Scholomance – Die Goldenen Enklaven - Naomi Novik - E-Book
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Scholomance – Die Goldenen Enklaven E-Book

Naomi Novik

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Beschreibung

Die Welt zu retten, ist eine Aufgabe, auf die dich keine Zauberschule vorbereiten kann ...

Nahezu im Alleingang – wenn auch unterstützt von einer wachsenden Zahl echter Freunde – hat El die Scholomance für immer verändert. Nun ist sie zurück in der realen Welt und muss sehen, wie sie mit dem zurechtkommt, was sie in der Schule gelernt hat. Noch immer hängt die düstere Prophezeiung ihrer Großmutter wie ein Damoklesschwert über ihr. Wird El tatsächlich alle Enklaven für immer zerstören?
Bei dem Versuch, ihre einzig wahre Liebe zu retten, muss El die wichtigste Lektion lernen: Die grausame Wahrheit darüber, worauf die Enklaven und die Stabilität der magischen Welt gegründet sind. Doch sie wäre nicht El, wenn sie nicht daran rühren wollte …
Unzählige Fans lieben die geistreichen, genial erzählten Geschichten der Bestsellerautorin Naomi Novik. Ihre starken Heldinnen widersetzen sich Konventionen und kämpfen für Gerechtigkeit. Das fulminante Finale der New-York-Times-Bestseller-Trilogie »Scholomance« bietet dunkle und rasante Abenteuer voller unerwarteter Wendungen.

Alle Bände der »Scholomance«-Trilogie:
Scholomance – Tödliche Lektion
Scholomance – Der letzte Absolvent
Scholomance – Die Goldenen Enklaven

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Seitenzahl: 710

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Naomi Novik

Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.»Die Goldenen Enklaven« ist ein fiktionales Werk. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie der Autorin oder sie sind fiktional gebraucht. Jegliche Ähnlichkeit zu realen – lebenden oder toten – Personen, Ereignissen oder Orten ist vollkommen zufällig.

Text © 2022 by Temeraire LLC

© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Titel »The Golden Enclaves. Lesson Three of The Scholomance« bei Del Rey in der Verlagsgruppe Penguin Random House LLC, New York.

Del Rey is a registered trademark.

This translation is published by arrangement with Del Rey, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC .

Aus dem amerikanischen Englisch von Doris Attwood

Lektorat: Luitgard Distel

Illustrationen Vor- und Nachsatz: Elwira Pawlikowska © 2020, 2022 by Penguin Random House LLC

Covergestaltung: Nele Schütz unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (intueri, lena_nikolaeva, jumpingsack, Archiwiz, Nadezhda Shuparskaia, Gleb Guralnyk)

kk · Herstellung: AJ

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27029-2V002

www.cbj-verlag.de

Kapitel 1 Die Jurte

Das Letzte, was Orion, dieser absolute Mistkerl, zu mir sagte, war:

El, ich liebe dich so sehr.

Und dann stieß er mich rückwärts durch die Tore der Scholomance, und ich landete mit einem Schlag auf dem Rücken im Paradies: auf der mit weichem Gras bewachsenen Lichtung in Wales, die ich vor vier Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, mit Eschen voll saftig grüner Blätter, gesprenkelt vom herabfallenden Sonnenlicht, und mit Mum. Mum wartete dort auf mich, in ihren Armen ein Meer von Blumen: Mohn für Erholung, Anemonen für Bewältigung, Mondraute für Vergessen, Ackerwinden für den Anbruch eines neuen Tages. Ein Willkommensstrauß für ein Traumaopfer, der die Schrecken aus meinem Geist vertreiben und Platz für Heilung und Entspannung schaffen sollte. Doch als sie die Arme ausstreckte, stemmte ich mich hoch und stieß dabei ein heulendes »Orion!« aus, das die Blütenpracht in alle Winde davonstieben ließ.

Vor ein paar Monaten – Äonen, wie mir schien –, als wir noch mitten in unserem wahnsinnigen Hindernisparcours steckten, hatte mir eine Enklavlerin aus Mailand einen Ortswechselzauber auf Latein gegeben, einen von der seltenen Art, die man auch bei sich selbst anwenden kann, ohne sich damit in tausend Stücke zu sprengen. Die Idee war, ich sollte damit im Festsaal von A nach B hüpfen, um andere Leute – zum Beispiel Enklavlerinnen aus Mailand – besser retten zu können, weshalb sie mir einen Zauber, der fünf Jahre Mana wert war, einfach so überlassen hatte. Normalerweise konnte man ihn nicht über weite Distanzen hinweg anwenden, aber Zeit war schließlich mehr oder weniger das Gleiche wie Raum, und immerhin war ich zehn Sekunden zuvor noch in der Scholomance gewesen. Ich hatte den Festsaal noch so klar und deutlich vor Augen wie eine Konstruktionszeichnung, einschließlich dieser grauenvollen Masse namens Patience und der Horde Maleficaria dahinter, die sich auf uns zubewegten. Entschlossen platzierte ich mich wieder vor den Toren, genau dorthin zurück, wo ich gestanden hatte, als Orion mir den finalen Stoß versetzt hatte.

Aber der Zauber wollte ganz offensichtlich nicht gehext werden und leistete energisch Widerstand, als würde er mich mit einem ganzen Schilderwald warnen: Vorsicht, Sackgasse! Straße unterspült! Ich zwang ihn trotzdem durch das Tor, bombardierte ihn förmlich mit Mana, aber der Zauber wurde mir ins Gesicht zurückgeschleudert und warf mich zu Boden, als wäre ich aus vollem Lauf gegen eine Betonwand gerannt. Also rappelte ich mich wieder auf und versuchte es mit exakt demselben Spruch erneut, nur um ein zweites Mal niedergemäht zu werden.

Mir dröhnte und klingelte der Schädel. Mühevoll hievte ich mich erneut auf die Beine. Mum half mir auf, aber sie hielt mich auch zurück, sagte irgendetwas zu mir, wollte, dass ich aufhörte, aber ich fauchte sie nur an: »Patience kam direkt auf ihn zu!«, und ihre Hände wurden ganz schlaff und rutschten hilflos an meinem Körper hinunter, während sie in ihren eigenen schrecklichen Erinnerungen versank.

Ich war bereits vor zwei Minuten hier gelandet. Zwei Minuten waren im Festsaal eine Ewigkeit, auch schon, bevor ich sämtliche Monster der Welt darin zusammengepfercht hatte. Aber Mums Unterbrechung hielt mich wenigstens davon ab, endlos mit dem Kopf gegen die Wand zu donnern. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um nachzudenken, und versuchte dann Orion stattdessen mit einer Heraufbeschwörung rauszuholen.

Die meisten Leute sind nicht in der Lage, irgendetwas heraufzubeschwören, das größer ist oder mehr Willenskraft hat als ein Haargummi. Die unzähligen Heraufbeschwörungszauber, die ich im Laufe der Jahre unfreiwillig gesammelt hatte, waren jedoch alle dazu gedacht, mir ein mehr oder weniger unglückseliges, schreiendes Opfer zu beschaffen, vermutlich um es in meine Opfergrube zu schleudern, die ich allerdings – unverständlicherweise – noch nicht angelegt hatte. Jedenfalls verfügte ich über ein Dutzend verschiedene, darunter auch einen, mit dem man jemanden auf hellseherische Weise durch eine spiegelnde Fläche erspähen und durch sie zu sich ziehen konnte.

Der Zauber war besonders wirkungsvoll, wenn man einen riesigen verfluchten Spiegel des Todes besaß und ihn genau dafür benutzte. Leider hatte ich meinen an der Wand meines Zimmers in der Scholomance hängen lassen. Also rannte ich über die Lichtung, bis ich eine kleine Wasserpfütze zwischen zwei Baumwurzeln fand. Normalerweise hätte sie nie und nimmer ausgereicht, aber da die Leitung des Kraftteilers nach der Abschlussprüfung immer noch aktiv war, strömte weiter endlos Mana durch meinen Körper. Ich legte all meine Kraft in den Zauber, ließ die trübe Pfütze so glatt wie Glas schimmern, starrte darauf und schrie: »Orion! Orion Lake! Ich rufe dich in …« Ich blickte kurz zu dem ersten Sonnenlicht und dem ersten Stückchen Himmel hinauf, wonach ich mich die letzten vier Jahre gesehnt hatte, spürte jedoch nur verzweifelte Frustration darüber, dass es nicht dämmerte oder Mittag oder Mitternacht oder irgendetwas anderes Hilfreiches war. »… in den Stunden des zunehmenden Lichts. Komm zu mir aus den düsteren Hallen und gehorche allein meinen Worten.« Höchstwahrscheinlich würde er wohl unter einem Gehorsamkeitszauber stehen, wenn er hier auftauchte, aber darüber würde ich mir Sorgen machen, wenn er erst mal hier war.

