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Die Fitness-Industrie prosperiert seit Jahren. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Menschen in Deutschland Rückenschmerzen, die Zahl der Hüft- und Knieoperationen steigt, künstliche Gelenke werden vermehrt eingesetzt. Dr. med. Neumann zeigt, dass uns der Breitensport, wie er heute praktiziert wird, oft krank macht. Einseitige Belastungen, monotone Bewegungsabläufe, ungünstige Körperhaltungen schaden der Faszie. Gestützt auf aktuelle Forschungsergebnisse erzählt er in seinem Buch von der jahrzehntelangen Überschätzung des Muskelapparats und der lange übersehenen, immensen Bedeutung der Faszie. Zudem erläutert Dr. med. Neumann, wie wir die Faszie sorgsam behandeln und im Alltag trainieren können, einfach indem wir richtig stehen, liegen, laufen, hocken und sitzen. Bei Menschen mit Schmerzen, aber auch zur Prävention und Leistungssteigerung kann man die Faszie manuell bearbeiten. Fehlhaltungen und falsche Bewegungsabläufe müssen zudem umgelernt werden, um langfristig schmerzfrei zu werden oder zu bleiben.
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Seitenzahl: 316
Veröffentlichungsjahr: 2024
Tschüss Hantel, die Faszie macht uns stark!
Die Fitness-Industrie prosperiert seit Jahren. Gleichzeitig haben zwei Drittel der Menschen in Deutschland Rückenschmerzen, die Zahl der Hüft- und Knieoperationen steigt, künstliche Gelenke werden vermehrt eingesetzt.
Dr. med. Neumann zeigt, dass uns der Breitensport, wie er heute praktiziert wird, oft krank macht. Einseitige Belastungen, monotone Bewegungsabläufe, ungünstige Körperhaltungen schaden der Faszie. Gestützt auf aktuelle Forschungsergebnisse erzählt er in seinem Buch von der jahrzehntelangen Überschätzung des Muskelapparats und der lange übersehenen, immensen Bedeutung der Faszie. Zudem erläutert Dr. med. Neumann, wie wir die Faszie sorgsam behandeln und im Alltag trainieren können, einfach indem wir richtig stehen, liegen, laufen, hocken und sitzen.
Bei Menschen mit Schmerzen, aber auch zur Prävention und Leistungssteigerung kann man die Faszie manuell bearbeiten. Fehlhaltungen und falsche Bewegungsabläufe müssen zudem umgelernt werden, um langfristig schmerzfrei zu werden oder zu bleiben.
Dr. med. Arvid Neumann betrieb Leistungssport als Fußballer, studierte Sportwissenschaft sowie Humanmedizin. Er arbeitete als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und war Chefarzt einer Rehaklinik. Heute praktiziert er als Faszien-Orthopäde im Taunus.
»Um meine Faszination für die Faszie zu entdecken, musste ich verschiedene Lebensphasen durchlaufen. Als junger Leistungssportler erfuhr ich, was Schmerzen sind und zu welchen Schäden hohe Belastungen führen können. Als Orthopäde und Unfallchirurg lernte ich, wie engstirnig die Gesundheitsindustrie arbeitet und warum unsere Operationsmaschinerie wie geschmiert läuft. Als Sportwissenschaftler habe ich mich eingehend mit dem menschlichen Bewegungsapparat beschäftigt. Und als Therapeut stelle ich nun täglich fest, wie die Faszie unseren Körper ausbalanciert und in Schwung hält. Aus diesen Erfahrungen habe ich eine Erweiterung der Medizin entwickelt, die ich Faszien-Orthopädie nenne.«
Dr. med. Arvid Neumann
Dr. med. Arvid Neumann
mit Thomas Lindemann und Carsten Jasner
Die Fitness-Lüge
Wie wir die Kraft der Faszienutzen und ein Lebenlang schmerzfrei undgeschmeidig bleiben
E-Book 2024
© 2024 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Lübbeke Thoben Naumann, Köln
Foto des Autors: © Elena Reinsch_querformART fotografie
Satz: Fagott, Ffm
E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
Für alle meine Patientinnen und Patienten
Neulich beim Kindergeburtstag. Die Eltern des gefeierten Kindes hatten ein Dutzend Jungen und Mädchen im Grundschulalter an einen Badesee geladen, darunter meinen Sohn. Ich hatte mich als Lifeguard angeboten und behielt die Planschenden im Auge. Von einem Baum hing ein Seil herunter, das die Kinder packten, sie schwangen sich daran übers Wasser und ließen sich jauchzend fallen. Sie schwammen um die Wette, spritzten sich nass, tauchten, prusteten und spielten Meeresungeheuer. Andere tollten am Strand, jagten sich über den Sand, ließen sich plumpsen, purzelten, rollten und rauften.
Irgendwann stand die Mutter des Geburtstagskindes neben mir. »Irre, oder?«, sagte sie. »Diese Energie! Wenn ich nur halb so viel davon hätte.« Ich schaute sie fragend an. Sie wirkte agil, und ich wusste, dass sie regelmäßig Sport trieb. Dann erzählte sie mir von ihren Beschwerden im Knie, die sie zunehmend am Joggen hinderten, vom verspannten Nacken nach stressigen Tagen im Büro, und dass sie im Fitness-Studio an ihrer Rückenmuskulatur arbeitete, weil sie einen Bandscheibenvorfall fürchtete.
Solche Geschichten höre ich oft. Von bekannten und befreundeten Eltern, die sich von mir als Orthopäden einen heißen Tipp erhoffen, und natürlich von meinen Patienten. Viele treiben mit besten Vorsätzen Sport, trainieren gezielt bestimmte Muskelpartien, feilen an ausgefuchsten Fitness-Plänen – und haben Schmerzen. Mal an dieser, mal an jener Stelle, seit Jahren. Diese Menschen glauben, die intensive Belastung ausgesuchter Muskeln in exakt festgelegten Zeiträumen fördere die Gesundheit. Eine Vorstellung, die weitverbreitet, aber falsch ist. Fitness-Training ist weder gesund noch befreit es von Schmerzen. Das Gegenteil wird zwar permanent behauptet, aber es stimmt nicht. Das ist die große Lüge, um die es in diesem Buch geht. Einerseits.
