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Gefährliche Magie, ein düsteres College und ein geheimnisvoller Prinz Düster-romantische Fantasy an einer Akademie für schwarze Magie - der perfekte Lesestoff für die Spooky Season! Die junge Hexe Edda dachte immer, dass sie eines Tages weiße Magie praktizieren würde – bis bei ihrer Initiierungszeremonie plötzlich eine machtvolle, dunkle Kraft aus ihr herausbricht. Daraufhin wird Edda auf das ferne Crescent College geschickt. Hier soll sie lernen, ihre schwarze Magie zu meistern, doch die anderen Studierenden sind ihr weit voraus. Schwierigkeiten macht ihr auch der arrogante Morven, der die Schule zu beherrschen scheint. Als Edda allerdings sein Geheimnis aufdeckt, erkennt sie eine tiefe Verbindung ihrer Schicksale, die nicht nur ihr Herz, sondern auch ihr Leben bedroht … Der mitreißende Auftakt zur neuen romantischen Fantasy-Dilogie von Seraph-Gewinnerin Carina Schnell! Ein packender Romantasy-Roman mit »Dark Academia«-Vibes und einer Enemies-to-Lovers-Liebesgeschichte sowie den Tropes »Forced Proximity«, »He Falls Harder« und »Touch Her and Die«. Die perfekte Lektüre zu Halloween! Die »Crescent College«-Dilogie: Band 1: Her Dark Power Band 2: His Cursed Crown
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
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Redaktion: Anika Beer
Illustrationen: Marie Beschorner
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Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt
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Cover & Impressum
Illustrationen
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für alle Nachfahrinnen der Hexen, die sie nicht verbrennen konnten.
Sie werden auch uns nicht zum Schweigen bringen.
Ein Sturm zog herauf. Noch war der Himmel ein graues Niemandsland, doch der Wind trieb die gewitterschwarzen Wolken unaufhaltsam näher. Ich spürte, wie sich die Härchen an meinen Armen aufstellten. Roch den Regen, der viele Meilen entfernt bereits gegen die mit Kiefern bewachsenen Steilhänge peitschte. Schmeckte die sich ankündigende Gewalt.
Seit einem Jahr hatte ich kein Unwetter verpasst. Wie jedes Mal saß ich mitten auf der Lichtung am Rande des Moorwalds, die nackten Füße vor mir ausgestreckt, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Ich schloss die Augen, nahm meine Umgebung mit meinen anderen Sinnen sogleich viel deutlicher wahr. Tief vergrub ich die Fingerspitzen im Gras, bis ich die Feuchtigkeit weiter unten spürte. Kurz übertrumpfte der Erdgeruch den von nassem Stein. Der trockene Boden lechzte ebenso sehr nach Regen wie ich.
Das Echo des fernen Donnergrollens tanzte zwischen den umliegenden Bergen. Die die Lichtung umstehenden Eschen knarzten im Wind. Ein verheißungsvolles Knistern lag in der Luft.
Diese Augenblicke, wenn die Welt für einen Moment den Atem anhielt, nur um kurz darauf ihre Wut zu entfesseln, gehörten ganz mir. Nur in Momenten wie diesen konnte ich die Zügel meiner Selbstbeherrschung ein wenig lockern. Meine eigenen Gewitter musste ich Tag für Tag bekämpfen, damit sie meine Welt nicht unwiderruflich aus den Fugen rissen, doch damit würde morgen bei Einbruch der Nacht hoffentlich für immer Schluss sein. Dies war meine letzte Chance, mich darauf vorzubereiten. Mich der Dunkelheit in meinem Inneren, so gut es ging, zu entledigen. Ich würde sie nutzen.
Als der erste Tropfen auf meiner Stirn landete, riss ich die Augen auf. Die Wolken rasten über mir dahin, jagten einander wie Hexen bei einem Wettflug.
Den Kopf in den Nacken gelegt, sprang ich auf, breitete die Arme aus und hieß den Regen willkommen. Ich genoss die Nadelstiche auf meiner Haut, erfreute mich an dem eisigen Wasser, das mir bald in Sturzbächen über den Rücken lief.
Als der erste Blitz über die Lichtung zuckte und die Welt einen Wimpernschlag lang in gleißendes Licht tauchte, fuhr ich herum. Schneller und schneller drehte ich mich, wirbelte über die Lichtung. Das nasse Haar klatschte mir ins Gesicht, klebte mir im Nacken. Und als endlich der erste Donner ertönte, ließ ich los.
Auf einen Schlag entfesselte ich alles, was sich seit dem letzten Sturm in mir aufgestaut hatte. Rohe Macht schoss aus meiner Brust. Magie, die tief aus meinem Inneren kam und die Welt in Dunkelheit kleidete. Während Schattenfäden aus meinen Fingerspitzen zuckten, brüllte ich mit dem Sturm um die Wette. Es fühlte sich an, als hätte mich ein Blitz gespalten. Als würde ich von innen aufbrechen.
Die Erde bebte. Schwarze Adern zogen sich durchs Gras, ließen die Lichtung stellenweise aufplatzen, sodass sich Steine und Dreckklumpen unter die Regentropfen mischten.
Um mich herum stieg Rauch auf, der vom Regen erstickt wurde. Ein Baum stürzte krachend zu Boden. Ich tanzte weiter, unbeirrt und zügellos. Wirbelte um die eigene Achse, sprang in die Luft, streckte und reckte mich.