Diesmal ging der Zauber durch, und das Wasser bauschte sich zu einer silberschwarzen Wolke, die langsam und widerwillig ein geisterhaftes Bild freigab, bei dem es sich möglicherweise um Orion von hinten handelte, kaum mehr als ein Schatten vor dem Hintergrund tiefster Dunkelheit. Ich stieß meinen Arm trotzdem ins Dunkel und streckte mich nach ihm. Und einen Augenblick lang dachte ich – war ich mir sicher –, dass ich ihn hatte. Eine Woge wahnsinniger Erleichterung schwappte über mich hinweg: Ich hatte es geschafft, hatte ihn erwischt – doch im nächsten Moment schrie ich, weil meine Finger durch die Außenhülle eines Schlundmauls glitten, das mich mit saugender Gier zu verschlingen versuchte.

Jede Faser meines Körpers wollte sofort wieder loslassen. Und dann wurde es noch schlimmer – als könnte es überhaupt noch schlimmer werden –, denn es war nicht nur ein Schlundmaul, es waren zwei, und sie grapschten von beiden Seiten nach mir, als hätte Patience Fortitude noch nicht vollkommen verdaut. Ein ganzes Jahrhundert an Schülern war nun mal eine so gigantische Mahlzeit, dass es seine Zeit dauerte, sie komplett zu verspeisen, vor allem, da auch Fortitude weiterhin blind um sich tastete und versuchte, seinen eigenen Hunger zu stillen, während das Monstrum selbst verschlungen wurde.

Im Festsaal war für mich völlig offensichtlich gewesen, dass wir dieses Monstrum, diesen geballten Schrecken, unmöglich töten konnten – noch nicht mal, wenn mir das vereinte Mana von viertausend lebendigen Schülern zur Verfügung stand. Das Einzige, was wir mit Patience tun konnten, war genau das, was wir auch mit der Scholomance tun würden: sie beide in die Leere stoßen und hoffen, dass sie für immer verschwanden. Doch allem Anschein nach war Orion in diesem Punkt anderer Meinung gewesen. Schließlich hatte er sich wieder umgewandt, um weiterzukämpfen, obwohl die Schule hinter ihm gefährlich nah am Rand der Welt schwankte.

Als würde er glauben, Patience könnte sich doch irgendwie retten, wobei ein Teil seines dämlichen primitiven Gehirns zu dem Schluss gekommen war, er könne es davon abhalten zu fliehen, weshalb er zurückbleiben und noch ein letztes Mal den Helden spielen musste – ein Junge allein gegen eine gigantische Flutwelle. Das war der einzige mögliche Grund, der mir einfiel, und der war schon dämlich genug gewesen, bevor Orion mich durch das Tor stieß, obwohl ich diejenige war, die tatsächlich schon mal gegen ein Schlundmaul gekämpft hatte. Seine ganze Aktion war so unaussprechlich bescheuert, dass ich ihn da rausholen musste, hierher zu mir, damit ich ihn in aller Ausführlichkeit anschreien konnte, um ihm klarzumachen, wie bescheuert er war.

Ich klammerte mich an diese Wut. Durch diese Wut gelang es mir durchzuhalten, trotz der widerwärtigen Fäulnis des Schlundmauls, das versuchte, meine Finger zu umhüllen, und das an meiner Haut und meinem Schild saugte wie ein Kind, das an einem Lutscher schleckt und versucht, möglichst schnell an das süßere Innere heranzukommen – an mich heranzukommen, an jeden letzten süßen Millimeter von mir, um mich komplett zu verschlingen, bis auf die starren Augen und den schreienden Mund.

Entsetzen gesellte sich zu meiner Wut, weil dieses Ding Orion genau das antat. Orion, der immer noch dort im Festsaal war. Deshalb ließ ich auch nicht los. Ich starrte in die Hellsehpfütze und schleuderte den Tod an Orions verschwommener, nur halb zu erkennender Schulter vorbei, hexte wieder und wieder meinen besten und schnellsten Mordzauber, wobei jedes Mal ein ganzer See der Verwesung von meinen Händen zu tropfen schien, ich bei jedem Atemzug meine Übelkeit hinunterschluckte und bei jedem Ausatmen ein »À la mort!« über meine Zunge rollte, bis beide miteinander verschmolzen und das Geräusch meiner Atmung Tod bedeutete. Und die ganze Zeit ließ ich Orion nicht los, hielt ihn fest und versuchte ihn rauszuziehen. Selbst wenn das bedeutete, dass ich mit ihm auch Patience in die Welt herausriss und dieser gierige Schrecken direkt vor Mums Füßen in die kühlen grünen Wälder von Wales stürzen würde, meinem Ort des Friedens, von dem ich in der Scholomance in jeder Sekunde geträumt hatte. Letztendlich war das Einzige, was ich tun musste, es zu töten.

Vor fünf Minuten war mir das noch völlig unmöglich erschienen, so unmöglich, dass ich allein bei der Vorstellung nur gelacht hätte. Jetzt erschien es mir jedoch lediglich wie eine ziemlich niedrige, unbedeutende Hürde, wenn die Alternative war zuzulassen, dass dieses Biest stattdessen Orion verschlang. Schließlich war ich wirklich gut darin, Dinge zu töten. Ich würde einen Weg finden. In meinem Kopf nahm bereits ein Plan Gestalt an, und die Zahnräder meines strategischen Verstands, die in vier Jahren Scholomance kein einziges Mal stillgestanden hatten, ratterten gelassen im Hintergrund. Wir würden Patience gemeinsam bekämpfen: Ich würde es ein paar Dutzend Mal töten, und Orion konnte ihm das Mana aussaugen und mich damit versorgen. Gemeinsam würden wir einen endlosen mörderischen Kreislauf bilden, bis das Ding endlich verschwunden war. Es würde funktionieren, auf jeden Fall. Ich hatte mich selbst davon überzeugt. Und deshalb ließ ich nicht los.

Ich ließ nicht los.

Ich wurde weggestoßen. Schon wieder.

Von Orion. Er musste es gewesen sein, weil Schlundmäuler niemals losließen. Das Mana, das ich in die Heraufbeschwörung pumpte, stammte aus dem noch immer nicht versiegenden Reservoir der Abschlussprüfung, als würden sich sämtliche Schüler weiter an unseren Plan halten und es mit Mana speisen. Aber das ergab keinen Sinn. Die anderen waren alle längst fort. Sie waren raus aus der Scholomance, umarmten ihre Eltern, erzählten ihnen schluchzend, was wir getan hatten, und ließen ihre Wunden versorgen, bevor sie all ihre Freunde und Freundinnen anriefen. Sie fütterten mich nicht weiter mit Macht. Sie sollten es gar nicht. Der ganze Sinn und Zweck unseres Plans war es gewesen, sämtliche Verbindungen mit der Schule zu kappen: Wir wollten sie mit Mals vollstopfen, sie von der Welt abtrennen und sie in die Leere davonschweben lassen, als hätte sich das Böse windend zu einem widerwärtigen Ballon zusammengeballt und würde in der Dunkelheit verschwinden, in die es gehörte. Und genau das passierte in dem Moment, als Orion und ich als Letzte zu dem Portal gestürmt waren.

Und wie ich jetzt begriff, war das Einzige, was die Schule noch in der Realität hielt, ich, weil ich mich immer noch an den Mana-Strom von dort klammerte. Und der einzige Mensch, der sich in der Schule befand und mich mit diesem Strom versorgen konnte, war Orion. Orion, der Mals das Mana aussaugen konnte, wenn er sie tötete. Also musste er zumindest in diesem Augenblick noch am Leben sein und kämpfen. Patience hatte ihn noch nicht komplett verschlungen. Und er musste gespürt haben, dass ich versuchte, ihn herauszuziehen, aber anstatt sich umzudrehen und mir dabei zu helfen, ihn rauszuholen, wandte er sich von mir ab und widersetzte sich der Heraufbeschwörung – genau wie sich das schreckliche, klebrige Schlundmaul um meine Hand zurückzog.

Es war, als versuche Orion genau dasselbe zu tun, was mein Dad getan hatte, vor all diesen Jahren: Beinahe als habe er das Schlundmaul absichtlich gepackt und weggezerrt, damit es ihn verschluckte und nicht das Mädchen, das er liebte.

Nur dass das Mädchen, das Orion liebte, keine sanftmütige, friedfertige Heilerin war, sondern eine Zauberin mit Massenvernichtungskräften, der es bereits bei zwei Gelegenheiten gelungen war, ein Schlundmaul in Stücke zu reißen. Deshalb hätte dieser verdammte dämliche Idiot einfach darauf vertrauen können, dass ich es noch mal tun würde. Aber das tat er nicht. Stattdessen wehrte er sich gegen mich, und als ich versuchte, ihn mit der Macht meiner Heraufbeschwörung dazu zu zwingen, zu mir zu kommen, versiegte der bodenlose Mana-Strom so plötzlich, als hätte er mir den Hahn zugedreht.

Von einem Moment auf den anderen fühlte sich der Kraftteiler an meinem Handgelenk kalt, schwer und tot an. Einen weiteren Moment später ging meinem unfassbar verschwenderischen Zauber der Treibstoff aus, und Orion entglitt meinem Griff, als hätte ich versucht, eine Handvoll Öl festzuhalten. Sein Umriss in der Hellsehpfütze verschwand in der Dunkelheit. Ich tastete trotzdem voller Verzweiflung weiter nach ihm, während auch der Rest des Bilds an den Rändern zu verblassen begann.

