Die Feuerreiter Seiner Majestät 02 - Naomi Novik - E-Book

Die Feuerreiter Seiner Majestät 02 E-Book

Naomi Novik

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Beschreibung

Die zweite Folge der unvergesslichen Drachensaga!

Kaum haben Captain Will Laurence und sein gewaltiger Drache Temeraire ihre erste Bewährungsprobe bestanden, da erscheint eine chinesische Delegation am britischen Königshof und fordert die Rückgabe Temeraires. Als Laurence sich weigert, muss er seinen geliebten Gefährten in den fernen Osten begleiten – ohne zu ahnen, was ihn und Temeraire am Ende ihrer langen, gefahrvollen Reise erwartet ...

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DIE AUTORIN

Naomi Novik wurde 1973 in New York geboren und ist mit polnischen Märchen, den Geschichten um die Baba Yaga und J. R. R. Tolkien aufgewachsen. Sie hat englische Literatur studiert, im Bereich IT-Wissenschaften gearbeitet und war außerdem an der Entwicklung von äußerst erfolgreichen Computerspielen beteiligt. Doch dann schrieb Naomi Novik ihren Debüt-Roman, mit dem sie sofort die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen eroberte: »Drachenbrut«, den ersten Band um DIE FEUERREITER SEINER MAJESTÄT. Naomi Novik lebt mit ihrem Mann und sechs Computern in New York.

Von Naomi Novik ist bei cbt erschienen:

DIE FEUERREITER SEINER MAJESTÄT – Drachenbrut

Inhaltsverzeichnis

DIE AUTORINWidmungTeil eins
Kapitel 1
Copyright

Zur Erinnerung an Chawa Nowik – in der Hoffnung,dass ich eines Tages ihr Buch schreiben kann

Teil eins

1

Für einen Tag im November war es ungewöhnlich warm, doch eine übertriebene Ehrerbietung gegenüber den chinesischen Botschaftern hatte dazu geführt, dass das Feuer im Sitzungssaal der Admiralität immer wieder neu geschürt worden war. Laurence stand unmittelbar davor. Er hatte sich besonders sorgfältig gekleidet und seine beste Uniform angelegt, und während sich das beinahe unerträgliche Gespräch in die Länge zog, hatte sich der Kragen seiner dicken Jacke aus flaschengrünem Wollstoff immer weiter mit Schweiß vollgesogen.

Über dem Eingang, hinter Lord Barham, zeigte das offizielle Messgerät mit der Kompassnadel die Windrichtung über dem Kanal an: Heute blies der Wind in Richtung Nord-Nordost und kam damit geradewegs aus Frankreich, und wahrscheinlich waren selbst in diesem Augenblick einige Schiffe der Kanalflotte damit beschäftigt, Napoleons Häfen im Auge zu behalten. Während Laurence strammstand, starrte er auf die breite Metallscheibe, um sich mit solchen Spekulationen abzulenken. Er traute sich nicht, diesen kalten, unfreundlichen Blick, der auf ihm ruhte, zu erwidern.

Barham hatte zu reden aufgehört und hustete wieder in seine Faust. Die ausgesuchten Phrasen, die er vorbereitet hatte, waren unwillig aus seinem Seemannsmund gekommen, und am Ende jedes unbeholfenen, stockenden Satzes hatte er innegehalten und einen nervösen, beinahe unterwürfigen Blick zu den Chinesen geworfen. Es war kein besonders rühmlicher Vortrag gewesen, und unter gewöhnlichen Umständen hätte Laurence durchaus Mitleid für Barhams Lage gehabt. Eine offizielle Botschaft war zwar erwartet worden, vielleicht sogar ein Abgesandter, doch niemand hätte sich träumen lassen, dass der Kaiser von China seinen eigenen Bruder um die halbe Welt schicken würde.

Prinz Yongxing konnte mit nur einem Wort zwei Nationen in den Krieg stürzen. Sein Auftreten war einschüchternd: das unerschütterliche Schweigen, mit dem er jede Äußerung Barhams aufnahm, die überwältigende Pracht seines dunkelgelben Umhangs, der dicht mit Drachen bestickt war, das langsame und unaufhörliche Tippen seines langen, juwelenbesetzten Fingernagels auf der Lehne seines Stuhls. Er sah Barham noch nicht einmal an, sondern starrte grimmig und mit Lippen, die zu einer dünnen Linie zusammengepresst waren, über den Tisch hinweg zu Laurence.

Sein Gefolge war so groß, dass das Sitzungszimmer bis in die Ecken gefüllt war. Ein Dutzend Wachen schwitzten und dampften in ihren Kettenrüstungen vor sich hin, und ebenso viele Bedienstete, die die meiste Zeit über nichts zu tun hatten, als sich bereitzuhalten, standen auf der anderen Seite des Raumes an der Wand aufgereiht und versuchten, die Luft mit breiten Fächern wenigstens ein klein wenig in Bewegung zu bringen. Ein Mann – offenbar ein Übersetzer – stand hinter dem Prinzen und murmelte etwas, wenn Yongxing die Hand hob, normalerweise nach einer von Barhams komplizierteren Passagen.

Die beiden anderen offiziellen Botschafter saßen links und rechts von Yongxing. Diese Männer waren Laurence nur beiläufig vorgestellt worden, und keiner von ihnen hatte auch nur ein Wort gesagt. Der Jüngere jedoch, der Sun Kai hieß, beobachtete alle Vorgänge leidenschaftslos und lauschte den Worten des Übersetzers mit ruhiger Aufmerksamkeit. Der Ältere, ein großer, rundbäuchiger Mann mit einem grauen Spitzbart, war schließlich von der Hitze übermannt worden. Sein Kopf war nach vorne auf die Brust gesunken, der Mund stand halb offen, um besser Luft zu bekommen, und seine Hand bewegte kaum mehr den Fächer. Beide trugen Umhänge aus dunkelblauer Seide, beinahe so kunstvoll gearbeitet wie der des Prinzen selbst, und gemeinsam machten sie einen außergewöhnlichen Eindruck. Eine solche Abordnung hatte man im Westen noch nie zuvor gesehen.

Selbst einem Diplomaten mit mehr Erfahrung als Barham hätte man es verzeihen können, wenn er eine gewisse Untertänigkeit an den Tag gelegt hätte, doch Laurence war nicht in der Stimmung, nachsichtig zu sein. Vor allem war er wütend auf sich selbst, weil er auf etwas Besseres gehofft hatte. Er war gekommen, um sich zu seiner Verteidigung zu äußern, und tief in seinem Herzen hatte er sich sogar einen guten Ausgang der Angelegenheit ausgemalt. Stattdessen war er mit Worten gescholten worden, die er selbst nicht einmal einem groben Leutnant gegenüber in den Mund genommen hätte, und das alles vor dem ausländischen Prinzen und seinem Gefolge, die sich wie ein Tribunal versammelt hatten, um seine Vergehen zu verhandeln. Trotzdem hielt er sich so lange zurück, wie er konnte. Als aber Barham schließlich im Ton größter Herablassung zu dem Punkt kam, an dem er sagte: »Selbstverständlich, Kapitän, werden wir daran denken, dass Sie hinterher einem anderen Schlüpfling zugewiesen werden«, war das Maß voll.

»Nein, Sir«, unterbrach er. »Es tut mir leid, aber: nein. Ich werde es nicht tun, und auch bezüglich eines anderen Postens können Sie nicht mit mir rechnen.«

Neben Barham saß Admiral Powys vom Luftkorps, der dem Treffen bislang schweigend beigewohnt hatte. Nun schüttelte er nur den Kopf, ohne besonders überrascht zu wirken, und faltete seine Hände über seinem mächtigen Bauch. Barham warf ihm einen wütenden Blick zu und sagte zu Laurence: »Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, Kapitän. Dies war keine Bitte. Sie haben Ihre Befehle erhalten, und Sie werden sie ausführen.«

»Eher werde ich mich hängen lassen«, presste Laurence hervor und kümmerte sich nicht mehr darum, in welcher Weise er mit dem Obersten Lord der Admiralität sprach. Wäre er noch immer ein Marineoffizier gewesen, hätte dies das Ende seiner Karriere bedeutet, und auch als Flieger würde es ihm nicht zum Vorteil gereichen. Aber wenn sie tatsächlich vorhatten, Temeraire wegzuschicken, fort nach China, war sein Dienst als Flieger sowieso beendet. Er hätte niemals eine Position auf einem anderen Drachen akzeptiert. Für Laurence würde keiner je einem Vergleich mit Temeraire standhalten können, und er würde es keinem Schlüpfling zumuten, der Zweitbeste zu sein, solange sich die Männer im Korps in Scharen um eine solche Chance rissen.

