Die Flamme im Eis - Carina Schnell - E-Book

Die Flamme im Eis E-Book

Carina Schnell

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Beschreibung

Vier Mädchen, von der Königin erwählt. Eine junge Waise mit einer seltenen Gabe. Ein Schloss voll düsterer Geheimnisse. Im Königreich Fehrenlund verfügt ein Teil der Bevölkerung über magische Kräfte. Die sogenannten Begabten kontrollieren je eins der vier Urelemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Alle zehn Jahre holt die Gütige Königin vier Mädchen zu sich ins Schloss, um mithilfe ihrer Gaben das Gleichgewicht im Reich zu wahren. Als die Feuerbegabte Elea an ihrem sechzehnten Geburtstag ausgewählt wird, scheint die Zukunft ihrer Geschwister, um die sie sich seit dem Tod ihrer Eltern kümmert, endlich gesichert. Doch schon bald entdeckt Elea, dass sich im Schloss ein dunkles Geheimnis verbirgt, das nicht nur sie, sondern ganz Fehrenlund in Gefahr bringt. Elea steht vor der Wahl: Schweigen und ihre Familie beschützen oder sich in einen Kampf stürzen, den sie unmöglich gewinnen kann …

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Die Flamme im Eis

Carina Schnell

Copyright © 2021 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Alexandra Fuchs

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Stephan Bellem

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-626-4

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Danksagung

Drachenpost

1

An diesem bitterkalten letzten Abend im Jahr sahen die Sterne am Himmel aus wie goldene Taler auf einem nachtschwarzen Tuch. Elea stellte sich vor, wie sie die Münzen mit beiden Händen aufsammelte, wie diese auf dem Weg nach Hause in ihren Taschen klimpern würden. Fast spürte sie das glatt polierte Gold unter ihren Fingerspitzen.

Ein Windstoß fuhr durch die schmale Gasse, stach ihr in die Wangen. Elea senkte den Blick und blinzelte ein paar Schneeflocken aus ihren Wimpern. Widerwillig wandte sie sich von den Sternen ab und dem kleinen Feuer zu, das sie in dieser eisigen Nacht mühevoll am Leben hielt.

Fröstelnd zog sie sich ihren dünnen Lumpenmantel enger um die Schultern und betrachtete die Schwefelhölzer, die sie zu kleinen Bündeln verschnürt vor sich auf einem Schal ausgebreitet hatte. Obwohl es aus allen Schornsteinen Fehrenlunds rauchte, hatte sie heute nur wenige verkauft.

Mit zitternden Fingern verschob Elea eins der kostbaren Holzbündel, um ihre Ware bestmöglich zu präsentieren. Doch all ihre Mühe war umsonst. Auf den verschneiten Straßen war niemand zu sehen. Die Leute blieben lieber zu Hause und feierten den Neujahrsabend mit ihren Familien. Nur in der Ferne entdeckte Elea einen einsamen Luftbegabten in der tintenblauen Uniform der Stadtreiniger. Mit einer beiläufigen Handbewegung erschuf er einen Windstoß und befreite damit den Gehsteig vom frisch gefallenen Schnee.

Auf ihrem Rückweg durch die vereisten Straßen würde Elea durch Fenster in hell erleuchtete Wohnzimmer spähen, in denen die Eltern mit ihren Kindern zusammensaßen und ihnen Geschichten erzählten, wie es am Vorabend des neuen Jahres üblich war.

Nicht in Eleas kleiner Hütte, wo der Wind durch die Ritzen der notdürftig zusammengezimmerten Bretter heulte und Elea sich mit ihren Geschwistern vor der Feuerstelle zusammendrängen musste, um sich zu wärmen. In ihrem Haus wurden nur selten Geschichten erzählt, seit ihre Mutter gestorben war. Und es wurde auch nicht mehr viel gelacht.

Elea seufzte erneut. Es war schon spät, doch sie konnte nicht nach Hause gehen, ohne genug verkauft zu haben, um wenigstens eine Schale lauwarmen Eintopf bezahlen zu können. Die kleine Lua war krank und brauchte dringend etwas Warmes.

Bei dem Gedanken an ihre Geschwister, die mit knurrenden Mägen auf sie warteten, wurde Eleas Herz schwer. Während sie überlegte, ob sie einpacken oder bleiben sollte, näherten sich schlurfende Schritte. Verwundert hob sie den Kopf. Männer und Frauen mit dreckiger Haut, löchrigen Schuhen und verfilztem Haar drängten sich an Eleas provisorischen Verkaufsstand vorbei. Sie sprachen durcheinander, gestikulierten aufgeregt. In der Mitte der Gruppe liefen mehrere junge Mädchen in Eleas Alter. Einige folgten den Erwachsenen erhobenen Hauptes, andere wehrten sich und wurden gegen ihren Willen mitgezogen. Elea konnte gerade noch den Schal mit den Schwefelhölzern zurückreißen, damit sie nicht zertrampelt wurden. Ein Mann beugte sich herab und hielt im Vorbeigehen einen Stock in ihr kleines Feuer, um ihn wie eine Fackel zu entzünden.

»He!«, rief sie empört, doch er war schon weitergegangen. Mit zusammengezogenen Brauen blickte Elea der Prozession hinterher. Die Menschen trugen ebenso heruntergekommene Lumpen wie Elea. Manche waren sogar trotz der Kälte barfuß. Nicht einmal die grau in die Höhe ragenden Stadthäuser schützten sie vor dem beißenden Wind.

Eleas Blick wanderte zum Schloss auf der Spitze des Grünen Bergs außerhalb der Stadt. Düster ragten die drei Türme in den Nachthimmel. In keinem der unzähligen Fenster brannte Licht. Trotzdem waren diese Leute ohne Zweifel dorthin unterwegs. Denn im Schloss lebte die Gütige Königin, wie die Herrscherin Fehrenlunds von ihrem Volk genannt wurde.

Früher hatte sich die Gütige Königin immer am letzten Tag eines Jahres auf den Marktplatz begeben, um sich ihrem Volk zu zeigen und Köstlichkeiten an die Kinder zu verteilen. Alle zehn Jahre wählte sie dann vier begabte Mädchen aus, die sie am darauffolgenden Tag mit ins Schloss nahm. Diese jungen Frauen, gerade sechzehn Jahre alt, wurden zu ihren engsten Vertrauten. Die Familien wurden so reich für den Verlust ihrer Töchter belohnt, dass es ihnen ihr ganzes restliches Leben an nichts mangelte.

Doch seit drei Jahren hatte niemand mehr die Königin gesehen. Die Tore zum Schloss waren an den letzten Neujahrsabenden verschlossen geblieben. Und mit der Abwesenheit der Monarchin hatte die Armut im einst wohlhabenden Fehrenlund Einzug gehalten.

Elea konnte das zuckende Licht einiger Fackeln vor den Schlosstoren am Fuß des Berges erkennen. Sie glaubte, das Wehklagen der verzweifelten Menschen zu hören, die dort standen, um der Königin ihre Töchter anzubieten und reich belohnt zu werden. Doch vielleicht war es auch nur der Wind, der durch die engen Gassen heulte.

Als Elea sich kopfschüttelnd vom Schloss abwandte, um nach ihrem Feuer zu sehen, wurde sie von ihrem Atem abgelenkt. Wie immer bei dieser Kälte, tanzte er beim Ausatmen als weiße Wolke vor ihrem Gesicht. Aber was war das?

Wenn sie genau hinsah, konnte sie tanzende Figuren im wirbelnden Weiß ausmachen, die jedoch schnell verblassten. Hastig stieß Elea erneut die Luft aus. Da waren sie wieder. Fein gekleidete Herren, die Damen in weiten Reifröcken umherwirbelten, allesamt schneeweiß.