Mum hatte die ganze Zeit neben mir gekauert, ihr Gesicht vor Angst und Besorgnis verzerrt. Jetzt packte sie mich an den Schultern und warf mich unter Einsatz ihres gesamten Körpergewichts um, weg von der Pfütze, womit sie mich wahrscheinlich davor bewahrte, dass mir die Hand abgerissen wurde, als der Zauber in sich zusammenfiel und sich mein bodenloser Hellsehspiegel wieder in eine zwei Zentimeter tiefe Pfütze zwischen zwei Baumwurzeln verwandelte.

Ich stürzte hin und rollte wieder auf die Knie, alles in einer einzigen fließenden Bewegung, ohne überhaupt darüber nachzudenken – schließlich hatte ich monatelang für die Abschlussprüfung trainiert. Ich warf mich wieder auf die Pfütze und krallte die Finger in den Matsch. Mum versuchte, die Arme um mich zu schlingen, flehte mich verzweifelt an aufzuhören. Aber das war nicht der Grund, warum ich aufhörte. Ich hörte auf, weil ich nichts mehr tun konnte. Ich hatte keinen einzigen Funken Mana mehr übrig. Mum packte mich wieder an den Schultern. Ich drehte mich zu ihr um, griff nach dem Kristall um ihren Hals und keuchte: »Bitte, bitte.« Mums Gesicht bestand aus purer Verzweiflung. Ich konnte spüren, wie sehr sie sich wünschte, mich von hier fortbringen zu können. Dann schloss sie einen Moment lang die Augen, hob ihre zitternden Hände, öffnete den Verschluss der Halskette und gab mir den Kristall: halb voll – nicht genug, um Tote aufzuwecken oder ganze Städte in Schutt und Asche zu legen, aber ausreichend, um einen Nachrichtenzauber zu sprechen, Orion damit anzuschreien und ihm zu sagen, er solle mir ein Seil zuwerfen, damit ich ihm helfen konnte, ihn retten konnte. Nur dass die Nachricht nicht durchging.

Ich versuchte es wieder und wieder, brüllte Orions Namen, bis der Kristall und meine Stimme versiegten. Ich hätte ebenso gut in die Leere schreien können, in die die komplette Scholomance vermutlich inzwischen gestürzt war. Genau so, wie wir es mit unserem ach so cleveren Plan beabsichtigt hatten.

Als nicht mehr genügend Mana übrig war, um weiterzurufen, verwendete ich die letzten paar Tropfen für einen Herzschlagzauber, um herauszufinden, ob er noch am Leben war. Es war ein sehr günstiger Zauber, weil er lächerlich kompliziert war und ungefähr zehn Minuten in Anspruch nahm. Deshalb erschuf man durch das Zaubern an sich fast das gesamte Mana, das man dafür benötigte. Ich sprach ihn siebenmal nacheinander, ohne mich von meinen schlammverdreckten Knien zu erheben, verharrte einfach dort und lauschte dem durch die Baumkronen wehenden Wind, den zwitschernden Vögeln und den blökenden Schafen, während irgendwo in der Ferne ein kleiner Bach plätscherte. Nicht ein einziges dumpfes Pochen drang an meine Ohren. Und als ich auch dafür nicht mehr genügend Mana hatte, ließ ich mich von Mum zu der Jurte führen, wo sie mich ins Bett brachte, als wäre ich wieder sechs Jahre alt.

Als ich das erste Mal aufwachte, glich alles so sehr einem Traum, dass es wehtat. Ich befand mich in der Jurte, die Tür geöffnet, um die kühle Nachtluft hereinzulassen, und draußen konnte ich Mum leise singen hören, genau wie in all den quälenden Träumen während der letzten vier Jahre, wenn ich verzweifelt versucht hatte, mich noch ein paar Minuten länger darin zu verlieren, und die doch jedes Mal mit einem jähen Erwachen geendet hatten. Das wirklich Schreckliche an diesem hier war jedoch, dass ich mich nicht weiter darin verlieren wollte. Ich drehte mich um und schlief wieder ein.

Als ich irgendwann nicht mehr schlafen konnte, blieb ich einfach auf dem Rücken in meinem Bett liegen und starrte für sehr lange Zeit an die wogende Zeltdecke hinauf. Wenn ich irgendetwas anderes hätte tun können, hätte ich mich gar nicht erst schlafen gelegt. Ich konnte nicht einmal wütend sein. Der Einzige, auf den ich hätte wütend sein sollen, war Orion, und ich konnte es nicht ertragen, wütend auf ihn zu sein. Ich versuchte es: Ich lag da und versuchte darüber nachzudenken, was für ätzende spitze Bemerkungen ich auf ihn losgelassen hätte, wäre er hier gewesen. Doch schon bei der Frage: Was hast du dir nur dabei gedacht?, schaffte ich es nicht, wütend auf ihn zu klingen, noch nicht mal in meinem eigenen Kopf. Es tat einfach nur weh.

Aber ich konnte auch nicht um ihn trauern, denn er war – nichttot. Er war im Augenblick wahrscheinlich damit beschäftigt, wie am Spieß zu schreien, weil ein Schlundmaul ihn verspeiste, genau wie es Dad damals erging. Die Leute tun gern so, als wären Schlundmaulopfer tot, aber nur, weil es unerträglich wäre, sich die Wahrheit vorzustellen. Es gibt nichts, was du tun könntest, wenn jemand, den du liebst, von einem dieser Dinger verschlungen wird: Er oder sie ist dann so gut wie tot, deshalb kannst du auch einfach so tun, als sei bereits alles vorbei. Ich weiß jedoch – ich weiß aus dem Inneren dieser Biester –, dass man nicht stirbt, wenn man von einem Schlundmaul gefressen wird. Man wird einfach nur gefressen, für immer, solange es das Schlundmaul gibt. Dieses Wissen half mir aber auch nicht weiter. Ich konnte trotzdem nichts unternehmen. Weil die Scholomance weg war.

Ich hatte mich noch immer nicht gerührt, als Mum kurz darauf hereinkam. Sie ließ eine Handvoll von irgendwas klirrend in eine Schüssel gleiten und sagte leise zu Precious: »Das ist für dich«, die daraufhin ein dankbares Quieken von sich gab und begann, Samen zu knabbern. Ich schaffte es einfach nicht, mich schlecht zu fühlen, weil ich überhaupt nicht an sie gedacht hatte, so klein und hungrig, wie sie war. Alles war zu weit weg und ich viel zu fertig. Mum kam zu mir, setzte sich neben mein Feldbett und legte eine Hand auf meine Stirn, warm und zärtlich. Sie sagte nichts.

Ich wehrte mich ein bisschen gegen sie. Ich wollte mich nicht besser fühlen. Ich wollte nicht aufstehen, in die Welt hinausgehen und weitermachen. Weil ich mich dann damit einverstanden erklärt hätte, dass es in Ordnung war, dass die Welt sich einfach weiterdrehte. Aber während ich so dalag, unter Mums tröstlicher Berührung, unvorstellbar sicher und gemütlich, kam mir das dämlich vor. Die Welt würde sich ohnehin weiterdrehen, ob ich ihr nun die Erlaubnis dazu erteilte oder nicht. Also setzte ich mich schließlich doch auf und ließ zu, dass Mum mir einen Schluck Wasser aus dem etwas schiefen Tonbecher zu trinken gab, den sie selbst getöpfert hatte, sich zu mir aufs Bett setzte, einen Arm um meine Schultern legte und mir übers Haar streichelte. Sie war so klein. Die ganze Jurte war so klein. Ich berührte mit dem Kopf den Rand der Decke, wenn ich aufrecht in dem Feldbett saß, und ich hätte es mit einem einzigen großen Satz nach draußen geschafft, wenn ich dämlich genug gewesen wäre, mich ins Unbekannte zu stürzen, wo wahrscheinlich alles Mögliche auf mich lauerte.

Natürlich wäre das jetzt gar nicht mehr so dämlich gewesen. Ich war nicht mehr in der Scholomance. Ich hatte sämtliche Schüler gerettet und sämtliche Mals an unserer Stelle in der Schule eingesperrt, und dann hatte ich das ganze Gebäude – zum Bersten gefüllt mit all den hungrigen Biestern – von der Welt abgetrennt, damit sie sich bis in alle Ewigkeit gegenseitig fraßen. Deshalb konnte ich jetzt vollkommen sorglos zwanzig Stunden am Stück schlafen oder mit vor Freude singendem Herzen aus der Jurte hüpfen und überhaupt alles tun und überall auf der Welt hingehen, wenn ich wollte. Und genau dasselbe konnten auch alle anderen tun, jedes einzelne Kind, das ich auf seinem Weg aus der Scholomance beschützt hatte, und auch all die anderen Kinder, die überhaupt nie auf diese Schule würden gehen müssen.

