Die Farben der Schwalbe - Marius Daniel Popescu - E-Book

Die Farben der Schwalbe E-Book

Marius Daniel Popescu

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Beschreibung

Marius Daniel Popescu schlägt in diesem Buch einen Bogen zwischen der Kindheit in Rumänien und der Gegenwart in der Schweiz, wo sein Erzähler als Plakat­kleber und Journalist arbeitet. In Rumänien steht das Begräbnis der Mutter im Mittelpunkt, das Erinnerungen an das "Land der Einheitspartei" auslöst. In Lausanne nimmt die innige, spielerische (auch sprachspielerische) Beziehung des Erzählers zu seiner Tochter den grössten Raum ein. Zwischen den beiden Welten entsteht ein berührendes Spannungsfeld, das von der sprachlichen Verve des Autors zusammengehalten wird, der das Leben, wo es auch stattfinden mag, durch eine Art Zeitlupe betrachtet, unter der die kleinen Gesten, Bewegungen und zum Teil scheinbar völlig banal erscheinenden Puzzlestücke des Alltags vergrössert und stark verlangsamt erscheinen, was eine merkwürdig hypnotische Wirkung auf die Leserin und den Leser ausübt. Yla M. von Dach hat übersetzt. Marius Daniel Popescu hat für dieses Buch 2012 den Schweizer Literaturpreis erhalten (Originaltitel: "Les Couleurs de l'hirondelle", Éditions Corti). Die Die Farben der Schwalbe ist das zweite Buch, das übersetzt vorliegt. ("Die Wolfssymphonie" erschien 2013 im Engeler-Verlag in der Übersetzung von Michèle Zoller.) Der Titel war nominiert für die Hotlist 2017 (die besten Bücher aus unabhängigen Verlagen).

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Marius Daniel Popescu

Die Farbender Schwalbe

aus dem Französischenvon Yla M. von Dach

Originaltitel: Les Couleurs de l‘hirondelle© 2012, Éditions Cortiwww.jose-corti.fr

Wir danken der Stiftung Pro Helvetia für die Unterstützung dieser Übersetzung.

Und herzlichen Dank an Dr. Josef Winiger für den bereichernden Austausch, der dieser Übersetzung zugutegekommen ist.

www.diebrotsuppe.ch

ISBN ebook 978-3-905689-86-0

Der verlag die brotsuppe wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2016 – 2018 unterstützt.

Alle Rechte vorbehalten© 2017, verlag die brotsuppe, Biel/BienneGestaltung, Satz, Umschlagbild: Ursi Anna Aeschbacher, Biel/BienneDruck: www.cpibooks.de

Für Jacques Gélat,meinen literarischen Paten in Frankreich.

Inhalt

Die Farben der Schwalbe

Der Autor

Die Übersetzerin

Du stehst vor dem Leichenhaus des städtischen Krankenhauses, bei dir sind deine Cousine und dein Onkel, ihr steht da und sprecht von der Toten, die ihr hier abholt. »An jenem Tag war sie nicht draußen gewesen wie sonst, die Nachbarn hatten sie nicht, auf ihren Stock gestützt, langsam durch die Allee gehen sehen«, du schaust den Pritschenwagen an, mit dem ihr vom Land hierhergereist seid, du siehst seine rostige Ladefläche, ihr steht alle drei neben diesem Wagen, den sich dein Onkel von einem Freund geliehen hat. »Sie war krank, aber es ging ihr gut mit den Medikamenten, manchmal weigerte sie sich wochenlang, ihre Pillen zu nehmen, sie sagte, was sie noch in dieser Welt halte, seien der liebe Gott und ihre Enkelin.« Ihr steht an, um eure Tote abzuholen, ihr seid an dritter Stelle vor dem Haupteingang des Leichenhauses, du schaust eine nach der anderen die Betonstufen der Treppe an, die du bald wirst hochsteigen müssen, um die sterbliche Hülle deiner Mutter abzuholen. »Mindestens hat sie nicht gelitten, sie ist ganz plötzlich gestorben, sie hat nicht noch wochen- oder monatelang vor sich hinvegetieren müssen.« Deine Cousine beginnt zu weinen und du nimmst sie in die Arme, du drückst sie an deine Brust, du hörst ihr Schluchzen, du spürst die Krämpfe in ihrem Körper, und über ihren Kopf hinweg siehst du, wie der Hausmeister des Krankenhauses das große rostige Tor aufmacht, um einen Wagen des städtischen Bestattungsunternehmens hinauszulassen: Er trägt abgenutzte, ölverschmierte Arbeitshandschuhe, er schiebt zuerst den metallenen Riegel zurück, er zieht im Rückwärtsgehen den linken Torflügel ins Innere des Krankenhausgeländes, er hebt ihn über die Asphalthöcker, er schiebt ihn bis an die Wand seines BacksteinWachhauses. »Ihre Nachbarin von unten hat uns angerufen, sie hatte zwei Tage gewartet, sie glaubte, deine Mutter sei bei uns zu Besuch.« Deine Cousine weint und du schließt sie in die Arme, sie sagt, deine Mutter sei ihre Lieblingstante gewesen, du lehnst mit dem Rücken gegen die seitliche Bordwand des Pritschenwagens, du siehst den Hausmeister des Krankenhauses, du schaust ihm zu, du siehst seine Bewegungen, er öffnet den zweiten Flügel des rostigen Tors, du siehst vier Hunde auf den Gehsteig hinauslaufen. »Es ist gut, dass du deine Mutter beerdigen kommst, es gibt Leute, die im Ausland arbeiten und die nicht nach Hause kommen, um ihre Eltern zu beerdigen.« Der Hausmeister nimmt die vier herrenlosen Hunde bei seinem Pförtnerhäuschen auf, du denkst an deine Mutter, du sagst in deinem Kopf herrenlos, ausgesetzt, im Stich gelassen, du denkst an Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt wurden, du denkst an Eltern, die von ihren Kindern im Stich gelassen wurden, du denkst an die Tausende von Hunden, die in deinem Land jedes Jahr ausgesetzt werden, du denkst an diese Hunde, die Zuflucht finden, wo sie können, du spürst, dass deine Cousine sich beruhigt, sie löst sich aus deinen Armen.