Wie auf einem königlichen Ball, dachte Elea erstaunt. Zumindest glaubte sie, dass es so auf Bällen zuging, denn sie hatte einer solch vornehmen Feier nie selbst beigewohnt.

Erneut stieß Elea die Luft aus, um ihre Frosttänzer in Bewegung zu bringen. Sie war derart fasziniert von dem kleinen Wunder, dass sich ein Lächeln auf ihr Gesicht stahl. Immer schneller wirbelten die Tanzenden umher, zu einer Melodie, die nur sie hören konnten.

Da schlängelte sich eine Rauchfahne von Eleas Lagerfeuer durch die Szene im weißen Frost und trieb die Tanzenden auseinander. Wie so oft forderten die Flammen Eleas Aufmerksamkeit. Sie schenkte sie ihnen bereitwillig. Denn das Feuer war Eleas Freund, ihr alltäglicher, Trost spendender Begleiter und ihre Begabung. Es flüsterte ihr Geheimnisse zu und erheiterte sie mit Geschichten. Es hielt sie warm, und seine beste Eigenschaft war, dass es das ihr so verhasste Eis zum Schmelzen brachte. Das Feuer hatte sie noch nie im Stich gelassen. Anders als die Menschen in ihrem Leben.

Gedankenverloren streckte Elea ihre vor Kälte steifen Hände aus. Die Flammen leckten an ihren Fingern, tanzten über ihre Haut, liebkosten sie, ohne sie zu verbrennen. Sofort wurde ihr wärmer.

Elea starrte so gebannt in die Flammen, dass sie gar nicht bemerkte, wie sich aus dem Rauch, der von ihnen aufstieg, ebenfalls tanzende Figuren lösten. Es waren die Tänzer aus ihrem gefrorenen Atem. Die Herren beugten abermals die Knie, während die Damen graziös knicksten.

Diesmal waren es keine kalten weißen Frostgestalten, die sich über Eleas Kopf drehten und wiegten, sondern rauchgraue. Vom Feuerschein angestrahlt, färbten sie sich mal gelb, mal orangerot.

So vertieft war Elea in die Funken sprühende Glut, dass sie nicht einmal aufsah, als eine Kutsche vor ihr anhielt. Die Türen wurden geöffnet, die vergoldeten Stufen ausgezogen. Dann schob sich ein in einem juwelenbesetzten Schuh steckender Fuß über die Schwelle.

2

»Das ist wahrlich zauberhaft«, sagte eine melodiöse Frauenstimme.

Elea erschrak, die Tänzer stoben auseinander. Sie riss den Kopf in die Höhe und blickte in nachtblaue Augen. Unwillkürlich kroch ihr ein Schauer über den Rücken. Dieses Gesicht hatte sie schon einmal gesehen. Die Gütige Königin!

Die Monarchin Fehrenlunds musterte Elea so eindringlich wie vor zehn Jahren, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Mit ihrem perlenbesetzten Kleid war sie durch die Reihen der jubelnden Menschen auf dem großen Marktplatz geschritten. Kurz hatte sie vor Elea verharrt und sie mit ihren nachtblauen Augen gemustert. Damals war es Elea so vorgekommen, als sähe die Königin ihre geheimsten Träume und Wünsche, ihre Ängste und Sorgen. Doch nach einem Wimpernschlag hatte sie sich von Elea abgewandt und war weitergegangen. Noch heute verfolgte dieser durchdringende Blick Elea in ihren Träumen. Und nun stand die Königin abermals vor ihr.

Verwirrt runzelte Elea die Stirn. Was hatte die Monarchin zu solch später Stunde in diesem Teil der Stadt verloren? Elea war so überrascht, dass sie die Königin unhöflich anstarrte, verloren in ihren Nachtaugen.

Da trat ein hagerer, ganz in Schwarz gekleideter Mann heran. Er strafte Elea mit einem eisigen Blick. »Steh gefälligst auf und zolle der Königin deinen Respekt, Mädchen.«

Eleas Wangen brannten. Sie stolperte auf die Füße, riss sich die Mütze vom Kopf und vollführte einen unbeholfenen Hofknicks.

»Eure Majestät«, stammelte sie. »Verzeiht mir.«

»Schon gut.« Die Königin lächelte freundlich. Ihr Blick blieb für einen Moment an Eleas zerzaustem Haar hängen und wanderte dann über ihr kleines Feuer zu der auf dem Gehsteig ausgebreiteten Ware. »Was verkaufst du Schönes?«

Eleas Verwunderung wuchs. Warum interessierte sich die Königin für ihre Schwefelhölzer?

»In Schwefel getränkte Kiefernhölzchen, Eure Majestät«, erklärte der hagere Diener an Eleas Stelle.

»Das sehe ich, Anton«, antwortete die Königin kühl. »Aber ich habe die junge Frau gefragt.«

Er entschuldigte sich und zog sich hastig zurück, ließ Elea jedoch nicht aus den Augen.

»Die Schwefelhölzer stelle ich gemeinsam mit meinen Geschwistern her«, murmelte Elea schüchtern. »Seit dem Tod unserer Eltern verkaufe ich sie während des Frostmonds, damit wir über die Runden kommen. Im Sonnenmond basteln wir daraus kleine Holzspielzeuge für Kinder.«

Erschrocken über ihre Redseligkeit biss sie sich auf die Lippe. Warum spürte sie diesen Drang, sich der Königin anzuvertrauen? Sicher interessierte sie sich nicht für Eleas Probleme.

»Deine Eltern sind verstorben?«, fragte sie.

Elea nickte verlegen. »Meine Mutter wurde uns im vergangenen Frostmond vom Schwarzen Husten genommen. Vater ist schon vor einigen Jahren bei einem Minenunfall ums Leben gekommen. Seitdem kümmere ich mich um meine kleinen Geschwister.«

Die Herrscherin nickte. »Das tut mir leid.« Ein Schatten verdunkelte das Blau ihrer Augen wie Schneewolken den Nachthimmel. »Ich weiß, wie schlecht es um mein Volk steht. In letzter Zeit war ich … verhindert. Aber jetzt bin ich hier, um es wiedergutzumachen.«

Plötzlich strahlten ihre Augen wieder, als wären die Sterne hinter den Wolken hervorgekommen.

»Komm.« Sie reichte Elea ihre Hand, die in einem schneeweißen Wildlederhandschuh steckte. »Wir bringen dich nach Hause. Niemand sollte am Neujahrsabend allein sein.«

Elea keuchte überrascht auf. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf. Warum hatte sich die Königin in den letzten Jahren zurückgezogen? Warum hatte sie die Bewohner Fehrenlunds in der Not im Stich gelassen? Und warum kam sie ausgerechnet heute von ihrem Berg herunter und sprach mit einer einfachen Schwefelholzverkäuferin, statt sich ihrem Volk zu zeigen? Elea traute sich jedoch nicht, diese Fragen auszusprechen. Zögernd betrachtete sie die ausgestreckte Hand. Ihre Eltern hatten ihr eingeschärft, nie mit Fremden mitzugehen. Aber diese Frau war schließlich die Königin von Fehrenlund.

»In meiner Kutsche wartet eine Tasse heiße Schokolade auf dich.« Die Königin zwinkerte ihr zu, als ahnte sie etwas von Eleas innerem Zwiespalt. »Du siehst aus, als hättest du etwas Warmes dringend nötig.«

Elea konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Schokolade gekostet hatte. Sie schluckte und leckte sich über die Lippen. Fast schon konnte sie die bittere Süße auf der Zunge schmecken, spüren, wie die warme Flüssigkeit ihre Kehle hinabrann. Außerdem wollte sie nicht unhöflich sein. Also nickte sie entschlossen und ergriff die ausgestreckte Hand der Königin.

»Wie heißt du, Mädchen mit den Schwefelhölzern?«, fragte diese freundlich.

