Die Feuerreiter Seiner Majestät 04 - Naomi Novik - E-Book

Die Feuerreiter Seiner Majestät 04 E-Book

Naomi Novik

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Beschreibung

Kaum haben Will Laurence und sein Drache Temeraire ihr Abenteuer im Ottomanischen Reich heil überstanden, da droht bereits das nächste Unheil: In Britannien ist eine verheerende Seuche ausgebrochen, und die Drachen der Feuerreiter siechen hilflos dahin. Niemand weiß, wie lange diese katastrophale Schwäche noch vor dem kriegslüsternen französischen Kaiser Napoleon geheim gehalten werden kann. Und so müssen Will Laurence und Temeraire sofort wieder aufbrechen – dieses Mal nach Afrika, wo es das einzige Heilmittel gegen die Seuche geben soll. Doch auf dem schwarzen Kontinent lauern vielfältige Gefahren ...

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DIE AUTORIN

Naomi Novik wurde 1973 in New York geboren und ist mit polnishen Märchen, den Geschichten um die Baba Yaga und J. R. R. Tolkien aufgewachsen. Sie hat englische Literatur studiert, im Bereich IT-Wissenschaften gearbeitet und war außerdem an der Entwicklung von äußerst erfolgreichen Computerspielen beteiligt. Doch dann schrieb Naomi Novik ihren Debüt-Roman, mit dem sie sofort die Herzen von Kritikern und Lesern gleichermaßen eroberte: »Drachenbrut«, den ersten Band um DIE FEUERREITER SEINER MAJESTÄT. Naomi Novik lebt mit ihrem Mann und sechs Computern in New York.

Von Naomi Novik ist bei cbt außerdem erschienen:

DIE FEUERREITER SEINER MAJESTÄT-Drachenbrut

DIE FEUERREITER SEINER MAJESTÄT-Drachenprinz

DIE FEUERREITER SEINER MAJESTÄT-Drachenzorn

Inhaltsverzeichnis

DIE AUTORINWidmungTeil eins
Kapitel 1Kapitel 2
Copyright

Für Franziska –

auf dass wir immer gemeinsam die Löwen verjagen

Teil eins

1

Schicken Sie die Nächste rauf«, fuhr Laurence wütend den armen Calloway an, obwohl der seine Verwünschungen nicht verdient hatte. »Verflucht! Wenn nötig, schicken Sie alle auf einmal rauf.« Der Kanonier feuerte die Leuchtraketen so rasch ab, dass seine Hände längst von schwarzen Verbrennungen überzogen waren. Außerdem war ihm etwas Pulver auf seine Finger gerieselt, und da er sich nicht damit aufgehalten hatte, sie sauber zu wischen, ehe er das nächste Leuchtgeschoss an die Lunte hielt, lösten sich Teile der Haut bereits in hellem Rot ab.

Wieder stürzte einer der kleinen französischen Drachen heran und hieb nach Temeraires Flanke, sodass fünf Männer schreiend abstürzten, als ein Teil des provisorischen Tragegeschirrs sich lockerte. Sofort verschwanden sie aus dem Lichtschein der Laternen und wurden von der Dunkelheit verschluckt. Das lange, aus gestreifter Seide zusammengedrehte Seil – ein Vorhang, den sie irgendwo abgerissen hatten und dessen Fäden von den zerrissenen Kanten flatterten – entfaltete sich sanft im Wind und segelte ihnen hinterher. Ein Stöhnen, auf das gedämpftes, zorniges Murmeln folgte, ging durch die Reihen der übrigen preußischen Soldaten, die sich noch immer verzweifelt an das Geschirr klammerten.

Alle Dankbarkeit, welche diese Männer für ihre Rettung aus dem belagerten Danzig empfunden haben mochten, war längst verflogen. Drei Tage lang waren sie durch eisigen Regen geflogen, und als Verpflegung hatte es nur das wenige gegeben, was sie in jenen letzten, verzweifelten Momenten in ihre Taschen gestopft hatten. Abgesehen von einigen flüchtigen Stunden an einem kalten und sumpfigen Abschnitt der niederländischen Küste waren sie ohne Rast geflogen, nur um seit der vergangenen endlosen Nacht von einer französischen Patrouille gejagt zu werden. Solchermaßen verängstigte Männer waren zu allem fähig, wenn sie in Panik gerieten. Immerhin verfügten viele der über hundert Soldaten, die sich an Bord drängten, noch über ihre Handfeuerwaffen und Klingen, und ihnen standen weniger als dreißig Mann von Temeraires ursprünglicher Besatzung gegenüber.

Angestrengt suchte Laurence erneut mit seinem Teleskop den Himmel ab und hoffte, irgendwo Drachen oder zumindest ein Antwortsignal auszumachen. Das Ufer war in Sicht, die Nacht klar, und er konnte sogar den Schein der Lichter erkennen, mit denen die kleinen Häfen entlang der schottischen Küste gesprenkelt waren. Weiter unten hörte er das beständig lauter werdende Tosen der Brandung. Doch obwohl ihre Leuchtgeschosse bis nach Edinburgh hin deutlich zu sehen sein mussten, war noch keine Verstärkung eingetroffen, nicht einmal einen einzigen Kurierdrachen hatte man zu einem Kundschaftsflug entsandt.

»Sir, das ist das Letzte.« Calloway hustete im grauen Qualm, der seinen Kopf umgab, als das Leuchtgeschoss emporpfiff. Lautlos entlud sich der Pulverblitz über ihren Köpfen und verwandelte die dahinjagenden weißen Wolken in ein leuchtendes Relief, das sich ringsum auf Drachenschuppen widerspiegelte: bei Temeraire ganz in Schwarz, bei den anderen in grellen Farben, die von dem gespenstisch blauen Licht zu verschiedenen Grauschattierungen abgedämpft wurden. Die Nacht war voller Schwingen, ein Dutzend Drachen drehte seine Köpfe, um zurückzuschauen, die leuchtenden Pupillen gegen die Helligkeit verengt. Alle waren über und über von Männern bedeckt, während eine Handvoll französischer Patrouillendrachen sie umschwirrte.

All dies war nur einen Augenblick lang zu erkennen, bevor ein scharfes Krachen und Donnern ertönte; kurz darauf verlosch das Leuchtgeschoss, und alles versank wieder in Schwärze. Laurence zählte bis zehn und noch einmal bis zehn, aber immer noch kam keine Antwort von der Küste.

Und wieder griffen die französischen Drachen, nun mit frischem Mut, an. Temeraire versuchte einen Schlag, der den winzigen Pou-de-Ciel vom Himmel hätte fegen sollen, doch er war zu langsam, da er keine weiteren seiner Mitreisenden abwerfen wollte. Mit verächtlicher Leichtigkeit wich der weitaus kleinere Gegner aus und drehte ab, um auf seine nächste Chance zu warten.

»Laurence«, sagte Temeraire und sah sich um, »wo sind die anderen? Victoriatus befindet sich in Edinburgh; zumindest er sollte inzwischen hier sein. Schließlich haben wir ihm geholfen, als er verletzt war. Obwohl ich natürlich eigentlich gegen diese kleinen Drachen keine Hilfe benötige«, fügte er hinzu, während er seinen Hals streckte, der vor Erschöpfung langsam hinabgesunken war. »Aber es ist einfach so mühsam, wenn man versucht zu kämpfen, während man so viele Leute transportiert.«

Diese Beschreibung beschönigte die Situation zweifellos, denn sie konnten sich nicht einmal anständig verteidigen, und Temeraire trug dabei die Hauptlast. Längst blutete er aus vielen kleinen Schnittwunden am Bauch und den Flanken, die von der Mannschaft nicht verbunden werden konnten, weil sich überall Männer drängten.

»Sorg einfach dafür, dass alle weiter in Richtung Küste fliegen.« Einen besseren Vorschlag hatte Laurence auch nicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass uns die Patrouille auch über Land verfolgen wird«, fügte er hinzu, doch Zweifel schwangen in seinem Ton mit, denn er hätte es sich auch nicht träumen lassen, dass eine französische Patrouille so nahe an die Küste herankommen konnte, ohne dass sich ihr jemand entgegenstellte. Wie er unter Feuer eintausend ängstliche und erschöpfte Männer absetzen sollte, wollte er sich im Moment lieber nicht vorstellen.

»Ich versuche es ja«, entgegnete Temeraire erschöpft. »Wenn sie nur mal aufhören würden, sich auf Kämpfe einzulassen.« Dann wandte er sich wieder seinen Aufgaben zu. Durch die beständigen nadelstichartigen Attacken waren Arkady und seine kleine Schar wilder Gebirgsdrachen kurz davor, völlig außer Kontrolle zu geraten. Ständig versuchten sie, sich mitten in der Luft herumzudrehen und den französischen Patrouillendrachen nachzujagen.