Du siehst vier Männer, die einen geschlossenen Sarg tragen, sie steigen die Treppe des Leichenhauses hinunter, sie machen kleine Schritte, sie reden miteinander, du verstehst ihre Worte nicht, sie tragen den Sarg zum Wagen, mit dem sie ihren Toten wegbringen wollen, dein Blick liegt jetzt auf einem kleinen, verfallenen Gebäude, »das ist der Verbrennungsofen des Krankenhauses, er ist explodiert, sie dürfen die Teile der menschlichen Körper, die nach den Operationen anfallen, nicht mehr hier verbrennen«, sagt deine Cousine, du denkst an deine Mutter, die du in ein paar Augenblicken als Tote sehen wirst.

Der Hausmeister schließt das Metalltor wieder, er ruft die Hunde, die auf dem Gehsteig herumschnüffeln, du denkst an diese Hunde, an die man die Reste aus der Krankenhauskantine verfüttert, dein Onkel sieht, dass du die Hunde anschaust, er sagt: »Diese Hunde haben es gut hier, beim Hausmeister, sie haben zu essen und niemand jagt sie weg, in unserem Land gibt es viele Leute, die schlechter leben als diese streunenden Hunde, es gibt Leute, die nichts zu essen haben, es gibt Leute, die im Winter zu Hause nicht heizen können.«

Du wirst deine Mutter als Tote sehen und du siehst sie in deiner Erinnerung, wie sie in der Allee stand, wo du sie zum letzten Mal lebendig gesehen hast, sie stützt sich auf ihren Holzstock und die Tränen laufen ihr übers Gesicht, du fährst wieder ins Ausland, wo du arbeitest, du hast ihr ein paar Geschenke mitgebracht und ein wenig Geld gegeben, du hast ihr Früchte und Gemüse gebracht, du hast ihr Fleisch und Konserven gekauft, du hast ihr auch eine Flasche Wein gegeben; sie weint und winkt dir mit der Hand, du siehst sie durch die Fensterscheibe des Autos, das anfährt, dein Onkel, der am Steuer sitzt, erzählt dir, »meine Schwester hat eine gute Rente im Vergleich zu mir, mit den Lebensmitteln, die du ihr gebracht hast, kann sie zwei Wochen lang leben, deine Mutter trinkt gern ein Glas Rotwein zum Essen«. Du spürst die Hand deines Onkels auf deiner Schulter, die Tränen laufen ihm übers Gesicht und er sagt zu dir: »Geh deine Mutter holen, sie haben gerufen, wir sind dran, wir müssen hinein und unsere Tote holen, geh, hol sie, damit wir sie begraben können, ich komme nicht mit, ich habe sie schon tot in ihrer Wohnung gesehen, ich will sie nicht mehr in diesem Zustand sehen«, du wendest dich nach rechts, du beginnst zur Eingangstreppe des Leichenhauses hinüberzugehen, du spürst, wie sich die Hand deines Onkels von deiner Schulter löst, du siehst deine Cousine, die neben dir geht, du steigst die erste Stufe der Betontreppe hoch, »da sie im ersten Stock wohnte, sind wir mit einer Leiter auf ihren Balkon gestiegen, die Rollläden waren nicht hinuntergelassen, und so haben wir durch das Zimmerfenster gesehen, wie sie tot im Bett lag«, jeder Schritt, den du machst, ist langsam, du hast den Eindruck, auf der Stelle zu treten, du schaust deine Cousine an, die dich begleitet, sie grüßt einen Mann, der im Leichenhaus arbeitet, sie hat die Sterbeurkunde deiner Mutter in der Hand, du steigst die zweite Treppenstufe hoch, »mit dem Polizisten und den beiden Feuerwehrleuten haben wir beschlossen, eine Scheibe einzuschlagen, um nicht die Wohnungstür aufbrechen zu müssen, als wir ins Zimmer kamen, war es von starkem Verwesungsgeruch erfüllt, das Gesicht deiner Mutter war schwarz, wegen des Bluts, sie hat wohl eine Herzattacke gehabt«, du siehst den dunklen Korridor, auf den du jetzt zugehst, du suchst in deinem Gedächtnis nach dem Gesicht deiner Mutter du findest es auf einem Foto mit dir du bist in ihren Armen und hast den Kopf zu ihrem Hals gebeugt deine Mutter muss dreißig Jahre alt sein und du vierjährig auf diesem Foto, du gehst weiter, »im Zimmer hat es heftig gestunken, und ihr Körper war voller Eiter, der ausfloss und die Decke befleckte, auf die wir sie gelegt hatten, um sie wegzubringen«, deine Cousine ist dir vorausgegangen, sie sucht den Chef des Leichenhauses, du folgst ihr, du hörst sie sprechen, du verstehst nicht, was sie sagt, du steigst weiter die Treppe hoch, »sie war seit zwei Tagen tot, ein ganzes Grüppchen Männer und Frauen sahen uns zu, als wir sie auf der Decke zur Ambulanz trugen«, du bist jetzt im dunklen Korridor, ein Mann wartet vor einer Tür auf dich, sagt, »hier!«, und zeigt auf diese graue Tür, deine Cousine steht neben ihm, du siehst, wie sie zur Seite treten, sie machen dir Platz, du öffnest die Tür, links siehst du den Leichnam eines Mannes auf einem Betontisch, er ist angezogen und trägt Schuhe, eine Binde hält ihm den Unterkiefer fest, auf dem Betontisch rechts siehst du ein mit schwarzem Blut beflecktes Laken, du weißt jetzt, dass unter diesem Laken deine Mutter liegt, du gehst auf sie zu, du spürst die Kälte dieses Raums, du bleibst ein paar Zentimeter vom Tisch entfernt stehen, du legst deine rechte Hand auf das Laken, du spürst durch dieses Laken hindurch den Bauch deiner toten Mutter, mit der linken Hand hebst du den Stoffteil weg, der ihr Gesicht bedeckt.