Yongxing sagte nichts, doch seine Lippen pressten sich noch fester zusammen. Seine Begleiter wurden unruhig und murmelten in ihrer eigenen Sprache miteinander. Laurence war überzeugt, dass er sich den abfälligen Ton in ihren Äußerungen einbildete, welche sich allerdings eher auf Barham als auf ihn selbst bezogen. Der Oberste Lord schien diesen Eindruck zu teilen, denn sein Gesicht wurde fleckig und nahm einen cholerischen Ausdruck an, während er sich bemühte, nach außen hin gelassen zu wirken. »Bei Gott, Laurence, wenn Sie glauben, Sie könnten hier in der Mitte von Whitehall stehen und meutern, dann liegen Sie falsch. Ich denke, Sie haben vielleicht vergessen, dass Ihre erste Pflicht Ihrem Land und Ihrem König gilt, nicht Ihrem Drachen.«

»Nein, Sir, Sie sind es, der etwas vergisst. Aus Pflichterfüllung heraus habe ich Temeraire angeschirrt und meinen Rang bei der Marine aufgegeben, ohne zu wissen, dass der Drache von außergewöhnlicher Rasse ist, ganz zu schweigen davon, dass es sich bei ihm um einen Himmelsdrachen handelt«, sagte Laurence. »Und in Ausübung meiner Pflicht habe ich mit ihm die schwere Ausbildung durchgestanden und bin in den harten und gefährlichen Dienst eingetreten. Aus Pflichtgefühl habe ich ihn in die Schlacht geführt und ihn gebeten, sein Leben und sein Glück aufs Spiel zu setzen. Solch einen loyalen Dienst werde ich nicht mit Lügen und Täuschung belohnen.«

»Genug jetzt«, knurrte Barham. »Jeder könnte denken, man hätte Sie gebeten, Ihren Erstgeborenen auszuliefern. Ich bedaure es, dass Sie aus Ihrem Drachen offenbar so ein Schoßtier gemacht haben und es jetzt nicht ertragen können, ihn zu verlieren …«

»Temeraire ist weder mein Schoßtier noch mein Eigentum, Sir«, entgegnete Laurence scharf. »Er hat England und dem König ebenso gedient wie ich oder wie Sie selbst, und weil er nun nicht nach China zurückwill, stehen Sie dort und bitten mich, ihn anzulügen. Ich weiß nicht, was für eine Auffassung von Ehre ich hätte, wenn ich bei diesem Betrug mitmachen würde. Tatsächlich«, fuhr er fort, denn er konnte sich nicht mehr zurückhalten, »wundere ich mich, dass Sie überhaupt einen solchen Vorschlag gemacht haben. Ich muss mich wirklich sehr wundern.«

»Oh, zum Teufel mit Ihnen, Laurence«, sagte Barham und gab den letzten Anschein von Förmlichkeit auf. Er hatte jahrelang als Marineoffizier gedient, ehe er in die Regierung gewechselt war, und wenn sein Temperament mit ihm durchging, war von dem Politiker in ihm wenig zu bemerken. »Temeraire ist ein chinesischer Drache, also versteht es sich von selbst, dass er sich in China wohler fühlen würde. Auf jeden Fall gehört er den Chinesen, und damit ist die Angelegenheit beendet. Es ist äußerst unangenehm, als Dieb bezeichnet zu werden, und die Regierung Seiner Majestät möchte sich nicht dieser Gefahr aussetzen.«

»Ich denke, ich weiß, wie ich das verstehen soll.« Wenn Laurence nicht schon vor Wut gekocht hätte, wäre er bei diesen Worten rot angelaufen. »Und ich muss diese Anschuldigung ganz entschieden zurückweisen, Sir. Diese Gentlemen leugnen nicht, dass Sie das Ei an Frankreich übergeben haben. Wir haben es einem französischen Kriegsschiff abgenommen. Das Schiff und das Ei wurden vom Gericht der Admiralität als rechtmäßige Prise bestimmt, wie Sie sehr wohl wissen. Es kann keine Auslegung geben, nach der Temeraire immer noch den Chinesen gehört. Wenn diese so ängstlich darauf bedacht sind, keinen Himmelsdrachen aus den Händen zu geben, dann hätten sie ihn nicht noch in der Schale verschenken sollen.«

Yongxing schnaubte und unterbrach ihre lautstarke Auseinandersetzung. »Das ist wahr«, sagte er. Sein Englisch hatte einen ausgeprägten Akzent, und er sprach förmlich und langsam, doch die betonten Silben verliehen seinen Worten nur noch mehr Gewicht. »Es war von Anfang an töricht, das zweitgelegte Ei von Lung Tien Qian über das Meer zu schicken. Das kann niemand bestreiten.«

Er hatte beide zum Schweigen gebracht, und einen Augenblick lang sprach niemand sonst, abgesehen vom Übersetzer, der Yongxings Worte rasch für die anderen Chinesen übertrug.

Dann sagte Sun Kai überraschenderweise etwas in seiner eigenen Sprache, woraufhin Yongxing ihm einen scharfen Blick zuwarf. Sun hielt seinen Kopf ehrerbietig gesenkt und sah nicht auf, doch Laurence hielt das für den ersten Hinweis darauf, dass die Abordnung möglicherweise nicht mit nur einer Stimme sprach. Yongxing gab jedoch eine barsche Antwort, deren Ton keine weiteren Bemerkungen duldete, und Sun wagte keinen neuerlichen Vorstoß. Yongxing war befriedigt, dass er seinen Untergebenen zum Schweigen gebracht hatte, drehte sich wieder zu den anderen um und fügte hinzu: »Aber unabhängig von dem bösen Zufall, der den Drachen in Ihre Hände gebracht hat, sollte Lung Tien Xiang den französischen Kaiser erreichen und nicht das Lasttier eines gewöhnlichen Soldaten werden.«

Laurence wurde starr, denn die Bezeichnung »gewöhnlicher Soldat« nagte an ihm, und zum ersten Mal sah er den Prinzen direkt an und begegnete dem kalten, verachtenden Blick mit einem ähnlich unnachgiebigen Starren. »Wir führen Krieg gegen Frankreich, Sir. Wenn Sie sich entscheiden, sich mit Frankreich zu verbünden und ihnen Kriegsgeräte zu schicken, dann können Sie sich nicht beklagen, wenn wir ihnen diese in einem fairen Kampf abnehmen.«

»Unsinn«, unterbrach sie Barham plötzlich lautstark. »China ist keineswegs ein Verbündeter Frankreichs, wirklich keinesfalls. Wir sehen mit Sicherheit China nicht als Alliierten Frankreichs. Sie sind nicht hier, um das Wort an Seine Königliche Hoheit zu richten, Laurence, beherrschen Sie sich«, fügte er in drohendem Unterton hinzu.

Doch Yongxing ignorierte diesen Versuch, Laurence Einhalt zu gebieten. »Und zu Ihrer Verteidigung werden Sie nun zu Piraten?«, fragte er verächtlich. »Wir kümmern uns nicht um die Sitten von barbarischen Nationen. Dem Himmlischen Thron ist es gleich, wenn Händler und Diebe einander ausrauben, es sei denn, sie entscheiden sich, den Kaiser zu beleidigen – wie Sie es getan haben.«

»Nein, Ihre Hoheit, so war es keineswegs«, beeilte sich Barham zu versichern, während er Laurence einen giftigen Blick zuwarf. »Seine Majestät und seine Regierung hegen die größte Zuneigung gegenüber dem Kaiser. Ich versichere, keine Beleidigung ist jemals beabsichtigt gewesen. Wenn wir nur von der außergewöhnlichen Natur des Eies und von ihren Einwänden gewusst hätten, dann wäre es nie zu dieser Situation gekommen …«

»Jetzt allerdings wissen Sie Bescheid«, sagte Yongxing, »doch die Beleidigung wird aufrechterhalten. Noch immer ist Lung Tien Xiang angeschirrt und wird wenig besser als ein Pferd behandelt. Man erwartet von ihm, dass er Lasten trägt, und setzt ihn der ganzen Brutalität des Krieges aus, und die ganze Zeit über hat er nur einen einfachen Kapitän als Begleitung. Es wäre besser gewesen, wenn das Ei auf den Boden des Meeres gesunken wäre!«

Zwar war Laurence entsetzt, doch erleichtert zu sehen, dass diese Gefühllosigkeit selbst Barham und Powys erstarren ließ und sprachlos machte. Sogar der Übersetzer in Yongxings eigenem Gefolge zuckte zusammen, trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und übersetzte zum ersten Mal die Worte des Prinzen nicht ins Chinesische.