Durch ihre Verrenkungen schüttelten sie mehr der bedauernswerten preußischen Soldaten von sich herunter, als es dem Feind durch seine Aktivitäten je hätte gelingen können. In ihrer Unachtsamkeit lag jedoch keine Boshaftigkeit. Menschen kannten die wilden Drachen höchstens als eifersüchtige Wächter von Vieh- und Schafherden. Für sie waren ihre Passagiere nicht mehr als eine ungewohnte Last, aber ob mit oder ohne Absicht – die Männer starben trotzdem. Nur durch ständige Wachsamkeit konnte Temeraire die Wilddrachen von diesem Verhalten abbringen. Im Moment stand er über ihnen in der Luft und trieb die anderen auf ihrem Flug mal mit Schmeicheleien, mal mit Drohungen an.

»Nein, nein, Gherni«, rief er und schoss nach vorn, um der kleinen blauweißen Wilden einen Klaps zu versetzen. Sie hatte sich direkt auf den Rücken eines erschrockenen französischen Chasseur-Vocifère fallen lassen, einem Kurierdrachen von kaum vier Tonnen. Obwohl auch sie nur ein geringes Gewicht aufwies, konnte sich der Kurier nicht mehr in der Luft halten und sank trotz wilden Flügelschlagens in die Tiefe. Schon hatte Gherni ihre Zähne in den Nacken des französischen Drachen geschlagen und schüttelte ihn mit wilder Gewalt hin und her, doch gleichzeitig trampelten Preußen, die sich an ihrem Geschirr festklammerten, buchstäblich auf den Köpfen der gegnerischen Besatzung herum, doch sie waren so dicht gedrängt, dass beinahe jeder Schuss der Franzosen einen von ihnen tötete.

Durch seine Bemühungen, sie loszureißen, war Temeraire ungedeckt, und der Pou-de-Ciel ergriff die neue Gelegenheit. Dieses Mal wagte er sogar einen Angriff gegen Temeraires Rücken. Seine Klauen schlugen so nahe bei Laurence zu, dass er das schwarze Blut auf den gekrümmten Kanten der Krallen des französischen Drachen glänzen sehen konnte, als dieser sich wieder erhob, während Laurence nutzlos eine Hand um seine Pistole schloss.

»Oh, lassen Sie mich, lassen Sie mich!« Wutentbrannt zerrte Iskierka an den Fesseln, mit denen sie auf Temeraires Rücken festgebunden war. Das neugeborene Kazalik-Weibchen würde schon bald eine ernstzunehmende Bedrohung darstellen, im Moment jedoch – kaum einen Monat, nachdem sie aus der Schale geschlüpft war – war sie zu jung und ungeübt, um wirklich jemand anderem als sich selbst gefährlich zu werden. So gut es möglich war, hatten sie versucht, sie mit Ketten, Gurten und Vernunftappellen im Zaum zu halten. Letztere ignorierte sie jedoch schlichtweg, und obwohl sie in den letzten Tagen nur unregelmäßig gefüttert worden war, hatte sie über Nacht fast zwei Meter an Länge zugelegt, sodass auch die Ketten und Riemen kaum noch etwas nützten.

»Würdest du um Himmels willen bitte stillhalten?«, flehte Granby sie an. Verzweifelt warf er sein eigenes Gewicht gegen die Bänder, um ihren Kopf unten zu halten. Allen und Harley, die jungen Ausgucke, die auf Temeraires Schultern stationiert waren, mussten eilig aus dem Weg krabbeln, um nicht von Granby getroffen zu werden, der bei seinen Mühen stolpernd von einer Seite auf die andere gezogen wurde. Schnell löste Laurence seine Schnallen und stand auf. Die Füße gegen die Kante der starken Muskeln am Ansatz von Temeraires Nacken gestemmt, gelang es ihm, Granby an dessen Geschirrgürtel zu fassen, als er durch Iskierkas Toben erneut vorbeigeschwungen wurde, sodass er endlich wieder Halt bekam. Trotzdem spannten sich die ledernen Gurte straff wie Violinsaiten und zitterten unter der Belastung.

»Aber ich kann ihn aufhalten!«, beharrte Iskierka, während sie ihren Kopf zur Seite drehte, um sich loszureißen, und eifrige Flammenzungen leckten über ihre Lefzen, als sie erneut versuchte, nach dem feindlichen Drachen zu schnappen. Doch klein, wie er war, besaß der Pou-de-Ciel noch immer das Vielfache ihrer Größe und war viel zu erfahren, um sich von einem bisschen Feuer beeindrucken zu lassen. Er verspottete sie nur, indem er sich leicht zurückfallen ließ und ihr mit einer Geste beleidigender Sorglosigkeit seinen gesamten, braun gesprenkelten Bauch als Ziel anbot.

»Oh!« Zornig rollte sich Iskierka eng zusammen. Aus den dünnen, stacheligen Auswüchsen, die überall aus ihrem sehnigen Körper ragten, zischte Dampf. Dann sprang sie plötzlich mit einem mächtigen Ruck, der die ledernen Gurte so schmerzhaft aus Laurences Griff riss, dass er unwillkürlich die tauben Finger vor der Brust zusammenkrümmte, auf ihre Hinterbeine. Dabei war Granby in die Luft geschleudert worden und baumelte nun haltlos von ihrem breiten Halsband, während sie eine Flammenzunge ausstieß: Dünn und gelbweiß und so heiß, dass die Luft in ihrer Umgebung zu flimmern und auszudörren schien, leuchtete sie als grimmiges Banner am Nachthimmel.

Aber der französische Drache hatte sich klugerweise vor dem Wind positioniert, der kräftig aus östlicher Richtung blies. Blitzschnell faltete er seine Flügel zusammen und ließ sich nach unten fallen, sodass die glühenden Flammen gegen Temeraires Flanke zurückgeworfen wurden. Noch immer damit beschäftigt, Gherni in Flugrichtung zu drängen, stieß Temeraire einen überraschten Schrei aus und zuckte zurück, während gefährlich nah am Tragegeschirr aus Seide, Leinen und Seil Funken über die glänzende Schwärze seiner Haut hüpften.

»Verfluchtes Untier! Wir werden noch alle verbrennen«, rief heiser einer der preußischen Offiziere, deutete auf Iskierka und tastete mit zitternder Hand in seinem Munitionsgürtel nach einer Patrone.

»Genug dahinten!«, schrie Laurence ihn durch sein Sprachrohr an. »Weg mit der Pistole!« Gleichzeitig öffneten Leutnant Ferris und einige Männer der Rückenbesatzung eilig ihre Geschirrgurte und ließen sich herunter, um dem Offizier die Waffe aus der Hand zu ringen. Sie konnten den Mann jedoch nur erreichen, indem sie über die anderen preußischen Soldaten kletterten, deren Angst zwar zu groß war, um das Geschirr loszulassen, die ihr Vorankommen aber trotzdem auf jede mögliche Weise behinderten und mit grimmiger Ablehnung mit Ellenbogen und Hüften nach ihnen stießen.

In einiger Entfernung waren von hinten Befehle von Leutnant Riggs zu hören. »Feuer!«, rief er über das immer lautere Knurren der Preußen hinweg. Schweflig und bitter knatterte mit hellen Pulverblitzen eine Handvoll Gewehrschüsse, dann gab der französische Drache einen kleinen Schrei von sich und drehte ab. Sein Flug wirkte ein wenig unsicher, und Blut floss in dünnen Strömen aus einem Riss in seinem Flügel, wo durch einen glücklichen Zufall eine Kugel einen der dünneren Hautlappen in der Nähe der Gelenke getroffen hatte.

Der Aufschub kam jedoch ein wenig zu spät, denn schon zogen sich einige Männer auf Temeraires Rücken und griffen nach der größeren Sicherheit des Ledergeschirrs, in das die Flieger mit ihren Karabinergurten eingehakt waren. Aber das Geschirr konnte nicht das ganze Gewicht tragen, nicht von so vielen. Wenn die Schnallen aufrissen oder einzelne Gurte nachgaben und alles ins Rutschen geriete, würde es sich um Temeraires Flügel schlingen und sie alle gemeinsam in den Ozean stürzen lassen.

Laurence lud seine Pistolen nach, steckte sie in sein Hüftband, lockerte seinen Degen und stand wieder auf. Willentlich hatte er ihrer aller Leben riskiert, um diese Männer aus einer Falle zu befreien, und wenn möglich wollte er sie sicher ans Ufer bringen. Doch er würde nicht dabei zusehen, wenn sie Temeraire durch ihre hysterische Angst in Gefahr brachten.

