Weg schon gewählt und sich danach für seine Feigheit verachtet. Diesmal würde er nicht feige sein.

Er sah aufblitzenden Stahl, hörte raues Lachen. Beinahe glaubte, fürchtete, hoffte er, am Ziel zu sein. Doch die ebenso vertraute wie verhasste Schwärze legte sich auch diesmal wie ein schwerer Vorhang über die Szene.

Undurchdringlich verbarg sie die Erinnerung seinem Blick. Warum konnte er es nicht sehen?

Ein enttäuschtes Heulen stieg in seiner Kehle empor. Er war kurz davor, sich Farinas Berührung zu entziehen, als die Dunkelheit wich, nur einen kurzen Moment, kaum mehr als ein Aufblitzen. Es genügte, um den Anblick für immer in sein Bewusstsein einzubrennen.

Mit einem würgenden Keuchen kehrte er abrupt in die Gegenwart zurück und schaute zu Farina auf, die ihn besorgt musterte.

Er hatte es gesehen.

Kapitel 1

Joran verdankte es seinen guten Reflexen und einer gehörigen Portion Glück, dass er noch lebte. Wenn er sich nicht instinktiv aus dem Sattel auf den zum Glück weichen Waldboden geworfen hätte, läge er mit durchgeschnittener Kehle im Schlamm.

Stattdessen wehrte er nun die in ihrer Wildheit geradezu selbstmörderischen Attacken seines Angreifers ab. Dieses verdammte Spitzohr griff ihn tatsächlich mit einem Messer an! Der Elf kämpfte gar nicht schlecht. Trotzdem war er im Nachteil.

Zum einen, weil Joran mit seinem Schwert eine wesentlich größere Reichweite hatte, zum anderen, weil es den Jungen nicht zu kümmern schien, ob er verletzt wurde. Seine offenkundige Wut trieb ihn zu unüberlegten Aktionen. Trotz des wilden Kampfes gelang es Joran zunächst, diese Schwächen blitzschnell zu erfassen und zu seinen Gunsten auszunutzen. Die unzähligen Übungsstunden bei dem strengen Meister Roderick machten sich endlich bezahlt.

Mit hassverzerrtem Gesicht ging der Elf immer wieder auf ihn los. Anfangs versuchte Joran nur, den Elf auf Abstand zu halten, verblüfft über sein plötzliches Auftauchen. Der kleine Mistkerl schien vom Himmel gefallen zu sein. Wie sonst hätte er ohne Vorwarnung hinter ihm auf seinem Pferd Wolf landen können?

Geschickt tauchte der Elf unter einem Schwerthieb hindurch und stieß mit dem Messer nach Joran, der im letzten Moment zurückspringen konnte. Der Junge war verflucht schnell. Und dies war eindeutig keine Trainingsstunde. Es stand mehr auf dem Spiel, als ein schroffer Tadel vom Schwertmeister. Wie viel mehr das war, wurde Joran nur zu bewusst, als der Elf einen erneuten Vorstoß wagte. Die kurze, aber scharfe Klinge schlitzte Jorans Ärmel auf. Um Haaresbreite verfehlte sie seinen Unterarm. Das war knapp! Keuchend wich Joran zurück. Das Herz hämmerte ihm schmerzhaft gegen die Rippen. Ihm blieb keine Zeit, sich zu fangen. Noch bevor er sein Gleichgewicht zurückgewonnen hatte, fuhr die Messerklinge blitzend durch die Luft wie ein tödlicher Stachel. Sie verfehlte ihn zwar, aber der eisige Hauch an seinem Hals ließ ihn spüren, dass es ihn ein weiteres Mal fast erwischt hätte. Keine Zeit zum Nachdenken. Sein Körper übernahm die Kontrolle. Er warf sich zur Seite und rollte über die Schulter ab, um sofort wieder auf die Füße zu springen. Mit diesem oft geübten Manöver gelang es ihm, mehr Abstand zwischen sich und seinen Angreifer zu bringen. Doch der Elf gönnte ihnen keine Atempause. Auch er rollte sich geschickt ab und entging so Jorans nächstem Schwertstreich. Seinen Schwung ausnutzend stach er nach Jorans Beinen, wobei er behände einem Tritt auswich.