Ihre Haut ist schwarz und dein Blick nähert sich den Umrissen des Gesichts deiner Mutter, deine linke Hand legt sich auf ihre Stirn, mit der rechten hebst du das schmutzige Laken ganz weg und du siehst deine Mutter tot und nackt auf diesem Betontisch liegen, deine Mutter hat einen Tonziegel unter dem Nacken, dieser Ziegel stützt ihren Kopf wie ein Kopfkissen, du siehst die lange Narbe der Autopsie, du bückst dich zu ihr hinunter und küsst sie auf die Wange, du riechst den Leichengeruch vermischt mit dem Geruch nach Formalin; eine Männerstimme spricht zu dir: »Rühr’ sie nicht an, das ist voller Krankheitskeime!«, der Mann zeigt auf ein gusseisernes Waschbecken und sagt, du sollst dir die Hände mit dem Spezialprodukt waschen, das in der Seifenschale steht, er sagt, dass du den Leichnam deiner Mutter jetzt wegschaffen musst, er sagt, er sei nicht verpflichtet, dir zu helfen, den Leichnam deiner Mutter in den Sarg zu legen, du fragst dich, wie du es anstellen wirst, um den Leichnam deiner Mutter ganz allein in den Sarg zu bringen, du denkst, dass du deine Mutter in die Arme nehmen und sie ein paar Schritte bis zum Sarg tragen wirst, den dein Onkel zum Eingang dieses Kühlraums gebracht hat, du willst deine Mutter in die Arme nehmen, um sie zum Sarg zu tragen, du trittst zu ihr hin, du hörst deine Cousine sagen, »was machst du?!«, du sagst, dass das Personal des Leichenhauses dir nicht helfen will, den Leichnam deiner Mutter in den Sarg zu legen, sie sagt, »sie wollen Geld, man muss ihnen Geld geben, sie wollen ihr Trinkgeld und dann helfen sie dir, du wirst sehen«, du antwortest, »gib ihnen Geld, ich weiss nicht, wie das geht, in diesem Leichenhaus«, du siehst sie aus dem Kühlraum hinausgehen, du siehst sie mit einem Mann und einer Frau sprechen, deine Cousine holt Geld aus ihrer Handtasche, du siehst die Hände deiner Cousine, die dem Mann und der Frau, die im Leichenhaus arbeiten, Geldscheine in die Hände drückt.

Sie kommt aus ihrem Zimmer, geht durch die Diele der Wohnung, tritt über die Schwelle zur Küche, geht zum Schrank, der zwischen dem Spülbecken und dem Kochherd steht, öffnet die obere Schranktür, nimmt einen kleinen Teller heraus, schließt die Schranktür, dreht sich um, stellt den Teller auf den Tisch, geht um den Tisch herum, öffnet die Tür des Kühlschranks, nimmt den Käse aus der unteren Schublade, legt das Stück Käse auf den kleinen Teller, geht zur Besteckschublade, öffnet die Holzschublade, nimmt ein Messer, schließt die Schublade, kommt wieder zum Tisch, nimmt den Käse in die linke Hand und schneidet langsam zwei feine Scheiben Greyerzerkäse ab, die sie auf den Teller fallen lässt; sie legt das Messer ins Spülbecken, legt den Rest des Käses wieder in den Kühlschrank, nimmt den Teller mit den zwei feinen Käsescheiben, geht in ihr Zimmer, stellt den Teller auf ihren Schreibtisch, nimmt den Zahn, der ihr gestern ausgefallen ist, von der Ecke des Möbels und legt ihn auf den Teller neben den Käse, den sie für die Maus abgeschnitten hat.