Sportliche Betätigung kann sich ungünstig auswirken, kann sogar krank machen, das verrät schon die Gleichzeitigkeit von zwei Trends. Da ist zum einen die Fitness-Industrie. Sie prosperiert seit Jahren. Ob freiberuflicher Personal Trainer, kleines Fitness-Studio an der Ecke oder internationale Kette mit riesigen Hallen: Gelegenheit zum Ächzen, Hecheln und Schwitzen gibt es überall in jeder Preisklasse mit den verschiedensten Methoden. Immer mehr Menschen machen mit. Doch gleichzeitig klagen acht von zehn Menschen über Rückenschmerzen. Nirgendwo in Europa werden so viele künstliche Hüftgelenke eingesetzt wie in Deutschland. Auch die Zahl der Kniegelenksimplantate steigt stetig. Und jedes Jahr werden Millionen orthopädische Einlagen verschrieben.
Wer für die Fitness-Lüge, die Gleichsetzung von Sport/Fitness und Gesundheit, verantwortlich zeichnet, wird zu klären sein. Kleiner Spoiler vorab: Es sind nicht immer nur die anderen. Der Mensch ist sehr gut darin, Argumente zu finden für das, was er gewohnt ist zu tun, oder meint, tun zu müssen. Auch wenn es ihm langfristig nicht guttut.
Aber wenn Sport und Fitness nicht die Lösung sind – was dann? Was ist die Alternative? Nichtstun etwa? Warum nicht, das wäre ein Anfang. Entspannung ist gut. Sich im Alltag richtig und mit Genuss bewegen ebenfalls. Und dabei: auf die Faszie achten! Um sie geht es andererseits in diesem Buch.
Die Faszie ist von zentraler Bedeutung. Sie ist der Schlüssel zum körperlichen und seelischen Wohlbefinden. Es wäre nicht überraschend, wenn Ihnen das neu wäre: Bis vor zwanzig Jahren war dieses weißliche Gewebe kaum erforscht, man kannte seine Aufgabe nicht. Heute wissen wir, es ist ein flexibles Netzwerk, das den gesamten Körper durchzieht: von der Hirnhaut über alle Knochenhäute, über Organbeutel, Muskelfaser-, Nerven- und Arterienhüllen, Gelenkkapseln, über Sehnen und Bänder bis zur Fußsohle. Die Faszie findet sich in allen Körperpartien, wiegt zusammengenommen rund 20 Kilogramm und verbindet alles mit allem. Sie nimmt wahr und kommuniziert, ermöglicht jede unserer Bewegungen und baut sich ständig um. Erkenntnisse wie diese bringt seit Jahren eine weltweit tätige Forschungs-Community von Medizinerinnen, Biologen, Schmerzforscherinnen, Physiotherapeuten und Osteopathinnen ans Licht. Wussten Sie, dass die Faszie mit rund 250 Millionen sensorischen Nervenendigungen unser empfindsamstes »Sinnesorgan« ist? Dass bei Verspannungen infolge von Stress nicht Muskeln krampfen, sondern Faszienfasern wuchern und verhärten? Dass Massage hilft, die Flüssigkeit im Fasziengewebe wohltuend zu erneuern? Dass schon wenige Handgriffe genügen können, um Schmerzen zu beseitigen, und zwar dauerhaft?
Um meine Faszination für dieses großartige Bewegungsorgan zu entdecken, musste ich verschiedene Lebensphasen durchlaufen. Als junger Leistungssportler erfuhr ich, was Schmerzen sind und zu welchen Schäden hohe Belastungen führen können. Als Orthopäde und Unfallchirurg lernte ich, wie engstirnig die Gesundheitsindustrie arbeitet und warum unsere Operationsmaschinerie wie geschmiert läuft. Als Sportwissenschaftler habe ich mich eingehend mit dem menschlichen Bewegungsapparat beschäftigt. Und als Therapeut stelle ich nun täglich fest, wie die Faszie unseren Körper ausbalanciert und in Schwung hält. Aus diesen Erfahrungen habe ich eine Erweiterung der Medizin entwickelt, die ich Faszien-Orthopädie nenne.
Die Faszien-Orthopädie bietet ein neues therapeutisches System, auch eine neue Denkweise, eine neue Art des Patientenumgangs und damit auch ein neues Selbstverständnis des Arztes und der Ärztin. Die Faszien-Orthopädie kommt ohne Hilfsinstrumente aus, sie arbeitet ganzheitlich und beruht auf zwei Säulen: der manuellen Modellierung am Körper des Patienten und der Vermittlung geschmeidiger, faszienfreundlicher Bewegung im Alltag.
In diesem Buch stelle ich erstmals diese Methode vor. Erprobt habe ich sie auch an meinen eigenen, chronisch gewordenen Schmerzen, die vollständig beseitigt sind. Die meisten Menschen, die ich behandelt habe, sind heute beschwerdefrei; beim Großteil der Übrigen konnte ich die Schmerzen stark lindern. Einige Patientinnen und Patienten kommen in diesem Buch zu Wort. Ich bin tief beeindruckt und freue mich sehr, dass sie bereit waren, sich zu öffnen und ihre Geschichten zu teilen. Sie handeln von Leiden und Hoffen, Behandlungsodysseen und Frustration, ersten Erfolgen und schließlich nachhaltiger Wandlung und Heilung. Ein weiterer wunderbarer Effekt der Faszien-Orthopädie ist, dass sie über den Körper auf die Psyche wirkt. Sie ist ganzheitlich. Wer lernt, aufrecht zu gehen, wird selbstbewusst. Wer sich geschmeidig bewegt, spürt neue Lebensenergie. Was für eine immense Energie das ist, lässt sich an Kindern beobachten – wie neulich beim Kindergeburtstag. Ihre Flinkheit, Energie und Ausdauer, mit der sie klettern, schwingen, tollen, rennen – und Spaß haben! –, rührt ganz sicher nicht von regelmäßiger Selbstkasteiung im Muskelstudio. Ihre Freude an der Bewegung verdanken sie zum großen Teil der natürlichen Spannung der Faszie.
Es gibt selten einfache Lösungen, aber hier ist mal eine: Richtig behandelt, können wir die ungeheure Kraft, die dem faszialen Netzwerk innewohnt, als Erwachsene wiedererlangen. Schon in wenigen Monaten kann eine geschädigte Faszie gesunden. Dann verleiht sie uns Schmerzfreiheit und Geschmeidigkeit, Leichtigkeit, Elan und Vitalität. Bis ins hohe Alter.
Ich weiß nicht, in welcher Situation Sie sind. Aber vielleicht können auch Ihnen diese Erkenntnisse helfen. So oder so wünsche ich Ihnen eine aufschlussreiche Zeit beim Eintauchen in die zauberhafte Welt der Faszie.