Mit einer Art Salto federte er auf die Füße. Die artistische Einlage versetzte Joran in Wut. Spielte dieser Kerl mit ihm? Das Blut rauschte in seinen Ohren. Salziger Schweiß brannte in seinen Augen. Er musste dieser Farce ein Ende bereiten! Mit grimmiger Kraft schwang er sein Schwert. Diesmal konnte der Elf sich nur mit einem hastigen Sprung außer Reichweite bringen. Er geriet ins Taumeln und rutschte aus. Joran nutzte die Gelegenheit. Er schlug ihm mit der Breitseite des Schwertes hart gegen die Schulter.    

„Hör auf mit dem Scheiß“, stieß er hervor. Der Arm des Jungen sank schlaff herab, das Messer glitt aus seinen Fingern. Joran ließ das Schwert sinken, schwer atmend, doch dieser Verrückte hatte immer noch nicht genug. Statt aufzugeben, stürzte er sich nun mit bloßen Händen ungestüm auf ihn und wollte ihm an die Kehle gehen.

Joran wirbelte herum und trat ihm in die Rippen. Der Elf wurde abrupt in seinem Lauf gebremst, pfeifend wich die Luft aus seinen Lungen. Er taumelte zurück und stürzte. Joran war mit einem Satz über ihm, die Schwertklinge quer über seinem Hals.

„Was soll das?“, keuchte er.

Dieses Miststück hatte ihn wahrhaftig ins Schwitzen gebracht. Japsend rang der Elf nach Luft und sah wütend zu Joran auf.

„Warum greifst du mich an?“, herrschte Joran ihn an.

Der Junge schaffte es endlich, einzuatmen, und hustete krampfhaft. Dabei ritzte die scharfe Schwertklinge seinen Hals. Ein dünnes Rinnsal Blut lief an seiner Kehle hinunter. Joran nahm die Klinge trotzdem nicht weg. Dieser Kerl war verrückt. Er rechnete fest damit, dass er auf die erstbeste Gelegenheit lauerte, um erneut auf ihn loszugehen. Obwohl der Elf reglos da lag, wirkte er angespannt wie eine Wildkatze vor dem Sprung. Sein Brustkorb hob und senkte sich rasch unter dem abgetragenen Wams. Schwarze Haarsträhnen hingen verschwitzt in sein schmales Gesicht. Er sah elend jung aus. Ein weiterer Hustenanfall schüttelte den schlanken Körper. Hatte er es auf Jorans Geldbeutel abgesehen? Dann war er dumm genug, sein Leben für ein paar läppische Münzen zu riskieren. Heiser krächzte er: „Mörder!“

Joran blinzelte verwirrt.

„Mörder!“, stieß der Junge wild hervor, lauter diesmal, und versuchte, ihm ins Gesicht zu spucken. Das misslang kläglich, da nur ein winziges Speicheltröpfchen kam.

Joran runzelte die Stirn.

„Noch hab ich dich nicht umgebracht“, sagte er trocken.

Der Junge zitterte am ganzen Körper vor Zorn, war aber zumindest schlau genug, sich nicht zu rühren.

„Du hast meine Eltern umgebracht! Und meine Schwester!“

„Was für ein Quatsch. Ich hab noch nie ein Spitzohr getötet.“

Nach kurzem Zögern fügte Joran: „Bis jetzt“, hinzu.

Er hatte keine Ahnung, was er mit dem Elf tun sollte. Ihn im Kampf zu töten wäre eine Sache gewesen. Eine ganz andere war es, ihn jetzt umzubringen, hilflos und unbewaffnet. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde diese Möglichkeit immer unwahrscheinlicher. Joran konnte den Elf nicht mehr töten, nachdem er mit ihm gesprochen und in seine Augen gesehen hatte. Was für ein hartgesottener Weißer Reiter er war.

„Na los, dann töte mich doch endlich!“, schrie der Junge, seine Augen blitzten. „Wenn du es nicht tust, wirst du das noch bereuen. Ich bring dich um! Ich stech’ dich ab, du verdammtes Schwein!“

Das war lächerlich. Joran musterte den Elf. War er wirklich verrückt? Sein gerötetes Gesicht war schweißnass und mit seinen grünen, leicht schrägstehenden Augen erinnerte er ihn erneut an eine in die Enge getriebene Wildkatze. Obwohl diese Augen wütend funkelten, fand Joran kein Anzeichen von Wahnsinn in ihnen.

„Los! Töte mich!“

Joran zögerte nicht länger. Er schnellte in gebückter Haltung vor und hieb seine Faust gegen die Schläfe des Jungen. Sein Körper erschlaffte augenblicklich.