»Elea.«

»Ein schöner Name. Ich heiße Liandra.« Sie schüttelte Eleas Hand, als wären sie zwei ganz normale Frauen, die sich auf der Straße begegnet waren. Bis dahin hatte Elea den Namen der Gütigen Königin nicht gekannt. Während sie ihr folgte, wiederholte sie ihn ehrfürchtig in Gedanken.

Liandra geleitete sie zu der Kutsche mit goldbeschlagenen Rädern, deren Inneres so groß wie Eleas Wohnzimmer sein musste. Als Elea sich noch einmal zu ihrem Feuer und den Schwefelhölzern umdrehte, drückte die Königin aufmunternd ihren Arm.

»Sorge dich nicht. Mein Diener wird sich um deine Waren kümmern.«

Anton trat heran und wickelte die Schwefelhölzer in den Schal, auf dem sie gelegen hatten. Augenblicklich verspürte Elea den Drang, ihn von ihrer Ware wegzuzerren. Sie wollte nicht, dass dieser griesgrämige Alte etwas anrührte, das sie und ihre Geschwister so viel Mühe gekostet hatte. Als er ihr kleines Feuer austrat, zuckte Elea zusammen. Die letzte Flamme verrauchte mit einem leisen Seufzen, ein letztes tanzendes Paar stieg auf rauchigen Schwingen in den Nachthimmel auf. Daraufhin legte sich eisige Dunkelheit über die Straße. Ohne Eleas geliebtes Feuer kroch die verhasste Kälte des Frostmonds tief in ihre Knochen. Elea ignorierte das unheilvolle Prickeln auf der Haut, nahm ihren Mut zusammen und kletterte hinter der Königin in die Kutsche.

Beim Einsteigen spiegelte sich Eleas Gesicht im Fenster der Kutschentür und sie hielt einen Moment inne. Ihr fuchsrotes Haar war zerzaust, die Kleidung schäbig und ein Rußstreifen zog sich über die Sommersprossen auf ihrer rechten Wange. Unbehaglich rieb sie sich über das Gesicht. Sie gehörte nicht in diese prunkvolle Kutsche, hatte nichts an der Seite der Königin von Fehrenlund verloren. Doch Liandra wollte sie lediglich nach Hause bringen und nicht auf einen Ball mitnehmen.

Elea schloss die Augen, vertrieb das Spiegelbild des armen, verdreckten Mädchens aus ihren Gedanken und setzte sich neben die Gütige Königin auf die weichen Damastkissen.

3

Nachdem Elea dem Diener auf dem Kutschbock ihre Adresse genannt hatte, setzte sich die Kutsche sanft schaukelnd in Bewegung.

Im Inneren war es angenehm warm und es stand tatsächlich eine reich verzierte Porzellankanne auf einem Stövchen bereit. Königin Liandra, die Elea gegenübersaß, füllte zwei Tassen mit der dampfenden Flüssigkeit und reichte ihr eine davon. Wie ist es möglich, dass das Getränk beim Geschaukel der Kutsche nicht überschwappt?, fragte sich Elea, doch da stieg ihr auch schon der herbe Duft in die Nase. Ihr leerer Magen zog sich zusammen, alle Fragen waren vergessen. Sie nahm einen großen Schluck, schloss einen Moment die Lider. Der Geschmack der bittersüßen Flüssigkeit kitzelte auf der Zunge und die Wärme breitete sich in ihrem Magen aus. Während sie sich bemühte, die Schokolade nicht in einem Zug auszutrinken und nach einer zweiten zu verlangen, musterte sie die Königin verstohlen.

Liandra trug einen eleganten nachtblauen Mantel, der mit weißem Hermelinfell gesäumt war. Graziös zog sie ihre Handschuhe aus und legte sie auf ein Kissen, bevor sie nach der zweiten Tasse griff. Das Gesicht der Königin zog Elea in ihren Bann. Im Kontrast zu den weichen, beinahe jugendlichen Zügen standen die kleinen Fältchen um Augen und Mund. Das ebenholzschwarze Haar, das man ihr zu einer kunstvollen Frisur auf dem Kopf drapiert hatte, war von einigen grauen Strähnen durchzogen. Gekrönt wurde es von einem schmalen Silberdiadem.

Es schien Elea unmöglich, das Alter der Königin zu schätzen. Ihr Leben lang war die Königin einfach da gewesen, eine nicht greifbare Person, die von ihrem fernen Schloss aus regierte. Ewig und alterslos.

»Schmeckt dir die Schokolade?«, fragte Liandra.

Elea senkte ertappt den Blick und nickte. »So etwas Köstliches habe ich lange nicht mehr getrunken. Zu Hause brühen wir manchmal ein paar Pfefferminzblätter oder Kamillenblüten auf, um Tee zu machen. An schlechten Tagen ist es das Einzige, was wir zu uns nehmen.«

Erschrocken presste Elea die Lippen zusammen. Einmal mehr verwunderte sie ihre Redseligkeit gegenüber der Königin. In Liandras Gegenwart sprach sie, ohne nachzudenken. Allerdings schien es der Monarchin nichts auszumachen, denn sie nickte wissend und stellte ihre Tasse unangerührt zurück auf das Tablett.

»Dann trink auch meine Schokolade«, forderte sie Elea auf.

»Aber Eure Majestät, ich könnte nie …«

Liandra schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Elea, ich möchte, dass du begreifst, warum ich dich in meine Kutsche gebeten habe. Wenn du mein Angebot annimmst, wirst du sehr bald jeden Tag noch köstlichere Süßigkeiten naschen können. Du wirst leben wie eine Königin. Wie ich.«

Elea verschluckte sich an ihrer Schokolade, hustete röchelnd. Ihre Wangen wurden heiß und sie entschuldigte sich kleinlaut, doch die Königin fuhr ungerührt fort.

»Du scheinst eine aufgeweckte junge Frau zu sein, Elea. Ich möchte, dass du deine besondere Gabe nicht verschwendest, sondern unter meiner Anleitung weiterentwickelst und für einen guten Zweck einsetzt.«

Eleas Kopf schwirrte von all den neuen Informationen. Die Wände der Kutsche rückten plötzlich unangenehm auf sie zu. Ihre Gabe, das Feuer, hatte sie von Kindesbeinen an begleitet, doch das war nichts Ungewöhnliches. Im Königreich Fehrenlund, vor allem in der gleichnamigen Hauptstadt, gab es unzählige Begabte, die je eins der vier Elemente beherrschten. Die meisten davon waren um einiges mächtiger als Elea. Sie hatte nie die Mittel gehabt, die prestigeträchtige Akademie zu besuchen, um ihre Fähigkeiten zu trainieren und einen der vielen Berufe für Begabte zu erlernen. Nun wurde ihr schwindelig, als sie endlich begriff, was Liandra ihr anbot. Schließlich war es der letzte Abend des Jahres und sie saß in der königlichen Kutsche …

Mit einem lauten Klirren stellte sie ihre Tasse auf das Tablett. »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr mich als eine Eurer Begabten ausgewählt habt?«, krächzte sie heiser.

Liandra nickte lächelnd. »Ich habe schon drei. Du bist die letzte.«

Elea vergrub ihre Finger in den weichen Kissen, da sie plötzlich jeglichen Halt verlor. »Aber ich bin noch nicht sechzehn. Mein Geburtstag ist erst morgen.«

Elea hatte sich oft gewünscht, von der Königin erwählt zu werden, doch stets war ihr Traum von der Tatsache zerstört worden, dass sie einen Tag zu jung sein würde, wenn ihre Zeit käme. Erst in zehn Jahren würde Liandra vier weitere Mädchen in ihr Schloss holen, und dann wäre Elea zu alt. Sie hatte sich längst damit abgefunden, nie in den Genuss des Hoflebens zu kommen.