Abgesehen von Orion, der in der Dunkelheit verschwunden war.

Wenn ich noch einen Rest Mana gehabt hätte, um etwas zu unternehmen, hätte ich weiter versucht, mir irgendeine Möglichkeit für seine Rettung einfallen zu lassen. Aber da ich nichts mehr hatte, blieb nur die Möglichkeit, mir bei jemand anders Hilfe zu holen – bei seiner Mum vielleicht, die auf dem besten Weg war, die nächste Herrin der New Yorker Enklave zu werden. Ich konnte sie um Mana bitten, um irgendetwas tun zu können – aber genau an diesem Punkt ließ mich meine Vorstellungskraft im Stich: ihr ins Gesicht schauen zu müssen, jemandem, der Orion geliebt hatte und der wollte, dass er wieder nach Hause kam, und sie um Mana für eine meiner Ideen anzubetteln, die sich sowieso total dämlich und nutzlos anhörten, sobald ich jemand anders davon zu überzeugen versuchte, an sie zu glauben. Also tat ich das Einzige, was mir noch blieb: Ich vergrub das Gesicht in den Händen und heulte.

Mum saß die ganze Zeit neben mir, während ich weinte. Sie war bei mir und fühlte in meinem Elend mit mir, ohne so zu tun, als würde sie genauso empfinden. Sie versteckte ihre eigene unbändige Freude nicht. Darüber, dass ich wieder zu Hause war, noch am Leben, in Sicherheit. Ihr ganzer Körper strahlte ein Glücksgefühl ins Universum aus, aber sie versuchte nicht, mich mitzureißen oder meine Trauer zu ersticken. Sie wusste, wie sehr ich litt, und sie fühlte mit mir und war bereit, alles zu tun, um mir zu helfen, wenn ich ihre Hilfe wollte. Falls jetzt jemand wissen will, wie sie mir das alles mitgeteilt hat, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen – das wüsste ich auch gern. Ich selbst hätte es jedenfalls nicht gekonnt.

Als ich aufgehört hatte zu weinen, stand sie auf und machte mir eine Tasse Tee. Dafür sammelte sie Blätter aus sieben verschiedenen Behältern von ihren überfüllten Regalen zusammen und brachte das Wasser durch Zauberei zum Kochen, was sie normalerweise nie getan hätte. Aber jetzt tat sie es, damit sie nicht raus ans Lagerfeuer gehen und mich allein lassen musste. Die ganze Jurte wurde von dem süßen Duft erfüllt, als sie das Wasser in die Tasse goss. Sie reichte sie mir, setzte sich wieder zu mir und hielt meine andere Hand mit beiden Händen. Bislang hatte sie mir noch keine Fragen gestellt. Ich wusste, dass sie mich niemals drängen würde, aber die sanfte Stille zwischen uns schien nur darauf zu warten, dass ich anfing, über alles zu sprechen. Anfing, mit ihr um etwas zu trauern, das bereits vorbei war. Aber das konnte ich einfach nicht.

Nachdem ich meinen Tee getrunken hatte, stellte ich meine Tasse ab und fragte daher Mum: »Warum hast du mich vor Orion gewarnt?« Meine Stimme klang rau, heiser, als hätte ich die Innenseite meiner Kehle mit Schleifpapier bearbeitet. »War das der Grund? Hast du gesehen …«

Sie zuckte zusammen, als hätte ich sie mit einer Nadel gestochen, und ihr ganzer Körper bebte. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch, bevor sie sich zu mir umdrehte und mir direkt ins Gesicht blickte – mich aufrichtig ansah, wie sie es nannte –, wie sie es immer tat, wenn sie etwas wirklich begreifen, wirklich auf sich wirken lassen wollte. Sie verzog das Gesicht, und ein paar Falten, noch nicht sehr ausgeprägt, bildeten sich um ihre Augenwinkel. »Du bist in Sicherheit«, sagte sie halb flüsternd, sah auf meine Hand hinunter und streichelte sie erneut, während ein paar Tränen über ihre Wangen kullerten. »Du bist in Sicherheit. Oh mein liebes Mädchen, du bist in Sicherheit.« Sie seufzte schwer, bevor sie zu weinen anfing und vier Jahre Tränen über ihr Gesicht strömten.

Sie wollte nicht, dass ich mit ihr weinte. Tatsächlich wandte sie den Blick ab und versuchte ihre Tränen vor mir zu verbergen. Aber ich wollte, wollte mich so sehr in ihre Arme schmiegen und mit ihr fühlen: dass ich am Leben war, in Sicherheit. Aber ich konnte nicht. Sie weinte vor Freude, aus Liebe, um mich, und am liebsten hätte ich deshalb auch geweint: Ich war zu Hause, ich war für immer raus aus der Scholomance, ich war am Leben in einer Welt, die sich zum Besseren verändert hatte. Einer Welt, in der Kinder nicht in eine Grube voll scharfer Klingen geworfen wurden und hoffen mussten, dass sie es lebend rausschafften. All das war es wert, sich darüber zu freuen. Aber ich konnte nicht, denn die Grube existierte immer noch, und Orion saß darin fest.

Stattdessen zog ich meine Hand weg. Mum versuchte nicht, sie festzuhalten. Sie atmete ein paarmal tief durch, wischte sich die Tränen ab und verschloss ihre Freude fein säuberlich in ihrem Inneren, um weiter für mich da sein zu können. Sie wandte sich mir zu und nahm mein Gesicht in beide Hände. »Es tut mir so leid, mein Schatz.«

Sie sagte nicht, warum sie mich vor Orion gewarnt hatte, und ich verstand sofort, warum: Sie wollte mich nicht anlügen, aber sie wollte mir auch nicht wehtun. Sie verstand, dass ich ihn geliebt hatte, dass ich jemanden, den ich liebte, verloren hatte, auf dieselbe grauenvolle Weise, wie sie Dad verloren hatte. Meine Trauer war alles, was jetzt noch für sie zählte. Es war nicht wichtig für sie, mir zu erklären, warum, oder mich davon zu überzeugen, dass sie recht gehabt hatte.

Aber für mich war es wichtig. »Sag es mir«, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sag es mir. Du bist extra nach Cardiff gereist und hast diesen Jungen dazu gebracht, mir eine Nachricht zu überbringen …«

Ihr Miene wurde tieftraurig. Ich bat sie, mir wehzutun, mir etwas zu sagen, von dem sie wusste, dass ich es nicht hören wollte. Aber sie gab nach. Sie senkte den Kopf und sagte leise: »Ich habe jede Nacht versucht, dich zu träumen. Mir war klar, dass ich dich nicht erreichen würde, aber ich habe es trotzdem versucht. Und ein paarmal dachte ich wirklich, du würdest mich auch träumen, und wir hätten uns beinahe berührt … aber dann war es doch nur ein Traum.«

Ich schluckte schwer. Ich erinnerte mich auch an diese Träume, an die kaum eine Handvoll Beinahe-Berührungen, an die Liebe, die fast bis zu mir durchgedrungen wäre, trotz der dicken, alles bedeckenden Schutzschicht der Wächter rund um die Scholomance, die jede mögliche Weise, in die Schule einzudringen, verhinderte, weil Mals diesen Weg sonst auch gefunden hätten.

»Aber letztes Jahr … da habe ich dich gesehen. In der Nacht, in der du das Leinenpflaster benutzt hast.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern. Ich krümmte mich unwillkürlich zusammen, war wieder zurück in jenem Moment und sah alles mit ihren Augen vor mir: den kleinen Raum, mein Zimmer, ich in einer Pfütze meines eigenen Bluts auf dem Boden liegend, ein klaffendes, ausgefranstes Loch im Bauch, weil mir einer meiner besonders reizenden Mitschüler ein Messer hineingerammt hatte. Der einzige Grund, warum ich überlebt hatte, war das Heilpflaster gewesen, das Mum für mich gemacht hatte, jeder einzelne Leinenfaden von ihr selbst gepflanzt, gesponnen und gewoben, jahrelang von Liebe und Magie durchwirkt.

»Orion hat mir damals geholfen«, sagte ich. »Er hat es aufgeklebt.« Aber dann verstummte ich, weil Mum keuchend nach Luft schnappte und sich ihr Gesicht wegen einer Erinnerung verzerrte, die noch grauenvoller war, als mich halb verblutet auf dem Boden liegen zu sehen.

»Ich habe gespürt, wie er es berührt hat«, flüsterte sie heiser, und noch während sie sprach, wusste ich, dass ich es bereuen würde, gefragt zu haben. »Ich habe ihn gesehen, so nah bei dir, und er hat dich berührt und war nichts als … Hunger.« Sie klang, als sei ihr furchtbar übel, als hätte sie ein Mal gesehen, das mich bei lebendigem Leib verschlang, nicht Orion, der neben mir auf dem Boden kniete und Heilung in meinen zerfetzten Körper presste.