Du sitzt am Computer und schreibst, du erzählst eine Geschichte, du schreibst auf, was du erlebt hast, als du acht Jahre alt warst, als du in die dritte Klasse gingst, du erinnerst dich an deine Kindheit, du erinnerst dich an deine Klassenkameraden und du erzählst, welche Spiele ihr in den siebziger Jahren spieltet. Du schreibst und sagst dir, dass du ein Buch schreiben wirst mit deinen Klassenkameraden als Figuren, du hörst Schritte hinter dir, du drehst dich auf deinem Rolldrehstuhl um, du siehst sie neben dir stehen und hörst sie sagen, »Papa, willst du mit mir Schule spielen?«. Du nimmst sie in die Arme, sie sagt, »warte, ich setz mich dir auf den Schoß«, du nimmst sie auf den Schoß, du gibst ihr einen Kuss, du drückst sie an dich, du erklärst ihr, »ich bin am Schreiben, ich kann jetzt nicht mit dir spielen«, sie fragt, »was schreibst du?«, und du antwortest, »ich schreibe gerade, wie ich mit meinen Klassenkameraden Bockspringen gespielt habe, als ich so alt war wie du«. Sie sagt, »ach so! darüber schreibst du also!«. Du legst deine Arme um sie, du gibst ihr Küsschen auf die Stirn, auf die Nase, die Wangen, die Ohren, sie sagt, »das kitzelt«, du sagst, dass du auch die Geschichten ihrer Spiele aufschreiben möchtest, der Spiele, die sie mit ihren Klassenkameraden spielt, sie antwortet, »ich möchte mit dir Schule spielen, und ich bin die Lehrerin!«. Du sagst, dass du deine Geschichte noch nicht fertig geschrieben hast, du sagst, dass du schon lange nicht mehr geschrieben hast und dass du mindestens etwa zehn Seiten schreiben musst vor dem Abendessen, sie sagt, »aber du spielst mit mir Schule und dann kannst du wieder an deinen Computer zurück und an den Schulgeschichten mit deinen Klassenkameraden weiterschreiben«. Du gibst ihr ein Küsschen auf den Hals, sie lacht, sie sagt, »komm, wir spielen einen Augenblick lang Schule!«, du willst mit dem Schreiben weitermachen, du schlägst ihr vor, so weiterzuschreiben, mit ihr auf dem Schoß, »nein, ich will nicht, du hast mir schon lange versprochen, dass du mit mir Schule spielst«, du antwortest: »Gut, okay, ich werde mit dir Schule spielen, aber nicht gleich, wir spielen ein bisschen später Schule.« Sie fragt: »Ein bisschen später, was heißt das, wann?« Du merkst, dass deine Tochter dich braucht, du sagst zu ihr: »Später, in einer halben Stunde, geht das für dich?« Sie verlässt ihren Platz auf deinem Schoß, schaut dir in die Augen und sagt: »Ich komme dich in einer halben Stunde holen«, und geht in ihr Zimmer. Du schreibst weiter auf dem Computer, du erinnerst dich an das Spiel Bockspringen, das ihr im riesigen Schulhof deiner Kindheit spieltet, du sagst dir, dass nur die Jungen Bockspringen spielten, du sagst dir, dass sich die Mädchen nicht an diesem Spiel beteiligten, du schreibst, »es brauchte mindestens vier Leute, um das Spiel Bockspringen zu beginnen, manchmal waren wir fünf, sechs oder sieben, nur selten spielten wir zu acht oder zu neunt, aber in diesen Fällen war das Spiel am lustigsten«. Du schreibst, du blätterst in deinem Gedächtnis und hältst auf den Seiten mit dem Spiel Bockspringen inne: Du siehst den Jungen, der sich bücken, sich vorbeugen musste, damit die anderen über ihn hinwegspringen konnten, du sagst dir, dass all diese Jungen eine schwarze Uniform trugen, die speziell für die Schule vorgesehen und von euren Eltern gekauft worden war. »Der Junge, der gebückt dastand, und über den man hinwegspringen musste, ließ den Ansturm seiner Kameraden würdig über sich ergehen, denn dieses Spiel war bei Weitem nicht das härteste, das wir im Schulhof spielten: Es gab mehrere Runden von Sprüngen, die der gebückte Junge, Bock oder Ziege genannt, ertragen musste, er musste warten, bis jeder seiner Kameraden mindestens fünf Mal über ihn gesprungen war.« Von Zeit zu Zeit denkst du an deine Tochter, die mit dir Schule spielen möchte, du sagst dir, dass du nie Schule gespielt hast als Kind, du bist neugierig zu erfahren, was deine Tochter machen wird, wenn sie die Rolle der Lehrerin spielt, du lächelst und schreibst weiter: »Jede Runde Sprünge über die Ziege hatte ein ganz bestimmtes Thema. Bei der Maschinenpistole mit drei Kugeln musste man der Ziege drei Schläge auf den Hintern geben, bevor man über sie hinwegsprang: einen Schlag mit dem linken Handrücken, einen Schlag mit dem rechten Handrücken und einen dritten mit der Außenseite des rechten Fußes. Die Ziege nahm diese Schläge lächelnd hin, oder schreiend, wenn der andere zu heftig zuschlug, die Ziege spürte auf ihrem Hintern den minimalen oder maximalen Grad der Freundschaft, die jeder für sie empfand. Wenn du schautest, wer auf dich zukam, um die Maschinenpistole mit drei Kugeln zu machen, bevor er sich mit den Händen auf deinem Rücken abstützte und über dich hinwegsprang, sagtest du dir im Kopf, ›kein Problem, das ist ein Freund, er wird nicht fest zuschlagen‹, oder, ›auweh!, das ist mein Erzfeind, der wird mir zusetzen, er wird es mir heimzahlen, dass ich ihm letzte Woche das Bein gestellt habe‹.« Diejenigen, die darauf warteten, an die Reihe zu kommen, mussten darauf achten, dass das Spiel auch richtig ablief, und sie beobachteten aufmerksam, was der Springende tat: Warst du mit der Ziege zu schlaff oder zu langsam, zu hart oder zu bösartig, fiel das deinen Kameraden sofort auf, sie begannen dich anzuschreien und du musstest zur Strafe den Platz der Ziege einnehmen. Du hörst deine Tochter, die dich ruft, sie sagt, »Papa, es reicht jetzt, komm, die halbe Stunde Schreiben ist um!«, du sagst, »einen kleinen Moment noch, zehn Minuten, dann komme ich!«, du hörst ihre Schritte, sie tritt ins Zimmer, in dem du auf dem Computer schreibst, du siehst sie mit Blättern in einer Hand, sie kommt auf dich zu, sie sagt, »gut, ich lasse dich noch einen kleinen Moment schreiben, dann, wenn ich ›driiiiiiiiing! driiiiiiiiing!‹ mache, musst du verstehen, dass das die Schulklingel ist, und du kommst ganz von alleine in mein Zimmer, okay?«. Du sagst zu ihr: »Okay, Töchterchen, mein Engel, komm, gib mir einen Schmatz!« Sie tritt zu dir hin, du nimmst sie in die Arme, du hebst sie auf deinen Schoß und küsst sie auf die Wangen. Sie lässt sich wieder auf den Boden gleiten, lächelt, sagt zu dir: »Jetzt schreib noch ein paar Minuten!«, und geht in ihr Zimmer, wobei sie noch sagt: »Pass auf, wenn du die Klingel hörst, kommst du sofort ins Schulzimmer, sonst bekommst du eine Strafe, in der Schule dulden wir keine Verspätung!« Die Maschinenpistole mit drei Kugeln war das Thema, mit dem ihr gewöhnlich anfingt. Nachdem die Springer ihre drei Kugeln auf den Hintern der Ziege abgeschossen hatten und danach über diese Ziege hinweggesprungen waren, die gebückt, mit fest über den Knien auf die Oberschenkel gedrückten Händen dastand, kam ein anderes Thema: die Fässer. Bei den Fässern war weniger die Ziege gefordert als der Springer, es ging vor allem darum, die genaue Reihenfolge zu berücksichtigen, in der die Jungs über ihren Kameraden hinwegspringen mussten, indem sie sich mit den Händen auf seinen Rücken abstützten; jeder, der gesprungen war, stellte sich sogleich als Ziege neben die vorherige Ziege. Sprangst du als Erster, brauchtest du dich nur dicht neben die Ziege des Anfangs zu stellen; der zweite hatte es schon ein bisschen schwerer, er musste über zwei Ziegen gleichzeitig hinwegspringen, der dritte hatte es noch schwerer, er musste über drei seiner Kameraden hinwegspringen, der vierte sah, dass er wirklich Mühe haben würde, über seine vier Kollegen hinwegzukommen, und er rechnete damit, im Fall eines schlechten Sprungs seinerseits den Platz der Ziege einnehmen zu müssen. Mit dem Spiel Die Fässer bekamen gewisse Ziegen, vor allem jene, die an dritter oder vierter Stelle standen, harte Stöße ab vom letzten Jungen, der nicht mehr über drei oder vier Ziegen gleichzeitig hinwegzuspringen vermochte: Derjenige, der das Kunststück vollbringen musste, über die Körper von drei oder vier Ziegen zugleich hinwegzuspringen und dabei nur den Rücken der ersten Ziege zu berühren, nahm viel Anlauf, er entfernte sich etwa zwanzig Meter von der Reihe, er begann auf seine tief gebückten Kameraden zuzulaufen, er versuchte schnell zu laufen, so schnell wie möglich, er konzentrierte sich, um sich gut auf den Rücken der ersten Ziege abzustützen, er überlegte, wie er seine Beine nach vorne anziehen wollte, er kam mit großer Geschwindigkeit bei der ersten Ziege an, stützte sich mit den Händen auf ihren Rücken, flog in die Luft und fiel meist mit Getöse auf dem Rücken eines oder mehrerer seiner Kameraden, die ihn anbrüllten, er sei absichtlich wie eine Bombe oder wie eine Tonne Metall über sie hereingestürzt; in diesen Fällen purzelte die Reihe von drei oder vier Ziegen zu Boden, die Schuluniformen wurden staubig oder nahmen die Farbe des Grases an, in das sie gefallen waren. Die unzufriedenen Jungen versetzten sich ein paar Fausthiebe. »Driiiiiiiiiiiiiiing! Driiiiiiiiiiiiiiing! Driiiiiiiiiiiiiiing!