Irgendetwas lief hier gewaltig schief. Die Zeremonie zur Auswahl der vier Begabten fand sonst immer auf dem Marktplatz in aller Öffentlichkeit statt. Doch die letzte Zeremonie vor drei Jahren hatte die Königin verpasst. Wie kam es, dass Elea nun in der königlichen Kutsche saß? Dass Liandra bereits andere Mädchen ausgewählt hatte? Waren sie womöglich schon auf dem Weg zum Schloss?

Eleas Herz raste. Sie fühlte sich wie ein Kaninchen, das in eine Falle getappt war. Würde Liandra ein Nein akzeptieren? Konnte Elea, wenn nötig, aus der fahrenden Kutsche springen? Dabei würde sie sich bestimmt alle Knochen brechen.

Da beugte sich die Königin vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Augenblicklich verlangsamte sich Eleas Herzschlag.

»Beruhige dich erst einmal. Wie versprochen, bringen wir dich nach Hause, wo du dich von deiner Familie verabschieden kannst. Ich werde dich nicht gegen deinen Willen entführen.«

Verabschieden. Das Wort hallte dumpf in Eleas Ohren nach. Was sollte sie ihren Geschwistern sagen? Was würden sie ohne sie tun? Ihr wurde übel bei der Vorstellung, wie sie den Kleinen beibringen sollte, dass sie für zehn Jahre fortgehen würde. Aber hatte sie eine Wahl? Schließlich war es ihre Pflicht, für ihre Familie zu sorgen.

»Deinen Lieben wird es nie wieder an etwas mangeln. Du hast mein Wort.« Abermals war es, als spürte die Königin ihren inneren Aufruhr.

Elea wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie konnte nicht klar denken, während ihr ganzes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel. Sie müsste sich geehrt fühlen, von der Königin auserwählt worden zu sein, doch es gefiel ihr nicht, dass Liandra sie unter einem Vorwand in die Kutsche gelockt hatte. Dies war keine Entscheidung, die man leichtfertig traf. Elea musste dringend ihre umherwirbelnden Gedanken ordnen und mit ihren Geschwistern sprechen.

Die Kutsche wurde langsamer und ein Blick aus dem Fenster sagte Elea, dass sie ins Armenviertel am Rande der Stadt eingebogen waren. Davon zeugten auch die Schlaglöcher in der Straße, von denen sie nun durchgeschüttelt wurden, während die heiße Schokolade davon auf wundersame Weise unberührt blieb.

Elea blieb nicht mehr viel Zeit.

»Was ist das für eine besondere Gabe, von der Ihr sprecht?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Nach welchen Kriterien wählt ihr die Begabten aus?«

»Das wirst du noch früh genug herausfinden.« Liandras Augen funkelten. »Ich kann dir nur sagen, dass sich dein Leben für immer verändern wird. Zum Guten.«

Verständnislos zog Elea die Brauen zusammen.

»Du hast die einmalige Chance, deine Familie zu retten, ihnen das Leben zu geben, wovon sie nie zu träumen gewagt haben. Vergiss das nicht.«

Elea war nicht entgangen, dass Liandra ihrer Frage ausgewichen war. Es sah nicht so aus, als würde sie ihr an diesem Abend mehr verraten. Sie schwieg, bis die Kutsche vor ihrem Haus zum Stehen gekommen war. Die Königin ließ ihren stechenden Blick keine Sekunde von ihr.

»Du hast eine Nacht Zeit, deine Entscheidung zu treffen«, erklärte sie, als der Diener Elea die Tür öffnete. »Die Schlosstore werden bis morgen Mittag für dich offen stehen. Kommst du zu spät, werden sie dir für immer verschlossen bleiben.«

Elea hielt ihrem Blick eine Weile stand. Dann nickte sie und kletterte wortlos aus der Kutsche. Der Geruch nach frischem Schnee hing in der Luft, legte sich kalt und schwer über Elea und drohte, sie zu ersticken. Um ihr Gleichgewicht bemüht blieb sie auf dem vereisten Gehweg stehen, drehte sich zu Liandra um und knickste. »Ich danke Euch für das Angebot, Eure Majestät.«

Die Königin lächelte wie eine zufriedene Katze, die gerade eine Maus verspeist hatte. Etwas an diesem Lächeln griff mit frostigen Fingern nach Eleas Herz und sie schauderte. Eilig wandte sie sich zu ihrem windschiefen Häuschen um.

In diesem Teil der Stadt gab es keine Straßenlaternen. Die schäbigen Hütten drängten sich aneinander, als versuchten sie, sich gegenseitig zu wärmen. Aus Eleas bescheidenem Heim fiel ein schwacher Feuerschein durchs Fenster in den verwilderten Vorgarten. Beim Gedanken daran, wie sich ihre Geschwister drinnen vor dem Feuer aneinanderkuschelten und auf sie warteten, wurde Elea schwer ums Herz. Wenn sie die Tür öffnete, würden Lua und Benni aufspringen und freudig zu ihr laufen, um sie zu begrüßen. Die ältere Igrid würde die beiden ermahnen, Elea erst einmal Zeit zu geben, ihren Mantel auszuziehen. Ihr Bruder Kian hätte bereits Wasser in dem alten Kessel über dem Feuer aufgesetzt. Bis vor einer Stunde hatte Elea geglaubt, dass sie ihnen dann traurig erzählen würde, dass sie nur wenig verkauft und ihnen nichts zu essen mitgebracht hatte. Doch nun hatte sie ganz andere Neuigkeiten, die ihrer aller Leben für immer verändern würden.

Der griesgrämige Diener schlurfte auf sie zu. Er reichte ihr einen mit einem roten Tuch abgedeckten Korb. Als Elea nach ihren Schwefelhölzern fragte, lachte er. »Die brauchst du nicht mehr.« Er warf den Schal mit den Hölzern vor ihr in den Schnee.

Elea funkelte ihn wütend an, während er kehrtmachte und auf den Kutschbock sprang. Sie hob den Schal auf, machte sich aber nicht die Mühe, die herausgefallenen Hölzchen einzusammeln. Nasse Schwefelhölzer waren nutzlos.

Vor der Tür sah sie noch einmal über ihre Schulter zurück. Hinter den Fensterscheiben blitzten Liandras Augen ein letztes Mal im Mondlicht auf, bevor die Kutsche in der Nacht verschwand.

4

Als Elea die knarzende Haustür öffnete, standen Lua, Benni, Kian und Igrid allesamt am Fenster und starrten der sich entfernenden Kutsche hinterher.

Die Flammen der Kerzenstümpfe auf den Fensterbrettern flackerten im Zugwind. Die einzige andere Lichtquelle im Raum kam von der Glut in der rußgeschwärzten Feuerstelle. Darüber hing ein zerbeulter Kessel, von dem ein schwacher Pfefferminzgeruch ausging. Sie hatten also geahnt, dass Elea mit leeren Händen nach Hause kommen würde.

Elea stellte den Korb mit einem lauten Rums auf den klapprigen Dielen ab und vier Köpfe ruckten zu ihr herum. Ihre Geschwister blickten für einen Sekundenbruchteil zwischen Elea, dem prall gefüllten Korb und der davonfahrenden Kutsche hin und her – dann begann der Fragensturm.

»Was war das für eine Kutsche?«

»Wer war der unfreundliche alte Kerl?«

»Was ist in dem Korb?«

»Was hat das alles zu bedeuten?«

Im allgemeinen Chaos huschte Lua unbemerkt zu dem Korb, fiel davor auf die Knie und hatte den Inhalt auf dem Fußboden ausgekippt, bevor jemand reagieren konnte.