»Er war mein Freund«, brachte ich heulend heraus, weil ich irgendwie verhindern musste, dass sie weiterredete, und dann stand ich so schnell auf, dass ich mit meinem Schädel hart gegen einen der Deckenbalken knallte und mich mit einem Jaulen wieder setzen musste, die Hände an den Kopf gepresst. Wegen der plötzlichen Schmerzen fing ich wieder an zu weinen. Mum versuchte mich an sich zu drücken, aber ich schüttelte ihre Arme ab, wütend schniefend, und stemmte mich wieder aus dem Bett hoch.

»Er hat mir das Leben gerettet«, brachte ich bitter hervor. »Er hat mir dreizehn Mal das Leben gerettet.« Ich schnappte qualvoll nach Luft. Jetzt würde ich nie mehr die Chance kriegen, ihn einzuholen.

Mum sagte nichts weiter, widersprach mir nicht, saß einfach nur da, mit geschlossenen Augen, die Arme um den Körper geschlungen, und atmete bebend. Sie flüsterte nur: »Mein Schatz, es tut mir so leid«, und ich konnte hören, dass es wirklich so war. Es tat ihr so schrecklich leid, dass sie mich mit dieser vermeintlichen Wahrheit, was sie in Orion gesehen hatte, verletzt hatte, dass ich schreien wollte.

Stattdessen lachte ich, ein schreckliches, bösartiges Lachen, das mir selbst in den Ohren wehtat. »Keine Sorge, er ist weg, für immer«, sagte ich höhnisch. »Dafür hat mein brillanter Plan schon gesorgt.« Dann stürmte ich aus der Jurte.

Eine Weile lief ich über das Gelände der Kommune, hielt mich jedoch im Schutz der Bäume, stets ein Stück abseits der anderen Hütten. Vom vielen Weinen und Gegen-die-Decke-Donnern tat mir der Kopf weh – und weil eine ganze Ozeanladung Mana durch meinen Körper geströmt war und ich vorher quasi vier Jahre in einem Gefängnis verbracht hatte. Ich hatte nicht mal ein Taschentuch dabei. Ich trug noch immer die verdreckten Leggings und ein T-Shirt – das New-York-T-Shirt, das Orion mir geschenkt hatte –, verschlissen, mit vier Löchern, aber das einzig tragbare Oberteil, das ich am Schuljahresende noch besessen hatte. Ich hob es an und wischte mir damit die Nase sauber.

Ich wäre am liebsten wieder zu Mum zurückgegangen, aber ich konnte nicht, weil ich mir einerseits wünschte, dass sie mich einen Monat lang einfach nur umarmte, während ich ihr andererseits ins Gesicht schleudern wollte, dass sie nicht das Geringste über Orion wusste. Aber vor allem wünschte ich, ich hätte sie gar nicht erst nach dem Grund gefragt. Denn das hier war schlimmer, wie wenn sie gesagt hätte, sie habe alles vorhergesehen. Wie wenn sie mir erklärt hätte, er hätte es sicher nach draußen geschafft, wenn ich nur auf ihre Warnung gehört hätte, anstatt ihn in meinen großartigen Plan, die ganze Schule zu retten, hineinzuziehen.

Ich konnte mir denken, was Mum gesehen hatte: Orions Kraft, die es ihm ermöglichte, Mana aus Mals zu ziehen, und den leeren Speicher in ihm, denn nachdem er ihnen die Kraft ausgesaugt hatte, gab er sie weiter. Die Kraft, die so erschreckend gewaltig war, dass er davon gezwungen wurde, sich in diesen dämlichen, leichtsinnigen Helden zu verwandeln, der es allein mit einer ganzen Horde Maleficaria aufnahm. Denn alle anderen hatten ihm in jedem einzelnen Moment seines Lebens das Gefühl gegeben, ein Freak zu sein, außer er riskierte sein Leben für sie und stellte sich schützend vor sie.

Er war der beliebteste Junge der Scholomance, aber ich war seine einzige Freundin – weil seine Kraft das Einzige war, was die anderen in ihm sahen. Sie gaben vor, einen edlen Helden in ihm zu sehen, weil er so verzweifelt versuchte, diesem Bild gerecht zu werden, und weil sie dieses Bild so sehr liebten: Es machte seine Kraft zu etwas, das für sie bestimmt war, etwas, das ihnen helfen würde. Genau so, wie alle mich anschauten, meine Kraft sahen und mich für ein Monster hielten, weil ich nicht bei dem mitspielte, was sie von mir wollten. Doch sie hatten Orion auf genau dieselbe Weise geliebt, auf die sie mich hassten. Keiner von uns beiden war für sie je wirklich ein Mensch gewesen. Er hatte sich lediglich nützlich gemacht, während ich mich weigerte.

Aber ich hätte mir nie vorstellen können, dass von allen, die ich kannte, ausgerechnet Mum – die niemals zugelassen hätte, dass ich in meinem Spiegelbild ein Monster sah, selbst wenn die ganze Welt versucht hätte, mich davon zu überzeugen, dass es dort genau das zu sehen gab –, dass sie Orion anschauen, seine Kraft sehen und beschließen würde, dass er ein Monster war. Ich konnte es nicht ertragen, dass sie nicht in der Lage gewesen war, ihn anzuschauen und den Menschen in ihm zu sehen. Es fühlte sich an, als würde sie lügen, wenn sie gleichzeitig behauptete, in mir den Menschen zu sehen.

Ich hätte also zurückgehen, sie anschreien und ihr erklären können, dass ich nur noch am Leben war und sie weiter glücklich von mir träumen konnte, weil Orion den Malefizer getötet hatte, der mich hatte ausweiden wollen. Und dass er sein eigenes Leben riskiert und den Rest der Nacht in meinem Zimmer und damit verbracht hatte, den endlosen Strom der Mals abzuwehren, die gekommen waren, um die Sache zu Ende zu bringen. Aber am liebsten wollte ich ihr beweisen, dass sie unrecht hatte, indem ich dafür sorgte, dass Orion nächste Woche den Pfad zu unserer Jurte heraufschlenderte, wie er es versprochen hatte, damit sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen konnte, dass er weder die entsetzliche Macht war, die zu sehen sie geglaubt hatte, noch der perfekte, strahlende Held, den alle anderen in ihm sehen wollten. Dass er ein Mensch war, einfach nur ein Mensch.

Er war ein Mensch gewesen. Bevor er sich vor den Toren der Scholomance hatte umbringen lassen, weil er geglaubt hatte, es sei seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es alle nach draußen schafften – alle außer ihm.

Ich lief so lange wie möglich herum. Ich wollte nichts so Banales empfinden, wie müde zu sein oder verdreckt oder hungrig, aber das war ich. Die Welt beharrte nun einmal darauf, sich weiterzudrehen, und ich hatte nicht das nötige Mana, um sie davon abzuhalten. Precious kam mir schließlich entgegen, schoss unter einem Busch hervor und hüpfte auf meinen Fuß, als ich mich der Jurte langsam wieder annäherte. Sie weigerte sich jedoch, sich von mir hochnehmen zu lassen, sondern flitzte stattdessen ein Stück in Richtung Jurte zurück, setzte sich auf ihre Hinterbeine und bedachte mich mit einem tadelnden Blick, ihr strahlend weißes Fell förmlich eine Einladung für all die Katzen und Hunde, die mehr oder weniger frei durch die Kommune streiften. Ein Vertrauter zu sein, macht einen noch lange nicht unverwundbar.

Also folgte ich ihr zurück zur Jurte und ließ mir von Mum eine Schüssel Gemüsesuppe servieren, die schmeckte, als sei sie aus richtigem Gemüse zubereitet worden, was für euch vielleicht nicht besonders aufregend klingt, aber was wisst ihr schon! Ich konnte nicht anders, als fünf Portionen davon zu verdrücken – obwohl sie mit quälenden Schmerzen und bitterem Bedauern gewürzt war – und dazu fast einen ganzen Laib Brot mit Butter. Danach ließ ich mich von Mum zum Badhaus überreden. Dort verbrachte ich eine geschlagene Stunde unter der Dusche, was definitiv gegen die Regeln der Kommune verstieß, und versuchte mich in dem heißen Wasser aufzulösen, das ich so hemmungslos verschwendete. Ich machte mir dabei noch nicht einmal Sorgen, eine Amphisbaena könnte sich aus dem Duschkopf heraus auf mich stürzen.

Stattdessen tauchte Claire Brown auf. Ich stand mit geschlossenen Augen unter dem Duschstrahl, als ich diese schockierend vertraute Stimme sagen hörte: »Gwens Tochter ist also zurück«, eindeutig ohne Begeisterung und absichtlich laut genug, dass ich sie nicht überhören konnte.