Der Fitness-Industrie geht es bestens. Doch die Deutschen leiden trotzdem an Rückenschmerzen und bekommen künstliche Gelenke. Viele trainierte Personen kommen mit Schmerzen in meine Praxis. Wie kann das sein? Falsche Versprechen der Fitness-Anbieter verstellen den Blick auf das Wesentliche. Wir brauchen ein neues Verständnis von Schmerzen und ihren Ursachen – die Faszie ist dafür viel entscheidender als die Muskulatur.
Wenn ich durch deutsche Innenstädte fahre, muss ich an Laufbänder, Hanteln und Bauchmuskeln denken. Denn die Werbung für Sport und Fitness ist nicht zu übersehen im Stadtbild. Ich sehe die großen Tempel der Fitness-Studios, mal heißt der Slogan »einfach gut aussehen«, mal lautet er »Muskeln stärken, Schmerzen lindern«, mitunter auch nur schlicht »hier auf 2400 Quadratmetern trainieren«. Letzteres ist immerhin so viel wie die Fläche eines halben Fußballfelds. In manchen Studios schwitzen die Menschen direkt hinter dem Schaufenster, gut sichtbar für alle, die vorbeigehen. An Häuserwänden prangen meterhohe Werbebilder von Marken-Sportschuhen, und irgendwo ist an einer Fassade der bekannte Spruch »Just do it!« plakatiert. Hotels werben damit, dass sie auch ein Fitness-Studio haben. Und in bester Lage hat ein Geschäft neu eröffnet, es verspricht auf riesigen Video-Leinwänden ein »Sport-Einkaufserlebnis« auf drei Etagen. Die großen Stores von Nike und Adidas liegen nur ein paar Schritte weiter.
Die Ware Fitness ist omnipräsent. Und mit dem Wunsch nach Fitness wird viel Geld verdient. So viel wie noch nie zuvor. Mehr als zehn Millionen Menschen gehen in Deutschland regelmäßig ins Fitness-Studio. Rund 32 Prozent der Männer und etwa 26 Prozent der Frauen. Ein gigantischer Markt. Selbst die finanziellen Einbußen durch die Schließungen in den Corona-Jahren sind wieder ausgeglichen. Eine Studie der Unternehmensberatung Deloitte ergab, dass der deutsche Fitness-Markt nach dem Corona-Einbruch sofort wieder ungefähr das Niveau von 2019 erreicht hat und nun weiter wächst. Es gibt heute rund 10.000 Studios im Land, die mehr als fünf Milliarden Euro Umsatz machen. Gewichte, Stepper und Laufband passen gut zum Zeitgeist. Denn wir wollen uns gesund, jung und fit fühlen. Der Anteil der Raucher sinkt seit Jahren, gerade bei Menschen unter 25, die zudem auch immer weniger Alkohol trinken. Rund 84 Prozent der Deutschen sagen, dass für sie die Gesundheit das Wichtigste im Leben sei. Das Frankfurter Zukunftsinstitut spricht von einem »Megatrend Gesundheit«. Und zur Gesundheit gehört im heutigen Denken eben auch der Sport. Knapp die Hälfte der Deutschen wollen laut einer Umfrage mehr Sport treiben – das war gemeinsam mit Geldsparen der Top-Neujahrsvorsatz für das Jahr 2024. Fitness ist gesund – davon sind heute alle überzeugt. Und wer trainiert, fühlt sich modern und als besserer Mensch. Um sich selbst etwas Gutes zu tun, den Schönheitsidealen zu entsprechen oder die eigene Diziplin zu demonstrieren, nehmen viele die Quälerei im Sportstudio in Kauf. Und die Fitness-Industrie weiß das zu nutzen. Sie hat unseren allgemeinen Wunsch nach Gesundheit geschickt mit dem verbunden, was sie eben ihren Kunden anbietet. Der Besuch im Fitness-Studio ist dabei vom Nischen- zum Massenphänomen geworden. Die Muckibuden der Neunziger waren oft noch Keller für Kerle, heute dominieren moderne Fitness-Ketten für alle den Markt. Das Publikum ist dabei auch weiblicher geworden. Weltweit machen Frauen schon 57 Prozent der Fitness-Studio-Kunden aus, in Deutschland sind es etwas weniger. Aber auch hier liegt der Frauenanteil bei etwa 45 Prozent. Vor allem aber trainieren sehr viel mehr Menschen. Vor zwanzig Jahren waren es nicht einmal halb so viele. Naheliegend wäre nun die Folgerung: Die Deutschen müssen in diesen Jahren fitter geworden sein. Aber stimmt das wirklich? Leben wir in einem Land der trainierten und orthopädisch gesunden Menschen? Der Eindruck, den ich als Arzt täglich bekomme, ist leider ein ganz anderer. Die medizinischen Statistiken sprechen nicht dafür. Rückenschmerzen gehören nach Angaben der Interessenvertretung der Innungskrankenkassen zu den Hauptgründen für Krankschreibungen. So entstehen jährlich 53 Milliarden Euro Kosten durch Arztbesuche, Physiotherapie, Reha und Arbeitsunfähigkeit. Mehr als 80 Prozent der Menschen haben mindestens einmal im Leben mit Rückenschmerzen zu tun, ein Drittel sogar jeden Monat. Pro Tag werden rund 2.000 operative Eingriffe am Rücken durchgeführt. Pro Jahr erhalten etwa 250.000 Deutsche ein künstliches Hüftgelenk. Auch künstliche Kniegelenke werden immer häufiger eingesetzt, allein von 2013 bis 2016 ist die Zahl dieser Operationen von 143.000 auf fast 170.000 gestiegen. Auch wenn die Werbung der Fitness-Ketten es verspricht: Menschen, die trainieren, sind weder von Schmerzen noch von orthopädischen Leiden ausgenommen. In den USA zeigte eine Studie im Jahr 2023, dass rund ein Fünftel der Leute, die ins Fitness-Studio gehen, über wiederkehrende Schmerzen klagen. In einer deutschen Studie über Hobby-Langstreckenläufer gaben etwas mehr als die Hälfte an, Schmerzmittel wie Diclofenac, Ibuprofen oder Indometacin einzunehmen. Das bedeutet, dass auch Freizeitsportler zu einem erschreckend hohen Anteil an Schmerzen leiden. Wegen oder trotz des Sportes? Das ist die Frage, die sich kaum einer zu stellen scheint.