»Ellie«, quietschte sie, mit sich vor Vergnügen überschlagender Stimme. »Du hast Rosinenbrötchen mitgebracht!«

»Und Zuckerstangen«, rief Benni, der Jüngste, während er sich mit Lua durch die Köstlichkeiten auf dem Boden wühlte.

Elea wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste nur, dass sie ihren Geschwistern gleich das Herz brechen würde. Die Freude auf den Gesichtern der Kleinen stand in starkem Kontrast zu ihren eigenen Gefühlen.

Brodelnd bahnte sich die Anspannung, die während der Kutschfahrt Besitz von ihr ergriffen hatte, einen Weg an die Oberfläche. Sie entlud sich in einem hysterischen Lachen. »Ihr werdet nicht glauben, was mir passiert ist.«

Eine erwartungsvolle Stille setzte ein. Doch anstatt zu erzählen, zog Elea nur hilflos die Schultern hoch. Sie war noch nicht bereit.

»Nun komm erst mal rein«, sagte Igrid. »Es wird kalt hier drin.« Sie gab Elea einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wange und schloss die Haustür.

Alle halfen dabei, den Inhalt des königlichen Korbs wieder einzusammeln, bevor sie sich auf dem Boden vor der Feuerstelle niederließen. Dort kamen sie immer zusammen, wenn sie etwas Wichtiges zu besprechen hatten.

Kian verteilte seine selbst geschnitzten Holzteller und -becher und alle bedienten sich an den Gaben der Königin.

Elea musterte die vor Aufregung geröteten Gesichter ihrer Geschwister, sah in ihre fröhlich glänzenden Augen. Bei der Vorstellung, sie für sehr lange Zeit nicht wiederzusehen, zog sich ihre Brust schmerzhaft zusammen. Gleichzeitig wusste sie, dass ihre Geschwister ein glückliches Leben verdient hatten. Und sie hatte die Macht, es ihnen zu geben.

Obwohl sie vorher solch einen Hunger gehabt hatte, bekam Elea nun keinen Bissen herunter. Ihre Kehle war ausgetrocknet. Sie räusperte sich, sodass die vier ihre Aufmerksamkeit augenblicklich auf sie richteten. Innerlich wappnete sie sich für das Gespräch, dann begann sie zu erzählen.

Während sie sprach, blickte Elea vor allem Igrid an, die mit ihren vierzehn Jahren die Zweitälteste war und Eleas Rolle als Versorgerin übernehmen würde. Igrids Augen wurden immer größer. Während sie zuerst noch voller Freude über die guten Neuigkeiten lächelte, fielen ihre Mundwinkel bald darauf herab, ihre Stirn zog sich in Falten.

Benni und Lua stopften kandierte Früchte, gebrannte Mandeln, Rosinenbrötchen und Zimtschnecken in sich hinein und hörten nur mit halbem Ohr zu. Doch als Elea endete, sahen beide auf, beunruhigt von der betretenen Stille, die sich über den Raum senkte. Nur das Knistern der Flammen war noch zu hören.

Benni kletterte wortlos auf Eleas Schoß und klammerte sich an ihr fest. Schützend legte sie einen Arm um ihn, schluckte und blinzelte die Tränen fort, die ihre Wimpern kitzelten.

»Was soll ich tun?«, fragte sie mit zitternder Stimme in die Runde.

»Es ist eine große Ehre«, sagte Kian zögernd. »Aber möchtest du wirklich fortgehen? So lange?«

Elea war dankbar dafür, dass ihr Bruder sie auf diese Weise daran erinnerte, dass sie eine Wahl hatte. Ihr Schicksal lag immer noch in ihrer Hand. Die Königin von Fehrenlund würde sie nicht zwingen, in ihre Dienste einzutreten. Aber ihr Angebot war sehr verlockend.

»Was wirst du wohl am Hof der Königin tun?«

»Werden wir dich wirklich erst in zehn Jahren wiedersehen?«

»Du musst nicht gehen, wenn du nicht willst.«

Plötzlich sprachen alle durcheinander. Eleas Herz zog sich vor Dankbarkeit zusammen. Ihre Geschwister ließen sie mit der Entscheidung nicht allein.

Sie betrachtete das schmiedeeiserne Bett mit der löchrigen Matratze, die notdürftig zusammengezimmerten Bretterwände, den zerbeulten Kessel über dem Feuer, die wenigen selbst gemachten Spielzeuge der Kleinen. Ihr Blick blieb an der Kiste mit ihrer Schwefelholzsammlung hängen. Es war nicht genug, um sie alle zu versorgen, würde nie genug sein.

Elea seufzte. »Wir können die Hilfe der Königin gut gebrauchen.«

Igrid und Kian nickten traurig.

»Aber kommt ihr überhaupt ohne mich zurecht?«

Da unterbrach Luas Husten das Gespräch. Der ganze Körper der Kleinen wurde heftig geschüttelt. Seit Tagen ging es ihr so schlecht, dass selbst der Pfefferminztee kaum noch half. Als Elea die geröteten Wangen, die schweißnasse Stirn und den dürren, zerbrechlichen Körper ihrer jüngsten Schwester musterte, wusste sie, was zu tun war. Am Ende gab es nur eine richtige Entscheidung. Sie durfte das Leben ihrer Geschwister nicht aufgrund ihrer eigenen Ängste aufs Spiel setzen.

Entschlossen straffte Elea die Schultern. »Ich werde gehen.«

Lua begann zu weinen, als Elea ihr erklärte, was ihre Worte bedeuteten. Der kleine Benni begriff mit seinen vier Jahren nicht, was es hieß, dass er seine Schwester lange Zeit nicht sehen würde. Mit großen Augen blickte er zu Elea auf, als er die veränderte Stimmung spürte. Trotz allem war Elea nicht von ihrer Entscheidung abzubringen. Es ging um die Rettung der Menschen, die ihr am wichtigsten waren. Bereitwillig würde sie dieses Opfer bringen, um ihnen eine bessere Zukunft zu schenken.

»Sie wird zurückkehren«, erklärte die pflichtbewusste Igrid ihrer kleinen Schwester, bevor sie sich an Elea wandte. »Nachdem die zehn Jahre verstrichen sind und du deinen Dienst getan hast, wirst du wiederkommen, um bei uns zu sein, nicht wahr?«

Elea nickte. Im Gegensatz zu den vorherigen Begabten, die nie zurückkehrten, weil sie nun für die Königin die Welt bereisen, dachte sie. Ich könnte es nicht ertragen, meine Familie nie wiederzusehen.

»Natürlich«, versprach sie. »Ich werde die Tage zählen, bis wir wieder vereint sind. Und wer weiß, vielleicht schaffe ich es, mich ab und zu aus dem Schloss zu schleichen.« Verschwörerisch senkte sie die Stimme. »Ich überliste die Wächter und klettere über das Tor wie ein Eichhörnchen.« Sie kitzelte Lua und stieß ein paar keckernde Eichhornlaute aus, um sie aufzumuntern. Die anderen fielen in ihr Lachen mit ein. Ihre Geschwister wussten, wie flink Elea war und wie gut sie klettern konnte.

Doch schnell wurden sie wieder ernst. Seufzend blickte Elea in die schwermütigen Gesichter und nahm sich fest vor, ihr Versprechen wahr zu machen. »Ich möchte nicht, dass wir unseren letzten gemeinsamen Abend trübselig verbringen«, verkündete sie. »Dass ich von der Gütigen Königin auserwählt wurde, ist ein Grund zum Feiern.«

Sie gab ihr Bestes, alle Tränen zu trocknen und Lua, Benni, Kian und Igrid so lange wie möglich vom Abschiednehmen abzulenken. Sie aßen, tranken und stellten Mutmaßungen über das Leben im Schloss, die drei anderen begabten Mädchen und die Königin an.