« Sie kommt herbeigelaufen und macht das Klingeln der Schulglocke nach, du stehst auf, du sagst zu ihr, »so, jetzt bin ich dein Schüler, ich komme mit!«, und du begleitest sie in ihr Zimmer, das jetzt dein Schulzimmer sein wird. »Papa, du bist in der ersten Klasse und ich erkläre dir die Regeln, die du in der Schule einhalten musst: Bevor du das Schulzimmer betrittst, musst du die Schuhe ausziehen, man muss immer in Pantoffeln ins Schulzimmer kommen und nicht in den Schuhen, die man auf der Straße trägt, du hast die Pantoffeln an, das ist gut, du kannst hereinkommen, jetzt musst du ›Guten Tag!‹ sagen, du musst mich grüßen, man sagt seiner Lehrerin immer guten Tag, wenn man am Morgen in die Schule kommt.« Du sagst: »Guten Tag, Frau Lehrerin! Wie geht es Ihnen?«, sie sagt: »Du brauchst nicht ›Guten Tag, Frau Lehrerin!‹ zu sagen, sag bloß ›Guten Tag‹!, das reicht.« Du sagst: »Guten Tag!«, dann fügst du hinzu: »Ich bin in die Schule gekommen!« »Die zweite Regel in der Schule ist, dass man keinen Lärm macht, man darf nicht mit seinem Nachbarn schwatzen, man darf in der Pause nicht schreien, man darf nicht seine Sachen fallen lassen, man darf sich nicht prügeln.« Du sagst: »Ja, Frau Lehrerin, ich werde die Schulregeln einhalten«, sie sagt: »Papa, warte, ich habe dir noch nicht alle Regeln gesagt, die man in der Schule einhalten muss, du bist mir ins Wort gefallen, du musst mir bis zum Schluss zuhören, okay?« »Man muss während der Pause auf die Toilette gehen, aber wenn du vor der Pause auf die Toilette musst, darfst du schon auf die Toilette gehen, es ist nicht ganz verboten. In der Pause muss man in den Schulhof, es ist obligatorisch, alle müssen in der Pause das Schulzimmer verlassen; wenn ihr die Schulglocke hört, müsst ihr gleich ins Schulzimmer zurück, in der Schule duldet man keine Verspätung.« Du hörst ihr zu, du vernimmst ihre Worte und du denkst noch an die Ziegen deiner Kindheit, du sagst: »Hör mal, ich hab’ nicht so viel Zeit für deine Schule, sag mir, was ich machen muss, sagen wir, dass ich die Regeln kenne, die man in der Schule einhalten muss.« Sie sieht dich an und sagt: »Papa, du bist jetzt nicht mehr mein Vater, verstehst du? Gut, wenn du willst, fange ich gleich mit dem Unterricht an, ich habe mehrere Blätter für dich vorbereitet, mit denen du still arbeiten musst, hier, als Erstes hast du das Blatt mit den Rechenaufgaben: Vier plus vierundzwanzig ist gleich, acht plus zehn ist gleich, zwanzig plus vierzig ist gleich, acht plus zwei ist gleich, zehn plus zehn ist gleich, zwanzig plus zwanzig ist gleich, vierundvierzig plus vierundzwanzig ist gleich, acht plus vier ist gleich, zehn plus vierzehn ist gleich, achtzig plus vierundvierzig ist gleich, fünfzig plus fünfzig ist gleich, vierzehn plus vierzehn ist gleich, achtzig plus drei ist gleich, sechzig plus acht ist gleich, acht plus neun ist gleich.« Du bist noch nicht aus den Fässern deiner ersten Schuljahre herausgekommen, deine Tochter streckt dir das Additionsblatt entgegen, das du mit den richtigen Antworten ausfüllen musst in ihrem Zimmer, das zum Schulzimmer geworden ist, du bist ihr Schüler, du musst dich auf ihr Spiel konzentrieren, du nimmst ihr das Blatt aus der Hand, du sagst: »Es reicht, ich habe verstanden, und wo setze ich mich hin?« »Also gut! In der Schule hat jeder Schüler seinen Platz, den er sauber halten muss, man schreibt nicht auf die Pulte, man räumt seine Sachen weg, wie es sich gehört! So, hier ist euer Platz, setzt euch und arbeitet fleißig an euren Übungen; wenn ihr fertig seid, kommt ihr zu mir, damit ich die Korrekturen machen kann. Macht’s gut!« Du nimmst Platz auf einem kleinen Kinderstuhl, auf diesem Stuhl sitzend, berührst du mit deinen Knien fast das Kinn, du sitzt an einem der Tischchen, die im Zimmer deiner Tochter stehen, du bist ihr Schüler, du musst ein Blatt ausfüllen, du hast ein Matheblatt, du beginnst dieses Blatt auszufüllen, du schreibst die Resultate hin: achtundzwanzig, achtzehn, sechzig, zehn, zwanzig, vierzig, achtundsechzig, siebzehn. Du sagst: »Ich bin fertig, da, ich hab’s, da ist mein Blatt.« Sie sieht dich an, sie sitzt an ihrem Lehrerinnenpult, ihr Tisch ist viel grösser als deiner, ihr Stuhl ist ein normaler Stuhl, deine Tochter sagt zu dir: »Papa, du musst mit deinem Blatt zu mir kommen, und ganz leise, bitte! Du musst dich an die Schulregeln halten, man spricht mit der Lehrerin erst, wenn man neben ihr steht, okay? Komm, zeig mir dein Blatt!« Du stehst auf, du passt auf, dass du mit den Knien nicht das Tischchen umstößt, du machst ein paar Schritte bis zum Tisch der Lehrerin, du hebst die rechte Hand, du zeigst ihr das Blatt mit den Rechnungen und du sagst: »Hier, Frau Lehrerin, ich habe mein Blatt fertig ausgefüllt, ich habe alles gut gemacht!« Sie nimmt dir das Blatt aus der Hand, legt es auf den Tisch, sagt, als spräche sie zu sich selbst: »Mal sehen, machen wir die Korrekturen!«, und du siehst sie zählen, die Aufgaben lösen, die auf dem Blatt stehen, laut nachzählen, das Resultat sagen, es mit dem vergleichen, auf das du gekommen bist, und dann mit einem Bleistift ein V-Zeichen neben die Summe setzen, die die Zahl angibt. Rechts auf dem Blatt und neben dem Viereck, in das du jedes Resultat geschrieben hast, schreibt sie die Note hin, du siehst, dass du für jede Addition eine Note hast, du hast mehrere Additionen machen müssen, du zählst, wie viele, du hast fünfzehn Additionen gehabt und du wirst fünfzehn Noten auf diesem Blatt haben. Du siehst deine Noten: neun, zehn, zehn, zehn, neun, neun, neun, zehn, zehn, zehn, zehn, neun, neun, neun, zehn. Du hast die Fässer vollständig vergessen, und die Maschinenpistole mit den drei Kugeln deiner Schule auch, du sagst zu ihr: »Aber das geht nicht, das geht überhaupt nicht, die Resultate der Rechnungen sind richtig und du gibst mir überall eine Neun, ich habe richtig gerechnet und du gibst mir keine Zehn, ich habe lauter Zehnen verdient.« Sie sieht dich an, sie lächelt und erklärt dir: »Papa, die Rechnungen sind gut, ja, ich habe nachgerechnet, du hast es gesehen, aber du hast Neunen, weil du die Zahlen nicht schreibst, wie es sich gehört, schau, du machst die Acht nicht, wie es sich gehört, du musst aufpassen, wie du die Zahlen schreibst, verstehst du?« Du siehst sie an und hast Lust zu lachen, du lachst nicht, du sagst: »Das ist ungerecht, man kann die Zahlen schreiben, wie man will, alle machen die Zahlen auf ihre Weise«, sie antwortet: »Nein, die Zahlen, das ist wichtig, man muss sie gut schreiben, damit man leicht sehen kann, um welche Zahl es sich handelt, ich habe dein Blatt noch nicht fertig korrigiert, warte ruhig neben mir, ich gebe es dir in ein paar Minuten zurück.« Sie zeichnet einen Hasen unten auf dein Additionsblatt, sie schreibt das Wort Bravo neben den Hasen, setzt ein Ausrufezeichen hinter den letzten Buchstaben dieses Wortes, sagt zu dir: »Und du hast auch einen Sticker verdient, du hast ja doch alles richtig gemacht.« Sie steht von ihrem Stuhl auf, geht zu einer Schublade, öffnet sie, holt ein kleines Blatt mit bunten Aufklebern hervor, zeigt dir die kleinen, glänzenden Bildchen und fragt: »Welchen Sticker möchtest du? Du darfst deinen heutigen Sticker wählen, ich lasse dich alle Sticker anschauen!« Du wählst einen farbigen Fisch, er ist gelb-schwarz und hat Bartfäden. Du zeigst ihr den Fisch, sie sagt: »Oh! du hast einen hübschen Aufkleber gewählt!« Sie löst den kleinen Fisch von seiner Unterlage und klebt ihn unten rechts auf dein Rechenblatt. Du nimmst ihr das Blatt aus der Hand, du sagst: »Danke, Lehrerin!« und hast vor wegzugehen, du drehst ihr den Rücken, du willst aus dem Schulzimmer hinauslaufen, du möchtest zur Ziege deiner Kindheit zurück, sie merkt, dass du auf die Zimmertür zugehst und ruft: »Wohin geht ihr da? Es ist noch nicht Pause!« Du bleibst stehen, du wendest dich um und erklärst ihr, dass du an deinen Computer zurückkehren möchtest, du sagst, dass du die Geschichte vom Bockspringen deiner Kindheit noch nicht zu Ende erzählt hast, sie hört dir aufmerksam zu, dann antwortet sie: »Papa, du wirst deine Geschichte nach der Schule weiterschreiben, jetzt musst du wieder an deinen Platz sitzen, du bist immer noch in der Schule und ich bin deine Lehrerin!« Du siehst sie an, du sagst: »Also gut! Ich bleibe noch für ein Blatt, aber dann gehe ich!« Du nimmst deinen Platz als Schüler auf dem kleinen Holzstuhl wieder ein. Deine Knie berühren dein Kinn.