Die Fitness-Industrie suggeriert uns, wer ihre Angebote nutzt, werde mit hohem Wohlbefinden entlohnt. Doch so einfach ist das nicht. Erinnern Sie sich an den Slogan »Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz«? Das Problem ist: Diese Aussage stimmt nicht. Sie ist nicht mehr als ein weitverbreiteter Irrglaube. Viele Forscher widersprechen ihr, der Sportwissenschaftler Martin Brink nannte sie in einem Zeitungsinterview sogar einmal »Volksverdummung«. Zwar ist körperliche Aktivität gut und wichtig für den Menschen, aber es muss die richtige sein. Viele Menschen zwingen sich heute beim Sport, sie belasten sich zu sehr und verschärfen manchmal ihre Schwachpunkte. In der Fitness-Industrie geht es immer um »Kraft und Ausdauer«, also letztlich um Muskelaufbau – Krafttraining stärkt die großen Muskeln, Ausdauertraining den Herzmuskel. Und starke Muskeln schützen uns vor Krankheiten. Das ist das Versprechen der Fitness-Industrie. Und die Menschen glauben so unhinterfragt daran, dass es zum Dogma geworden ist. Darin liegt die Fitness-Lüge. Über diese Lüge möchte ich sprechen.
Dabei schaue ich nicht nur von außen auf die Welt der Fitness-Studios – im Gegenteil, ich war lange mittendrin. Schon im Studium an der Sportwissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig wählte ich den Schwerpunkt Leistungssport. Fußball, Handball und Kraftsport waren mein Leben. Bankdrücken, Langhantel-Kniebeuge, einarmiger Liegestütz – das alles ist mir wohl bekannt, ich habe eifrig trainiert. Bald hatte ich die sogenannte A-Lizenz der Deutschen Fitness-Lehrer-Vereinigung in der Tasche. Ich weiß genau, warum ich Fitness-Training heute nicht mehr praktiziere. Ich möchte das an einem willkürlich gewählten Beispiel erklären: am Liegestütz. Er steht auf eigentlich jedem Fitness-Plan, und außerdem ist eine Modifikation, der Unterarmstütz, heute unter dem Namen »Plank« (englisch ausgesprochen) sehr in Mode. Ich habe in meinem Leben wohl schon Zehntausende Wiederholungen dieser Übung gemacht. Als Teenager war ich auch Ringer. Ich gewann nicht durch Technik, sondern durch Muskelkraft. Fünfzig bis hundert Liegestütze habe ich ganz locker zur Aufwärmung gemacht, auch »Klatsch-Liegestütze«. Dabei drückt man sich ab, klatscht in der Luft in die Hände und landet wieder auf beiden Händen und geht sofort in eine tiefe Liegestütz-Position, so nah wie möglich zum Boden, ohne diesen zu berühren. Davon hatte ich bald ordentliche Brustmuskeln, das sah super aus im Ringerkostüm beim Wettkampf. Und erfolgreich war ich auch. Oft endeten meine Kämpfe schnell durch einen sogenannten Schultersieg. Dabei muss man beide Schultern des Gegners auf dem Boden fixieren.
Ich galt als stark und war stolz darauf. Aber eigentlich waren meine Muskeln funktionell extrem angespannt. Kinder und Jugendliche haben weiches Gewebe, also merkt man das am Anfang nicht. Doch als junger Erwachsener war meine Schulterbeweglichkeit bereits eingeschränkt. Mit fünfunddreißig Jahren hatte ich chronische Schulter- und Knieschmerzen. Zuerst dachte ich: Mehr hilft mehr, besonders beim Trainieren. Also trainierte ich immer weiter. Im Liebscher und Bracht Gesundheitszentrum in Bad Homburg, wo ich fast zwei Jahre als ärztlicher Leiter der Schmerztherapie arbeitete, konnten wir einmal pro Woche in der Arbeitszeit sechzig Minuten lang trainieren. Dort gab es mal kurzfristig ein Spiel: Wir gingen in die Plank-Position, und dann ging es darum: Wer hält am längsten durch? Im Plank hält man den Körper steif wie ein Brett. Bald zittern die Muskeln, und irgendwann kann man nicht mehr und muss zu Boden gehen. Beim ersten Mal war ich schlecht, ich glaube sogar der Schlechteste unserer Trainingsrunde. Was tat ich natürlich? Üben! Und bei einem der nächsten Treffen war ich der Beste, schaffte mehr als sieben Minuten. Das ist eine beachtliche Zeit. Aber was habe ich da gemacht? Was hat mein Körper gelernt, was konnte ich nun? Eigentlich nur dies: Ich war in der Lage, meinen Körper komplett steif zu halten, anzuspannen und diese Position ohne Bewegung festzuhalten. Und wo konnte ich diese erworbene Fertigkeit im Alltag gewinnbringend einsetzen? Nirgends. Zusätzlich habe ich durch Anspannung der Bauchmuskulatur dafür gesorgt, dass diese sehr fest wird. Genau wie die ganze Oberkörpervorderseite, die so an Flexibilität verliert. Dabei sitzen wir doch häufig genug, oft mehrere Stunden lang, ohnehin schon in einer ungünstigen Position (mehr dazu, wie man richtig sitzt, in Kapitel 6) und verrichten die meisten Tätigkeiten mit der Muskulatur unserer Körpervorderseite. Der Oberkörper und letztendlich die gesamte Faszie sind somit allein schon durch unseren Alltag nicht gerade darauf getrimmt, weich, flexibel und gelöst zu sein. Ist dann ein noch mehr die Vorderseite einengendes Training, wie ein Krafttraining von Bauch- oder Brustmuskeln, überhaupt sinnvoll? Wohl kaum!
In Kalifornien hat der Lehrer Charles Servizio im Frühjahr 1993 vor laufender Kamera 46.000 Liegestütze an einem Tag geschafft – Weltrekord. Ist er ein Held und ein Vorbild? Medizinisch betrachtet nicht wirklich. Was ich allerdings interessant finde: Der Mann war kein Kraftprotz, er wog nur gut 80 Kilo bei einer Körpergröße von 1,80 Metern. So orthopädisch unsinnig seine Leistung war, mir scheint er ein erster Beweis für etwas zu sein, das für uns sehr wichtig ist: Muskeln allein garantieren keine Höchstleistungen. Der Push-Up-Weltmeister hatte gar keine besonders dicken Muskeln. Etwas anderes muss sein Geheimnis gewesen sein. Meine Vermutung: die Faszie. Im folgenden zweiten Kapitel werde ich erklären, was sie überhaupt ist, wie ihre Bedeutung entdeckt wurde und was die Forschung alles »Faszienierendes« herausgefunden hat. Seit ich mich mit der Faszie beschäftige, sehe ich den Körper und seine Fähigkeiten ganz neu. Dieser neue Blick führte dazu, dass ich die Fitness-Welt hinterfragte.