»Sir, ich versichere Ihnen, seitdem wir von Ihren Einwänden gehört haben, war der Drache kein einziges Mal mehr angeschirrt«, entgegnete Barham, der sich wieder gefasst hatte. »Wir unternehmen alle Anstrengungen, um Temeraires  – soll heißen: Lung Tien Xiangs – Wohlbefinden zu gewährleisten und jegliches unangemessene Vorgehen in seiner Behandlung wiedergutzumachen. Er ist nicht länger Kapitän Laurence zugesprochen, das kann ich Ihnen versichern. Sie haben in den letzten zwei Wochen kein einziges Wort gewechselt.«

Dies war eine bittere Erinnerung, und Laurence spürte, wie auch der letzte Rest seiner Beherrschung schwand. »Wenn irgendeiner von Ihnen wirklich um sein Wohlergehen besorgt wäre, würden Sie seine Gefühle berücksichtigen und sich nicht nur nach Ihren eigenen Wünschen richten«, sagte er mit erhobener Stimme, einer Stimme, die daran gewöhnt war, Befehle zu brüllen, die auch in einem Sturm zu verstehen sein mussten. »Sie beklagen, dass er angeschirrt ist, und im gleichen Atemzug bitten Sie mich, ihn mit einem Trick in Ketten zu legen, damit Sie ihn gegen seinen Willen fortschleifen können. Ich werde das nicht tun. Ich werde das niemals tun, verdammt noch mal.«

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte Barham nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn Laurence selbst in Ketten fortgeschleift werden würde. Seine Augen quollen hervor, seine Hände waren flach auf den Tisch gepresst, und er war kurz davor aufzuspringen. Dann ergriff zum ersten Mal Admiral Powys das Wort und kam ihm zuvor. »Genug, Laurence, hüten Sie Ihre Zunge. Barham, es macht keinen Sinn, ihn weiter hierzubehalten. Raus, Laurence, sofort raus. Wegtreten!«

Die alte Gewohnheit, einem Befehl zu gehorchen, setzte sich durch: Laurence stürzte aus dem Zimmer. Admiral Powys’ Einschreiten hatte ihn vermutlich davor bewahrt, wegen Gehorsamsverweigerung festgenommen zu werden, doch er ging ohne ein Gefühl der Erleichterung. Tausende ungesagte Worte brannten in seiner Kehle, und kaum dass die Tür schwer hinter ihm zugefallen war, drehte er sich schon wieder um. Doch die Wachen der Marine an beiden Seiten der Tür starrten ihn mit unbekümmert frechem Interesse an, als wäre er eine Kuriosität, die zu ihrer Unterhaltung ausgestellt war. Unter ihren unverhohlen neugierigen Blicken beruhigte Laurence sich etwas und ging fort, ehe er sich noch weiter vergessen konnte.

Barhams Worte wurden von dem schweren Holz geschluckt, doch das undeutliche Murmeln der noch immer erhobenen Stimmen folgte Laurence den Gang hinunter. Er fühlte sich geradezu benommen vor Wut, als hätte er etwas getrunken. Sein Atem kam stoßweise, und sein Blick war vernebelt, doch keineswegs von Tränen, es sei denn von Zornestränen. Das Vorzimmer der Admiralität war voller Marineoffiziere, Angestellter und Politiker, und sogar ein grüngekleideter Flieger eilte mit Depeschen durch die Menge. Laurence bahnte sich seinen Weg zur Tür. Seine zitternden Hände hatte er tief in seinen Jackentaschen vergraben, um sie vor den Blicken der anderen zu verbergen. Draußen schlug ihm das übliche spätnachmittägliche Getöse Londons entgegen, denn Whitehall war voller Arbeiter, die zum Abendessen nach Hause hasteten, und weithin war das Gebrüll der Droschkenfahrer und anderer Kutscher zu hören, die die Menge aufforderten: »Straße freimachen.« Laurence’ Gefühle waren ebenso in Aufruhr wie seine Umgebung, und er folgte seinem Instinkt durch die Straßen. Dreimal musste er gerufen werden, ehe er registrierte, dass er gemeint war.

Nur widerwillig drehte er sich um. Er verspürte kein Verlangen danach, einem früheren Kollegen gegenüber ein freundliches Wort oder eine höfliche Geste erwidern zu müssen. Doch zu seiner großen Erleichterung sah er, dass Kapitän Roland gerufen hatte und kein unwissender Bekannter. Er war überrascht, sie zu sehen, sehr überrascht sogar, denn ihr Drache Excidium führte eine Formation auf dem Stützpunkt in Dover an. Es dürfte also nicht so leicht gewesen sein, sie von ihren Pflichten zu entbinden. Auf jeden Fall hatte sie nicht offen zur Admiralität kommen können, denn sie war ein weiblicher Offizier, einer derjenigen, deren Existenz nötig geworden war, weil die Langflügler auf weiblichen Kapitänen bestanden. Das Geheimnis war außerhalb der Reihen der Flieger kaum bekannt und wurde gut gehütet, um nicht das Missfallen der Öffentlichkeit zu erregen. Laurence selbst war es zunächst schwergefallen, sich mit dieser Vorstellung anzufreunden, doch inzwischen hatte er sich so daran gewöhnt, dass ihm Roland nun ohne ihre Uniform seltsam vorkam. Sie trug einen Rock und einen schweren Mantel als Tarnung, und beides stand ihr nicht sehr gut.

»Ich bin die letzten fünf Minuten hinter dir hergekeucht«, klagte sie und griff nach seinem Arm, als sie ihn schließlich eingeholt hatte. »Ich bin durch dieses riesige, höhlenartige Gebäude gewandert, während ich darauf wartete, dass du herauskommst, und dann stürmst du so aufgebracht an mir vorbei, dass ich dich kaum einholen konnte. Diese Kleidung ist eine verfluchte Pest. Ich hoffe, du weißt die Mühen zu schätzen, die ich deinetwegen auf mich nehme, Laurence. Aber sei’s drum«, fügte sie hinzu, und ihre Stimme wurde weich. »Ich kann deinem Gesicht ansehen, dass es nicht gut gelaufen ist. Lass uns etwas essen gehen, dann kannst du mir alles erzählen.«

»Danke, Jane. Ich bin froh, dich zu sehen«, sagte er und ließ sich von ihr in Richtung ihres Gasthauses drängen, obwohl er nicht glaubte, dass er etwas runterkriegen würde. »Wie kommt es denn, dass du hier bist? Es ist doch wohl nichts mit Excidium?«

»Überhaupt nichts, es sei denn, er hat sich mittlerweile den Magen verdorben«, erwiderte sie. »Nein, aber Lily und Kapitän Harcourt machen ihre Sache bestens, sodass Lenton sie auf einen doppelten Patrouillenflug geschickt und mir einige Tage frei gegeben hat. Excidium hat das als Vorwand genutzt, drei fette Kühe auf einmal zu fressen, dieser alte, gierige Bursche. Er hat kaum mit der Wimper gezuckt, als ich ihm vorgeschlagen habe, ich könnte ihn bei Sanders – meinem neuen Ersten Leutnant – zurücklassen und dir Gesellschaft leisten. Und so habe ich ein paar Sachen rausgesucht, mit denen ich mich auf der Straße sehen lassen kann, und habe mich vom Postdienst mitnehmen lassen. Oh, zur Hölle, warte mal kurz, ja?« Sie blieb stehen und trat mit einem Fuß ungestüm in die Luft, um ihren Rock zu lösen, der zu lang war und sich unter ihrem Absatz verfangen hatte.

Laurence stützte sie am Ellbogen, damit sie nicht hinfiel, und danach liefen sie langsamer durch die Straßen Londons. Rolands männlicher Schritt und ihr vernarbtes Gesicht brachten ihr etliche neugierige Blicke ein, sodass Laurence damit begann, die Entgegenkommenden, die sie zu lange ansahen, ebenfalls anzustarren, obwohl Roland selbst ihnen keinerlei Beachtung schenkte. Sein Verhalten jedoch bemerkte sie sehr wohl und sagte: »Du bist wirklich in entsetzlicher Laune. Erschreck nicht diese armen Mädchen. Was haben die Kameraden in der Admiralität zu dir gesagt?«

»Ich schätze, du hast schon gehört, dass eine Abordnung aus China angereist ist. Sie wollen Temeraire mit sich zurücknehmen, und die Regierung hat sich nicht die Mühe gemacht, Einspruch zu erheben. Aber offensichtlich will Temeraire nichts davon wissen. Er hat ihnen gesagt, sie sollen verschwinden und sich aufhängen, obwohl sie ihn nun schon seit zwei Wochen belagern«, berichtete Laurence. Während er sprach, durchzuckte ihn ein Schmerz, als zöge sich etwas direkt unter seinem Brustbein zusammen. Deutlich stand ihm Temeraire vor Augen, wie er beinahe ganz allein in dem alten, heruntergekommenen Stützpunkt von London, der in den letzten hundert Jahren kaum in Betrieb gewesen war, festgehalten wurde. Weder Laurence noch seine Mannschaft konnten ihm Gesellschaft leisten, niemand las ihm vor, und von seiner eigenen Art gab es nur ein paar kleinere Kurierdrachen, die dort Zwischenstation auf ihrer Runde machten.