Joran stand auf und schob sein Schwert zurück in die Scheide. Langsam kam er wieder zu Atem. Auch sein Herzschlag beruhigte sich. Dafür fingen die Knie an zu zittern. Verärgert über seine Schwäche wischte er sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Sein Blick fiel auf den Riss im Stoff. Um ein Haar … Joran schluckte schwer und verdrängte jeden Gedanken daran, dass er fast von einem mickrigen Spitzohr verletzt oder gar getötet worden wäre. Ein kühler Wind strich über das nass an seinem Rücken klebende Hemd und ließ ihn erschauern. Unwillkürlich hob er die Hand und berührte das auf dem Wams eingestickte Symbol der Weißen Reiter, als könne es ihn schützen. Wenn er einfach davon ritt, würde der Elf ihm vermutlich folgen und abermals versuchen, ihn zu töten. Seine zornigen Worte hatten sich nicht wie eine leere Drohung angehört. Und sein Blick … Joran erinnerte sich an eine unliebsame Begegnung mit einem Marderfrettchen, das sich in einen Weißen Reiter verbissen hatte. Er musste es töten, um die hartnäckig zupackenden Kiefer aus dem blutenden Arm des Kameraden zerren zu können. In dem Blick des Elf hatte er die gleiche verzweifelte Beharrlichkeit zu erkennen geglaubt.

Galt sein Hass allen Weißen Reitern oder ihm persönlich? Hielt er wirklich ihn, Joran, für den Mörder seiner Familie? Jorans Nackenhaare sträubten sich. Auch darüber wollte er nicht nachdenken.

Ratlos sah er auf den Bewusstlosen hinunter. Er war groß für einen Elf, sehr schlank, wirkte aber durchtrainiert. Sein Kopf war zur Seite gesunken, wirre schwarze Haarsträhnen verdeckten sein Gesicht. Am linken Handgelenk trug er einen Bronzereif. Ein Sklave also. Nichts Ungewöhnliches.

Die Angst der Menschen vor einer erneuten Rebellion war zu groß. Daher waren seit der Niederschlagung der Elfenaufstände fast alle Spitzohren Sklaven, die nicht während der Säuberungsaktionen den Tod gefunden hatten.

In Joran regte sich eine vage Erinnerung, die er nicht greifen konnte.

Der Elf rührte sich immer noch nicht, und er wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste, bevor er zu sich kam. Ihn zu töten kam nicht mehr infrage.

Das Messer lag ein paar Schritte entfernt im vom Kampf platt getretenen Gras. Er hob es auf, betrachtete es interessiert und wog es nachdenklich in der Hand. Gut ausbalanciert. Wo hatte der Elf das her? Sklaven war es gesetzlich verboten, Waffen zu tragen.

Es war ihnen auch verboten, durch den Wald zu streifen und Weiße Reiter anzugreifen.

Joran könnte ihn mitnehmen und in das Verlies der Waldfeste werfen lassen, wo er auf seine Verurteilung warten dürfte. Das würde seinen Tod bedeuten. Entweder durch den Strang oder, wahrscheinlicher, schon vorher. Mit Spitzohren gingen die Wachen nicht zimperlich um. Joran gefiel diese Lösung nicht und er ärgerte sich über sich selbst. Die Vorstellung, dass grobschlächtige Kerle den Elf aus Langeweile und bloßem Vergnügen demütigten und quälten, bereitete ihm Übelkeit. Was war er doch für ein Weichei! Um ein Haar hätte dieser Junge ihm die Kehle durchgeschnitten. Warum sollte er ihn verschonen? Er verdiente es nicht besser.

Leises Stöhnen ließ Joran herumfahren. Der Elf regte sich schwach. Ein Zucken ging durch seinen Körper, er würgte und übergab sich, ohne richtig zu sich zu kommen. Er würde an seinem Erbrochenen ersticken. Ohne darüber nachzudenken, war Joran mit einem großen Schritt neben ihm, kniete sich hin und drehte ihn auf die Seite. Der nächste Schwall halbverdauten Mageninhalts landete auf seinem Ärmel. Vielen Dank auch! Leise fluchend hielt er den Kopf des Jungen fest, bis er aufhörte, zu würgen und zu spucken und nur noch keuchte. Vorsichtig ließ er ihn los und stand auf. Er ging rasch hinüber zu Wolf, der unbeeindruckt an einem Grasbüschel rupfte, behielt den Elf dabei aber im Blick.