Es machte mich nicht wütend, was ebenso seltsam wie unangenehm war – mein Vorrat an Wut war noch nie zuvor versiegt. Ich stellte die Dusche ab, verließ die Kabine und hoffte, doch noch einen Rest Wut in mir zu finden, aber da war nichts. Der Duschraum ging in eine große runde Umkleide über, die während meiner Abwesenheit ebenfalls geschrumpft zu sein schien. Die Kommune hatte das Badhaus errichtet, als ich fünf gewesen war, und meine Zehen kannten jeden Zentimeter des unebenen Bodens. Deshalb wusste ich, dass der kleine, enge Raum mit der einen Bank darin derselbe war wie damals, aber es erschien mir trotzdem unglaublich. Und dort auf der Bank saß Claire, zusammen mit Ruth Marsters und Philippa Wax. Sie warteten in ihre Handtücher gewickelt, als hätte ich sie am Duschen gehindert, obwohl es noch zwei weitere Kabinen gab.

Sie starrten mich alle drei an, als wäre ich eine Fremde. Und sie waren ganz sicher auch Fremde, obwohl sie fast genauso aussahen und klangen wie die Frauen, die mir zusammengenommen ungefähr zehntausendmal erklärt hatten, dass ich eine betrübliche Last für meine Mutter darstellte, die eine wahre Heilige war. Alle in der Kommune lebten aus einem ganz bestimmten Grund hier – etwas, das sie dazu getrieben hatte, sich vom Rest der Welt abzusondern. Mum war hierhergekommen, weil sie nicht bereit gewesen war, aus Eigennutz Kompromisse einzugehen. Aber diese drei Frauen, genau wie eine Menge der anderen, waren nicht hier, um Gutes zu tun, sie waren hier, damit man ihnen Gutes tat. Sie hatten in mir ein kerngesundes Kind gesehen, das von diesem magischen Wesen mit Liebe, Aufmerksamkeit und Energie überschüttet worden war, und sie hatten genau gewusst, was es für sie bedeutet hätte, dieses grenzenlose Geschenk zu erhalten. Und hier war ich, immer noch mürrisch und undankbar, und saugte all das Gute – soweit sie es beurteilen konnten – vollkommen sinnlos auf.

Was natürlich keine Entschuldigung dafür war, zu einem unglücklichen, einsamen Kind so gemein zu sein, und nur weil ich ihre Beweggründe verstand, hieß das noch lange nicht, dass ich bereit war, ihnen zu verzeihen. Eigentlich hätte mir das Ganze hier einen Riesenspaß machen sollen, und ich hätte ihnen voller Verachtung entgegenschleudern müssen: Ja, genau, ich bin zurück, und ich bin erwachsen geworden. Hat eine von euch in den letzten vier Jahren irgendetwas zustande gebracht, außer gemeine Gerüchte zu verbreiten? Mum hätte laut geseufzt, wenn sie davon gehört hätte, aber das wäre mir egal gewesen, denn ich wäre auf einer Wolke fiesen, gierigen Vergnügens aus dem Badhaus geschwebt.

Aber ich konnte es nicht tun. Allem Anschein nach konnte ich auf überhaupt niemanden mehr wütend sein, wenn ich nicht auf Orion wütend sein konnte.

Ich sagte nichts zu ihnen und sie sagten auch nichts weiter zu mir oder zueinander. Ich drehte mich nur um, trocknete mich ab, während sie in meinem Rücken schwiegen, und zog die Klamotten an, die Mum an den Haken neben der Duschkabine gehängt hatte: ein ganz neuer Baumwollslip, frisch aus der Verpackung, und ein langes Leinenkleid mit Kordelzug am Hals – ein Typ aus der Kommune nähte sie für diese Mittelalter-Rollenspielfans –, groß und weit genug, dass es mir passte, und dazu ein Paar selbst gefertigte Sandalen von einem anderen Nachbarn, mit Lederriemen und flacher Sohle aus Holz. Ich hatte seit vier Jahren nichts so Sauberes getragen, abgesehen von dem Tag, an dem ich Orions T-Shirt zum ersten Mal angezogen hatte. Die letzten Sachen, die ich mir zähneknirschend gekauft hatte, waren zu Beginn der Elften ein paar kaum benutzte Slips von einem Mädchen aus der Abschlussklasse gewesen, weil von meinem eigenen einfach nicht mehr genug übrig war, um ihn mit einem Do-it-yourself-Zauber zu reparieren. Neue Unterwäsche wechselte dort zu exorbitanten Preisen den Besitzer. Für den Preis einer ungetragenen Unterhose hätte man auch einen Universalgegengift-Zauber kaufen können. Und hier stand ich nun und kam in den Genuss dieses unermesslichen Reichtums.

Aber ich konnte das ebenso wenig genießen wie eine Runde süße Rache. Ich zog die Sachen an, weil es dämlich gewesen wäre, es nicht zu tun, und natürlich fühlte es sich besser an, es fühlte sich wundervoll an. Doch dann starrte ich auf den zerschlissen Fetzen, der einst Orions Shirt gewesen war und der zu nichts mehr taugte, außer für die Mülltonne, und ich fühlte mich sofort noch mieser – weil ich mich besser fühlte. Ich versuchte das T-Shirt zusammen mit meinen anderen alten Sachen wegzuwerfen, aber ich konnte es nicht. Ich faltete es zusammen und steckte es in eine meiner Taschen. Es war so dünn und abgenutzt, wobei es zur Hälfte sowieso nur noch aus Magie bestand, dass es lediglich so dick war wie ein Taschentuch. Ich putzte mir die Zähne – mit einer neuen Zahnbürste und frischer, minziger Zahnpasta – und ging dann nach draußen. Mittlerweile war es dunkel und Mum hatte vor der Jurte ein kleines Lagerfeuer entfacht. Ich setzte mich auf einen der Holzstämme neben der Feuerstelle und nach einer Weile fing ich wieder ein bisschen an zu weinen. Nicht besonders originell, ich weiß. Aber Mum kam zu mir und legte einen Arm um meine Schultern, während Precious auf meinen Schoß krabbelte.

Den nächsten Tag verbrachte ich damit, starr vor dem erloschenen Lagerfeuer zu sitzen. Ich war sauber, ich war satt, ich saß draußen in der Sonne, dann im Regen – währenddessen rührte ich mich keinen Millimeter – und wieder in der Sonne. Mum kramte und werkelte schweigend um mich herum, reichte mir Tee und etwas zu essen und ließ mich ansonsten in Ruhe, um die Sache zu verarbeiten. Aber ich verarbeitete gar nichts. Ich versuchte sehr angestrengt, nichts zu verarbeiten, weil es nichts zu verarbeiten gab außer der nackten, grauenvollen Tatsache, dass Orion irgendwo schreiend in der Leere gefangen war. Ich konnte ihn beinahe hören, wenn ich zu lange darüber nachdachte. Konnte beinahe hören, wie er rief: El, El, hilf mir, bitte. El!

Auf einmal hörte ich die Worte nicht mehr nur in meinem Kopf und blickte auf. Ein kleiner, eigenartiger Vogel hockte auf dem Baumstamm direkt neben mir: blauschwarz, mit orangefarbenem Schnabel, leuchtend gelben Markierungen am Kopf und einem großen, runden schwarzen Kullerauge, das er direkt auf mich richtete. »El?«, fragte er erneut. Ich starrte ihn an. Er streckte den Kopf ganz weit vor und gab ein Geräusch von sich, das wie ein menschliches Husten klang, bevor er sich wieder aufrichtete. »El?«, wiederholte er. »El? Geht’s dir gut, El?« Es war Lius Stimme. Vielleicht nicht ganz genau ihr Tonfall, aber eindeutig ihr Akzent und dieselbe Art, wie sie die Worte ausgesprochen hätte. Hätte der Vogel hinter mir gesessen, ich hätte geglaubt, sie wäre hier.

»Nein«, antwortete ich dem Vogel ehrlich. Er legte den Kopf schief und sagte: »NǏ hǎo«, dann wieder: »El?«, und dann wiederholte er mit meiner Stimme: »Nein. Nein. Nein«, bevor er plötzlich mit den Flügeln zu schlagen begann und hoch in die Bäume flatterte.

Wir hatten eine Abmachung getroffen, Aadhya, Liu und ich: Ich würde mir ein Handy schnappen, sobald ich es nach draußen geschafft hatte, und ihnen beiden eine Nachricht schicken. Sie hatten mich gezwungen, ihre Telefonnummern auswendig zu lernen. Aber das war alles Teil des Plans, und ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, irgendetwas davon zu tun.

Eigentlich war der Plan wirklich gut. Die Sutras vom Goldenen Stein waren bereit: Ich hatte sie zusammen mit all meinen Notizen und Übersetzungen sorgfältig in einer weichen Tasche verstaut, die ich aus meiner letzten verschlissenen Decke gehäkelt hatte, damit sie in meiner mühevoll geschnitzten Bücherschatulle, die wiederum in meinen wasserdichten Waschbeutel gewickelt war, geschützt waren. Ich hatte mir die Sutras auf den Rücken geschnallt, als sich die Zahnräder zu drehen begonnen hatten. Sie waren das Einzige, was ich mitgenommen hatte – meine Beute, das einzig Großartige, das mir die Scholomance jemals beschert hatte. Aber ich hätte sie definitiv gegen Orion eingetauscht, wenn mir irgendeine höhere Macht ein entsprechendes Angebot gemacht hätte, auch wenn ich zwei Herzschläge gebraucht hätte anstatt einen, um diese Entscheidung zu treffen.