»Natürlich will er nicht gehen«, sagte Roland. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie wirklich geglaubt haben, sie könnten ihn dazu bringen, dich zu verlassen. Das hätten sie doch besser wissen müssen. Ich habe immer gehört, dass die Chinesen als die Krönung der Drachenlenker verschrien sind.«

»Ihr Prinz hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass er sehr wenig von mir hält. Wahrscheinlich haben sie gedacht, Temeraire würde ihre Position teilen und wäre froh, wieder zurückzukommen«, sagte Laurence. »Auf jeden Fall sind sie die Versuche leid, ihn überzeugen zu wollen, und so hat dieser Schurke Barham befohlen, ich solle Temeraire anlügen und ihm sagen, dass wir nach Gibraltar beordert worden sind, nur, um ihn an Bord eines Transporters und aufs Meer zu bekommen. Wenn er dann erführe, was das eigentliche Ziel ist, würde es zu weit für ihn sein, zum Festland zurückzufliegen.«

»Oh, wie niederträchtig.« Ihre Hand umklammerte seinen Arm beinahe schmerzhaft. »Hat Powys nichts dazu zu sagen gehabt? Ich kann nicht glauben, dass er zulässt, dir so etwas vorzuschlagen. Man kann nicht verlangen, dass ein Marineoffizier diese Dinge versteht, aber Powys hätte sie ihm erklären müssen.«

»Ich denke, er konnte nichts tun. Er ist nur ein Offizier im Dienst, und Barham hat seine Anweisungen vom Ministerium«, sagte Laurence. »Powys hat mich wenigstens davor bewahrt, mir eine Schlinge um den Hals zu legen. Ich war zu zornig, um mich noch zurückhalten zu können, und er hat mich weggeschickt.«

Sie waren in der Strand Street angekommen. Der zunehmende Verkehrslärm machte eine Unterhaltung schwierig, und sie mussten aufpassen, dass sie nicht von dem zweifelhaften grauen Unrat bespritzt wurden, der sich in der Gosse gesammelt hatte und von den dahinrumpelnden Wagen und Droschkenrädern auf den Bürgersteig geschleudert wurde. Laurence’ Wut verebbte, und nun fühlte er sich niedergeschlagen.

Vom Augenblick der Trennung an hatte sich Laurence mit der täglichen Erwartung getröstet, dass alles bald zu Ende wäre. Entweder würden die Chinesen bald begreifen, dass Temeraire nicht mitkommen wollte, oder die Admiralität würde den Versuch aufgeben, die Chinesen zu besänftigen. Trotz allem war es eine harte Strafe gewesen. In den Monaten, seitdem Temeraire geschlüpft war, hatte es keinen einzigen ganzen Tag gegeben, an dem sie voneinander getrennt gewesen waren. Laurence wusste gar nicht mehr, was er mit sich anfangen oder wie er die Stunden ausfüllen sollte. Doch selbst diese zwei langen Wochen waren nichts im Vergleich zu der entsetzlichen Gewissheit, dass er all seine Chancen verspielt hatte.

Die Chinesen würden nicht nachgeben, und das Ministerium würde einen Weg finden, um Temeraire am Ende doch nach China zu schicken. Offenbar hatten sie keine Schwierigkeiten damit, ihm einen Haufen Lügen zu erzählen, um dieses Ziel zu erreichen. Es war sogar wahrscheinlich, dass Barham nicht einmal zustimmen würde, dass Laurence Temeraire ein letztes Mal sehen könnte, um Abschied zu nehmen.

Laurence hatte sich nicht vorstellen wollen, was aus seinem eigenen Leben werden würde, wenn Temeraire fort wäre. Natürlich wäre ein anderer Drache undenkbar, und die Marine würde ihn jetzt nicht mehr zurücknehmen. Er könnte auf einem Schiff der Handelsflotte anheuern oder auf einem Kaperschiff, doch danach stand ihm nicht der Sinn, und er verfügte über genügend Prisengelder, um davon leben zu können.

Er könnte sogar heiraten und sich als Gentleman auf dem Land niederlassen. Diese Aussicht, die ihm in seiner Vorstellung einst so idyllisch erschienen war, wirkte nun jedoch düster und farblos.

Noch schlimmer war die Tatsache, dass er kaum auf Mitgefühl hoffen konnte. Alle seine früheren Bekannten würden es ein glückliches Entkommen nennen, seine Familie würde frohlocken und niemand würde um seinen Verlust wissen. Bei genauerer Betrachtung hatte es fast etwas Lächerliches, dass er so niedergeschlagen war. Er war nur unwillig und aus strengem Pflichtgefühl heraus Flieger geworden, und weniger als ein Jahr war vergangen, seitdem sich seine Lebensumstände verändert hatten. Doch schon jetzt konnte er sich kaum eine Alternative vorstellen. Nur ein anderer Flieger, vielleicht sogar nur ein anderer Kapitän konnte seine Gefühle wirklich verstehen, und wenn Temeraire fort wäre, würde er auch von deren Gesellschaft abgeschnitten sein, so wie die Flieger selbst vom Rest der Welt getrennt lebten.

Das Vorderzimmer im Gasthaus Krone und Anker war belebt, obwohl es für Stadtverhältnisse noch sehr früh für ein Abendessen war. Der Ort war weder ein vornehmes, noch ein elegantes Etablissement, und die Kundschaft bestand zum Großteil aus Männern vom Land, die an eine vernünftigere Stunde für Speis und Trank gewöhnt waren. Es war kein Ort, den eine ehrbare Frau betreten hätte, ja nicht einmal ein Ort, den Laurence in früheren Tagen freiwillig besucht hätte. Roland zog einige unverschämte Blicke auf sich, andere waren eher neugierig, doch niemand nahm sich größere Freiheiten heraus. Laurence machte eine beeindruckende Figur neben ihr mit seinen breiten Schultern und seinem Paradedegen, den er sich um die Hüfte gegürtet hatte.

Roland führte Laurence hinauf in ihr Zimmer, bat ihn, in einem hässlichen Sessel Platz zu nehmen, und schenkte ihm Wein ein. Er nahm einen tiefen Schluck und versteckte sich hinter seinem Glas vor ihrem mitleidigen Blick, denn er hatte Angst, dass er ganz leicht die Fassung verlieren könnte. »Du musst schon ganz schwach vor Hunger sein, Laurence«, sagte sie. »Das macht die Sache noch schlimmer.« Sie klingelte nach dem Dienstmädchen, und bald darauf brachten etliche männliche Bedienstete ein schlichtes Ein-Gang-Menü der besten Sorte: gebratenes Huhn mit Blattgemüse und Bratensauce vom Rind, einige kleine Käseküchlein mit Marmelade, eine Kalbsfußpastete, eine Schale Rotkohl und Kekspudding zum Nachtisch. Roland ließ die Dienstboten alles auf einmal auf den Tisch stellen, anstatt nach und nach aufzutragen, und schickte sie weg.

Laurence hatte nicht vorgehabt, etwas zu essen, doch als diese Köstlichkeiten vor ihm standen, bemerkte er, wie hungrig er war. Aufgrund seines unregelmäßigen Lebenswandels und der schlechten Küche seines billigen Gasthauses hatte er in der letzten Zeit nur mit wenig Appetit gegessen. Er hatte seine Unterkunft einzig danach ausgewählt, dass sie ganz in der Nähe zum Stützpunkt lag, wo man Temeraire untergebracht hatte. Nun griff Laurence herzhaft zu, während Roland die Konversation beinahe allein bestritt und ihn mit Tratsch aus dem Korps und Banalitäten unterhielt.

»Es hat mir natürlich sehr leidgetan, Lloyd zu verlieren, aber sie wollten ihn zu einem Schwenkflügler-Ei in Kinloch Laggan bringen, das sich gerade verhärtet«, berichtete Roland ihm über ihren Ersten Leutnant.