Aus meiner Sicht hat die Fitness-Industrie drei große Probleme. Die möchte ich kurz erläutern – und danach auch drei Lösungswege vorstellen. Sie alle hängen miteinander zusammen, es sind drei unterschiedliche Blickwinkel auf das eine Problem, um das es in diesem Buch geht. Den Fehler Nummer eins nenne ich: »Auf eine schlechte Körperstruktur noch falsche Belastung geben.« Das ist ein Problem, dessen Folgen ich leider in meiner Praxis sehr oft sehe. Ich habe schon imposante Muskelmänner auf meiner Liege gehabt, die dennoch überall Schmerzen hatten. Oft steckte unter dem harten Muskelpanzer eigentlich ein schwacher, aus der Balance geratener Körper. Solche Körper können entstehen, wenn jemand sehr intensiv mit Gewichten trainiert. Denken Sie etwa an den aktuellen Trend Kettlebell-Training. (Ich greife hier bewusst eine bereits besonders moderne Methode heraus.) Kettlebells sind gusseiserne Gewichte mit einem Griff, sie sehen ein wenig aus wie eine Kuhglocke, daher ihr Name. Eine der wichtigsten Übungen mit dieser Kugelhantel ist das Schwingen. Man schwingt das Gewicht zwischen den Beinen hindurch und dann aufwärts bis auf Schulterhöhe. Das soll unter anderem die Bauch- und die Gesäßmuskulatur sowie den unteren Rücken stärken. Vor allem der ist eine Region, die viele Menschen anscheinend sträflich vernachlässigen – schon wegen des langen Sitzens in Bürostühlen. Der Körper kann allerdings bei diesem Training während des gesamten Bewegungsablaufs nie loslassen, muss immer gegenhalten und anspannen. (Wir werden später noch sehen, dass es auch die Faszie ist, die für das Loslassen und Entspannen entscheidend ist. Sie kann ihre Kräfte nur im Wechselspiel von Länge und Kontraktion entfalten.) Bei diesem Training wird zum einen ein unnatürlicher Bewegungsablauf eingeübt, zum anderen eher für Anspannung als für Lockerheit gesorgt. Das ist für den Körper, mindestens langfristig gesehen, überhaupt nicht zuträglich. So kann keine geschmeidige Körperstruktur entstehen. Viele Menschen, die mit Gewichten trainieren, haben starke Muskeln und eine hohe Festigkeit im Körper. Sie haben, ob es ihnen bewusst ist oder nicht, eher Schwierigkeiten beim Loslassen, Entspannen, Geschmeidig-Bleiben. Deswegen ist aus faszienorthopädischer Sicht hier bereits eine schlechte Körperstruktur vorhanden, die dann zusätzlich noch falschen Belastungen ausgesetzt wird. Schmerzen und Verspannungen werden bei einem solchen Training oft immer stärker. Die Betroffenen sind ratlos, weil sie doch glauben, sich etwas Gutes zu tun. Das Dogma ist so tief verinnerlicht, dass sie ihr Tun nicht infrage stellen, obgleich sie erleben, dass es ihnen nicht guttut. Häufig wird zusätzlich Dehnen empfohlen, man hofft, dass es dadurch besser wird, leider meist vergeblich. Diese Gruppe von intensiven Fitness-Sportlern steckt oft in einem Teufelskreis der schlechten Belastungen. Zudem ergibt es eigentlich wenig Sinn, dass wir erst etwas machen, das wir dann wieder aufwendig mit etwas anderem »ausgleichen« müssen. Sogar bei Menschen, denen ein solches Training hilft, tut es das nur temporär, da es nicht die wahre Ursache der Beschwerden bekämpft. Kräftigen und dehnen kann Schmerzen lindern. Das funktioniert aber meistens nur, wenn regelmäßig trainiert wird, am besten täglich. Sonst meldet sich der Körper wieder und signalisiert, dass das Problem nur symptomatisch »betäubt« wurde. Die wahre Ursache für die Beschwerden ist das suboptimale Fasziennetzwerk.
Fehlbelastungen gibt es nicht nur beim Gewichte heben. Wer zum Beispiel falsch geht, sollte nicht stolz darauf sein, wenn die zehntausend Schritte am Tag geschafft sind, welche die Smartwatch als Ziel vorgibt. Geht man ungünstig, ohne Länge im Körper, angespannt und unter zu hohem Kraftaufwand, hat man im schlimmsten Fall zehntausendmal etwas getan, was den Körper immer weiter von einer guten Struktur entfernt.
Der zweite große Denkfehler lautet: »Muskelaufbau tut immer gut.« Diesen falschen Glaubenssatz habe ich oben schon erwähnt, er ist aber so präsent und so weit verbreitet, dass man ihn sich genauer ansehen sollte. Im Zentrum dieses herkömmlichen Denkens steht immer nur die Kraft. Sie wird als Muskelkraft gesehen und in Form von messbarer Leistung bewertet. Wer 150 Kilogramm beim Bankdrücken stemmen kann, hat dann angeblich viel erreicht. Auch wenn die Fitness-Branche sich in jüngster Zeit verändert und modernisiert hat: Im Zentrum der Studios stehen immer noch große Maschinen mit Gewichten, an denen die Menschen Übungen ausführen. Beinpresse, Rudergerät, die sogenannte Latzugmaschine, bei der man mit beiden Armen von oben eine Stange hinunterzieht – sie alle sorgen dafür, dass man eine Übung immer gleich ausführt, kontrolliert, allein das Gewicht kann man verändern. Damit soll vorrangig ein Muskelbereich aufgebaut werden. Dieses »immer gleich« schadet aber unserem elastischen Fasziennetzwerk. Doch auch etwas freiere Übungsformen wie das Kurz- und Langhanteltraining oder das Üben an der Kabelzugmaschine zwingen die Trainierenden zu immer gleichen Bewegungen. Das bleibt also ein isoliertes Training, auch wenn eine Muskelkette anstatt des Einzelmuskels trainiert wird. Im richtigen Leben ist jede Bewegung einzigartig, es gibt die gleiche Bewegung niemals zweimal. Die Faszie ist chaotisch, sie strukturiert sich immer wieder anders. Das ist das Grundprinzip unseres Körpers – doch genau das übersehen wir beim Fitness-Training. Egal ob ich mein Kind hochhebe oder eine Kiste Wasser trage oder einen schweren Blumenkübel in den Garten stelle: Die Bewegung wird nie so sein wie die aus dem Fitness-Center. Dort panzert der Körper sich nur immer weiter, hält fest, engt sich ein.