»Allen, Harley«, wies er die zwei Jungen an. »Rennen Sie zu den Schützen, und richten Sie Mr. Riggs aus, dass er das gesamte Tragegeschirr losschneiden soll, wenn wir sie nicht aufhalten können, und achten Sie darauf, auf dem Weg festgehakt zu bleiben. John, vielleicht bleiben Sie lieber hier bei Ihrem Drachen«, fügte er hinzu, als Granby Anstalten machte, sich ihm anzuschließen. Iskierka hatte sich zwar für den Moment beruhigt, als ihr Feind abgezogen war, doch sie schmollte noch immer und rollte sich unruhig zusammen und wieder auseinander, während sie enttäuscht vor sich hin murrte.

»Oh, sicher!«, sagte Granby und zog seinen Degen. »So weit kommt es noch.« Seit er Iskierkas Kapitän geworden war, verzichtete er auf Pistolen, um das Risiko zu vermeiden, in ihrer Nähe mit offenem Pulver zu hantieren.

Laurence war sich seiner Position nicht sicher genug, um einen Streit zu beginnen. Streng genommen war Granby nicht länger sein Untergebener, und was die Jahre in der Luft anging, war Granby von ihnen beiden derjenige mit der größeren Erfahrung als Flieger. Während sie über Temeraires Rücken kletterten, setzte sich Granby mit einer Sicherheit an die Spitze, die nur ein Junge erlangen konnte, der schon mit sieben Jahren begonnen hatte, in der Luft zu trainieren. Um schneller voranzukommen, reichte Laurence bei jedem Schritt seinen Führungsgurt nach vorn, den Granby dann einhändig im Geschirr festhakte.

Gleichzeitig versuchte Granby, während er in seinen Geschirrgurten hing, einen sicheren Stand für seine Füße zu finden. Wie eine Krabbe kletterte Laurence zu ihm hinüber und reichte ihm einen Arm. Blass konnte er unter sich bereits die wässrige Gischt auf dem dunklen Meer erkennen. Je näher sie der Küste kamen, desto tiefer flog Temeraire.

»Dieser verfluchte Pou-de-Ciel kommt schon wieder«, keuchte Granby, als er endlich auf den Beinen stand. Auch wenn der viel zu große, weiße Flicken ungeschickt angebracht war, hatten die Franzosen es irgendwie geschafft, einen Verband über dem Riss im Flügel des Drachen zu befestigen. Zwar flog der Pou-de-Ciel noch immer ein wenig unsicher, näherte sich aber trotzdem entschlossen. Bestimmt hatten die Franzosen gesehen, dass Temeraire verwundbar war. Wenn der Pou-de-Ciel es schaffte, das Geschirr zu ergreifen und loszuziehen, würden sie vorsätzlich das Werk vollenden, das die Soldaten in ihrer Panik begonnen hatten. Für die Gelegenheit, ein Schwergewicht, dazu noch ein so wertvolles wie Temeraire, zur Strecke zu bringen, würden die Franzosen sicher bereit sein, auch ein großes Risiko einzugehen.

Leise und niedergeschlagen sagte Laurence: »Wir müssen die Soldaten losschneiden.« Er sah nach oben, wo die Trageschlingen am Leder befestigt waren. Mehr als einhundert Männer zum Tode zu verurteilen, wenige Minuten bevor sie in Sicherheit waren – er wusste nicht, ob er das ertragen konnte, geschweige denn, ob er nach der Tat General Kalkreuth je wieder würde gegenübertreten können. Einige der jungen Adjutanten des Generals waren an Bord Temeraires und taten ihr Bestes, die anderen Männer ruhig zu halten.

Riggs und die Schützen feuerten hastig einige kurze Salven ab, während der Pou-de-Ciel gerade eben außer Reichweite blieb und auf den besten Moment für seine Attacke wartete. Dann richtete sich Iskierka plötzlich auf und spie einen weiteren Feuerstrahl. Zwar flog Temeraire diesmal mit dem Wind, sodass die Flammen nicht wieder auf ihn zurückgelenkt wurden, doch die Männer auf seinem Rücken mussten sich sofort ducken, um der Feuersbrunst zu entgehen, die noch dazu so schnell ausbrannte, dass sie den französischen Drachen nicht einmal erreichte.

Während Temeraires Mannschaft noch beschäftigt war, jagte der Pou-de-Ciel bereits wieder heran. Iskierka sammelte Kraft für einen neuen Feuerstoß, und so konnten sich die Schützen nicht wieder aufrichten. »Gütiger Himmel«, sagte Granby, doch bevor der Angreifer sie erreichte, donnerte ein tiefes Grollen durch die Nacht, und unter ihnen klafften unter Rauch und Pulverblitzen kleine, rote Münder: Küstenbatterien, die vom Ufer her das Feuer eröffneten. Im Lichte von Iskierkas Feuerstrahl flog eine vierundzwanzigpfündige Kanonenkugel an ihnen vorbei und traf den Pou-de-Ciel mitten in die Brust. Wie Papier faltete er sich um sie zusammen, als sie seine Rippen durchschlug, und stürzte als unkenntliches Knäuel auf die Felsen unter ihnen. Endlich! Sie waren über der Küste, über dem Festland, und unter ihnen flohen Schafe in dichter Winterwolle über das schneefeuchte Gras.

Eine unnatürliche Ruhe herrschte in den verlassenen Straßen von Edinburgh, nur die Drachen schliefen in langgezogenen Reihen auf dem alten, grauen Kopfsteinpflaster. Auch Temeraire hatte seine gewaltige Masse mühevoll vor der vom Rauch geschwärzten Kathedrale ausgebreitet und den Schwanz in eine Gasse gelegt, die kaum breit genug war, ihn aufzunehmen. Als Laurence zu den Toren der Burg emporstieg, war der Himmel klar, kalt und sehr blau. Nur eine Handvoll flacher Wolken wehte in Richtung Meer, wo sich in rosa und orangefarben eine schwache Ahnung der Morgendämmerung zeigte. Trotz seiner Müdigkeit war er dankbar, sich die steifen Beine endlich ein wenig vertreten zu können. Genauso wie sein Rücken schmerzten sie von den nicht enden wollenden Qualen des Fluges.

Bei der Ankunft einer ganzen Kompanie von Drachen in ihrem ruhigen Örtchen waren die Einwohner des kleinen Hafens von Dunbar abwechselnd erschrocken und in Jubel über den Erfolg ihrer neuen Küstenbatterie ausgebrochen, die erst vor zwei Monaten eingerichtet und noch nie erprobt worden war. Aus dem halben Dutzend vertriebener Kurierdrachen und dem getöteten Pou-de-Ciel waren inzwischen ein Grand-Chevalier und einige Flammes-de-Gloire geworden, alle auf schreckliche Weise dahingemetzelt. In der ganzen Stadt gab es kein anderes Gesprächsthema mehr, und die örtliche Miliz stolzierte zur allgemeinen Erbauung durch die Straßen.

Nachdem Arkady allerdings vier ihrer Schafe gefressen hatte und auch die Beutezüge der anderen Wilden nur geringfügig weniger zügellos ausgefallen waren, war die Begeisterung der Stadtbevölkerung sehr schnell abgeflaut. Temeraire hatte ebenfalls einige Kühe erbeutet und bis auf Hufe und Hörner vertilgt. Leider stellte sich erst später heraus, dass es sich bei den zotteligen, gelben Highland-Rindern um preisgekrönte Tiere gehandelt hatte.

»Sie waren wirklich sehr lecker, schmackhaft, geradezu gurrmeeös«, entschuldigte sich Temeraire wortreich und drehte den Kopf zur Seite, um kleine Fellteile auszuspucken.

Nach der langen Anstrengung des Fluges war Laurence jedoch nicht bereit, die Drachen auch nur ein wenig darben zu lassen, und absolut willens, seinen üblichen Respekt vor dem Eigentum anderer bei dieser Gelegenheit für ihr Wohl zu opfern. Einige der Farmer meldeten sich wegen einer Bezahlung, doch Laurence hatte nicht vor, den bodenlosen Appetit der Wilden aus eigener Tasche zu bezahlen. Wenn die Herren der Admiralität nichts Besseres zu tun hatten, als vor dem Kamin zu sitzen und Karten zu spielen, während vor ihren Fenstern eine Schlacht geschlagen wurde und Männer starben, weil jegliche Unterstützung ausblieb, dann sollten sie ruhig in ihre eigenen Börsen greifen.