»Ich glaube, das Ei habe ich dort gesehen«, sagte Laurence, der so weit aufgerüttelt worden war, dass er seinen Kopf vom Teller hob. »Obversarias Ei?«

»Ja, und wir haben große Hoffnungen in dieser Angelegenheit«, bestätigte sie. »Lloyd war natürlich völlig aus dem Häuschen, und ich freue mich für ihn. Trotzdem ist es nicht leicht, nach fünf Jahren einen neuen Ersten einzuführen, vor allem nicht, wenn die ganze Mannschaft und Excidium selbst unablässig darauf hinweisen, wie Lloyd die Dinge zu regeln pflegte. Aber Sanders ist ein gutherziger und zuverlässiger Mann. Sie haben ihn von Gibraltar hergeschickt, nachdem Granby den Posten ablehnt hatte.«

»Was? Er hat ihn abgelehnt?«, schrie Laurence entsetzt. Granby war sein eigener Erster Leutnant. »Nicht meinetwegen, hoffe ich.«

»Oh, Herrgott, hast du das nicht gewusst?«, fragte Roland nicht weniger entsetzt. »Granby hat sehr freundlich mit mir gesprochen. Er sagte, es tue ihm sehr leid, aber er habe nicht darum gebeten, seinen Posten zu verändern. Ich war mir sicher, er habe in dieser Angelegenheit mit dir gesprochen. Ich dachte, du hättest vielleicht Anlass zur Hoffnung.«

»Nein«, flüsterte Laurence. »Viel wahrscheinlicher wird er ganz ohne Posten enden. Ich bedauere es sehr zu hören, dass er sich eine so gute Gelegenheit hat entgehen lassen.« Diese Ablehnung konnte Granby im Korps nur schaden. Ein Mann, der ein Angebot zurückgewiesen hatte, konnte nicht so bald erwarten, noch einmal gefragt zu werden, und schon in kurzer Zeit würde es nicht mehr in Laurence’ Macht stehen, Granby weiterzuhelfen.

»Es tut mir jedenfalls verdammt leid, dass ich dir noch mehr Grund zur Sorge gegeben habe«, sagte Roland nach einem Augenblick. »Admiral Lenton hat den Großteil deiner Mannschaft noch nicht verteilt, weißt du. Er hat nur einige Leute aus reiner Verzweiflung Berkley zugeordnet, der sie so dringend gebrauchen konnte. Wir waren uns ja alle sicher, dass Maximus seine endgültige Größe erreicht hat, aber kurz nachdem du hierher berufen wurdest, bewies er uns, wie falsch wir lagen. Bislang hat er fast fünf Meter Länge zugelegt.«

Letzteres hatte sie hinzugefügt, um wieder einen leichteren Ton in ihre Unterhaltung zu bringen, doch es gelang ihr nicht: Laurence merkte, dass er den Appetit verloren hatte, und legte Messer und Gabel auf den noch zur Hälfte gefüllten Teller.

Roland zog die Vorhänge zu; draußen wurde es bereits dunkel. »Hast du Lust auf ein Konzert?«

»Ich begleite dich gerne«, sagte er mechanisch, doch sie schüttelte den Kopf.

»Nein, schon gut. Ich sehe schon, dass das auch nichts nützen würde. Komm ins Bett, mein Lieber. Es macht keinen Sinn, herumzusitzen und Trübsal zu blasen.«

Sie löschten die Kerzen und legten sich nebeneinander ins Bett. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll«, sagte Laurence leise. Der Schutz der Dunkelheit machte dieses Geständnis ein wenig leichter. »Ich habe Barham einen Schuft genannt, und ich kann es ihm nicht verzeihen, dass er mich gebeten hat, zu lügen und mich überhaupt nicht wie ein Gentleman zu verhalten. Aber er ist kein Versager. Er würde nicht zu solchen Mitteln greifen, wenn er eine andere Wahl gehabt hätte.«

»Es macht mich krank, wenn ich höre, dass er vor diesem ausländischen Prinzen katzbuckelt und kriecht.« Roland richtete sich auf und stützte sich mit den Ellenbogen auf ihr Kopfkissen. »Ich lag als Oberfähnrich mal im Hafen von Kanton, als ein Transporter von der langen Reise aus Indien zurückkam. Ihre Dschunken sehen nicht einmal so aus, als ob sie einen kleinen Regenguss überstehen würden, ganz zu schweigen von einem Sturm. Sie können ihre Drachen nicht ohne Zwischenstopp über den Ozean bringen, selbst wenn sie uns in einen Krieg stürzen wollen.«

»Das Gleiche habe ich auch gedacht, als ich zum ersten Mal davon gehört habe«, sagte Laurence. »Aber sie müssen nicht über das Meer fliegen, um jeglichen Handel mit China zu beenden und auch unsere Schifffahrt nach Indien zu unterbrechen, wenn sie wollen. Ganz davon abgesehen grenzen sie an Russland. Es würde das Ende des Bündnisses gegen Bonaparte bedeuten, wenn der Zar an seinen Ostgrenzen angegriffen würde.«

»Ich kann nicht sagen, dass die Russen uns bislang im Krieg viel gebracht haben, und Geld ist ein erbärmlicher Grund dafür, sich wie ein Lump zu benehmen. Das gilt für einen einzelnen Mann ebenso wie für eine ganze Nation«, sagte Roland. »Der Staat hat auch schon vorher Anleihen benötigt, und irgendwie sind wir über die Runden gekommen und haben Bonaparte noch dazu ein blaues Auge verpasst. Auf jeden Fall kann ich es ihnen nicht verzeihen, dass sie dich von Temeraire fernhalten. Barham hat dich Temeraire die ganze Woche noch nicht sehen lassen, schätze ich.«

»Nein, schon seit zwei Wochen nicht. Da gibt es einen anständigen Burschen auf dem Stützpunkt, der ihm Nachrichten von mir überbracht hat und der mir sagte, dass er frisst. Aber ich kann ihn nicht darum bitten, mich zu ihm zu lassen, das würde uns beide vors Kriegsgericht bringen, obwohl ich für meinen Teil nicht mal wüsste, ob ich mich davon jetzt noch aufhalten lassen würde.«

Vor einem Jahr hätte er es sich nicht träumen lassen, dass er je so etwas sagen würde. Auch jetzt gefiel es ihm nicht, so etwas zu denken, doch eine Sehnsucht nach Aufrichtigkeit hatte ihm die Worte in den Mund gelegt. Roland protestierte nicht, schließlich war auch sie eine Fliegerin. Sie streckte die Hand aus und streichelte Laurence’ Wange, dann zog sie ihn hinab, um ihm all den Trost zu spenden, den er in ihren Armen finden konnte.

Laurence schreckte aus dem Schlaf und richtete sich im dunklen Zimmer auf. Roland war bereits aus dem Bett gesprungen. Ein gähnendes Zimmermädchen stand in der Tür und hielt eine Kerze empor, sodass sich der gelbe Schein ins Zimmer ergoss. Sie reichte Roland eine versiegelte Nachricht, blieb dann aber noch stehen und bedachte Laurence mit einem eindeutig anzüglichen Augenaufschlag. Er spürte, wie ihm eine schuldbewusste Röte in die Wangen stieg, und er warf einen raschen Blick hinab, um sicherzugehen, dass ihn das Bettzeug vollständig bedeckte.

Roland hatte das Siegel bereits erbrochen. Ohne weitere Umstände nahm sie dem Mädchen die Kerze aus der Hand. »Das wäre alles, vielen Dank«, sagte sie und gab ihr einen Schilling, dann schlug sie ihr die Tür vor der Nase zu. »Laurence, ich muss sofort aufbrechen«, flüsterte sie, als sie ans Bett getreten war, um weitere Kerzen anzuzünden. »Dies hier ist eine Nachricht aus Dover. Ein französischer Konvoi hat sich unter dem Schutz von Drachen in Richtung Le Havre aufgemacht. Die Kanalflotte ist ihnen auf den Fersen, aber ein Flamme-de-Gloire ist bei ihnen, und die Flotte kann nicht ohne Unterstützung aus der Luft angreifen.«

»Schreiben sie, wie viele Schiffe dem französischen Konvoi angeschlossen sind?« Er war aufgestanden und nun dabei, seine Kniebundhosen anzuziehen. Ein Feuerspucker war beinahe die schlimmste Gefahr, der ein Schiff ausgesetzt sein konnte, und blieb selbst dann ein enormes Risiko, wenn es ausreichend Deckung aus der Luft gab.