Sie haben das Geld genommen, beide haben das Geld in die rechte Hosentasche ihrer grauen, stellenweise vom Blut der Toten befleckten Arbeitshose gesteckt, der Mann ist als Erster in den Kühlraum getreten, er ist auf dich zugekommen und hat dir eine Art Wagen aus rostigem Gusseisen gezeigt, der in der Ecke des Raumes hinter dem Betontisch stand, auf dem deine Mutter lag, er hat gesagt, du sollst dieses Vehikel in die Halle bringen und den Sarg darauf legen, er hat dich vorbeigelassen, er ist einen Schritt zurückgetreten, sein Rücken berührte den Rand des anderen Betontischs, du bist drei Schritte weiter in den Kühlraum hineingegangen, du bist auf der Seite, wo der Kopf deiner Mutter lag, um den Betontisch herumgegangen, du hast dich vorgebeugt, du hast die Hände auf eine der gusseisernen Stangen gelegt und hast diesen Wagen in die Eingangshalle hinausgerollt, du bist rückwärts zwischen den beiden Betontischen hindurchgegangen, nach links und nach rechts schauend und nur den Betonboden und die Füße dieses Mannes sehend, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, im Leichenhaus des größten Krankenhauses dieses Landkreises zu arbeiten. Dein Onkel hat dir geholfen, den Sarg auf den rostigen Eisenwagen zu heben, deine Mutter war ja deine Tote, du warst aus dem Ausland gekommen, um sie zu begraben, du standest neben dem Sarg, der auf dem rostigen Eisenwagen lag, und du hast gesehen, wie dir dein Onkel einen großen Bogen hartes, durchsichtiges Plastik hinstreckte, er hat gesagt, »das falten wir auseinander und legen es auf den Sargboden, der Körper deiner Mutter ist voller Eiter und Blut, die während des Transports ausfließen werden, die Plastikfolie wird den Sarg schützen«; es war ein Sarg aus braun gestrichenem Tannenholz und seine Bretter waren nicht miteinander verleimt, du konntest durch die zwei oder drei Millimeter breiten Schlitze den Boden sehen, du hast mit deinem Onkel die Plastikfolie auseinandergefaltet und ihr habt sie auf den Boden des leeren Sargs gebreitet, der mit keinem Laken ausgekleidet war, deine Cousine hatte die Kleider hervorgeholt, die deine Mutter an ihrer Beerdigung tragen sollte, sie hatte sie unter ihren rechten Arm geklemmt, da war eine weiße Unterhose, ein blaues Kleid und eine weiße Jacke, deine Cousine hielt in ihrer linken Hand ein Paar Schuhe deiner Mutter, die Frau, die im Leichenhaus arbeitete, sagte zu euch, »wir werden sie nicht ankleiden, wir können sie nicht ankleiden in diesem Zustand, wir werden die Kleider neben den Leichnam legen, wenn wir sie ankleiden, werden sich alle Kleider mit dem Blut und dem Eiter des Leichnams vollsaugen.« Du hast den Wagen mit dem Sarg in den Kühlraum hineingeschoben, du blicktest auf die durchsichtige Plastikfolie, die den Boden des Sargs bedeckte, die Frau, die im Leichenhaus arbeitete, sagte, »ihr habt kein Kopfkissen genommen, sie wird ohne Kopfkissen in die andere Welt hinüber müssen«, du hast den Wagen mit dem Sarg längs neben den Betontisch gerollt, auf dem die sterbliche Hülle deiner Mutter lag, die nackt und schwarz war von dem Blut, das in alle Zellen ihrer Haut eingedrungen war, du bist dagestanden und hast gesehen, wie der Mann zur Kopfseite deiner Mutter hinüberging, er hat zu dir gesagt, »du musst uns helfen, du musst deine Mutter an den Füssen nehmen«, die Frau hat das schmutzige Laken genommen, mit dem der Leichnam deiner Mutter zugedeckt war, sie hat dieses Laken zusammengerollt und es unter dem Körper deiner Mutter durchgezogen, die auf dem Betontisch lag, das Laken war zu einem Strick geworden, der um die Taille deiner Mutter geschlungen war, der Mann hat den Körper der Toten unter den Achselhöhlen gefasst, die Frau hat den Körper deiner Mutter hochgehoben, indem sie die beiden Enden des um ihre Taille geschlungenen Lakens in die Höhe zog, du hieltest die Knöchel deiner leblosen Mutter in der Hand, du hast gesehen, wie der Leichnam deiner Mutter vom Betontisch glitt, ihr Körper schaukelte hin und her, und ihr habt sie auf die durchsichtige Plastikfolie gelegt, die den Sargboden bedeckte. Die Frau hat das um die Taille der Toten geschlungene Laken weggezogen, du hast ihr auf der Brust die Hände aufeinandergelegt, deine Cousine hat die Unterhose, das Kleid und die Jacke auf den Körper deiner Mutter gebreitet, sie hat ihr die Schuhe zwischen die Füße gelegt. Ihr standet alle vier um den Sarg herum, du schautest deine Mutter an, die von ihrem blauen Kleid und ihrer weißen Jacke bedeckt war, du schautest auf ihr Gesicht, deine Cousine hat die Frau aus dem Leichenhaus gebeten, ihr einen Liter Desinfektionsflüssigkeit zu bringen, um die Wohnung deiner Mutter zu desinfizieren, der Mann hat zu dir gesagt, »jetzt müssen wir den Sargdeckel auflegen«. Du bist in die Eingangshalle des Leichenhauses hinausgegangen, du hast den Sargdeckel genommen, der in der Eingangshalle an die Wand gelehnt war, du bist mit dem Sargdeckel für deine Mutter wieder in den Kühlraum hinein, du bist zum Sarg getreten, du hast den Deckel an den Betontisch gelehnt, auf dem du deine Mutter im Leichenhaus vorgefunden hattest, der Mann, der im Leichenhaus arbeitete, hat den Deckel an dem Ende ergriffen, das über den Kopf deiner Mutter zu liegen kommen sollte, du bist niedergekniet, du hast den Deckel an dem Ende ergriffen, das über die Füße deiner Mutter zu liegen kommen sollte, du hast zum letzten Mal das Gesicht deiner toten Mutter angeschaut, ihr habt im Kühlraum den Sargdeckel aufgesetzt, du bist wieder aufgestanden. Ihr habt den Wagen mit dem geschlossenen Sarg in die Eingangshalle des Leichenhauses hinausgerollt, dein Onkel ist neben dem Sarg niedergekniet, du hast ihn weinen sehen, als er, einen nach dem anderen, die Nägel ins Holz des Sargdeckels schlug, du sahst jeden Nagel zwischen den Fingern seiner linken Hand, und seine rechte Hand, die den Hammer handhabte, den er von zu Hause mitgebracht hatte, jeder Nagel verschwand im Holz des Sargs, sichtbar blieb nur der runde Nagelkopf, und dein Onkel rutschte auf den Knien um den Sarg herum, er hat etwa ein Dutzend Nägel eingeschlagen und seine Tränen fielen ihm auf die Finger, auf das Holz des Sargs und auf den Betonboden der Eingangshalle des Leichenhauses, und du dachtest an den Tod, der in jedem von uns zu Hause war, und an das Leben, das uns in dieser Welt zu leben beschieden ist, deine Mutter war gestorben, ohne dass man neben ihrem Kopf eine Kerze angezündet hätte, sie glaubte an Gott und an die Buße, du glaubtest an sie und glaubst noch immer an sie.