Joran war froh darüber, dass er in seine Satteltaschen immer einige Lumpen steckte, bevor er losritt. Er pflegte vor der Rückkehr in die Feste die oft schlammbespritzten Satteltaschen und seine Stiefel damit zu reinigen. Mit einem der alten, aber sauberen Tuchreste ging er zurück zu dem Elf, der versuchte, sich in eine kniende Position zu stemmen. Sein Kopf hing schlaff herab, schwarzes Haar fiel wie ein Vorhang vor sein Gesicht.

„He, Spitzohr“, sagte Joran rau und hielt ihm das Tuch hin. Er reagierte nicht. Der säuerliche Geruch des Erbrochenen stieg beißend in Jorans Nase und er musste beinahe selbst würgen. „Hier, putz dich mal ab!“

Langsam hob der Elf den Kopf und blinzelte ihn benommen an. Sein Blick war verschleiert. Joran wollte keinen erneuten Angriff provozieren, auch wenn der Elf gerade sehr angeschlagen wirkte, und warf ihm den Lappen hin. Er nahm ihn zögernd und wischte sich das Kinn ab. „Warum tötest du mich nicht?“ Jeder Kampfgeist schien von ihm gewichen zu sein. „Willst du mich erst foltern?“

„Bring mich nicht auf Ideen“, sagte Joran und wunderte sich darüber, dass seine Stimme nicht bebte. „Wie heißt du?“

Der Junge zog misstrauisch die Mundwinkel nach unten. „Warum willst du das wissen?“

Ja, warum wollte er das wissen? Um es sich noch schwerer zu machen?

„Silvo“, murmelte der Elf.

„Ich bin Joran. Und deine Familie interessiert mich nicht“, sagte Joran schroff.

Ein Funke der alten Wut kehrte in Silvos Blick zurück. „Du erinnerst dich nicht mal dran. Klar, waren doch nur Spitzohren. Drecksau!“

Joran ging in die Hocke, damit er Silvo besser in die Augen sehen konnte, achtete dabei auf Sicherheitsabstand. Dieser Wildkatze traute er alles zu.

„Du solltest mehr Respekt vor einem Weißen Reiter zeigen.“

Silvo lachte höhnisch auf. „Ja, sicher, die Weißen Reiter. Schutz durch Stärke, mit Wort und Schwert.“

Er spie den berühmten Wahlspruch aus wie einen Fluch.

„Schutz. Das gilt aber nicht für Spitzohren, stimmt’s? Wo waren denn die Weißen Reiter, als meine Familie abgeschlachtet wurde? Wer hat meine kleine Schwester beschützt?“

Joran taumelte auf die Füße und wich zurück. Silvos Worte trafen ihn wie ein Schlag in den Unterleib. Er konnte der auf ihn einstürmenden Bilderflut nichts mehr entgegensetzen. Der Boden schien zu schwanken, sein Magen hob sich. Zu lange hatte er verdrängt, was vor zehn Jahren geschehen war. Silvos verzweifelt hervorgestoßene Worte durchbrachen seine Schutzmechanismen.

Vor seinem inneren Auge sah er das kleine Mädchen, das wie eine weggeworfene Puppe da lag, den Blick starr und leer zum Himmel gerichtet. Er sah den kleinen Stoffbären, den sie an sich drückte, als hätte er sie retten können. Sah das blutige Loch in ihrem Bauch, aus dem sich schlangengleich rotes Gedärm ringelte. Ihren wie zu einem Schrei aufgerissenen Mund, ihr niedliches Kindergesicht erstarrt zu einer Maske fassungslosen Schreckens.

„Nein!“

Jorans eigener Schrei riss ihn jäh aus der Erinnerung und brachte ihn so weit zur Besinnung, dass er sich von den grausamen Bildern der Vergangenheit losreißen konnte. Silvos Familie war nicht die einzige, die damals ihr Leben lassen musste.

Benommen sah er durch einen Tränenschleier, wie Silvo sich auf die Füße kämpfte.

Er würde weiterhin versuchen, ihn zu töten, um seine Familie zu rächen, das war klar. Es gab nur eine Möglichkeit, es zu verhindern. Joran musste ihm zuvorkommen. Es wäre ein Leichtes, das Schwert zu ziehen und es ihm hier an Ort und Stelle ins Herz zu stoßen. Jeder andere Weiße Reiter hätte das ohne Skrupel getan. Joran wurde mit einer Mischung aus Scham und Erleichterung bewusst, dass er nicht so war wie sie. Er besaß weder die Abgebrühtheit der altgedienten Kämpfer noch die elfenverachtende Einstellung, die nötig war, um ein Spitzohr ohne mit der Wimper zu zucken wie ein Stück Vieh abzuschlachten. Zu Ende zu bringen, was damals nicht gelungen war. Den Verbrechen an Silvos Familie ein weiteres hinzuzufügen.