»Dreißig oder mehr, und ganz bestimmt bis oben hin mit Kriegsmaterial beladen«, antwortete sie und flocht sich die Haare zu einem festen Zopf. »Kannst du irgendwo meine Jacke entdecken?«

Durch das Fenster war zu sehen, wie das Blau des Himmels heller wurde, und schon bald würde man keine Kerzen mehr brauchen. Laurence fand die Jacke und half ihr hinein. Ein Teil seiner Gedanken war bereits damit beschäftigt, die voraussichtliche Stärke der Handelsschiffe zu berechnen, welcher Teil der Flotte dazu bestimmt werden würde, ihnen zu folgen, und wie vielen es bereits gelungen sein mochte, hindurchzuschlüpfen, um in den sicheren Hafen einzukehren: Die Kanonen von Le Havre waren alles andere als angenehm. Wenn der Wind seit gestern nicht gedreht hatte, hatten sie die besten Bedingungen für ihre Fahrt. Dreißig Schiffe voller Eisen, Kupfer, Quecksilber und Schwarzpulver! Seit Trafalgar stellte Bonaparte keine Gefahr auf See mehr dar, doch an Land war er noch immer der Herr über Europa, und eine solch reichliche Ladung konnte seine Vorräte mühelos für Monate aufstocken.

»Gib mir doch bitte den Mantel dort, sei so freundlich«, bat Roland und riss ihn damit aus seinen Grübeleien. Die mächtigen Falten verbargen ihre männliche Kleidung, und sie streifte die Kapuze über. »So, das wird ausreichen.«

»Warte einen Augenblick, ich werde dich begleiten«, sagte Laurence und mühte sich mit seinem eigenen Mantel ab. »Ich hoffe, ich kann mich nützlich machen. Wenn bei Berkley auf Maximus Not am Mann ist, kann ich wenigstens an einem Riemen ziehen oder Enterkommandos abwehren. Lass das Gepäck hier und läute nach dem Mädchen. Wir lassen deine übrigen Dinge in mein Gasthaus schicken.«

Sie eilten durch die Straßen, die zum größten Teil noch unbelebt waren; Männer ratterten mit ihren stinkenden Wagen vorbei, die Tagelöhner machten sich auf den Weg, um sich Arbeit zu suchen, Mägde in ihren klappernden Holzschuhen gingen zum Markt, und die Kuhherden muhten ihren weißen Atem in die kalte Luft. Ein feuchter, beißender Nebel war in der Nacht aufgestiegen und prickelte wie Eis auf der Haut. Immerhin bedeuteten die wenigen Menschen, dass sich Roland nicht groß um ihren Mantel kümmern musste, sodass sie sich beinahe im Laufschritt fortbewegen konnten.

Der Londoner Stützpunkt lag nicht weit von den Büros der Admiralität entfernt am Westufer der Themse. Trotz der so offenkundig günstigen Lage waren die Gebäude ringsherum in armseligem Zustand und zerfallen. Hier hausten diejenigen, die es sich nicht leisten konnten, in größerer Entfernung zu den Drachen zu leben. Einige der Wohnstätten waren sogar gänzlich verlassen, und lediglich einige magere Kinder spähten misstrauisch hinaus, als sie die Fremden vorbeieilen hörten. In den Gossen der Stadt gurgelten Rinnsale von Unrat unter einer dünnen Eisschicht, die Laurence und Roland beim Rennen mit ihren Stiefeln durchbrachen, sodass der Gestank an die Oberfläche drang und sie verfolgte.

Hier waren die Wege völlig menschenleer, doch während sie weitereilten, löste sich plötzlich ein schwerer Wagen wie mit böser Absicht aus dem Nebel. Roland riss Laurence zur Seite und zerrte ihn auf den Gehweg, eben noch rechtzeitig genug, um nicht erfasst zu werden und unter die Räder zu geraten. Der Fahrer hielt nicht einmal an, sondern verschwand ohne ein Wort der Entschuldigung um die nächste Ecke.

Unglücklich sah Laurence auf seine besten Hosen hinab, an denen der schwarze Dreck hinaufgespritzt war. »Keine Sorge«, tröstete ihn Roland. »Von den Fliegern wird sich keiner darum kümmern, und vielleicht lässt es sich ja auch später abbürsten.« Diesen Optimismus konnte er nicht teilen, doch es blieb auf keinen Fall genügend Zeit, sofort etwas zu unternehmen, und so hasteten sie weiter.

Die Tore des Stützpunktes hoben sich glänzend von den schmutzigen Straßen und dem ebenso schmuddelig trüben Morgen ab. Das schwarze Eisengitter war frisch gestrichen und hatte Schlösser aus polierter Bronze. Unerwarteterweise befanden sich einige junge Marinesoldaten in ihren roten Uniformen in der Nähe und hatten ihre Musketen gegen die Mauer gelehnt. Der Wachposten am Tor salutierte vor Roland, als er näher trat, um sie einzulassen, während die Männer von der Marine sie verwirrt aus zusammengekniffenen Augen musterten. Ihr Mantel war ihr einen Augenblick lang ein gutes Stück von der Schulter gerutscht und enthüllte sowohl ihre drei goldenen Balken als auch ihre alles andere als schäbige Kleidung.

Stirnrunzelnd trat Laurence vor, um ihnen die Sicht zu versperren. »Vielen Dank, Patson. Der Bote aus Dover?«, fragte er die Torwache, sobald der Mann sie hindurchgelassen hatte.

»Glaube, Sie werden schon erwartet, Sir«, antwortete Patson und wies mit dem Daumen hinter sich, während er die Tore wieder ins Schloss zog. »Auf der ersten Lichtung, wenn Sie so freundlich wären. Verschwenden Sie keinen Gedanken an die da drüben«, fügte er hinzu und warf den Marinesoldaten einen finsteren Blick zu, woraufhin diese angemessen beschämt aussahen. Sie selbst waren kaum dem Knabenalter entwachsen, Patson hingegen war groß und ein ehemaliger Waffenmeister; und als wäre dies nicht schon einschüchternd genug, verstärkten eine Augenklappe und die verbrannte rote Haut darum herum den furchteinflößenden Eindruck. »Keine Sorge, denen werde ich schon Manieren beibringen.«

»Danke, Patson, lassen Sie sich nicht aufhalten«, sagte Roland, und sie setzten ihren Weg fort. »Was machen denn diese Kanaillen hier? Immerhin keine Offiziere, da sollten wir dankbar sein. Ich kann mich noch daran erinnern, wie vor zwölf Jahren ein Armeeoffizier die Wahrheit über Kapitän St. Germain herausfand, als sie in Toulon verwundet wurde. Er hat es an die große Glocke gehängt, und beinahe hätten die Zeitungen davon Wind bekommen: eine blöde Sache.«

Nur eine schmale Linie aus Bäumen und Gebäuden ringsherum schirmte den Stützpunkt von der Luft und dem Lärm der Stadt ab. Beinahe sofort gelangten sie zur ersten Lichtung, einem kleinen Platz, der kaum groß genug war, dass ein mittelgroßer Drache die Flügel spreizen konnte. Tatsächlich erwartete sie der Bote: ein junges Winchesterweibchen, dessen lilafarbene Flügel noch nicht so weit gedunkelt waren, dass sie die Farbe der ausgewachsenen Tiere angenommen hätten. Doch es war in vollem Geschirr und schien ungeduldig darauf zu warten, sich endlich wieder in die Luft schwingen zu können.

»Tatsächlich, es ist Hollin«, rief Laurence und schüttelte glücklich die Hand des Kapitäns. Es war eine große Freude für ihn, den früheren Anführer seiner Bodentruppe wiederzusehen, der nun in der Jacke eines Offiziers vor ihm stand. »Ist dies Ihr Drache?«

»Ja, Sir, in der Tat. Das ist Elsie«, erwiderte Hollin und strahlte ihn an. »Elsie, das ist Kapitän Laurence, von dem ich dir schon erzählt habe. Er hat dafür gesorgt, dass du zu mir gekommen bist.«

Der Winchester drehte den Kopf und sah Laurence aus glänzenden, interessierten Augen an. Es waren noch keine drei Monate vergangen, seitdem er aus der Schale geschlüpft war, und er war noch immer klein, selbst für seine Rasse, doch seine Haut war fast glänzend und er sah aus, als würde man sich ausgesprochen gut um ihn kümmern. »Dann sind Sie Temeraires Kapitän? Vielen Dank, ich mag meinen Hollin sehr gerne«, sagte er mit heller, piepsiger Stimme und stieß Hollin mit der Schnauze an, doch es lag so viel Zuneigung in dieser Geste, dass dieser beinahe davon umgeworfen wurde.