Sie nimmt ein weißes Blatt Papier sie nimmt eine Schere die gewundene Linien schneidet sie schneidet zwei Vierecke aus dem weißen Blatt sie nimmt ein Viereck mit gewundenen Rändern sie nimmt Farbstifte sie zeichnet eine Blume in die Mitte des Vierecks sie macht rote Blütenblätter sie macht grüne Grashalme unter der Blume sie färbt den Grund des Vierecks blau sie macht den Stängel der Blume grün sie schreibt die Zahl 200 unten rechts ins Viereck und sagt: »So, ich habe eine Briefmarke gemacht, sie ist für deine Postsendungen, ich schenke sie dir!«

Es war zwanzig Minuten vor Mitternacht und ihr habt die große Eingangshalle der Geburtsklinik betreten, du sahst deine Frau an, die langsam ging, ihr seid auf das Büro zugegangen, über dem Anmeldung geschrieben stand, sie lächelte, sie sagte, sie sei froh, entbunden zu werden und das Geschlecht des Kindes zu erfahren, das sie erwartete, du warst gerührt bei dem Gedanken, dass ihr euch darauf geeinigt hattet, die Geburt abzuwarten, um zu erfahren, ob ihr die Eltern eines Mädchens oder eines Jungen sein würdet. Die Frau, die euch empfing, hat nach dem Namen deiner Frau gefragt, du hieltest dich im Hintergrund, du hörtest ihrem Gespräch zu, du vernahmst andere Geräusche, andere Stimmen in der Eingangshalle. Du dachtest an dein neues Leben, das sich mit der Ankunft eures Kindes ankündigte, du hast gehört, dass die Krankenakte deiner Frau komplett und alles in Ordnung sei, du hast verstanden, dass ihr den Aufzug nehmen müsst, die Frau, die euch empfangen hat, hat gesagt, ihr sollt in den Gebärsaal gehen, wo die Hebamme und der Gynäkologe auf euch warteten. Ihr hieltet euch an der Hand, deine Frau hat dich gefragt, ob du froh seist, du hast auf den weißen Knopf gedrückt, um den Aufzug zu rufen, du hast zu ihr gesagt, dass du den stärksten Moment deines Lebens erlebst, sie hat den Aufzug betreten, du bist ihr gefolgt, sie hat auf den Kopf mit der Ziffer Sieben gedrückt, die Tür ist zugegangen und der Aufzug hat seine Fahrt nach oben begonnen. Deine Gedanken sind zu deiner Mutter geschweift, die zu dir sagte, dass die Tatsache, Vater zu werden, die Männer besonnener mache, das Licht im Aufzug war grell, und du hast noch immer die Bilder des Körpers deiner Frau im Gedächtnis, ihren großen Bauch, ihre grünen Augen, ihre Tränen. Ihr seid angekommen, die Tür ist aufgegangen, ihr seid den Pfeilen gefolgt, nach rechts, eine Krankenschwester mit Papieren in den Händen hat euch erneut nach dem Familiennamen deiner Frau gefragt, die Krankenschwester hat euch die Tür zum Gebärsaal gezeigt, sie hat diese Tür für euch geöffnet, es kam dir vor, als wärst du zum ersten Mal Schauspieler in einem Film, in einem Theaterstück, du wusstest nicht, wie eine Geburt vor sich ging.