Schließlich rückten sie näher ans Feuer. Elea schob eine Hand in die sterbenden Flammen und ließ sie neu auflodern. Der flackernde Feuerschein tanzte über die Wände.

»Eine Geschichte!«, rief Benni aufgeregt.

Elea lächelte. »Welche möchtet ihr hören?«

»Natürlich unsere Lieblingsgeschichte«, krächzte Lua und hustete erneut. »Die von der Entstehung der Welt.«

Elea hob die Hände. Geschickt wob sie mit ihren Fingern Schattenfiguren, die an der Wand zum Leben erwachten. »Einst schwebte der Urgott Moran ganz allein im großen Nichts«, begann sie. »In seiner Einsamkeit sehnte er sich nach mehr. Also erschuf er eine Flamme in der Dunkelheit.«

Elea ließ eine Flamme im Herd auflodern. Lua kreischte vor Vergnügen.

»Das Feuer erhellte Morans Dasein und hielt ihn warm. Doch wenn er ihm zu nah kam, wurde ihm heiß und manchmal verbrannte das Feuer ihn sogar. ›Ich brauche Gleichgewicht‹, dachte er sich. ›Etwas, das das Feuer im Zaum hält.‹ Und so erschuf er das Eis.«

Mit ihren Fingern ließ Elea Schattenzapfen an den Wänden emporklettern.

»Doch auch das Eis entwickelte ein Eigenleben. Es türmte sich zu hohen Wänden auf, die Moran einschlossen, sodass er vor Kälte zitterte. Zornig zerschlug Moran das Eis mit seinem mächtigen Hammer. Auf der anderen Seite wartete allerdings das Feuer auf ihn. In seiner Wut hob er erneut den Hammer. Als Feuer und Eis aufeinandertrafen, schlug Moran zu. Durch den Zusammenprall der Urkräfte entstand ein gigantischer Klumpen roher Materie.« Eleas Hände rasten durch die Luft, als sie die Explosion nachstellte.

»Moran erkannte seine Chance. Mit gezielten Hammerschlägen schmiedete er die Weltenscheibe Midea aus Feuer und Eis.«

Elea machte eine Pause, sog den Anblick der vom Feuer beschienen Gesichter ihrer Geschwister tief in sich auf. Mit zwei Fingern formte sie dann einen Schattentropfen.

»Dazu erschuf Moran das Wasser und den Wind, um das Feuer in Schach zu halten. Danach die Sonne, um das Eis zu schmelzen, sodass es sich nur einmal im Jahr ausbreitete. Bäume und Pflanzen wuchsen auf dem fruchtbaren Boden. Aus der Vereinigung der Urkräfte entstanden schließlich auch wir Menschen. Deswegen leben wir noch heute in Harmonie mit der Natur. Denn alle Dinge – auch wir – entstammen Morans Wunsch, nicht mehr allein zu sein.«

Ehrfürchtige Stille senkte sich über den Raum, als Elea die Hände sinken ließ. Alle hatten an ihren Lippen gehangen. Nur Bennis Augenlider wurden bereits schwer.

»So, und jetzt ab ins Bett«, sagte Elea.

»Nein, wir sind noch nicht fertig«, protestierte Benni.

»Du kannst ja kaum noch die Augen aufhalten.«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich gehe erst, wenn du das Lied der Jahreszeiten gesungen hast.«

Bevor Elea widersprechen konnte, stimmte er trotzig die erste Strophe an.

Im Knospenmond wacht die Erde auf,

schenkt uns Blüten und Korn zuhauf.

Der Sonnenmond uns die Ernte bringt,

alles auf den Feldern lacht und singt.

Die Blätter fall’n im Laubmond dann,

wenn Brennholz sammelt jedermann.

Im Frostmond schläft Midea ein,

und träumt vom fernen Sonnenschein.

Acht Monate voll Leid und Freud,

so ist es gleich für alle Leut.

Die anderen hatten mit eingestimmt. Als das Lied endete, lachten sie fröhlich und erinnerten sich an die Abenteuer, die sie zusammen erlebt hatten, bei Schnee und Regen sowie bei Sonnenschein.

Der Mond stand bereits hoch am Himmel und das Feuer brannte schnell herunter. Mit vollen Bäuchen kuschelten sich die fünf in das Bett, das sie sich teilten, und klammerten sich fest aneinander. Es war einer der schönsten Abende, den sie seit Langem gemeinsam verbracht hatten, doch in dieser Nacht schlief niemand.

Der Morgen kam viel zu schnell. Als es vor den Fenstern langsam hell wurde, stand Elea auf. Sie fühlte sich wie erschlagen, hatte stundenlang wach gelegen, dem Atem ihrer Geschwister gelauscht und über ihre Zukunft nachgedacht.

Vor der Feuerstelle breitete sie die restlichen Gaben der Königin zum Frühstück aus. Sie aßen schweigend, jeder hing den eigenen Gedanken nach. Dabei ließ Lua Eleas Hand keinen Moment los.

Nachdem Elea sich ein letztes Mal mit Igrid und Kian besprochen hatte, schulterte sie ein kleines Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten.

Ihre Geschwister drängten sich zum Abschied an der Tür.

»Alles Gute zum Geburtstag«, murmelte Igrid mit tränenerstickter Stimme, als sie Elea fest in die Arme schloss. Benni schluchzte und klammerte sich an Eleas Bein. Kian hatte einen Arm um Igrid gelegt, die wiederum Lua trug. Die Kleine winkte tapfer und blinzelte ihre Tränen fort.

Sanft löste sich Elea aus Bennis Klammergriff und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Zum letzten Mal hob sie eine Hand zum Gruß. Es verlangte ihre ganze Selbstbeherrschung, nicht selbst in Tränen auszubrechen.

Mit zitternden Knien wandte sie sich ab und verließ die Hütte, die sie seit drei Jahren ihr Zuhause nannte.

Nachdem ihr Vater gestorben war, hatte die Familie ins Armenviertel umziehen müssen. Hier ragten die zerfallenen Häuser in den Himmel wie faule Zahnstümpfe im Schlund eines Bettlers. Auf den Straßen trieben sich oft düstere Gestalten herum, doch zu dieser frühen Stunde war niemand zu sehen. Elea hatte sich in diesem Teil Fehrenlunds nie wohlgefühlt. Stets hatte sie nach einem Weg gesucht, wie sie ihre Familie in ihr früheres Haus mit der blauen Tür und den Blumenkästen vor den Fenstern zurückbringen könnte. Dies war jedoch nie geschehen und ihre Mutter hatte hier den Tod gefunden.

An der Ecke drehe ich mich noch einmal um, sagte Elea sich. Dann schaue ich nicht mehr zurück.

Sie befürchtete, dass sie es sonst nicht schaffen würde weiterzugehen. Igrid und Kian werden ebenso gut für die Kleinen sorgen wie ich, dachte Elea. Sie vertraute darauf, dass die Königin Wort hielt und es ihnen an nichts mangeln würde.

Vage erinnerte Elea sich an die Zeit, als zum letzten Mal vier Begabte ausgewählt worden waren. Deren Familien hatten einmal im Monat eine Lieferung mit so viel Getreide, Gemüse, Obst und Fleisch bekommen, dass sie einiges davon mit ihren Nachbarn hatten teilen können. Außerdem waren sie reich mit Gold belohnt worden, womit sie sich bessere Kleider und Häuser gekauft hatten. Alle vier Familien zählten bis heute zu den reichsten Fehrenlunds, genau wie die Familien der Begabten vor ihnen.

An der Straßenecke drehte Elea sich ein letztes Mal zu ihren Geschwistern um. Bei ihrem Anblick zog sich ihre Brust schmerzhaft zusammen. Sie prägte sich ihre Gesichter ein, um sie auf diese Weise für immer bei sich zu tragen. In dunklen Zeiten würden sie ihr hoffentlich Licht und Wärme spenden.