»Sehr lange werden wir Ihnen nicht zur Last fallen«, entgegnete er deshalb nur, als ihn die Proteste erreichten. »Ich gehe davon aus, dass wir zum Stützpunkt in Edinburgh beordert werden, sobald Neuigkeiten von dort eintreffen.« Daraufhin wurde ohne weitere Diskussionen ein berittener Kurier entsandt.

Mehr Gastfreundschaft brachten die Einwohner den jungen, preußischen Soldaten entgegen, die nach dem Flug blass und entkräftet waren. General Kalkreuth selbst war unter den letzten Flüchtlingen gewesen. Unter seinem Bart war sein Gesicht kränklich fahl, als er in einer Schlinge von Arkadys Rücken heruntergelassen werden musste. Der örtliche Arzt sah ihn voller Zweifel an, dann ließ er ihn ausgiebig zur Ader und ordnete an, ihn zum nächsten Bauernhaus zu bringen, wo man ihn warmhalten und mit Branntwein und heißem Wasser ruhigstellen sollte.

Andere Männer hatten weniger Glück gehabt. Als man das Geschirr aufschnitt, fiel es in schmutzigen und verknoteten Haufen herunter, beschwert von bereits grünlich verfärbten Leichen. Einige der Toten waren bei französischen Attacken ums Leben gekommen, manche während der Panik ihrer Kameraden erstickt, wieder andere hatte der Durst oder der schiere Schrecken der Reise dahingerafft. An diesem Nachmittag wurden insgesamt dreiundsechzig von tausend Männern in einem langen und flachen Grab, das mühsam aus dem gefrorenen Boden herausgeschlagen werden musste, begraben. Von vielen war nicht einmal der Name bekannt. Der Rest – ein abgerissener Haufen in Kleidung und Uniformen, die nur notdürftig abgebürstet worden waren, und mit noch immer schmutzigen Gesichtern – sah still dabei zu. Sogar die wilden Drachen ließen sich in einiger Entfernung respektvoll auf ihre Hinterbeine nieder, um der Zeremonie beizuwohnen, obwohl sie nicht einmal die Sprache verstanden.

Nach wenigen Stunden war eine Antwort aus Edinburgh eingetroffen, wenn auch mit derart seltsamem Inhalt, dass sie kaum zu verstehen war. Die Preußen sollten in Dunbar zurückgelassen werden und sich dort einquartieren – soweit eine vernünftige Anweisung –, und wie erwartet wurden die Drachen nach Edinburgh befohlen. Aber es gab keine Einladung an General Kalkreuth oder seine Offiziere, sich ebenfalls dorthin zu begeben. Laurence wurde sogar dringend gebeten, keine preußischen Offiziere mitzubringen. Und was die Drachen anging: Keinem von ihnen, auch Temeraire nicht, wurde erlaubt, sich in den großen und bequemen Stützpunkt zu begeben. Stattdessen wurde Laurence befohlen, sie in den Straßen übernachten zu lassen.

Er hatte seine eigenen Gefühle im Zaum gehalten und begütigend mit Major Seiberling, dem augenblicklich ranghöchsten Offizier der Preußen, über die Vorkehrungen gesprochen. Dabei hatte er nach besten Kräften versucht, ohne offene Lüge den Eindruck zu erwecken, dass die Admiralität mit einer offiziellen Willkommensfeier nur auf General Kalkreuths Erholung wartete.

»Müssen wir wirklich schon wieder weiterfliegen?«, maulte Temeraire, als Laurence ihm von den Befehlen erzählte. Müde hievte er sich zurück auf die Füße und ging zu den dösenden Wilden, um sie aufzuwecken. Nach ihren Abendmahlzeiten waren sie alle schläfrig niedergesunken.

Sie flogen nur langsam, und da die Tage kurz geworden waren – Laurence fiel plötzlich ein, dass schon in einer Woche Weihnachten war –, erreichten sie die Stadt erst, als der Himmel bereits vollständig dunkel war. Die auf einem hohen, felsigen Hügel gelegene Burg, die sich über den schattigen Weiten des Stützpunktes erhob, diente ihnen jedoch als Signalfeuer. Fenstern und Mauern waren von Fackeln erleuchtet, und unter dem Gemäuer drängten sich dicht an dicht die schmalen Gebäude des mittelalterlichen Teils der Stadt.

Zögernd schwebte Temeraire über den engen und gewundenen Straßen; es gab zahlreiche Kirchtürme und spitze Dachgiebel und nur wenig freien Raum. »Ich sehe nicht, wo ich dort landen soll«, sagte er unsicher. »Höchstwahrscheinlich werde ich eines dieser Gebäude zerstören. Warum haben sie diese Straßen so eng gebaut? In Peking war es viel bequemer.«

»Wenn es nicht möglich ist, ohne dass du dich verletzt«, sagte Laurence angespannt, »werden wir wieder fortfliegen. Zum Teufel mit diesen Befehlen.«

Am Ende gelang es Temeraire jedoch, sich auf dem Platz der Kathedrale niederzulassen, ohne mehr als ein paar Verzierungen aus dem Mauerwerk zu brechen. Die Wilden, alle wesentlich kleiner als er, hatten weniger Schwierigkeiten. Noch immer recht aufgebracht darüber, sich von den Feldern voller Schafe und Rinder zurückziehen zu müssen, beäugten sie misstrauisch die neue Umgebung. Während er Temeraire mit skeptischen Fragen bedachte, bückte Arkady sich tief hinunter und legte ein Auge an ein offenes Fenster, um in die verlassenen Räume eines Hauses zu spähen.

»Dort schlafen die Leute, oder, Laurence?«, fragte Temeraire. »Es ist wie ein Pavillon.« Vorsichtig verlagerte er seinen Schwanz in eine bequemere Position. »Und manchmal verkaufen sie dort auch Juwelen und andere schöne Dinge. Aber wo sind die ganzen Menschen?«

Laurence war ziemlich sicher, dass alle Bewohner geflohen waren. Wenn in der Neustadt kein Bett mehr frei war, würde selbst der reichste Händler der Stadt in einer Gosse übernachten, nur um in sicherer Entfernung von den Drachen zu schlafen, die in die Stadt eingefallen waren.

Es dauerte eine Weile, dann hatten die Drachen es sich halbwegs bequem gemacht. An rau behauene Höhlen gewöhnt, waren die Wilden sogar recht zufrieden mit dem vergleichsweise weichen und abgerundeten Kopfsteinpflaster. »Es macht mir wirklich nichts aus, in den Straßen zu schlafen, Laurence«, hatte auch Temeraire müde erklärt. »Es ist einigermaßen trocken, und ich bin sicher, dass es morgen früh viel Interessantes zu sehen geben wird.« Dann war er mit dem Kopf in einer Gasse und dem Schwanz in einer anderen wieder in einen tiefen Schlummer verfallen.

Trotzdem machte sich Laurence Sorgen. Dies war bestimmt nicht der Empfang, auf den er sich nach einem langen Jahr in der Fremde gerechtfertigte Hoffnungen gemacht hatte. Immerhin hatte man ihn einmal halb um die Welt und wieder zurück geschickt.

Seine Offiziere schliefen noch, wo immer sie etwas Bequemlichkeit gefunden hatten, als Laurence Temeraire verließ und sich bei den Wachen am Burgtor meldete. Umgehend wurde er zum Büro des Admirals gebracht, begleitet von einem jungen Marinesoldaten in roter Uniform. Ruhig und dunkel, verlassen und bar aller Hektik säumten die steinernen Innenhöfe der Burg ihren Weg.

Die Türen wurden geöffnet, und mit straff gespannten Schultern marschierte Laurence hinein, das Gesicht in harter, kalter Ablehnung erstarrt. »Sir.« Die Augen starr auf einen Punkt an der Wand gerichtet, nahm Laurence Haltung an. Erst nach einer Weile senkte er den Blick und fragte überrascht: »Admiral Lenton?«

»Jawohl, Laurence. Setzen Sie sich, setzen Sie sich hin.« Lenton entließ die Wache, dann schloss sich die Tür des muffigen, mit Bücherregalen vollgestopften Raumes. Sie waren allein. Bis auf eine einzelne kleine Karte und eine Handvoll Papiere war der Tisch des Admirals fast leer. Einen Moment lang saß Lenton schweigend da. »Es tut verdammt gut, Sie zu sehen«, sagte er schließlich. »In der Tat, wirklich sehr, sehr gut.«

Sein Anblick versetzte Laurence einen regelrechten Schock. In dem Jahr, das seit ihrem letzten Treffen vergangen war, schien Lenton um zehn Jahre gealtert zu sein: Sein Haar war vollständig weiß, ein gedankenverlorener Blick lag in seinen Augen, die wirkten, als sei er verschnupft, und seine Wangen hingen schlaff herab. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut, Sir?«, fragte Laurence tief besorgt, wunderte sich allerdings nicht länger, warum man Lenton auf den ruhigen Posten in Edinburgh versetzt hatte. Doch welche Krankheit mochte ihn derart zugerichtet haben? Und wen hatte man an seiner statt zum Kommandanten in Dover ernannt?