Der Raum war groß, deine Frau sprach mit der Hebamme, an der linken Wand stand kein einziges Möbel, in der Mitte des Raums stand ein Krankenbett, dessen Kopfende von Tabletts umgeben war, auf denen sich medizinische Geräte und andere Instrumente befanden. Die Hebamme half deiner Frau sich auszuziehen, du bliebst neben der noch offenen Tür stehen, du hast diese Tür geschlossen und hast sieben oder acht Schritte gemacht, du sagtest dir, es gehe dir gut, du hattest gehört, es gebe Väter, die bei der Niederkunft ihrer Frau ohnmächtig würden, du bist zu einem der vier Fenster gegangen, du bist beim Vorhang angekommen und hast auf die Stadt hinausgeschaut, die zum Teil noch im Schlaf lag, die Lichter der Stadt pulsierten in deinem Blick, du hast dich umgedreht und hast deine Frau gesehen, nackt und schwanger, wie sie sich einen weißen Kittel anzog. Deine Frau war ruhig, sie ist aufs Bett gestiegen, das mitten im Raum stand, die Tür ist aufgegangen und du hast den weiß gekleideten Gynäkologen gesehen, du bist zu deiner Frau herangetreten, du hast ihr die Stirn gestreichelt, du hast zu ihr gesagt, »es ist alles okay, ich habe meine Emotionen im Griff«, der Gynäkologe hat ihr eine Art Gürtel um den Bauch gelegt, er hat einen Apparat mit einem Kabel daran angeschlossen, er hat gesagt, er werde deiner Frau den Blutdruck messen.

Bei deiner Frau haben die Wehen eingesetzt, sie hat gezittert und gesagt, sie habe Schmerzen, die Hebamme sagte: »Pressen, pressen, pressen Sie, Madame!«, der Doktor hatte den Gebärsaal verlassen, du standest neben dem Bett und hieltest in deinen Händen die rechte Hand deiner Frau, du versuchtest ihr zu helfen, du sprachst mit ihr, du sagtest, sie solle sich konzentrieren und pressen, sie sagte, »ich kann nicht!«, manchmal schrie sie auf vor Schmerz, die Hebamme sagte, es werde allmählich Zeit, und mit der Mutter ermüde auch das Kind, die Hebamme hat gesagt: »Ich drehe dieses Licht herunter, es ist zu stark«, der Gynäkologe sagte, du sollst hinausgehen, damit er die Schmerzen deiner Frau lindern könne, er hat gesagt, »ich mache Ihnen eine Periduralanästhesie.«