Der Plan war gewesen, falls ich es lebend nach draußen schaffte, Mum eine Million Mal zu umarmen, mich eine Weile vor Freude im Gras zu wälzen, Mum noch ein bisschen länger zu umarmen und mir dann die Sutras zu schnappen und nach Cardiff aufzubrechen, wo es in der Nähe des Stadions eine Zauberergemeinschaft von recht ansehnlicher Größe gab. Noch waren sie weder reich oder mächtig genug, um eine eigene Enklave zu errichten, aber sie arbeiteten daran. Ich hätte ihnen angeboten, ihnen mithilfe ihres angesparten Manas eine kleine Enklave vom Goldenen Stein direkt am Stadtrand zu errichten. Nichts Bombastisches, aber immerhin einen Ort, an dem sie ihre Kinder abends sicher ins Bett bringen und sie vor all den umherstreunenden Mals beschützen konnten, die nach unserer Säuberungsaktion noch übrig waren.

Orion war nicht Teil des Plans gewesen. Sicher, mir war schon der Gedanke gekommen, dass er mich in Cardiff suchen und sicher auch finden könnte. Aber er wäre nach der Scholomance in den Armen seiner eigenen Eltern gelandet und sprichwörtlich auch im Schoß der New Yorker Enklave. Sie hätten sich mit allen möglichen Mitteln dagegen gewehrt, dass er sie verließ, und ihn mit Ranken voll Sentimentalität und Loyalität fest an sich gebunden. Und deshalb hatte ich nicht wirklich erwartet, dass Orion kommen würde. In Pessimismus war ich schon immer ziemlich gut gewesen. Und ich brauchte ihn auch nicht. Ich war bereit gewesen, mein Leben ohne ihn zu leben.

Ich weiß nicht mal mehr, ob ich wirklich gehofft hatte, dass er es lebend nach draußen schaffte. Bevor wir begonnen hatten, unseren – objektiv betrachtet – irrsinnigen Fluchtplan in die Tat umzusetzen, war ich mir ziemlich sicher gewesen, dass ich am Ende selbst tot sein würde, genau wie mindestens die Hälfte der Menschen, die mir etwas bedeuteten, wobei Orion auf der Liste der möglichen Opfer ganz oben stand. Wenn unser Plan nicht funktioniert hätte – wenn die Maleficaria aus der Honigtopfillusion ausgebrochen wären und angefangen hätten, uns abzuschlachten, wenn wir alle hätten fliehen müssen und er in all dem Chaos einer derjenigen gewesen wäre, die es nicht geschafft hätten –, dann, glaube ich, hätte ich geweint, um ihn getrauert und dann weitergemacht wie geplant.

Aber das hier konnte ich nicht ertragen. Ich konnte es nicht ertragen, dass er der Einzige war, der gestorben war, damit wir es alle sicher nach draußen schafften. Damit ich es sicher nach draußen schaffte. Auch wenn dieser dämliche Idiot selbst entschieden hatte zurückzubleiben und sich Patience zu stellen. Auch wenn er entschieden hatte, mich wegzustoßen und wieder mal der Held zu sein, weil er glaubte, dass er so sein müsste, um überhaupt etwas wert zu sein. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass das seine Geschichte sein sollte.

Und deshalb ging es mir nicht gut. Deshalb suchte ich mir kein Handy und meldete mich nicht bei Aadhya und Liu. Ich machte mich nicht auf nach Cardiff. Ich saß nur rum, entweder in oder vor der Jurte, und spielte die ganze Sache noch einmal gedanklich durch, als könnte ich ändern, was passiert war, wenn mir nur etwas einfiele, das ich anders oder besser hätte machen können.

Aus Erfahrung weiß ich, dass es ziemlich ähnlich war, wie im Speisesaal oder im Waschraum vor einem Dutzend Leuten gedemütigt zu werden. Weil einem in dem Moment keine clevere Retourkutsche einfällt, träumt man hinterher immer wieder von all den fiesen, geistreichen Sachen, die man hätte sagen können. Aber wie Mum mir in meiner Kindheit mehrmals erklärt hatte, war alles, was man damit erreichte, die Demütigung immer wieder aufs Neue zu durchleben, während die, die einen gequält hatten, einfach ungerührt weitermachten wie zuvor. Sie hatte recht, was mir schon damals klar gewesen war, aber dieses Wissen hatte mich nie davon abgehalten. Und jetzt hielt es mich auch nicht davon ab. Ich steckte fest, wanderte auf den Schienen hin und her und versuchte den Zug irgendwie zum Entgleisen zu bringen, obwohl er bereits am Ziel angekommen war.

Nachdem ich ein paar Tage lang versucht hatte, die Geschichte in meinem Kopf umzuschreiben, kam mir die glorreiche und höchst originelle Idee, es stattdessen mit der Welt zu versuchen. Ich ging in die Jurte und kramte eins meiner alten Hefte aus der Grundschule hervor, die Mum in einer Kiste aufbewahrte. Ganz hinten fand ich eine leere Seite und kritzelte ein paar Zeilen darauf, irgendein Bla, bla, bla,l’esprit de l’escalier. Die Vorstellung fühlte sich sehr französisch an, genau wie mein bester und elegantester Mordzauber, und wenn das für euch nicht wie eine warme Empfehlung klingt, kann ich mir gar nicht vorstellen, warum.

Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe, einen Zauberspruch zu erschaffen, der es mir im wahrsten Sinne des Wortes ermöglichen würde, das Gewebe der Realität zu verändern. So etwas funktioniert langfristig einfach nicht, ganz gleich, wie mächtig man ist. Die Realität ist mächtiger, und sie wird deinen Versuch letzten Endes immer an sich abprallen lassen, wobei du dich meist gleich mit auflöst. Trotzdem kann man die Sache – zumindest aus der eigenen Perspektive betrachtet – eine ganze Weile lang durchziehen und sich ein individuelles Fantasieuniversum erschaffen. Und je länger man das tut und je mehr Macht man besitzt, um dieses Universum aufrechtzuerhalten, desto mehr Zerstörung wird man bei der finalen Implosion anrichten, bei sich selbst und anderen. Und wenn ich lange genug innegehalten hätte, um darüber nachzudenken, dann hätte ich das alles gewusst: Wie sinnlos es letztlich sein und wie viel Schaden ich anrichten würde, wenn ich es tatsächlich machen würde. Aber ich hielt nicht inne. Ich versuchte nur, einen Ausweg aus dem Leiden zu finden, als wäre ich mit Orion in dem Schlundmaul gefangen und suchte verzweifelt und kopflos nach einer Rettung.

Mum erwischte mich dabei, wie ich gerade nach der nächsten Zeile des Zauberspruchs suchte, die ich mit ziemlicher Sicherheit auch gefunden hätte. Ich bin ziemlich mies darin, eigene Zauber zu schreiben, es sei denn, sie verursachen Unmengen an Zerstörung und Schrecken – dann kann es keiner mit mir aufnehmen. Mums Toleranz für meinen Trauerprozess ging nicht so weit, mir dabei zuzusehen, wie ich den ganzen Planeten ins Chaos stürzte und mich dabei selbst auslöschte. Sie warf einen Blick auf das, was ich schrieb, riss es mir aus den Händen und warf es ins Feuer. Dann ging sie vor mir auf die Knie, nahm meine Hände in ihre und drückte sie auf ihre Brust. »Mein Schatz, mein Schatz«, sagte sie, bevor sie die Hände wieder zurückzog, eine Handfläche auf meine Stirn legte und sie ganz fest zwischen meine Augenbrauen presste. »Atme. Lass die Worte los. Lass die Gedanken los. Lass sie davongleiten. Sie entschwinden bereits, sind weg mit dem nächsten Atemzug. Atme. Atme mit mir.«

Ich gehorchte ihr, weil ich nicht anders konnte. Mum hatte so gut wie nie Magie bei mir angewandt, selbst als ich genau der vor Wut heulende Wirbelwind von einem Kind war, den alle anderen Zauberereltern jeden zweiten Tag mit einem Zauber ruhiggestellt hätten. Die meisten Kinder magischer Eltern waren dann in der Lage, deren Zwangszauber im Alter von ungefähr zehn Jahren abzuwehren. Als ich vier war und wie am Spieß brüllte, weil ich nicht schlafen wollte, bekam ich jedoch drei Stunden Schlaflieder vorgesungen und keinen Zauber, der mich zum Schweigen gebracht und mich ins Bett verfrachtet hätte. Und wenn ich mit sieben einen Wutanfall hatte, setzte Mum mir Verständnis, Freiraum und Geduld entgegen, obwohl mir ein lauter Streit und eine ordentliche Portion Beruhigungstrank lieber gewesen wären. Ich befürworte diese Herangehensweise definitiv nicht – auch im Nachhinein denke ich noch, dass ich eine Portion Beruhigungstrank hin und wieder wirklich zu schätzen gewusst hätte –, weil ich bis jetzt nicht besonders gut darin war, Mums Magie abzuwehren, zumindest nicht instinktiv, und Instinkt war nun mal das, was mich hauptsächlich antrieb.