Die dritte Fehlannahme ist, dass der zurzeit idealisierte Körper gesund sei. Die Körperideale unserer Gesellschaft sind ungünstig. Zum Beispiel der flache Bauch. Auf den Werbeplakaten der Fitness-Ketten und der Sporthersteller ist er sehr präsent. Und nicht nur da. In dem Hollywoodfilm »Crazy Stupid Love« von 2011, der auch auf Netflix sehr erfolgreich war, fordert Emma Stone ihren Filmpartner Ryan Gosling auf: »Zieh dein Hemd aus«. Als sie seinen Oberkörper sieht, zeigt sie lachend auf seinen Bauch und sagt: »Ist das dein Ernst? Du siehst aus wie gephotoshopt!« Natürlich verlieben die beiden Schönheiten sich dann auch. Gosling gilt als großes Sexsymbol Hollywoods. Es gibt Online-Petitionen von Fans, dass er endlich den Titel »Sexiest Man Alive« erhalten möge. Der Schauspieler sagte später in einer Talkshow, dass sein Bauch für diesen Film ironischerweise tatsächlich digital verbessert wurde – und verbessert heißt, mehr sichtbare Muskeln wurden hinzugeschummelt. Ein »Sixpack«, starke, konturierte Armmuskeln und auch gut sichtbare Brustmuskeln, das alles gilt als sexy. Inzwischen bemühen sich manche Filme und Serien zwar auch, dieses Körperideal zu kritisieren, aber dennoch halten wir als Gesellschaft anscheinend weiter im Wesentlichen daran fest – neuerdings auch noch unterstützt von etlichen YouTube- und Instagram-Stars. Man möge sich nur einmal anschauen, wie stolz etwa der sympathische Fitness-Influencer Sascha Huber auf seine Vorher-Nachher-Fotos verweist. Er entwickelte sich in nur fünf Jahren vom leicht adipösen »Mobbing-Opfer« zum selbstsicheren Muskelprotz – mehr als 1,7 Millionen Follower eifern ihm nach. »Körpertransformation« ist heute ein Schlagwort, zu dem es Hunderte Videos und Anleitungen gibt. Und die »optimale Body-Transformation« steht etwa beim Magazin Men’s Health natürlich unter der Überschrift: »Du willst endlich mehr Muskeln sehen? Sieben Tipps zum Erfolg.« Aber der Sixpack-Bauch hält, wie oben schon beim Thema Liegestütze gesagt, die Struktur fest. Er erschwert manche Bewegungen, behindert sogar die Atmung. Genau wie mit vielen der anderen Schönheitsideale zwingen wir uns damit etwas auf, das die Menschen am Ende nur frustriert, ihnen schadet und auch davon abhält, auf ihren Körper zu hören und zu erspüren, was ihm wirklich guttut.
Falsche Belastung, sture Fokussierung auf Muskeln, einengende Körperideale – das wären aus meiner Sicht also die drei größten Probleme. Wie also könnte eine Lösung aussehen? Was würde bei einer schlechten Körperstruktur, die dann auch noch falsch belastet wurde, helfen? Hier sollte man nicht mehr die Kraft ins Zentrum der Körperarbeit stellen, sondern die Geschmeidigkeit. Das oberste Ziel sollte doch sein, dass wir uns wohlfühlen in unserem Körper. Und das tun wir, wenn unser Körper geschmeidig ist, nicht hart und unbeweglich. Geschmeidigkeit entsteht, wenn wir darauf achten, wie wir uns bewegen. Geschmeidigkeit kann man auch als »anmutig« bezeichnen. Das Gegenteil sind Bewegungsabläufe, die abgehackt, unrund, steif, eckig sind. In der Geschmeidigkeit liegt auch eine Schönheit. Geschmeidigkeit sollte unser Ziel und unser Ideal sein. Sie entsteht, wenn alles im Körper losgelassen wird und kein Körperabschnitt mehr sinnlos anspannt und festhält. Dieses Anspannen kann nämlich zur Folge haben, dass sich Körperbereiche nicht mehr ganz frei bewegen können. Wer die Schultern hochzieht und dort hält, kann keine sehr hohen Luftsprünge vollführen, weil diese Anspannung bis in die Hüften hinab und noch weiter wirkt, ich bezeichne das auch als ein »inneres Festhalten«. Wenn dagegen kein unnötiger Widerstand im Körper besteht, kann die Bewegung frei erfolgen. Dann ist der ganze Körper beteiligt, und zwar im Dienst der Bewegung, um die es gerade geht. So bleibt stets Länge im Körper, ob bei Bewegungen nach oben, nach unten oder zur Seite. Dann halten die Schultern nicht beim Gehen fest, der Kiefer ist nicht angespannt, wenn wir eine Leiter hinabsteigen, der Bauch ist nicht eingezogen, wenn wir sitzen. Alles fließt ineinander und Bewegungen sind harmonisch. Geschmeidigkeit zeugt von hoher Bewegungsqualität. Geschmeidigkeit ist die Magie, die unsere Bewegungen rund wirken lässt und einen Menschen mühelos und elegant. Um sie zu erlangen, bedarf es einer intensiven Beschäftigung mit sich selbst und Achtsamkeit hinsichtlich der Frage: Wie setze ich meinen Körper eigentlich ein? Bewusst und unbewusst? Wenn es irgendwann »wie geschmiert läuft«, bewegen wir uns auch ökonomisch, mit geringstmöglichem Energieaufwand. Und dadurch mit viel weniger Spannungen. Das ist das Ziel. Für alle Strukturfragen des Körpers ist die Faszie verantwortlich. Sie baut sich den Anforderungen des Alltags entsprechend stets um. Diesen Prozess kann man steuern. Ein Training, bei dem das geschieht, ist aber ein ganz anderes als das derzeit übliche Fitness-Training. Wenn wir bessere Beweglichkeit und Geschmeidigkeit erreichen wollen, müssen wir anders denken. Wir kämen dann nicht mehr auf die Idee, schwere Gewichte zu schwingen und uns dabei anzuspannen, bis alles wehtut. Eine gute Geschmeidigkeit bezieht den ganzen Körper mit ein. Um sie zu erlangen, verinnerlicht man Bewegungen, die wir im Alltag wirklich benötigen. Und jeder Mensch erhöht eigenverantwortlich bei diesen Bewegungen stetig die individuelle Bewegungsqualität. Denn: Jeder Mensch ist auf seinem persönlichen Weg, ganz unabhängig von denen der anderen.