»Oh …« Lenton winkte ab und verfiel dann wieder für einen Moment in Schweigen, bevor er weitersprach: »Ich nehme an, man hat Ihnen noch nichts erzählt. Nein? Nun, wir haben uns darauf geeinigt, nicht zu riskieren, dass etwas nach außen dringt.«

»Nein, Sir«, sagte Laurence, dessen Ärger wieder aufzukeimen begann. »Ich habe nichts gehört, und mir wurde auch nichts erklärt, obwohl mich unsere Alliierten jeden Tag nach Neuigkeiten vom Korps fragten, so lange, bis klar war, dass es keinen Sinn mehr hatte.«

Laurence persönlich hatte den preußischen Kommandanten versichert, hatte ihnen geschworen, dass das Luftkorps sie nicht im Stich lassen und dass die versprochene Kompanie Drachen jeden Moment eintreffen würde, um in jenem katastrophalen letzten Feldzug gegen Napoleon vielleicht doch noch das Ruder herumzureißen. Doch die Drachen waren nie gekommen. Stattdessen waren er und Temeraire geblieben, um in zunehmend aussichtsloser Lage weiterzukämpfen und ihr Leben und das der Mannschaft zu riskieren.

Lenton antwortete nicht sofort. Er saß einfach nur da und nickte. Dann murmelte er: »Ja, das ist natürlich richtig.« Wie er mit einer Hand auf den Tisch tippte und auf die Papiere vor sich starrte, ohne sie zu lesen, wirkte er vollkommen geistesabwesend.

In schärferem Tonfall fügte Laurence hinzu: »Sir, ich vermag kaum zu glauben, dass Sie sich einem derart unehrenhaften Handeln angeschlossen haben, das zugleich so schrecklich kurzsichtig ist. Napoleons Sieg wäre keineswegs sicher gewesen, wären die versprochenen zwanzig Drachen entsandt worden.«

»Was?« Lenton sah auf. »Oh, Laurence, leider stellte sich uns diese Frage nicht einmal. Es war unmöglich. Es tut mir leid wegen der Geheimniskrämerei. Aber eine Entsendung der Drachen stand nie zur Debatte. Es gab keine Drachen, die wir hätten schicken können.«

Vorsichtig hob und senkte Victoriatus voller Anstrengung bei jedem Atemzug die Flanken. Seine Nüstern waren rot und geweitet, an den Rändern befand sich eine dicke, schuppige Kruste. Nur alle paar Atemzüge, wenn er ein krächzendes, hohles Husten von sich gab, das den Boden vor ihm mit Blut befleckte, öffnete er die vor Erschöpfung stumpfen und blinden Augen ein wenig. Dann verfiel er wieder in den unruhigen Halbschlaf, der ihm als Einziges möglich war. Auf einem Feldbett neben ihm lag sein Kapitän Richard Clark, unrasiert und in schmutzigem Leinen, einen Arm erhoben, um seine Augen zu bedecken, die andere Hand auf dem Vorderbein des Drachen ruhend. Selbst als sie näher kamen, bewegte er sich nicht.

Nach einigen Momenten berührte Lenton Laurence am Arm. »Genug. Fort von hier.« Schwer auf einen Stock gestützt, drehte er sich langsam herum und führte Laurence wieder zur Burg auf dem grünen Hügel. Auf dem Rückweg in das Büro erschienen die Flure Laurence jetzt nicht mehr länger friedlich, sondern von Todesstille und unheilbarer Schwermut erfüllt.

Zu betäubt, um an Erfrischung zu denken, lehnte Laurence das angebotene Glas Wein ab. »Es ist eine Art Schwindsucht«, sagte Lenton und sah aus den Fenstern, die den Hof des Stützpunktes überblickten. Durch uralte Windfänge, aufgeschichtete Zweige und mit Efeu bewachsene Steine voneinander getrennt, lagen dort Victoriatus und zwölf weitere große Tiere.

»Wie weit …?«, fragte Laurence.

»Überall«, antwortete Lenton. »Dover, Portsmouth, Middlesbrough. Die Zuchtgehege in Wales und Halifax, Gibraltar – überall dort, wo die Kuriere auf ihren Runden vorbeikamen.«

Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl. »Wir waren unbeschreiblich dumm, wissen Sie. Wir dachten, es sei nur eine Erkältung.«

»Aber davon haben wir gehört, noch bevor wir auf unserer Reise nach Osten das Kap der Guten Hoffnung umrundeten«, sagte Laurence verblüfft. »Dauert es schon so lange?«

»In Halifax ging es im September 1804 los«, antwortete Lenton. »Die Ärzte denken jetzt, dass es der amerikanische Drache war, dieser große indianische Kerl. Er wurde dort gehalten, und die ersten Drachen, die damals krank wurden, waren mit ihm auf dem Transporter nach Dover untergebracht. Nachdem er zu den Zuchtgehegen in Wales gesandt wurde, begann es auch dort. Ihm selbst geht es hervorragend, kein Husten, nicht einmal ein Niesen. Wahrscheinlich ist er im Augenblick fast der einzige gesunde Drache in England, abgesehen von ein paar Schlüpflingen, die wir rasch in Irland untergebracht haben.«

»Sie wissen, dass wir ihnen weitere zwanzig gebracht haben?« , fragte Laurence. Vielleicht konnte sein Bericht wenigstens ein kleiner Trost sein.

»Ja, diese Burschen – von wo? Aus Turkestan?« Lenton war bereit, sich darauf einzulassen. »Habe ich Ihren Brief richtig verstanden? Sie waren Räuber?«

»Ich würde es eher als ›auf den Schutz ihres Reviers bedacht‹ beschreiben«, antwortete Laurence. »Sie sind nicht sehr wohlerzogen. Aber es ist keine Boshaftigkeit in ihnen und sie sind samt und sonders bei bester Gesundheit. Doch was nützen uns zwanzig Drachen? Wir müssen ganz England schützen …« Er stockte und fragte: »Lenton, es gibt doch sicher irgendetwas, das getan werden kann – getan werden muss?«

Der Admiral schüttelte nur kurz den Kopf. »Die üblichen Heilmittel halfen etwas, jedenfalls am Anfang«, antwortete er. »Beruhigten den Husten und so weiter. Sie konnten noch immer fliegen, fraßen normal. Gewöhnlich sind Erkältungen nur eine Lappalie für sie, aber sie wurden sie einfach nicht los. Nach einer Weile schienen die Molketränke dann nicht mehr zu wirken, und es begann, den Ersten schlechter zu gehen …«

Er schwieg. Erst nach einem langen Moment fügte er, offensichtlich tief bewegt, hinzu: »Obversaria ist tot.«

»Guter Gott!«, schrie Laurence. Es war ihm unmöglich, seine Bestürzung zu unterdrücken. »Sir, es tut mir so leid, das zu hören – ich bin tief erschüttert.« Es war ein schrecklicher Verlust: Fast vierzig Jahre war sie mit Lenton geflogen, in den letzten zehn als Flaggdrache in Dover, und obwohl sie noch relativ jung war, war sie bereits mit vier Eiern niedergekommen. Außerdem war sie vielleicht die beste Fliegerin in ganz England gewesen. Kaum ein Drache hatte sich überhaupt mit ihr um diesen Titel messen können.