Joran hätte nichts zu befürchten. Niemand würde sein Wort anzweifeln, wenn er behauptete, der Elf habe ihn angegriffen. Das war schließlich sogar die Wahrheit.

Er schloss kurz die Augen, und als er sie wieder öffnete, stand Silvo überraschend dicht vor ihm und sah ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an.

„Ich versteh dich nicht“, sagte er, diesmal ohne jede Bitterkeit in der Stimme. Sein Blick glitt über Jorans Gesicht, als könne er dort einen Hinweis auf seine Beweggründe finden, ihn zu verschonen.

„Ich dachte, ich würde dich hassen, dabei bist du nur ein Vollidiot.“

Es klang weniger wie eine Beleidigung als vielmehr wie eine erstaunte Feststellung.

„Du hast mich nicht getötet, obwohl du es gekonnt hättest. Waffenstillstand?“

Joran sah ihn misstrauisch an. Er wurde aus dem Elf nicht schlau. Was hatte er vor? Silvo stand ganz ruhig da, abwartend, ein grimmiges Lächeln spielte um seine geschwungenen Lippen.

„Waffenstillstand bedeutet nicht Frieden“, fügte Silvo hinzu. „Wenn du blöd genug bist, mir noch einmal über den Weg zu laufen, sind deine Tage gezählt.“

Joran musterte ihn argwöhnisch. Was sollte er von dieser melodramatischen Drohung halten? Forderte der Elf sein Glück heraus? Er war zweifellos verrückt.

Joran war klar, dass er seine Wahl getroffen hatte, als er Silvo bewusstlos schlug, statt das Schwert zu benutzen, um sein armseliges Leben zu beenden.

„Waffenstillstand“, hörte er sich sagen. War da ein triumphierendes Aufblitzen in Silvos Augen?

„Und jetzt gib mir mein Messer zurück“, sagte der Elf fordernd.

„Sklaven dürfen keine Waffen tragen.“

Sobald diese Worte Jorans Mund verlassen hatten, kam er sich albern vor. Silvo zog verächtlich einen Mundwinkel nach unten.

„Gib mir das Messer. Wenn du mich unbewaffnet hier zurücklässt, könntest du mich genauso gut doch noch töten.“

An seinen Worten war etwas Wahres dran. Seit einigen Monaten häuften sich Überfälle von Wegelagerern in diesem Gebiet. Es war den Weißen Reitern bisher nicht gelungen, den Wald sicher zu machen.

Wortlos hielt Joran Silvo das Messer hin, den Griff in seine Richtung zeigend. Einen Wimpernschlag lang sah er ein Flackern in Silvos Blick, als überlege er, ob er die günstige Gelegenheit nutzen sollte. Der Moment verging. Silvo nahm das Messer und steckte es in das Lederfutteral an seinem Gürtel.

„Leb wohl, Weißer Reiter“, sagte er mit einem Hauch Spott.

Er drehte sich um und lief los, verschwand zwischen den Bäumen.

Joran stand da, nagte an seiner Unterlippe, und kam sich wirklich wie ein Vollidiot vor.

Kapitel 2

Es dämmerte bereits, als Joran die Waldfeste erreichte. Das Tor in der dicken Steinmauer war schon geschlossen.

„Weißer Reiter begehrt Einlass“, rief er laut.

„Parole?“, schallte es zurück.

Mist. Was war das doch gleich gewesen? Bestimmt wieder irgendetwas zu essen. War es immer, wenn Balor sich die Parole ausdachte.

„Kartoffelauflauf“, rief Joran auf gut Glück. Von der anderen Seite des Tores war amüsiertes Schnauben zu hören.

„Du hast noch zwei Versuche, dann übergießen wir dich mit heißem Pech.“

Er unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Ausgerechnet Cara. Wenn er ihren Humor sonst auch sehr zu schätzen wusste, an diesem Abend war ihm nicht nach Albernheiten zumute. „Bohnen mit Speck.“

Zu seiner grenzenlosen Erleichterung öffnete sich das Tor und er sah missmutig in Caras grinsendes Gesicht.

„Na endlich. Wir waren kurz davor, einen Suchtrupp loszuschicken.“

Die rothaarige junge Frau hörte sich eher enttäuscht als besorgt an.