»Ich bin froh, wenn ich behilflich sein konnte. Es ist mir ein Vergnügen, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen«, erwiderte Laurence, und es gelang ihm, begeistert zu klingen, obwohl ihm die Erinnerung einen schmerzhaften Stich versetzte. Schließlich befand sich Temeraire hier, keine fünfhundert Meter entfernt, und er konnte ihm noch nicht einmal einen kurzen Gruß zurufen. Er hielt Ausschau, doch Gebäude versperrten ihm die Sicht, und nirgends war auch nur ein winziges Stückchen schwarzer Haut zu entdecken.

Roland fragte Hollin: »Ist alles bereit? Wir müssen sofort losfliegen.«

»Ja, Sir, in der Tat. Wir warten nur noch auf die Depeschen«, erwiderte Hollin. »Es dauert noch vielleicht fünf Minuten. Möglicherweise wollen Sie die Zeit nutzen, um sich vor dem langen Flug noch ein wenig die Beine zu vertreten.«

Die Versuchung war groß, und Laurence schluckte schwer. Doch die Disziplin obsiegte. Sich offen einem unehrenhaften Befehl zu widersetzen war das eine, sich davonzuschleichen, um einen Befehl zu umgehen, nur weil er einem nicht behagte, war etwas gänzlich anderes. Und sollte er es dennoch tun, würde es negativ auf Hollin und Roland selbst zurückfallen. »Ich werde nur kurz in die Baracke hineinschauen, um mit Jervis zu sprechen«, sagte er stattdessen und machte sich auf den Weg, den Mann zu suchen, der sich um Temeraires Wohlergehen kümmerte.

Jervis war ein betagter Mann, der den Großteil seiner linken Gliedmaßen eingebüßt hatte, als ein übler Hieb die Seite des Drachens traf, auf welchem er als Geschirrmeister gedient hatte. Er erholte sich besser, als man es hatte hoffen können, und wurde in den gemächlichen Dienst des selten genutzten Londoner Stützpunktes abkommandiert. Mit seinem Holzbein und dem Metallhaken anstelle einer Hand war er eine seltsame, schiefe Erscheinung, und die Untätigkeit hatte ihn ein wenig träge und eigensinnig gemacht. Doch Laurence hatte ihm so oft ein offenes Ohr geschenkt, dass er nun herzlich begrüßt wurde.

»Hätten Sie die Freundlichkeit, eine Nachricht für mich zu überbringen?«, fragte Laurence, nachdem er eine Tasse Tee abgelehnt hatte. »Ich werde mich nach Dover begeben, um zu sehen, ob ich dort von Nutzen sein kann, und es würde mir gar nicht gefallen, wenn sich Temeraire Sorgen machen würde, weil er länger nichts von mir hört.«

»Das werde ich tun, und ich werde sie ihm vorlesen. Wird ihm guttun, dem armen Burschen«, sagte Jervis und stapfte davon, um mit seiner einen Hand ein Tintenfass und die Feder zu holen. Laurence beugte sich über ein Stückchen Papier, um seine Worte niederzuschreiben. »Dieser fette Bursche von der Admiralität ist vor nicht einmal einer halben Stunde mit einer ganzen Reihe von Marinesoldaten und diesen seltsamen Chinesen wieder einmal hier aufgetaucht, und sie sind noch immer bei Temeraire und reden auf den Lieben ein. Wenn sie nicht bald wieder verschwinden, kann ich nicht garantieren, dass Temeraire heute noch etwas zu sich nimmt. Dieser hässliche Hurensohn von einem Seefahrer. Ich weiß nicht, was er vorhat, und warum er sich einbildet, etwas von Drachen zu verstehen. Sie müssen entschuldigen«, fügte Jervis eilig hinzu.

Laurence bemerkte, dass seine Hand auf dem Papier derart zitterte, dass er die ersten paar Zeilen und den Tisch mit Tinte befleckt hatte. Er gab eine belanglose Antwort und versuchte, sich zum Weiterschreiben zu zwingen, doch die Worte wollten nicht fließen. Als er so dastand, fuhr er plötzlich zusammen und wurde fast von den Füßen gerissen. Die Tinte ergoss sich über den Fußboden, als der Tisch umfiel. Von draußen war ein entsetzlicher, markerschütternder Laut zu hören, wie das schlimmste Toben eines Windstoßes, eines ausgewachsenen Wintersturmes über der Nordsee.

Laurence ließ die Feder fallen und riss die Tür auf, Jervis stolperte hinter ihm her. Ein Echo hallte in der Luft. Elsie saß auf den Hinterbeinen und öffnete in ihrer Furcht immer wieder halb die Flügel, um sie dann wieder anzulegen, während Hollin und Roland versuchten, sie zu beruhigen. Auch die wenigen anderen Drachen auf dem Stützpunkt hatten die Köpfe erhoben, spähten über die Bäume und zischten aufgeregt.

»Laurence«, rief Roland, doch er beachtete sie nicht. Er war schon halb den Weg hinuntergerannt und hatte unwillkürlich die Hände an den Griff seines Degens gelegt. Als er auf der Lichtung ankam, bemerkte er, dass ihm der Weg durch die zusammengefallenen Überreste der Barackengebäude und mehrere umgestürzte Bäume versperrt war.

Gut tausend Jahre, ehe die Römer die ersten westlichen Drachenrassen gezähmt hatten, waren die Chinesen bereits Meister dieser Kunst gewesen. Sie schätzten Schönheit und Intelligenz höher als Fähigkeiten im Kampf und sahen mit einer Spur überlegener Verachtung auf die Feuerspucker und Giftsprüher hinab, die im Westen so wohlgelitten waren. Ihre Luftdivisionen waren zahlenmäßig so stark, dass sie keinen Bedarf an etwas hatten, das sie für prahlerisches Blendwerk hielten. Doch sie verachteten keineswegs alle ungewöhnlichen Fähigkeiten, und beim Himmelsdrachen hatten sie den Höhepunkt ihres Strebens erreicht: die Vereinigung all der anderen Vorzüge, gepaart mit der heimtückischen und tödlichen Macht, die die Chinesen den Göttlichen Wind nannten, einem Brüllen mit einer größeren Kraft als Kanonenfeuer.

Laurence hatte erst ein einziges Mal gesehen, welche verheerende Zerstörung der Göttliche Wind anrichten konnte, nämlich bei der Schlacht von Dover, in der Temeraire diesen Wind mit großem Erfolg gegen Napoleons Lufttransporter eingesetzt hatte. Doch diesmal hatten die unglückseligen Bäume unter dessen Wucht aus kürzester Distanz gelitten und lagen mit zerborstenen Stämmen wie hingeworfene Streichhölzer übereinander. Auch die gesamten Grundmauern der Baracken waren zu Boden gestürzt, der grobe Mörtel zerbröckelt, und die Steine waren übereinandergefallen und zerschlagen. Nur ein Hurrikan oder vielleicht ein Erdbeben hätten eine solche Vernichtung bewirken können, und mit einem Mal schien der vormals so poetische Name weitaus zutreffender.

Die Eskorte aus Marinesoldaten war beinahe bis zum letzten Mann zum Unterholz, das die Lichtung säumte, zurückgewichen, die Gesichter weiß und starr vor Entsetzen. Aus ihren Reihen hatte sich nur Barham nicht von der Stelle gerührt. Auch die Chinesen waren nicht geflohen, waren jedoch allesamt in einem ehrerbietigen Kniefall zu Boden gesunken, außer Prinz Yongxing selbst, der ohne mit der Wimper zu zucken an ihrer Spitze stand.

Die Überreste einer gewaltigen Eiche war so zum Liegen gekommen, dass alle Leute an den Rand der Lichtung gedrängt wurden. An den Wurzeln klebte die Erde, und dahinter stand Temeraire, ein Vorderbein auf den Stamm gestützt, und sein geschmeidiger Körper ragte über ihm auf.

»Sie werden solche Dinge nicht zu mir sagen«, dröhnte er und senkte seinen Kopf, bis er mit Barham auf einer Höhe war. Seine Zähne waren gebleckt, und der stachelige Kranz um seinen Kopf war aufgestellt und bebte vor Zorn. »Ich glaube Ihnen kein einziges Wort, und ich will solche Lügen nicht hören. Laurence würde sich nie für einen anderen Drachen entscheiden. Wenn Sie ihn fortgeschickt haben, werde ich ihm folgen, und wenn Sie ihn verletzt haben sollten …«

Er holte tief Luft, um erneut loszudonnern, sein Brustkorb blähte sich wie ein Segel im Wind, und dieses Mal würde es die Männer treffen, die hilflos vor ihm lagen.