Als Elea aus der Talsenke hervorkam, in der sich das Armenviertel befand, hatte sie einen freien Blick auf ihr Ziel, den Grünen Berg. Er war so üppig mit Bäumen und Sträuchern bewachsen, dass er von Weitem grün wirkte. Selbst während des Frostmonds verlor dieser Wald nichts von seiner Pracht, denn der Schnee blieb auf wundersame Weise nie auf den Baumwipfeln liegen. Der gesamte bewaldete Berghang war für gewöhnlich niemandem zugänglich. Wenn man durch die Gitterstäbe des hohen Zauns spähte, der den gesamten Berg wie ein Ring umgab, erhaschte man höchstens einen Blick auf die Schönheit dahinter. Es hieß, dass sich dort neben Pfauen und exotischen Vögeln auch wundersame Fabelwesen tummelten.

Auf der Spitze des Berges thronte das Schloss der Gütigen Königin mit seinen drei Türmen. Doch an diesem kalten Wintermorgen lag ein dichter Nebel über Fehrenlund und das Schloss war hinter dem wabernden Grau verborgen.

Den Blick fest nach vorn gerichtet, stapfte Elea durch den Schnee. Sie kam nur langsam voran und fürchtete, dass sie zu spät kommen und das Tor verschlossen vorfinden würde. Nach einer halben Stunde Fußmarsch erreichte sie endlich das goldene Tor. Ihre löchrigen Stiefel waren durchgeweicht, und sie spürte ihre Zehen kaum noch. Zu ihrer Erleichterung stand das Tor einen Spalt offen. Elea blickte zur Spitze hinauf, die von einer goldenen Pfauenfigur, dem Schutztier der Königsfamilie und ihres Reiches, gekrönt wurde. Zwischen den Gitterstäben hindurch konnte sie nichts als dunkle Bäume und einen Weg ausmachen, der sich in Serpentinen den Hang bis zum Schloss hinaufwand. Der Nebel trieb auf unheimliche Weise zwischen den Baumstämmen hindurch, verschluckte jedes Geräusch. Elea hörte nur ihren eigenen Atem, der in weißen Wölkchen aus ihrem Mund kam. Heute entdeckte sie keine Frosttänzer darin.

Die gespenstische Stille war erdrückend. Elea sah sich um, fühlte sich von tausend unsichtbaren Augen beobachtet. Doch da war nichts als das Grau des Nebels und das stumpfe Gold der Gitterstäbe. Beherzt trat sie einen Schritt vor. Unter ihrem Stiefel knirschte der Schnee ohrenbetäubend laut. Vorsichtig streckte sie eine Hand nach dem Tor aus, verharrte aber auf halbem Weg.

Wollte sie es wirklich wagen? Wollte sie zehn Jahre ihres Lebens einer anderen Person widmen, selbst wenn es sich dabei um ihre Königin handelte?

Mädchen mit den Schwefelhölzern, hatte Liandra sie genannt. Doch sie hatte auch unmissverständlich klargemacht, dass Elea keine einfache Begabte war, die ihre Ware auf der Straße verkaufte. Glaubte sie den Worten der Königin, steckte mehr in ihr. Und sie wollte unbedingt herausfinden, was es mit den kryptischen Andeutungen der Königin auf sich hatte.

Ein letztes Mal stieß sie ihren Atem aus und hoffte, diesmal die Frosttänzer wiederzusehen. Vielleicht würde sie sich dann weniger allein fühlen. Als nichts geschah, straffte Elea die Schultern, stieß das Tor auf und trat hindurch.

5

Der Aufstieg kam Elea wie eine Ewigkeit vor. Der gut ausgebaute Weg schlängelte sich endlos zwischen den Bäumen hindurch. Auf ihrem Weg begegnete Elea weder Mensch noch Tier. Sie versuchte immer wieder durch den Nebel zu spähen, doch die Schatten zwischen den Bäumen waren undurchdringlich. So blieb es ihrer Vorstellungskraft überlassen, wie prächtig die Natur um sie herum im Sonnenlicht aussehen musste.

Bald ging es steil bergauf und Eleas Atem ging schneller. Sie marschierte weiter, zog sich aber die Mütze vom Kopf, sodass ihr das Haar über die Schultern fiel. Nach einer weiteren Wegbiegung ragte plötzlich das Schloss vor ihr auf. Elea war so erstaunt, dass sie abrupt stehen blieb und nach Luft schnappte.

Die Fassade aus mit rosa Adern durchzogenem Marmor füllte ihr gesamtes Blickfeld aus. Neben dem Hauptgebäude gab es zwei Flügel, die sich weit nach rechts und links erstreckten. Noch nie hatte Elea so viele Fenster gesehen. Die Spitzen der drei Türme waren allerdings im Nebel verborgen.

Obwohl Elea als Kind oft durch die Gitterstäbe am unteren Tor gespäht hatte, um gemeinsam mit den anderen Schaulustigen einen Blick auf eins der Wunder des Gartens zu erhaschen, war sie dem Schloss noch nie so nahe gekommen. Einen Moment lang konnte sie nur atemlos den Anblick in sich aufnehmen.

Da öffnete sich das riesige Eingangsportal aus dunklem Eichenholz. Elea zuckte zusammen. Eine düstere Gestalt trat heraus. Beim Anblick des hageren Gesichts und des sich lichtenden blassblonden Haars überkam Elea erneut die Abneigung, die sie am Tag zuvor gegen Anton verspürt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie er ihr Feuer ausgetreten und ihre Schwefelhölzer in den Schnee geworfen hatte.

»Du bist also gekommen«, sagte er. »Ich dachte, du hättest nicht genug Mumm und würdest lieber dein Leben mit den Schwefelhölzern in der Gosse verbringen.« Er grinste breit, wobei seine gelben Zähne zum Vorschein kamen.

Die Worte trafen Elea mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie ballte die Hände zu Fäusten und hätte dem alten Griesgram am liebsten einen Schneeball an den Kopf geworfen. Doch selbst hier an der Spitze des Berges gab es kaum Spuren des Winters, der draußen vor den Toren wütete.

»Kommst du nun oder willst du dort Wurzeln schlagen?«, blaffte Anton.

»Entschuldigt«, antwortete Elea mit Unschuldsmiene. »Ich wollte Euch nicht warten lassen. Da ich aus der Gosse komme, hat man mir keine Manieren beigebracht.« Sie schenkte ihm ein süffisantes Lächeln und ging die Stufen zu ihm hinauf. Verblüfft runzelte der Alte die Stirn und brummelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann bedeutete er ihr zähneknirschend, ihm zu folgen.

Als das schwere Eichentor mit einem lauten Schlag hinter Elea ins Schloss fiel, zuckte sie zusammen. Das Geräusch hatte etwas Endgültiges, als würde ein Kapitel ihres Lebens zu Ende gehen und ein neues beginnen. Elea fröstelte, zog ihren Mantel fester um sich.

»Komm schon, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, schnarrte Anton und Elea beeilte sich, ihm zu folgen.

Schweigend liefen sie durch Gänge mit hohen Wänden und stuckverzierten Decken. Überall standen Vasen auf edlen Tischen und Pflanzen in reich verzierten Kübeln. Die Fenster wurden von dicken Vorhängen mit goldenen Quasten eingerahmt. Eleas Augen wurden immer größer. Mit nur einem einzigen der Kunstwerke an den Wänden hätte sie ihre Familie sicher ein ganzes Jahr ernähren können.

»Nichts anfassen«, mahnte Anton. Hinter seinem schmalen Rücken verdrehte Elea die Augen.

Sie kamen an einem goldgerahmten Gemälde nach dem anderen vorbei. Auf allen war Königin Liandra zu sehen, mal beim Reiten auf einem prächtigen Schimmel, mal im Thronsaal mit einer funkelnden Krone auf dem Kopf.