„Hättest du wohl gerne“, knurrte Joran und ritt an ihr vorbei in den Hof der Feste. Aus dem Augenwinkel sah er ihr über seine schlechtgelaunte Reaktion erstauntes Gesicht und bereute, so ruppig zu ihr gewesen zu sein. Cara konnte nichts dafür, dass an diesem Tag alles schief gegangen war.

Er sprang von Wolf und zog ihn hinter sich her zu den Stallungen, antwortete einsilbig auf die Grüße und Scherzworte seiner Kameraden, die ihm entgegen kamen. Am liebsten hätte er sich irgendwo verkrochen, doch das ging nicht. Erst musste er Wolf versorgen und außerdem forderte sein knurrender Magen sein Recht. So schlimm der Tag gewesen war, den Appetit konnte er ihm nicht verderben.

Er ließ sich extra Zeit damit, Wolfs Hufe auszukratzen und ihn zu füttern, in der Hoffnung, dass die anderen Weißen Reiter mit Essen fertig sein würden, wenn er kam. Er wurde enttäuscht. Als er auf den Hof trat, standen und saßen die meisten noch um das Feuer in der Mitte des Hofes herum und löffelten ihr Abendessen.

Er machte sich auf neugierige Fragen gefasst, merkte jedoch schnell, dass es ein wesentlich interessanteres Gesprächsthema gab, als seinen kurzen Besuch bei seinem Onkel. Er konnte unbehelligt seinen Eintopf essen. Keinem seiner eifrig miteinander diskutierenden Kameraden fiel auf, dass er sich nicht an den Spekulationen um die bevorstehende Zehnjahresfeier des Großfürsten beteiligte. Mit halbem Ohr hörte er den Gesprächen zu. Wie üblich schwang sich Mikael zum Wortführer auf. Er schien bestens informiert zu sein und war nur zu bereit, sein Wissen mit allen zu teilen, ob sie nun Interesse zeigten oder nicht.

„He, habt ihr gehört, was mit Marlon aus der Stadtfeste passiert ist? Er hat sich eine Spitzohrschlampe ins Bett geholt.“

„Das wäre doch nicht das erste Mal.“ Allgemeines Gelächter.

Mikael schüttelte den Kopf. „Aber diesmal war er so dämlich, sich erwischen zu lassen. Zwanzig Peitschenhiebe hat es ihn gekostet.“

„Selbst Schuld, was lässt er sich auch mit einer von denen ein.“ Torian kratzte den Eintopfrest aus seinem Napf. „Hat Glück gehabt, dass der Kommandant ihn nicht aufgehängt hat. In der Stadtfeste herrschen noch andere Sitten als hier.“   

„Die kleine Spitzohrschlampe hat er aufgehängt“, sagte Mikael trocken, was neues Gelächter auslöste. Joran stellte seinen noch halbvollen Napf zur Seite. Ihm war der Appetit gründlich vergangen.

„Immer diese verdammten Spitzohren“, knurrte Torian. „Hab gehört, es hat einen Anschlag auf den sankanischen Botschafter gegeben. Dahinter stecken bestimmt auch Spitzohren. Das könnte einen Krieg provozieren.“

Balor meinte mit gutmütigem Spott: „Neue Aufstände? Das glaubst du doch selbst nicht. Die wenigen, die übrig geblieben sind, wissen nicht einmal, wie herum man ein Schwert halten muss.“

Joran dachte an Silvo, der sehr wohl wusste, wie man kämpfte. Wenn seine blinde Wut ihn nicht behindert hätte, wäre er sogar noch gefährlicher gewesen.

Torian fragte ihn, ob er mit würfeln wollte. Er lehnte ab. Stattdessen füllte er seinen Krug mit Ale und setzte sich etwas abseits auf einen Strohballen.

Ihm graute davor, sich schlafen zu legen. Die Begegnung mit dem Elf hatte alles, was er so lange verdrängt hatte, erneut hochkommen lassen. Sollte er wider Erwarten Schlaf finden, würde ihm die Erinnerung Alpträume bescheren.

Eine sanfte Stimme schreckte ihn aus seinen düsteren Gedanken.