Was den zweiten Denkfehler, »Muskelaufbau tut immer gut«, betrifft, ignoriert er, dass andauernde Anspannung unnatürlich ist. Denn das ist es, was Muskeln tun: sich anspannen. Doch erst durch das mindestens genauso wichtige Loslassen erfahren wir, wie der Körper funktioniert. Nehmen wir beispielsweise den Arm. Er hat viel mehr Gewichtskraft – die Kraft, mit der ein Körper aufgrund seiner Masse von der Erde angezogen wird –, wenn keine entgegengesetzte Kraft wie etwa durch Anspannung der Nacken- und Schultergürtelmuskulatur entgegenwirkt. Je elastischer und freier die Faszie ist, desto besser kann man dieses Eigengewicht nutzen, um Kraft zu erzeugen. Wenn ich einen Muskel anspanne, etwa den Bizeps im Arm, geht das nur so gut wie der Gegenspieler, hier der Trizeps, nachlassen und entspannen kann. Hält dieser fest, ist auch die Wirkung des Bizepses limitiert. Aber wenn ich mich aus dem ganzen Körper heraus bewege, die Schwerkraft nutze, alles Unnötige loslasse, kann viel Kraft frei werden. Uralte Kampftechniken wie Karate machen sich das zunutze. Da wird ein Schlag nicht nur mit dem Arm ausgeübt, sondern aus dem ganzen Körper heraus, aus der Drehung der Hüfte, den Knien, den Füßen. Und der Rest des Körpers lässt ganz locker. Es entsteht also Kraft, die nicht allein aus der Muskulatur kommt, sondern vor allem aus der Faszie. Um sie muss es gehen, wenn wir über Beweglichkeit und Schmerzfreiheit reden wollen. Das Ideal »je mehr Muskeln, umso besser« dürfen wir über Bord werfen. Das bessere Ziel für den Körper nenne ich »fasziale Freiheit«. Diese können alle erlangen, wenn sie an ihren Bewegungsabläufen arbeiten. Denn zum Glück ist die Faszie veränderbar, und zwar in jedem Alter. Wenn wir uns ungünstig bewegen, können deswegen ganz plötzlich Verspannungen auftreten. Manchmal sitzen sie im Nacken, obwohl wir doch nur den Fuß oder die Hüfte falsch belastet haben. Diese Zusammenhänge wären rein über die Muskeln nicht erklärbar.
Der dritte große Faktor, der zu gesundheitlichen Problemen führt, die falschen Körperideale, ist natürlich nicht so leicht aus den Köpfen zu tilgen. Dabei sollten wir nicht so sehr Festigkeit, sondern vielmehr Bewegungsfreiheit und Geschmeidigkeit feiern. Als ersten Schritt auf diesem Weg können wir uns fragen, was ist überhaupt an einem harten Bauch mit Sixpack so attraktiv? Was am starken Bizeps? (Übrigens gilt das alles für Männer wie Frauen: Auch Madonna war jahrelang nicht nur für ihre Musik, sondern auch für diese erstaunlich konturierten Oberarme berühmt. Ähnlich die Fitness-Influencerin Pamela Reif, die ihr Sixpack gerne in Szene setzt.) Warum lieben wir bei Männern pralle, kompakte Brustmuskeln? Warum sollten bei Frauen die Oberschenkel dünn und fest sein? Wie sind diese Merkmale zu Idealen unserer Zeit geworden? Ich glaube, das hat auch mit Schutz und Selbstschutz zu tun. Und damit, dass wir den Tod, das Altern und die Schwäche in unserer Gesellschaft stark tabuisieren und verdrängen. Von diesen Themen wollen wir uns möglichst weit fernhalten. Wer sichtbare Stärke in seinem Körper konserviert, fühlt sich vor all dem sicher.
Und natürlich auch vor Schmerzen. Hier muss ich wieder an den Werbespruch »Ein starker Rücken kennt keinen Schmerz« denken. Stärke, glauben wir, schützt uns. Auch vor den Volkskrankheiten Rückenschmerzen, verspannter Nacken, steife Hüfte. So machen manche sich immer härter und fester, stellen dann aber enttäuscht fest, dass die Verspannungen bleiben. Und andere erreichen ihr Ideal nicht und fühlen sich schlecht. Ihr natürlicher Widerwille gegen intensives Muskeltraining gewinnt die Oberhand, doch dafür martern sie sich mit Selbstvorwürfen. So oder so: Muskeln sind kein Schutz vor den Belastungen des Alltags. Um die verfahrene Situation zu entspannen, möchte ich als Erstes vorschlagen: Ein großer Schritt in die richtige Richtung wäre es, wenn wir Training nicht mehr als Ausgleich für die schlechte Alltagshaltung begreifen. Wer ins Studio geht, hat oft den Ausgleich der ungünstigen Alltagsbewegungen im Sinn. Stellen wir uns also jemanden vor, der besonders engagiert ist und jeden Tag eine Stunde im Fitness-Studio trainiert. Was nützt das, wenn diese Person ansonsten jeden Tag 23 Stunden lang ihren Körper so benutzt, dass sie sich dysfunktional halten muss, unter der Schwerkraft leidet und Gelenke falsch belastet? Selbst wenn Fitness förderlich für die Gesundheit wäre, könnten wir mit der einen Stunde Fitness nicht die vielen Stunden Fehlbelastung ausgleichen. Ich weiß, dass das oft behauptet wird – aber auch das ist eine Fitness-Lüge. Es bleibt der falsche Weg. Das Sixpack ist sein Symbol. Orthopädisch gesehen ist ein ganz flacher, womöglich noch fester Bauch überhaupt nicht sinnvoll. Der Bauch braucht Flexibilität und eine gewisse Länge, damit sich der ganze Körper mühelos bewegen kann. Und auch die bei Männern so angesehenen Brustmuskeln halten im ungünstigen Fall den Oberkörper nur fest, panzern ihn regelrecht, was zu Schmerzen in anderen Bereichen führen kann. Und sogar die Atmung einschränken kann. Dieser Aspekt wird auch sehr oft missachtet. Die häufigste Bewegung, die auch in völliger Ruhe mehrmals pro Minute stattfindet, ist die Atmung. Es macht einen gravierenden Unterschied, ob die Lunge sich frei ausbreiten kann und wir tief einatmen können oder nur kurz und flach. Das gilt für alle Menschen, aber für Sportlerinnen und Sportler ist es sogar ein Gamechanger. Wir brauchen Länge, Weichheit und Flexibilität im Körper. An viel mehr Stellen, als die meisten denken.