»Es war, lassen Sie mich überlegen, im August«, sagte Lenton, als habe er nichts gehört. »Nach Inlacrimas, aber vor Minacitus. Einige erwischt es schlimmer als die anderen. Die ganz Jungen halten sich am besten und die Alten überstehen es auch irgendwie, nur die dazwischen sind gestorben. Zuerst gestorben, sollte ich vielleicht besser sagen, am Ende werden sie vermutlich alle verenden.«

»Wollen Sie sagen, dass sie alle krank bleiben, dass sich keiner erholt hat?«, fragte Laurence. »Kein Einziger?«

»Nicht einer.« Lenton schüttelte den Kopf. »Wenn sie zu husten anfangen, hören sie nicht wieder auf, jedenfalls nicht lebendig.«

2

Es tut mir leid, Kapitän«, sagte Keynes, »aber jeder dumme Trottel kann eine Kugelwunde verbinden, und vermutlich wird Ihnen an meiner Stelle ein dummer Trottel zugewiesen werden. Aber ich kann nicht meine Zeit beim gesündesten Drachen in ganz England vertrödeln, wenn sich in den Quarantäne-Stützpunkten die kranken drängen.«

»Dafür habe ich vollstes Verständnis, Mr. Keynes, Sie müssen nicht weitersprechen«, antwortete Laurence. »Aber werden Sie nicht wenigstens bis Dover mit uns fliegen?«

»Nein. Victoriatus wird die Woche nicht überstehen, und ich werde abwarten, um ihn gemeinsam mit Dr. Harrow zu sezieren«, sagte Keynes, und seine grobe, pragmatische Art ließ Laurence zusammenzucken. »Ich hege die Hoffnung, dass wir etwas über die Krankheit an sich herausfinden können. Einige der Kurierdrachen fliegen noch immer, und sicher wird mich einer von ihnen danach mitnehmen.«

»Nun gut.« Laurence schüttelte die Hand des Arztes. »Ich hoffe, dass Sie bald wieder zu uns stoßen werden.«

»Das hoffe ich ganz und gar nicht«, entgegnete Keynes in seiner üblichen bärbeißigen Art. »Denn das kann nur dann der Fall sein, wenn ich ansonsten keine Patienten mehr habe, und so, wie sich der Krankheitsverlauf im Moment gestaltet, würde das bedeuten, dass sie alle tot sind.«

Laurence konnte nicht behaupten, dass seine Stimmung sank, denn er war bereits so niedergeschlagen, dass ihm der Abschied von Keynes kaum noch etwas ausmachte. Aber er bedauerte ihn. Im Allgemeinen waren Drachenärzte nicht annähernd so unfähig wie die Ärzte, die auf See zu finden waren, und trotz Keynes’ Worten fürchtete Laurence sich nicht vor einem möglichen Nachfolger. Aber einen guten Mann zu verlieren, der seinen Mut und Verstand unter Beweis gestellt hatte und dessen Verschrobenheit bekannt war, war nie angenehm, und Temeraire würde das gar nicht gefallen.

»Aber er ist doch nicht verletzt, oder?«, fragte Temeraire hartnäckig nach. »Er ist nicht krank?«

»Nein, Temeraire, aber er wird anderswo gebraucht«, erklärte Laurence. »Er ist ein erfahrener Arzt, und ich bin mir sicher, du willst ihn nicht davon abhalten, sich um deine Kameraden zu kümmern, die unter dieser Krankheit leiden.«

»Also, wenn Maximus oder Lily ihn brauchen…«, sagte Temeraire mürrisch und zog Furchen in den Boden. »Kann ich die beiden denn nicht bald wiedersehen? Ich bin mir sicher, sie können nicht allzu krank sein. Maximus ist der größte Drache, den ich je gesehen habe, und das, obwohl wir in China waren. Bestimmt erholt er sich rasch wieder.«

»Nein, mein Lieber«, sagte Laurence bedrückt und eröffnete Temeraire die schlimmste der Neuigkeiten. »Keiner der Kranken ist bislang wieder gesund geworden, und du musst alle Vorsicht walten lassen und darfst unter keinen Umständen auch nur in die Nähe der Quarantäne-Stützpunkte kommen.«

»Aber das verstehe ich nicht«, wandte Temeraire ein. »Wenn sie sich nicht erholen, dann …« Er stockte.

Laurence wandte stumm den Blick ab. Es war begreiflich, dass Temeraire ihn nicht sofort verstanden hatte. Drachen waren zähe Kreaturen, und viele Rassen konnten ein Jahrhundert und länger leben. Er war zu Recht davon ausgegangen, dass er mit Maximus und Lily längere Zeit als die Lebensspanne eines Mannes teilen würde, solange sie nicht dem Krieg zum Opfer fielen.

Schließlich setzte Temeraire erneut an und klang geradezu bestürzt: »Aber ich habe ihnen so viel zu erzählen. Ihretwegen bin ich zurückgekommen. Damit sie erfahren, dass Drachen lesen und schreiben und über Besitz verfügen können und dass sie nicht immer nur kämpfen müssen.«

»Ich werde einen Brief für dich schreiben, den wir ihnen schicken können und in dem du sie grüßen kannst. Sie werden sich mehr über die Nachricht freuen, dass du in Sicherheit und ohne Ansteckung bist, als sie deine Anwesenheit genießen könnten«, tröstete ihn Laurence. Temeraire antwortete nicht. Er war sehr still und ließ den Kopf tief auf die Brust sinken. »Wir werden ganz in ihrer Nähe sein, und du kannst ihnen jeden Tag schreiben, wenn du möchtest und wir unsere Arbeit erledigt haben.«

»Patrouillenflüge, nehme ich an«, sagte Temeraire mit einem ungewöhnlich bitteren Unterton, »und schon wieder langweilige Formationsübungen, während all die anderen krank sind und wir nichts für sie tun können.«

Laurence senkte den Blick auf seinen Schoß, wo in dem Päckchen, in Ölhaut gewickelt, zwischen all seinen Papieren auch ihre neuen Befehle lagen, und er konnte nichts sagen, um Temeraire zu trösten: Es handelte sich um die schroffe Anweisung, sofort in Richtung Dover aufzubrechen, wo sich Temeraires Vermutungen vermutlich voll und ganz bewahrheiten würden.

Als Laurence sich unmittelbar nach ihrer Ankunft in Dover auf den Weg ins Hauptquartier machte, um dort Bericht zu erstatten, wurde seine Stimmung nicht eben gehoben durch die Tatsache, dass man ihn dreißig Minuten lang auf dem Flur vor dem neuen Admiralsbüro herumsitzen ließ, wo er auf die Stimmen im Innern lauschte, die durch die schwere Eichentür keineswegs gedämpft wurden. Er erkannte Jane Roland, die brüllte. Die Stimmen, die ihr antworteten, waren ihm unvertraut. Als die Tür aufgerissen wurde, sprang Laurence mit einem Satz auf und nahm Haltung an. Ein groß gewachsener Mann in Marinejacke stürmte heraus, und Kleidung und Gesichtsausdruck spiegelten gleichermaßen wider, wie aufgebracht er war. Seine Wangen waren fleckig und glühten leicht unter seinen Koteletten. Er blieb nicht stehen, warf Laurence jedoch einen wutverzerrten Blick zu, ehe er das Gebäude verließ.

»Komm herein, Laurence, komm herein«, rief Jane, und Laurence trat ein. Sie stand beim Admiral, einem älteren Mann, der einigermaßen überraschend mit einem schwarzen Gehrock, Kniebundhosen und Schnallenschuhen bekleidet war.

»Du hast Dr. Wapping noch nicht kennengelernt, glaube ich«, sagte Jane. »Sir, das ist Kapitän Laurence von Temeraire.«

»Sir«, sagte Laurence und beugte tief sein Knie, um seine Verwirrung und sein Unbehagen zu verbergen. Er nahm an, dass es den Männern der Bodentruppen sinnvoll erscheinen mochte, das Kommando über den Stützpunkt einem Arzt zu geben, wenn doch alle Drachen unter Quarantäne standen. Derartiges war ihm schon zuvor untergekommen, als ein Freund der Familie ihn ersucht hatte, seinen Einfluss geltend zu machen, um ihm aus einer unglücklichen Beziehung zu retten, indem ihm, der er Arzt – und nicht einmal Marinearzt – war, das Kommando über ein Lazarettschiff übertragen wurde.

»Kapitän, es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, sagte Dr. Wapping. »Admiral, ich werde mich nun verabschieden. Ich bitte um Entschuldigung, der Grund für eine solch unerfreuliche Szene gewesen zu sein.«

»Unsinn. Diese Burschen von der Lebensmittelbehörde sind ein Haufen ungeschlachter Halunken, und es war mir ein Vergnügen, sie in ihre Schranken zu weisen. Einen guten Tag noch.« Als Wapping die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Jane an Laurence: »Hättest du es für möglich gehalten? Diese Kerle sind nicht damit zufrieden, dass unsere armen Drachen kaum mehr genug fressen, um einen Vogel am Leben zu halten! Jetzt schicken sie uns auch noch krankes und abgemagertes Vieh. Aber was ist das denn für eine Art, dich zu Hause willkommen zu heißen?« Sie packte ihn an den Schultern und küsste ihn ungestüm auf beide Wangen. »Du siehst jämmerlich aus. Was ist denn mit deinem Mantel passiert? Und möchtest du ein Glas Wein?« Ohne seine Antwort abzuwarten, schenkte sie für sie beide ein. Er nahm sein Glas mit einem Gefühl entsetzlicher Leere. »Ich habe all deine Briefe bekommen und so eine ganz gute Vorstellung davon, was du getan hast. Laurence, du musst mir verzeihen, dass ich nicht geantwortet habe. Ich fand es leichter, nichts zu schreiben, als das Einzige, was zählt, unerwähnt zu lassen.«

»Nein, das heißt natürlich ja«, antwortete er und setzte sich mit ihr ans Feuer. Ihren Uniformrock hatte sie über die Armlehne ihres Stuhles geworfen. Nun, wo Laurence den Blick darauf ruhen ließ, sah er den vierten Balken des Admiralsranges auf den Schultern. Die Vorderseite der Jacke war prächtiger mit Litzen besetzt, als es vorher der Fall gewesen war. Auch ihr Gesicht hatte sich verändert, allerdings nicht zum Positiven. Sie hatte mindestens fünf Kilogramm an Gewicht verloren, und ihr dunkles, raspelkurz geschnittenes Haar war von Grau durchzogen.