Auf jeden Fall fühlte sich Mums Magie so gut an, weil sie einem damit immer nur Gutes tun will, dass ich mich einfach erleichtert hineinsinken ließ. Als es mir schließlich gelang, mich daraus zu befreien, hatte Mum den Anfang des Zauberspruchs aus meinem Kopf verbannt und dafür gesorgt, dass ich mich gut genug fühlte, um zu erkennen, dass ich etwas unfassbar Dämliches getan hatte.

Nicht dass ich ihr für ihre Hilfe dankbar gewesen wäre oder so. Ich fühlte mich nur umso mieser, weil ich wusste, dass sie völlig recht gehabt hatte. Als sie mich losließ, war ich unfreiwillig viel zu entspannt, um in den noch immer prasselnden Regen davonzustürmen. Aber ich wollte auch nichts so unerträglich Grauenvolles tun, wie über meine Gefühle zu sprechen, oder mich dafür bedanken, dass sie mich davor bewahrt hatte, mich selbst zu vernichten und dabei die gesamte Kommune oder sogar halb Wales in die Luft zu jagen. Ich musste einen anderen Ausweg finden. Also schnappte ich mir meine Tasche und holte die Sutras heraus.

Mum spülte auf der anderen Seite der Jurte mit dem Rücken zu mir das Geschirr ab, um mir wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu lassen. Nach einer Weile blickte sie sich jedoch zu mir um, sah das Buch und fragte mit ihrer Friedensstifterinnenstimme, die ich ebenso sehr liebte wie leidenschaftlich hasste: »Was liest du denn da, Schatz?«

Natürlich wollte ich damit angeben und sie ihr voller Stolz präsentieren, doch stattdessen murmelte ich nur mürrisch: »Das sind die Sutras vom Goldenen Stein. Ich hab sie in der Schule gefunden.« Nur dass ich den Satz gar nicht zu Ende brachte, weil Mum ein Geräusch machte, als hätte jemand wiederholt auf sie eingestochen, und der Teller, den sie gerade spülte, mit einem lauten Schlag auf den Teppich fiel. Ich starrte sie an, und sie starrte zurück, ihre Augen vor Entsetzen weit aufgerissen und wie erstarrt. Dann fiel sie auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und sackte – heulend wie ein Tier – auf dem Boden zusammen.

Ich verfiel total in Panik. Sie war in einem ähnlich hysterischen Zustand wie ich noch vor einer halben Stunde, nur dass ich sie zur Unterstützung gehabt hatte und sie nun mich, und ich bin nicht besonders nützlich, es sei denn, jemand wird von einer ganzen Armee von Maleficaria angegriffen. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich rannte ungelogen zweimal in der Jurte im Kreis und schaute hektisch irgendwelche Sachen durch, bevor ich ihr ein Glas Wasser brachte. Ich flehte sie an, es zu trinken und mir zu sagen, was los sei. Sie wimmerte nur. Dann kam mir der Gedanke, sie könnte durch das Spülwasser vergiftet worden sein, und ich versuchte, es auf Giftstoffe zu testen. Als ich keine fand, kam ich zu dem Schluss, ich sollte einen Allheilzauber hexen, ich hatte jedoch nicht genügend Mana und begann deshalb, Hampelmänner zu machen, um es zu bilden, während Mum weiterweinte. Ich muss wie eine absolute Vollidiotin ausgesehen haben.

Schließlich riss sich Mum zusammen. Sie schluckte ein paarmal und flüsterte: »Nein, nein.«

Ich hielt keuchend inne, kniete mich dann vor sie und fasste sie an den Schultern. »Mum, was ist los? Sag mir einfach, was ich tun soll. Es tut mir leid. Es tut mir leid.« Ich verzieh ihr alles. Ich verzieh ihr, dass sie Orion nicht mochte. Ich verzieh ihr, dass sie mich gebeten hatte, mich von ihm fernzuhalten. Ich verzieh ihr, dass sie mich aufgemuntert hatte. Nichts davon spielte eine Rolle angesichts ihres Zusammenbruchs, als hätte mein schrecklicher, halb verfasster Zauberspruch bereits dazu geführt, dass die ganze Welt sich unter meinen Füßen auflöste.

Mum atmete ganz langsam aus und es klang wie ein Stöhnen. Dann sagte sie: »Nein, Liebes. Das muss es nicht. Es muss dir nicht leidtun, sondern mir. Nur mir.« Sie schloss die Augen und drückte meine Schulter, als ich gerade etwas so Dummes sagen wollte wie: Ist schon in Ordnung. Dann fügte sie hinzu: »Ich werde es dir sagen. Ich muss es dir sagen. Aber erst muss ich in den Wald. Verzeih mir, mein Schatz. Verzeih mir.« Und dann stand sie auf, stemmte sich wie eine alte Frau vom Boden hoch und taumelte hinaus in den strömenden Regen.

Ich saß auf dem Bett und drückte die Sutras an mich wie einen Teddybären, noch immer in einem Zustand unterdrückter Panik, die nur deshalb unterdrückt blieb, weil Mum andauernd in den Wald ging und stets von Ruhe, Fürsorge und Heilung erfüllt wieder zurückkam. Deshalb konnte sich ein Teil von mir an die Hoffnung klammern, dass sie diesmal genauso zurückkehren würde. Andererseits war so etwas noch nie zuvor in meinem Leben passiert, und wenn in meinem Leben etwas Schlimmes passierte, war es in der Regel immer meine Schuld. Ich hätte fast losgeheult, als Mum nur eine Stunde später zurückkam, bis auf die Haut durchnässt, das Kleid völlig zerknittert an ihren Beinen klebend, der vordere Teil des Kleids und ihr Gesicht matschverschmiert, als hätte sie eine Weile im Dreck gelegen. Ich war so unfassbar erleichtert, sie zu sehen, dass ich sie nur noch umarmen wollte.

Aber sie sagte: »Ich muss es dir jetzt erzählen«, mit ihrer tiefen, abwesenden Stimme, die sie nur bei hohen Arkana-Zaubern benutzte, wenn zum Beispiel Hexen und Zauberer zu ihr kamen und von irgendetwas Schrecklichem wie einem tiefgreifenden Fluch oder einer magischen Krankheit geheilt werden wollten und sie jemandem sehr ernst sagte, was er zu tun hatte, nur dass sie es diesmal sich selbst sagte. Sie nahm meine Hände und hielt sie einen Moment fest, zog dann mein Gesicht zu sich nach unten und gab mir einen Kuss auf die Stirn, als wäre dies ein Abschied und ich würde fortgehen. Beinahe war ich mir sicher, Mum würde mir gleich erklären, sie habe sich all die Jahre geirrt und ich sei doch verdammt und dazu bestimmt, die Prophezeiung von Tod, Zerstörung und Verderben zu erfüllen, die wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf schwebte, seit ich ein kleines Kind war, und dass ich sie deshalb nun für immer verlassen müsste.

Doch dann sagte sie: »Die Familie deines Vaters kam aus einer der Enklaven vom Goldenen Stein.«

»Aus einer, die mit den Sutras erbaut wurde«, erwiderte ich in einem atemlosen Flüstern, nicht wirklich eine Frage. Ich wusste, dass die Familie meines Vaters, die Sharmas, einst in einer Enklave gelebt hatten, einer uralten Strikt-Mana-Enklave irgendwo in Nordindien, die vor ein paar Hundert Jahren während der britischen Besatzung zerstört worden war. Die Sutras vom Goldenen Stein waren sehr, sehr alte Sanskritzauber, die dazu benutzt worden waren, eine ganze Reihe von Enklaven in jenem Teil der Welt zu errichten, vor langer Zeit. Das war zwar durchaus ein ziemlicher Zufall, aber es schien jetzt nichts Schlimmes zu sein. Trotzdem war ich noch immer starr vor Angst. Ich konnte spüren, dass gleich etwas wirklich Schreckliches kommen würde.

»Enklaven werden mit Malia errichtet«, fuhr Mum fort. »Ich weiß nicht, wie sie es machen, aber man kann es spüren, wenn man dort ist, man muss es nur zulassen. Alle, abgesehen von den Enklaven vom Goldenen Stein. Dein Vater hat mir von ihnen erzählt.«

»Aber dann ist doch alles gut«, sagte ich, meine Stimme hoch und flehend. Ich hielt ihr die Sutras wie eine Opfergabe hin. »Man braucht kein Malia, um sie zu errichten, Mum. Ich habe das ganze Buch gelesen. Ich beherrsche zwar noch nicht alle Zauber, aber ich bin mir ganz sicher.« Doch ihr Gesicht fiel förmlich in sich zusammen, als sie auf das wunderschöne Buch hinuntersah. Sie streckte eine zitternde Hand danach aus, aber ihre Finger verharrten knapp darüber, als könne sie es nicht ertragen, es tatsächlich zu berühren. Dann ballten sie sich wieder zur Faust, ohne den Buchdeckel berührt zu haben.