Diese drei Fragen und drei Antworten waren dazu gedacht, die große Fitness-Lüge genauer einzukreisen. Zu den Details kommen wir in den folgenden Kapiteln. Eines sollte jetzt klar geworden sein: Wir quälen uns beim Fitness-Sport zu sehr, wir verhärten unseren Körper zu sehr, wir vertrauen falschen Idealen – etwa, uns mit Muskeln zu panzern. Wir sollten umdenken und die Faszie in den Blick nehmen. Weil sie so wichtig ist, möchte ich jetzt ausführlich über sie sprechen: Das nächste Kapitel erklärt, was die Faszie eigentlich genau ist, dieses lange verkannte Wunderwerk des Körpers, das im Zentrum meiner Theorie und Systematik steht.
»Neulich stand eine Frau am Beckenrand. Sie lächelte mich an. Ich hatte gerade meine letzte Bahn geschwommen. Sie trug eine rotweiß gestreifte Badekappe, war vielleicht 65 Jahre alt, ich kannte sie nicht. ›Es ist wunderbar, Ihnen zuzuschauen‹, sagte die Frau. ›Sie schwimmen mit solch einer Leichtigkeit.‹
Das war so schön zu hören! Genauso fühle ich mich nämlich: leicht, als würde ich schweben. Dabei kam ich mir vor Kurzem noch vor wie gelähmt – ich hatte die schlimmsten Schmerzen meines Lebens.
Es begann harmlos. Wenn ich joggte, scheuerte die linke Achillessehne an einem Knochenvorsprung an der Ferse. Das tat weh. Zwar erst nach etlichen Kilometern, Freunde sagten deshalb: Karin, lauf doch einfach weniger! – aber Sport, vor allem Triathlon, ist meine Leidenschaft. Ich wollte schmerzfrei trainieren. 2017 ließ ich den Knochenvorsprung wegoperieren. ›Es gibt eine neue Methode‹, sagten sie im Krankenhaus. ›Wir legen ein Schmerzkatheter, dann wird nach dem Aufwachen nichts wehtun.‹ Das Gegenteil passierte.
Stehen, sitzen, liegen, laufen – was ich auch tat, ich hatte zwei Jahre lang durchgehend wahnsinnige Schmerzen. Der Anästhesist hatte mit dem Katheter aus Versehen den Tibialisnerv durchstochen, das ist ein Teil des Hauptnervs, der vom Rückenmark über Gesäß, hinteren Oberschenkel und Wade zur Ferse läuft. Kein Schmerzmittel wirkte, nicht mal die stärksten. Wenn ich zur Arbeit fuhr, wusste ich nicht, wie ich mich vom Parkplatz ins Haus schleppen sollte. Ich hatte viele Stunden Elektro- und Physiotherapie und medizinische Trainingstherapie, mit Fachpersonal in einem ambulanten Rehazentrum. An meinen Schmerzen änderte sich nichts.
Bis vor einem Jahr litt ich an Koordinationsstörungen, eierte mit dem linken Bein, als wäre ich ein Fahrrad mit einer Acht in der Felge. Die Wade hing wie ein Lappen herab, die Hüfte klemmte, der linke Fuß kippte nach außen, ich bekam eine O-Bein-Stellung. Wegen der chronischen Schmerzen gewöhnte ich mir Fehlhaltungen an, die Muskeln verspannten sich, der Schmerz wanderte über den Rücken hinauf bis zur linken Schulter. Ein Orthopäde diagnostizierte Arthrose am Iliosakralgelenk zwischen Becken und Kreuzbein und an der Lendenwirbelsäule. Er sagte: ›Finden Sie sich damit ab.‹
Wollte ich aber nicht. Ich recherchierte im Internet und stieß auf ein Gesundheitszentrum, das schmerzgeplagten Menschen Linderung durch eine eigens entwickelte Schmerz- und Bewegungstherapie versprach. Dazu drücken sie am Körper auf sogenannte Osteopressurpunkte und verkaufen Hilfsmittel wie Faszienrollen. Ich hatte dort sieben Termine, und nach jeder Behandlung waren die Schmerzen weg. Aber nur einen Tag lang, dann kehrten sie wieder. Ich machte deshalb sechsmal die Woche die vorgeschriebenen Übungen: drücken, rollen, dehnen. Zuletzt zwei Stunden pro Tag. Doch wenn ich mal zwei Tage pausierte, bauten sich die Schmerzen wieder auf. Außerdem hatte ich das Gefühl, meine Beinmuskeln wären durch das ständige Drücken platt. Ich versuchte zu joggen, doch es baute sich keine Spannung auf. Ich konnte nicht federn. Die Muskulatur war wie tot.
Ich lernte einen Therapeuten mit fachärztlich-orthopädischer Ausbildung kennen, er leitete dort die Schmerztherapie. Bei ihm hatte ich zwei Termine. Da war es anders. Er drückte nicht nur auf die immergleichen Stellen, sondern untersuchte meinen gesamten Körper. Schaute, wie ich stand und lief. Behandelte Regionen, die akut gar nicht schmerzten.
Er hat eine neue Therapieweise entwickelt, und auf die habe ich mich eingelassen. Die Folge: Im Alltag, zu Hause und auf der Arbeit bin ich jetzt schmerzfrei. Beim Sport ist es unterschiedlich. Schwimmen geht wunderbar, ich habe meine Leistung im 24-Stunden-Schwimmen innerhalb weniger Monate auf 15 Kilometer verdreifacht. Beim Radfahren tut meistens nichts weh, manchmal verspüre ich noch einen Zug im Gesäß, aber ich fahre wieder 40 Kilometer bergiges Terrain durch meine bayerische Heimat. Beim Laufen entwickelt sich im Bereich von Kreuzbein, Gesäß und Hüftgelenk nach ein paar Metern ein ziehender Schmerz, aber mit jedem Behandlungstermin wird er kleiner, und zwar bleibend kleiner.