»Tut mir leid, dass ich einen so traurigen Anblick biete«, sagte sie kläglich und wischte seine gegenteiligen Beteuerungen mit einem Lachen fort. »Nein, Laurence, wir alle verfallen nach und nach. Das kann man nicht wegleugnen. Ich nehme an, du hast den armen Lenton gesehen. Nachdem sein Drache gestorben war, hat er sich noch drei Wochen lang heldenhaft gehalten, doch dann fanden wir ihn nach einem Schlaganfall auf dem Fußboden seines Schlafzimmers. Eine Woche lang konnte er nur nuscheln. Inzwischen hat er große Fortschritte gemacht, aber er ist noch immer ein Schatten seiner selbst.«

»Das tut mir leid, auch wenn ich auf deine Beförderung trinke«, erwiderte Laurence, und nur mit fast unmenschlicher Anstrengung gelang es ihm, nicht dabei zu stottern.

»Ich danke dir, mein treuer Freund«, sagte sie. »Ich schätze, ich würde vor Stolz platzen, wenn die Lage anders wäre und wenn sich nicht ein Ärgernis an das nächste reihen würde. Wir haben die Dinge einigermaßen gut hinbekommen, als wir uns selbst überlassen waren, aber nun muss ich mich mit diesen Idioten von der Admiralität auseinandersetzen. Man hat es ihnen gesagt, ehe sie kamen, und noch einmal gesagt, und trotzdem lächeln sie mich albern an und umwerben mich, als wäre ich nicht schon auf Drachenrücken unterwegs gewesen, ehe sie ihre Windeln los waren. Und dann starren sie mich an, wenn ich sie zurechtweise, weil sie sich wie die handküssenden Galane benehmen.«

»Vermutlich finden sie es schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen«, wandte Laurence ein, und im Stillen konnte er es ihnen nicht verdenken. »Ich frage mich, ob die Admiralität …« Erst jetzt brach er ab, denn er hatte das Gefühl, unsicheren und gefährlichen Boden zu betreten. Man konnte eine Diskussion nicht gut vorantreiben, in der man irgendetwas infrage stellte, was nötig war, um die Langflügler, vielleicht Englands gefährlichste Züchtung, für den Kriegsdienst zu gewinnen. Da die Tiere ausschließlich weibliche Lenker akzeptierten, mussten ihnen auch welche zur Verfügung gestellt werden. Laurence bedauerte die Notwendigkeit, dass Frauen aus besten Familien aus ihrer angemessenen Umgebung gerissen und stattdessen Gefahren ausgesetzt wurden, doch wenigstens wurden sie von Beginn an dazu erzogen. Wo es erforderlich war, mussten sie auch als Formationsführerinnen dienen, was jedoch kaum mehr als einen weit entfernten Ruf von der Flanke bedeutete und etwas ganz anderes war, als den Oberbefehl über den größten und vielleicht wichtigsten Stützpunkt in England zu haben.

»Mit Sicherheit wollten sie mir den Stützpunkt nicht überlassen, aber ihnen blieb fast keine Wahl«, sagte Jane. »Portland hätte nicht aus Gibraltar kommen können, denn Laetificat würde die Seereise nicht mehr überstehen. Also musste es Sanderson sein oder ich. Er hat sich die Sache schrecklich zu Herzen genommen, ist in die Ecke gerannt und hat wie eine Frau geheult, als ob das irgendetwas helfen würde. Ein Veteran mit neun Flottenmanövern. Kaum zu glauben.« Dann fuhr sie sich mit der Hand durch die zerzausten Haarstoppeln und seufzte. »Wie dem auch sei, du musst mir nicht zuhören, Laurence. Ich bin unduldsam, und seiner Animosa geht es nicht besonders gut.«

»Und Excidium?«, fragte Laurence vorsichtig.

»Excidium ist ein zäher alter Vogel, und er weiß, wie er sich bei Kräften hält. Er ist schlau genug zu fressen, auch wenn er keinen Appetit hat. Er wird sich noch eine gute Weile durchschlagen, und du weißt ja, er ist schon beinahe ein ganzes Jahrhundert im Dienst. Manche in seinem Alter haben sich schon ganz aus dem Geschäft zurückgezogen und sich in den Zuchtgehegen zur Ruhe gesetzt.« Sie lächelte, aber es kam nicht von Herzen. »Da siehst du es; ich war tapfer. Lass uns über angenehmere Dinge sprechen: Du hast mir zwanzig Drachen mitgebracht, und Gott weiß, dass ich Verwendung für sie habe. Lass uns zu ihnen gehen und sie in Augenschein nehmen.«

»Sie ist nur anderthalb Hand groß«, gab Granby leise zu, als sie die Länge des zusammengerollten Schlangenkörpers Iskierkas schätzten. Dünne Rauchfäden stiegen aus den vielen nadelgleichen Spitzen auf ihrem Körper auf. »Und ich habe sie auch noch nicht mit den anderen fliegen lassen, Sir. Es tut mir leid.«

Iskierka hatte es sich bereits zu ihrer eigenen Zufriedenheit  – wenngleich auch zu niemandes sonst – behaglich gemacht, indem sie auf der Lichtung neben Temeraires Bereich, welche ihr zugewiesen worden war, eine tiefe Grube gegraben hatte. Diese hatte sie dann mit Asche aufgefüllt, wozu sie ohne viel Federlesens zwei Dutzend junger Bäume herausgerissen und in ihrer Grube verbrannt hatte. Der pulverartigen, grauen Mischung hatte sie einige große Felssteine hinzugefügt, die sie so lange mit Feuer behaucht hatte, bis sie sanft zu glühen begonnen hatten. Dann hatte sie sich gemütlich in ihrem beheizten Nest schlafen gelegt. Das Feuer und der über der Grube hängende Rauch waren auch aus der Entfernung zu sehen, selbst von dem Bauernhaus aus, das dem Stützpunkt am nächsten stand, und nur wenige Stunden nach ihrer Ankunft hatte sie bereits für etliche Beschwerden und großen Aufruhr gesorgt.

»Oh, Sie haben sicherlich schon genug damit zu tun gehabt, sie draußen im Gelände angeschirrt zu halten, ohne auch nur genug zu fressen für sie zur Verfügung gehabt zu haben«, sagte Jane und klopfte der schläfrigen Iskierka auf die Flanke. »Die anderen können mich bedrängen, so viel sie wollen, um nur schnell den Feuerspucker einsetzen zu können. Sie können sicher sein, dass die Marine Sie hochleben lassen wird, wenn sie erfährt, dass wir nun endlich unseren eigenen haben. Gut gemacht. Wirklich gut gemacht. Und ich freue mich, Sie in Ihrem Rang zu bestätigen, Kapitän Granby. Willst du ihm die Ehre erweisen, Laurence?«

Der Großteil von Laurences Mannschaft hatte sich bereits auf Iskierkas Lichtung versammelt, um die stiebenden Funken zu ersticken, die aus der Grube heraufwehten und drohten, den gesamten Stützpunkt in Brand zu stecken, wenn sie nicht in Schach gehalten würden. Obwohl sie alle voller Ruß und müde waren, war keiner von ihnen gegangen. Stattdessen hatten sie alle wohlweislich ausgeharrt, ohne dass es irgendeiner Ankündigung bedurft hätte, um sich nun, nach einigen gemurmelte Worten vom jungen Leutnant Ferris, aufzustellen und zuzusehen, wie Laurence das zweite Paar Balken auf Granbys Schultern befestigte.

»Gentlemen«, sagte Jane, als Laurence fertig war, und sie ehrten einen rotwangigen Granby mit drei Hurrarufen, welche zwar aus tiefstem Herzen kamen, aber dennoch ein wenig verhalten klangen. Ferris und Riggs traten näher, um ihm die Hand zu schütteln.