„Hey, schöner Mann.“

Cara. Anders als die anderen Kameraden schien sie nie zu akzeptieren, wenn Joran Zeit für sich brauchte. Erst seit wenigen Jahren konnten sich auch Frauen den Weißen Reitern anschließen und gerade in diesem Moment hielt er das für keine gute Neuerung. Cara kannte ihn gut genug, um zu merken, wenn es ihm nicht gut ging und sie besaß ein unheimliches Talent dafür, ihn zum Reden zu bringen. Bei ihren Gesprächen plauderte er regelmäßig mehr aus, als er wollte. Aber er schätzte ihre Freundschaft und wollte sie nicht erneut vor den Kopf stoßen. Sein ruppiges Benehmen am Tor tat ihm leid. Also zwang er sich zu einem Lächeln und rückte ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen.

Cara setzte sich neben ihn und fragte: „Was ist los, Jo? Hat dein Onkel dein altes Lieblingspferd verkauft?“

Sie kam der Wahrheit so nahe, dass Joran ihr einen misstrauischen Blick zuwarf. Ihr Lächeln wandelte sich in eine reumütige Grimasse.

„Oh Mist. Da hab ich wohl mal wieder ins Fettnäpfchen getreten.“

Diese Einsicht hinderte sie allerdings nicht daran, weiter zu bohren. „Jetzt spuck es schon aus. Ich sehe doch, dass du drüber reden willst.“ Mit ihren neugierig funkelnden Augen im schmalen, von roten Locken umrahmten Gesicht erinnerte sie Joran an ein vorwitziges Eichhörnchen. Er konnte ihr einfach nie böse sein, wenn sie ihn so schelmisch anlächelte, und grinste unwillkürlich zurück.

„Ach ja? Na schön, sonst lässt du doch nicht locker. Mein Onkel Gregor will wirklich was verkaufen, aber nicht nur ein Pferd, sondern gleich die Hälfte der Ländereien. Dieser geldgierige Mistkerl hat mir ein Dokument vorgelegt, das ich unterschreiben sollte.“

„Und, hast du?“

„Natürlich nicht. Der Drecksack denkt, er könnte machen, was er wollte, aber nicht mit mir!“

Bei dem Gedanken an das hitzige Streitgespräch mit seinem Onkel stieg Wut in Joran auf. Zornig schleuderte er den leeren Alekrug von sich. Er hatte es satt, dass Gregor ihn wie ein unmündiges Kind behandelte.

Das Testament von Jorans Vaters bestimmte, dass Gregor das Landgut bis zu Jorans fünfundzwanzigstem Lebensjahr treuhänderisch verwalten sollte. Für wichtige Entscheidungen wie zum Beispiel den Verkauf von Grundbesitz musste er jedoch Jorans Einverständnis einholen.

„Noch drei Jahre, dann bist du den Kerl los“, sagte Cara tröstend.

Joran verzog das Gesicht. „Das baut mich jetzt aber sehr auf. Außerdem wird er in drei Jahren nicht einfach so verschwinden. Der hält sich für unentbehrlich und außerdem gibt es noch eine Klausel in Vaters Testament, die ihm freies Wohnrecht auf Lebenszeit garantiert. Den alten Schmarotzer werde ich niemals los! Der hat sich ins gemachte Nest gesetzt. Ich wünsch dem fetten Schwein die Pest an den Hals! Soll er in der Hölle schmoren!“

Cara hörte sich sein wüstes Gefluche an, ohne mit der Wimper zu zucken. Als er schließlich in düsteres Schweigen versank, sagte sie ruhig: „Ärgerlich, aber du könntest zumindest einen anderen Verwalter einstellen.“

„Vielleicht will ich das Gut ja selbst verwalten.“

„Nein.“ Cara klang so überzeugt, dass Joran trotz seines schwelenden Zorns grinsen musste.

„Du bist mit Leib und Seele ein Weißer Reiter“, fuhr sie fort. „Das weiß ich, weil ich es auch bin.“

Joran spürte eine unbestimmte Traurigkeit in sich aufsteigen. Manchmal wünschte er sich Caras Sicherheit. Er war gerne Weißer Reiter, das stimmte. Aber oft beschlich ihn das Gefühl, dass in seinem Leben etwas Entscheidendes fehlte.

„Warum will der denn überhaupt verkaufen?“

„Weil er das Geld braucht“, sagte Joran trocken und erntete dafür einen Boxhieb gegen die Schulter.

„Blödmann. Wofür braucht er das Geld?“

„Die Wahrheit oder den Stuss, den er mir weismachen will?“

„Beides.“

Erneut überflutete ihn grimmige Wut.