Antons Blick blieb im Vorbeigehen an einem der Bilder hängen. Es zeigte Liandra als junge Frau, wie sie ganz in Weiß gekleidet auf einer Picknickdecke an einem Seeufer saß. Antons Züge wurden für einen Augenblick weich und Elea fragte sich, wie lange er wohl schon im Dienst der Königsfamilie stand.

Da fuhr Antons Kopf zu ihr herum und sein Blick bohrte sich in ihren. Eisige Kälte kroch Eleas Rücken hinauf. Erschrocken sah sie zu Boden und beschleunigte ihre Schritte.

Die Absätze ihrer Stiefel hallten gespenstisch durch die leeren Gänge. Auf ihrem Weg waren sie bisher niemandem begegnet. Wo stecken wohl die anderen Bediensteten der Königin?, fragte sich Elea. Hoffentlich sind nicht alle so griesgrämig wie Anton.

Als sie schließlich zu einer Treppe kamen, hielt Elea es nicht länger aus. »Wo sind denn alle?«, fragte sie. »Und wohin bringt Ihr mich? Zur Königin?«

Anton lachte schnarrend. »Du wirst die Königin noch früh genug zu Gesicht bekommen, Mädchen. Und zwar, wenn es ihr beliebt.«

Elea schluckte eine freche Antwort hinunter, umklammerte ihr Bündel fester und folgte dem garstigen Alten die breite Treppe hinauf. Sie durfte es sich nicht gleich am ersten Tag mit dem Diener der Königin verscherzen.

Am oberen Treppenabsatz bogen sie in einen schmalen Korridor mit jeweils zwei Türen auf jeder Seite ein. Anton blieb vor der ersten Tür zu ihrer Rechten stehen und zog einen großen Schlüsselbund aus der Tasche seines Fracks. Daran hingen so viele Schlüssel, dass sie laut klimpernd aneinanderschlugen. Mit einem kleinen goldenen öffnete Anton die Tür.

»Dies wird für die nächsten zehn Jahre dein Zuhause sein. Bitte versuche das Zimmer nicht abzubrennen.«

»Abbrennen?«, fragte Elea. »Warum sollte ich es …« Doch da hatte Anton sie schon hineingestoßen und die Tür hinter ihr zugeworfen. Elea fuhr herum und warf sich gegen das massive Holz. Zu spät. Der Schlüssel drehte sich im Schloss und sie war gefangen.

»He! Was soll das?« Elea trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Sie hörte, wie sich Antons schlurfende Schritte auf der anderen Seite entfernten. »Kommt zurück!«

Wieder und wieder warf Elea sich gegen das Holz. Sie rief um Hilfe und riss an der goldenen Klinke. Nichts geschah. Niemand kam, um sie herauszulassen. Auf dem Gang blieb alles still. Zitternd vor Wut wandte Elea sich schließlich von der Tür ab und sah sich im Zimmer um.

Der Raum war ganz in Rot gehalten. Die Wände, die Bettdecke, sogar die Stuhlkissenbezüge variierten in verschiedenen warmen Tönen. Elea ging an einer Kommode vorbei zu dem runden Tisch in der Mitte des Raums, um ihr Bündel darauf abzulegen. Ehrfürchtig musterte sie den riesigen Kleiderschrank, der beinahe eine gesamte Wand einnahm. Die goldenen Griffe stellten zwei Feuervögel mit ausgebreiteten Schwingen dar. Sie fühlten sich kühl an, als Elea ihre Konturen mit dem Finger nachfuhr.

Dominiert wurde der Raum von einem Himmelbett. Im Vorbeigehen strich Elea über die Laken. Noch nie hatte sie so ein großes Bett gesehen, solch seidigen Stoff berührt.

Sie trat an die breite Fensterfront und öffnete eines der Fenster. Eisiger Wind zauste ihre Haare. Selbst die Wipfel der höchsten Bäume wirkten aus dieser Höhe weit entfernt. Elea war von allem abgeschnitten.

Seufzend wandte sie sich ab und entdeckte eine zweite Tür an der Wand neben dem Bett. Mit klopfendem Herz eilte sie darauf zu. Als die Tür sich problemlos öffnen ließ, schnappte sie triumphierend nach Luft. Schon im nächsten Moment wurde ihre Hoffnung auf einen Ausweg zerstört. Sie stand in einem schneeweiß gefliesten Badezimmer mit einer luxuriösen Wanne und goldenen Pfauenhälsen als Wasserhähnen.

Schnaubend fuhr Elea herum, schlug die Tür hinter sich zu und sank auf einen der samtüberzogenen Stühle. Ihre Fingerknöchel schmerzten vom Klopfen, ihre Schuhe und Strümpfe waren noch immer durchnässt, die Füße taub. Einsamkeit überkam Elea still und kalt wie der erste Schneefall in einer Winternacht. Ihre Augen brannten, ihre Sicht verschwamm, doch sie kämpfte verzweifelt gegen die Tränen an.

Noch nie hatte sie ihren Geburtstag ohne ihre Familie verbracht. Noch nie war sie länger als ein paar Stunden von ihren Geschwistern getrennt gewesen. Nun lagen zehn einsame Jahre vor ihr. Sie hatte von einem pompösen Empfang im Schloss geträumt, hatte sich vorgestellt, wie die Königin sie prunkvoll willkommen heißen und den anderen Begabten vorstellen würde. Wie hatte alles nur so schieflaufen können?

Oder wollte Anton ihr vielleicht nur einen Streich spielen? War dies womöglich ein Test? Wollte die Königin sehen, wie Elea mit dieser Situation umging? Hatte sie gar angeordnet, Elea einzusperren? Doch warum sollte sie das tun? In ganz Fehrenlund war bekannt, dass die auserwählten Begabten mit dem größten Respekt behandelt wurden und das Leben von Prinzessinnen führten.

Aber woher weiß ich das eigentlich?, fragte sich Elea. Die Mädchen kamen nie zurück, um davon zu berichten.

Ihre Brust verkrampfte sich. Nein, sie würde jetzt nicht weinen! Trotzig zog sie die Nase hoch und wischte sich über die feuchten Wangen.

Ich werde hier warten, bis die Königin mich empfängt und sich alles aufklärt. Sicher wollte Anton mich nur für meine unüberlegten Worte bestrafen. Wir werden sehen, was die Königin dazu sagt, dass ich eingesperrt wurde.

Nach einiger Zeit hatte sich Elea so weit gefangen, dass sie die Gänsehaut auf ihren Armen bemerkte. Es gab zwar einen großen offenen Kamin, neben dem einige Holzscheite aufgestapelt waren, doch es brannte kein Feuer darin. Der Gedanke an ihre Freunde, die Flammen, heiterte Elea auf. Sie war nicht völlig allein. Das Feuer würde ihr Trost spenden.

Hoffnungsvoll trat sie vor den Kamin. Hätte sie doch nur ein paar Schwefelhölzer mitgenommen. Fast schon konnte sie die Flammen sehen, wie sie über die Holzscheite leckten. Konnte ihr Knistern und Knacken hören und die lustigen Schattenfiguren sehen, die sie über die Wände tanzen lassen würden. Sie streckte die Hände in Richtung des Kamins aus, wünschte sich so sehr, ihre Freunde zu sehen. Beinahe spürte sie die Wärme des Feuers.

Als sich die Holzscheite mit einem Zischen entzündeten, sprang Elea so erschrocken zurück, dass sie gegen einen Stuhl stieß und polternd zu Boden stürzte.

Fluchend rieb sie sich den schmerzenden Ellbogen. Dann starrte sie fasziniert in die Flammen. Was war passiert? Sie konnte es sich nicht erklären.