»Wir werden uns darum kümmern, eine Mannschaft für Sie zusammenzustellen, auch wenn es noch ganz schön früh für Iskierka ist«, versprach Jane, nachdem die Zeremonie vorbei war und sie ihren Weg fortsetzte, um sich mit den Wilddrachen bekannt zu machen. »Ich habe mehr als genug Männer im Augenblick, was traurige Gründe hat. Füttern Sie Iskierka zweimal täglich, um zu sehen, ob wir nicht ihren Rückstand beim Wachsen wieder aufholen können. Und wann immer sie wach ist, möchte ich, dass Sie Langflügler-Manöver fliegen. Ich weiß nicht, ob sie sich selbst versengen kann, so wie die Langflügler sich mit ihrer Säure selber verätzen können; aber es ist nicht nötig, dass wir das durch Ausprobieren herausfinden.«

Granby nickte; er schien nicht die geringsten Schwierigkeiten damit zu haben, sich ihr unterzuordnen. Ebenso wenig wie Tharkay, der sich hatte überzeugen lassen, noch etwas länger zu bleiben, da er einer der wenigen unter ihnen war, der überhaupt ein bisschen Einfluss auf die Wilddrachen hatte. Eher sah er auf seine verstohlene Art amüsiert aus, nachdem er sie mit einem prüfenden Blick bedacht hatte, den er zuvor auch Laurence zugeworfen hatte. Da Jane darauf bestanden hatte, sofort zu den eben eingetroffenen Drachen geführt zu werden, hatte es für Laurence keine Gelegenheit gegeben, Tharkay vor ihrem ersten Zusammentreffen einen versteckten Warnhinweis zu geben. Trotzdem ließ sich Tharkay keinerlei Überraschung anmerken, sondern machte nur eine höfliche Verbeugung und stellte sich mit ruhiger Stimme vor.

Arkady und seine Drachen hatten ihre eigene Lichtung nicht viel weniger in Unordnung gebracht als Iskierka. Sie hatten es vorgezogen, alle Bäume herauszureißen und sich in einem großen Haufen zusammenzudrängen. Die Kälte der Dezemberluft machte ihnen nichts aus, denn sie waren die weitaus kälteren Regionen des Pamir-Gebirges gewohnt. Aber sie beklagten sich über die Feuchte, und als ihnen klar wurde, dass hier vor ihnen die Senioroffizierin des Stützpunktes stand, verlangten sie sofort Rechenschaft über die versprochenen Kühe – pro Tag eine –, denn mit dieser Aussicht waren sie in den Dienst gelockt worden.

»Sie beharren darauf, dass ihnen das Vieh auch dann zusteht, wenn sie an einem Tag die entsprechende Kuh nicht fressen, und dass sie sie zu einem späteren Zeitpunkt einfordern können«, erklärte Tharkay, woraufhin Jane in ihr übliches, tiefes Gelächter ausbrach.

»Sagen Sie ihnen, dass sie jederzeit so viel zu fressen bekommen können, wie sie wollen, und wenn sie so misstrauisch sind, dass sie das nicht zufriedenstellt, dann sollten wir ihnen die Möglichkeit geben, eine Strichliste zu führen: Jeder von ihnen kann einen dieser Baumstämme, die sie umgerissen haben, mit zu den Futterplätzen nehmen, und eine Kerbe machen, wenn er sich eine Kuh geholt hat«, ergänzte Jane, eher belustigt als verärgert über die Tatsache, sich mit solchen Verhandlungen auseinandersetzen zu müssen. »Bitte fragen Sie sie, ob sie auch Varianten zustimmen würden, beispielsweise zwei Schweine für eine Kuh oder zwei Schafe. Sollen wir für etwas Abwechslung sorgen?«

Die Wilddrachen steckten die Köpfe zusammen und murmelten, zischten und pfiffen sich etwas zu: eine Kakophonie, die nur durch die Unverständlichkeit ihrer Sprache geheim hielt, was dort beredet wurde. Schließlich drehte sich Arkady wieder zu ihnen um und erklärte sich bereit, dem Handelsabkommen zuzustimmen. Er bestand einzig darauf, dass sie drei Ziegen für eine Kuh erhalten müssten, da sie diese Tiere geringschätzten. Schließlich waren sie auch in ihrem früheren Heimatland leichter zu bekommen gewesen und neigten dort dazu, mager zu sein.

Jane verbeugte sich vor ihm, um die Abmachung zu besiegeln, und er warf im Gegenzug seinen Kopf zurück. Sein Gesicht hatte einen höchst zufriedenen Ausdruck und wirkte nur noch verwegener durch den roten Fleck, der sich um eines seiner Augen und den Hals hinunterzog.

»Das ist zweifellos eine wilde Bande«, sagte Jane, als sie die anderen zurück in ihr Büro führte. »Aber was ihr Fliegen angeht, habe ich keinerlei Bedenken: Mit diesen drahtigen Muskeln können sie alles in ihrer Gewichtsklasse umrunden oder überfliegen, und allein dafür stopfe ich ihnen nur zu gerne die Bäuche voll.«

»Nein, Sir, das macht keine Schwierigkeiten«, sagte der Verwalter des Hauptquartiers mit niedergeschlagener Stimme, als es darum ging, für Laurence und seine Offiziere Zimmer zu finden, obwohl sie ohne Ankündigung aus dem Nichts hereingeplatzt waren. Die meisten der Kapitäne und Offiziere hatten ihre Lager draußen im Quarantänegebiet bei ihren kranken Drachen aufgeschlagen, ohne sich um die Kälte und Nässe zu kümmern, und das Gebäude wirkte seltsam verlassen. Es herrschte eine gedämpfte Stille, wie es nicht einmal in den Tagen vor Trafalgar der Fall gewesen war, als beinahe die gesamte Formation nach Süden verlagert worden war, um dabei zu helfen, die französische und die spanische Flotte zu besiegen.

Gemeinsam tranken alle auf Granbys Gesundheit, doch schon bald löste sich die Feier auf, und auch Laurence war nicht in der Stimmung, hinterher noch länger zu bleiben. Einige missmutige Leutnants saßen an einem dunklen Tisch in der Ecke zusammen, ohne ein Wort zu wechseln, und einem alten Kapitän war der Kopf auf die Seite seines Sessels gesunken, und er schnarchte, eine leere Flasche Branntwein in der Armbeuge. Laurence nahm sein Abendessen allein in seinem Zimmer neben dem Feuer ein. Die Luft war kühl, denn die Räume zu beiden Seiten neben seinem waren leer.

Ein leises Pochen an der Tür war zu hören, und Laurence ging, um sie zu öffnen. Er glaubte, es könnte Jane sein oder einer seiner Männer, der ihm eine Nachricht von Temeraire überbringen wollte. So war er überrascht, als er stattdessen Tharkay gegenüberstand.

»Bitte kommen Sie herein«, sagte Laurence und fügte einen Augenblick später hinzu: »Ich hoffe, Sie verzeihen mir meinen Zustand.« Im Zimmer herrschte Unordnung, und er hatte sich einen Morgenrock aus der zurückgelassenen Garderobe eines Kollegen geborgt, doch das Kleidungsstück war in der Taille viel zu weit, sodass es arg zerbeult wirkte.

»Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden«, sagte Tharkay und schüttelte den Kopf, als Laurence unbeholfen nachfragte. »Nein, es gibt nichts, worüber ich mich beschweren möchte, aber ich gehöre nicht zu Ihren Leuten. Und ich habe nicht vor zu bleiben, nur um als Übersetzer nützlich zu sein. Dieser Rolle würde ich nur allzu bald überdrüssig werden.«

»Ich würde nur zu gern mit Admiral Roland sprechen … vielleicht eine Offiziersstelle …«, sagte Laurence, verstummte jedoch. Er wusste nicht, was zu tun war oder wie diese Dinge im Korps geregelt wurden, obwohl er davon ausging, dass sie weitaus weniger formal gehandhabt wurden als in der Armee oder der Marine. Trotzdem wollte

cbt – C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House

3. Auflage

Deutsche Erstausgabe Mai 2008

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2007 der Originalausgabe by Naomi Novik

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Empire of Ivory« bei Del Rey Books, an imprint of the Random House Publishing Group, a division of Random House, Inc., New York. © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe cbt/cbj Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Marianne Schmidt Innenillustrationen: © Gayle Marquez Umschlagillustration: Dominic Human Umschlaggestaltung: HildenDesign, München he · Herstellung: CZ Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-09176-7

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