»Temeraire«, schrie Laurence, kletterte in blinder Eile über den umgestürzten Baum und glitt an ihm hinab auf die Lichtung, ohne sich um die Splitter zu kümmern, die seine Kleidung und Haut gleichermaßen aufrissen. »Temeraire, mir geht es gut, ich bin hier …«

Schon beim ersten Wort schnellte Temeraires Kopf herum, und sofort setzte der Drache sich in Bewegung, um mit den wenigen Schritten, die es ihn kostete, zum anderen Ende der Lichtung zu gelangen. Laurence blieb reglos stehen, sein Herz hämmerte, jedoch keineswegs aus Furcht: Die Vorderbeine mit den entsetzlichen Klauen landeten auf beiden Seiten neben ihm und Temeraires schlanker Körper krümmte sich schützend um ihn herum. Die mächtigen Schuppen ragten neben ihm wie glänzende schwarze Wände auf, und der dreieckige Kopf ruhte neben ihm. Laurence legte die Hände auf Temeraires Schnauze, und einen Augenblick lang bettete er seine Wange auf die weichen Nüstern. Temeraire stieß einen leisen, wortlosen Laut aus, in dem all sein Unglück mitschwang. »Laurence, Laurence, verlass mich nicht wieder.«

Laurence schluckte. »Mein Lieber«, sagte er und brach ab, denn es gab darauf keine Antwort.

Schweigend standen sie mit aneinandergeschmiegten Köpfen und vergaßen den Rest der Welt, doch nur für einen kurzen Moment. »Laurence«, rief Roland auf der anderen Seite des Körpers, der ihn umschlang, und sie klang außer Atem, ihre Stimme drängend.

»Temeraire, rück ein bisschen, da ist eine gute Kameradin.« Temeraire hob den Kopf und entrollte sich zögernd, sodass Laurence mit Roland sprechen konnten. Er achtete jedoch darauf, dass er den Weg zwischen Laurence und Barhams Männern versperrte.

Roland duckte sich unter Temeraires Vorderbeinen hindurch und gesellte sich zu Laurence. »Natürlich musstest du zu Temeraire gehen, aber es wird einen schlechten Eindruck bei jedem hinterlassen, der nichts von Drachen versteht. Um Himmels willen, lass nicht zu, dass Barham dich noch weiter in Schwierigkeiten bringt. Sei ein guter Junge und mach alles, was er von dir verlangt.« Sie schüttelte den Kopf. »Gott weiß, Laurence, dass ich es hasse, dich so zurückzulassen, aber die Depeschen sind eingetroffen, und jede Minute zählt.«

»Natürlich kannst du nicht bleiben«, sagte er. »Wahrscheinlich erwarten sie dich ebenjetzt in Dover, um den Angriff zu starten. Keine Angst, wir schaffen das schon.«

»Ein Angriff? Es wird eine Schlacht geben?«, fragte Temeraire, der mitgehört hatte. Er bog seine Krallen und blickte gen Osten, als ob er tatsächlich von hier aus sehen konnte, wie die Formation in den Himmel aufstieg.

»Mach dich sofort auf den Weg! Und bitte, pass auf dich auf«, sagte Laurence eilig an Roland gewandt. »Entschuldige mich bei Hollin.«

Sie nickte. »Versuch, ruhig zu bleiben. Ich werde mit Lenton sprechen, noch ehe wir angreifen. Das Korps wird sich das nicht stillschweigend mit ansehen. Schlimm genug, dass sie euch getrennt haben, aber jetzt dieser empörende Druck und dass sie alle anderen Drachen beunruhigen: Das darf so nicht weitergehen, und dafür kann man dich wahrlich nicht verantwortlich machen.«

»Mach dir keine Sorgen und vergeude keine weitere Zeit: Der Angriff ist jetzt wichtiger«, antwortete Laurence sehr energisch, doch es war ebenso geheuchelt wie ihre beruhigenden Worte, denn sie beide wussten, wie aussichtslos die Situation war. Laurence bereute keinen Moment lang, dass er an Temeraires Seite geeilt war, doch er hatte damit offen gegen Befehle verstoßen. Kein Kriegsgericht würde ihn für unschuldig befinden, denn Barham selbst würde die Vorwürfe bestätigen, und wenn man Laurence befragte, würde er die Tat kaum abstreiten können. Zwar glaubte er nicht, dass man ihn hängen würde, denn es handelte sich immerhin nicht um ein Vergehen auf dem Schlachtfeld, und die Umstände dürften sich mildernd auswirken, aber er wäre mit Sicherheit entlassen worden, wenn er noch immer in der Marine dienen würde. Er konnte nichts anderes tun, als sich den Konsequenzen zu stellen. So zwang er sich zu einem Lächeln, Roland drückte ihm den Arm, und dann war sie fort.

Die Chinesen hatten sich wieder erhoben und sammelten sich, wobei sie einen besseren Eindruck als die angegriffen aussehenden Marinesoldaten machten, die allem Anschein nach jeden Augenblick erneut ihr Heil in der Flucht suchen würden. Sie alle waren nun dabei, über die umgestürzte Eiche zu klettern. Der jüngere Gesandte, Sun Kai, war geschickter darin, sich einen Weg zu suchen, und gemeinsam mit einem der Bediensteten reichte er dem Prinzen eine Hand, um ihm hinabzuhelfen. Yongxing war durch seinen schweren, bestickten Umhang in seinen Bewegungen eingeschränkt und ließ Fäden von bunter Seide wie farbenfrohe Spinnenweben an den abgebrochenen Ästen zurück. Falls er jedoch ebensolche Furcht verspürte, wie sie sich klar und deutlich auf den Gesichtern der englischen Soldaten zeigte, dann konnte er dies meisterhaft verbergen. Er schien die Ruhe selbst zu sein.

Temeraire beobachtete sie aufgebracht und wachsam. »Ich werde nicht hier herumsitzen, während alle anderen in den Kampf ziehen, ganz egal, was diese Leute wollen.«

Besänftigend streichelte Laurence Temeraires Nacken. »Lass dich von denen nicht aus der Fassung bringen. Bitte, mein Lieber, bleib ruhig. Wenn dein Temperament mit dir durchgeht, machst du die Sache auch nicht besser.« Als Antwort darauf hatte Temeraire nur ein Schnauben übrig, sein Blick blieb starr und gefährlich glitzernd und seine Halskrause stand noch immer bedrohlich spitz aufgerichtet: Er schien nicht in der Stimmung zu sein, sich beruhigen zu lassen.

Barham selbst war aschfahl und hatte es nicht besonders eilig, in Temeraires Nähe zu gelangen, aber Yongxing herrschte ihn an und wiederholte, den Gesten in Temeraires Richtung nach zu urteilen, drängende und wütende Aufforderungen. Sun Kai jedoch stand abseits und beobachtete Laurence und Temeraire nachdenklich. Schließlich kam Barham mit finsterer Miene auf sie zu und hatte offenbar seine Furcht überwunden, indem er sich auf Zorn verlegte, was Laurence häufig genug bei Männern am Vorabend der Schlacht beobachtet hatte.

»Ich nehme an, so halten Sie es im Korps mit der Disziplin«, setzte Barham an, was kleinlich und boshaft war, denn immerhin hatte er höchstwahrscheinlich sein Leben ebenjenem Ungehorsam zu verdanken. Und genau dies schien ihm zu dämmern und ihn noch wütender zu machen. »Nun ja, ich werde das nicht für mich behalten, Laurence, keineswegs. Das wird Ihr Untergang sein. Sergeant, nehmen Sie ihn fest …«

Der Rest des Satzes war nicht mehr zu verstehen. Barham blieb zurück und wurde kleiner, sein zum Brüllen geöffneter roter Mund klappte auf und wieder zu, wie bei einem Fisch, und die Worte flossen zusammen, als der Boden unter Laurence’ Füßen verschwand. Temeraires Krallen hatten sich vorsichtig um ihn gebogen, und die mächtigen schwarzen Flügel schlugen in kräftigen Zügen, hinauf und immer weiter hinauf, durch die trübe Luft Londons. Ruß legte sich auf Temeraires Haut und machte Laurence’ Hände fleckig.

cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House

1. Auflage Deutsche Erstausgabe August 2007 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2006 der Originalausgabe by Naomi Novik

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Throne of Jade« bei Del Rey Books, an imprint of the Random House Publishing Group, a division of Random House Inc., New York. © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe cbt/cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Marianne Schmidt Innenillustrationen: © Gayle Marquez Umschlagillustration: Dominic Harmann Umschlaggestaltung: HildenDesign, München he ∙ Herstellung: CZ Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-09180-4

www.cbj-verlag.de

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