„Onkel Gregor hat mal wieder ein sicheres Geschäft aufgetan. Eine Beteiligung an einer Handelsflotte. Diesmal ist es Tee. Ich glaube ihm nicht. Dem verdammten Dreckskerl glaub ich gar nichts mehr! Ich wette, er braucht das Geld, um Spielschulden abzubezahlen oder eigene krumme Geschäfte zu finanzieren, von denen er mir natürlich nichts sagt. Eines Tages komm ich ihm auf die Schliche, und dann gnaden ihm die Götter. Heute war ich so kurz davor, ihm das dreckige Grinsen mit meinem Schwert vom Gesicht zu schlagen!“

Vor zwei Jahren hatte Joran zähneknirschend eingewilligt, ein Stück Land zu verkaufen. Auch damals ging es um eine Handelsbeteiligung, allerdings an einer Weinlieferung. Angeblich war das Schiff gesunken und das Geld verloren. Beweise konnte Gregor jedoch nicht erbringen. Wie immer, wenn er etwas vermasselt hatte oder Jorans Unterschrift benötigte, berief er sich theatralisch auf Vertrauen, das in der Familie herrschen sollte.

Als ob Joran diesem Mann nach allem, was geschehen war, noch vertrauen könnte. Das Wein-Fiasko war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Auch vorher schon waren Joran bei der Prüfung der Geschäftsbücher immer wieder Kleinigkeiten aufgefallen, die nicht mit seinen Anordnungen und Vorgaben übereinstimmten. Irgendwie gelang es Gregor jedoch jedes Mal, sich herauszuwinden und seine Anschuldigungen zu entkräften. Meist gelang es ihm sogar, Joran so zu verwirren, dass er selbst nicht mehr wusste, ob er nicht doch zu misstrauisch war und Gregor wirklich nur das Beste für den Gutshof wollte. Später ärgerte er sich dann darüber, dass er sich von seinem Onkel so hatte einwickeln lassen. Gregor wusste genau, wie er ihn treffen konnte und erinnerte ihn bei jeder Gelegenheit an den letzten Willen seines Bruders, den es zu würdigen und zu ehren galt. Joran verstand nicht, was seinen Vater dazu bewogen hatte, ein derartiges Testament aufzusetzen. Was seinen Bruder anging, musste er blind gewesen sein.

„Das ist aber noch nicht alles.“ Cara musterte Joran besorgt. „Bist du krank, Jo?“

Joran sah wohl verwirrt genug aus, um sie zu beruhigen.

„Du hast da was am Ärmel“, sagte sie auf ihre unverblümte Art. „Ist dir unterwegs schlecht geworden? Hast du dich übergeben?“

„Das ist nicht von mir.“

Joran stand auf. Er wollte Cara auf keinen Fall von Silvo erzählen. Er kannte sie lange genug, um zu wissen, dass sie nicht locker lassen würde, bis sie die ganze Geschichte erfuhr. Aber es gab Dinge, die er mit niemandem teilen konnte. Nicht teilen durfte. Dinge, die er nicht einmal aussprechen konnte, wenn er allein war.

„Gute Nacht“, sagte er brüsk. „Ich reite morgen nach Ventry.“

Cara lächelte ihn spitzbübisch an. „Du wirst eine Begleitung brauchen.“

„Torian kommt sicher gerne mit.“

Als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, musste er schmunzeln und sie schrie empört auf.

„Du bist gemein, Jo. Immer machst du dich über mich lustig. Hey, wenn du mich mitnimmst, erzähle ich dir unterwegs auch alle Neuigkeiten und Gerüchte aus Ventry.“

„Interessiert mich nicht.“

„Auch nicht, wenn es um den Schwarzen Piraten geht?“ Cara wackelte mit den Augenbrauen. Der berüchtigte Schwarze Pirat, Schrecken aller Handelsflotteneigner, wurde so genannt, weil er immer eine schwarze Maske trug. Er war jedenfalls noch nie ohne gesehen worden. Cara und Joran vertrieben sich ab und zu die Zeit mit Rätseleien, wer sich dahinter verbergen mochte. Bei der Erinnerung an Caras absurde Vermutungen musste Joran wider willen grinsen. „Du glaubst doch wohl nicht immer noch, dass er in Wahrheit der Kommandant der Stadtfeste ist? Vergiss es.“ Ernst fügte er hinzu: „Und, Cara, hör auf damit. Du spionierst dich noch mal um Kopf und Kragen.“

Cara lachte. „Blödsinn. Du weißt doch, ich habe sichere und vor allem verschwiegene Quellen. Einer von uns muss sich doch darüber auf dem Laufenden halten, was so in der Welt passiert.“