Erst als mir mein Herzschlag in den Ohren dröhnte und den Sturm übertönte, als ich kaum noch Luft bekam und sich meine Beine wie Blei anfühlten, wurde ich langsamer. Ein letztes Mal bäumte sich die Kraft in mir auf, schoss im Zickzack über die Lichtung, dann sackte ich in mich zusammen. Keuchend stützte ich die Hände auf die Knie. Mit jedem Atemzug zog sich die Dunkelheit weiter zurück, bis ich mich leer fühlte wie ein Gefäß, das erst wieder gefüllt werden musste.
Der Regen hatte nachgelassen. Der Donner war verhallt. Während sich mein hämmerndes Herz langsam beruhigte, horchte ich in mich hinein. Nichts als Stille antwortete mir.
Langsam richtete ich mich auf und schloss die Augen. Die nackten Zehen vergrub ich in der Erde. Wie ein Baum war ich nun fest mit der Welt verankert, von den Elementen umtost und doch in mir selbst ruhend. Während die letzten Tropfen auf meiner Stirn zerplatzten, wandte ich das Gesicht einmal mehr zum Himmel. Die ausgestreckten Handflächen nach oben gedreht, murmelte ich ein Gebet an Diana, Göttin der Jagd und des Mondes und Mutter allen Lebens. Nur in diesen Momenten, in denen ich eins wurde mit der Natur, fühlte ich mich der Göttin nahe. Nur dann kam ich mir nicht wie eine Verräterin vor, wenn ich das Wort an sie richtete.
»Große Mutter. Bitte gib mir die Kraft, morgen nicht zu versagen. Bitte lege deine schützende Hand über mich und hilf mir, meinen Clan stolz zu machen.«
Lange stand ich so da, wiederholte die Worte im Geist und legte alle Dringlichkeit und Demut hinein, die ich aufbringen konnte.
Als ich die Lider wieder öffnete, war das Gewitter endgültig fortgezogen. Blinzelnd sah ich mich um, nahm das ganze Ausmaß der Zerstörung in mich auf. Trotz der Regenfeuchte stieg weiterhin Rauch von dem vernarbten Land auf. Das Gras war an manchen Stellen verkohlt. Die Wurzeln des gefallenen Baums ragten wie anklagende Finger gen Himmel.
Ich, dachte ich schaudernd. Das habe ich getan.
Die Erkenntnis war nicht neu, aber immer noch furchterregend. In Gedanken reiste ich zu dem Moment zurück, an dem mich die Dunkelheit zum ersten Mal überwältigt hatte. Am ersten Tag meines einundzwanzigsten Lebensjahres. Auch heute noch, über ein Jahr später, zog sich mein ganzer Körper bei der Erinnerung zusammen. Das Entsetzen, die Hilflosigkeit, die Todesangst … Ich spürte sie, als wäre es gestern gewesen. Glücklicherweise hatte ich mich auf der Lichtung befunden, wo ich niemanden verletzt hatte, und seitdem war mir das auch weiterhin gelungen, indem ich jedes Gewitter nutzte, um mich der Finsternis zu entledigen. Ich konnte nur hoffen, dass die köstliche Leere, die ich nun an der Stelle in meiner Brust spürte, wo vorher die Dunkelheit gelauert hatte, bis morgen Abend anhalten würde.
Seufzend wackelte ich mit den Zehen, die sich schmatzend aus der Erde lösten, strich mir die nassen Strähnen aus dem Gesicht und machte mich auf den Weg zum Waldrand. Nach wenigen Schritten, bei denen meine Füße tief im matschigen Boden versanken, erreichte ich die erste Baumreihe. Mein nachtblaues Kleid mit den weißen Stickereien an Kragen und Saum klebte mir am Körper. Selbst zwischen den dicht stehenden Bäumen tropfte es überall, ein leises Trommeln, untermalt vom Brausen der höchsten Baumwipfel, die nach wie vor vom Wind geschüttelt wurden. Es roch nach feuchtem Moos und nasser Rinde, nach Verfall und Wiedergeburt zugleich.
Zielstrebig ging ich auf den Felsen zu, an dem mein Besen lehnte. Als sich meine Finger um das glatte Holz des Stiels schlossen, fuhr ein Kribbeln durch meine Hand. »Ich weiß, wir sind spät dran. Keine Sorge, wir machen uns sofort auf den Weg.«
Über die Schulter warf ich einen letzten Blick zurück auf die Lichtung, auf der ich eben noch im Regen getanzt hatte. Die Lichtung, auf der ich geboren worden war, als sich Donner und Blitz über den Himmel gejagt hatten und die Schreie meiner Mutter von den nahen Klippen widergehallt waren. Die Lichtung, auf der sie gestorben war.
Wie immer kroch bei diesem Gedanken eine lähmende Kälte in meine Brust. Unaufhaltsam drang sie in meine Glieder, und ich setzte mich eilig in Bewegung, um sie abzuschütteln. Beide Hände fest um den Besenstiel geschlossen, trat ich unter den Bäumen hervor.
Es war an der Zeit, mich meinem Schicksal zu stellen.
»Baba, ich bin zu Hause!« Sobald ich die knarzende Holztür aufstieß, drang mir der Duft unzähliger Kräuter in die Nase.
»Na endlich.«
Zwar hörte ich die melodische Stimme meiner Großmutter, die mich immer an das Glucksen des Bachs in unserem Garten erinnerte, doch ich konnte Baba in dem Chaos, das in der Stube herrschte, nicht ausmachen. Unsere Hütte barg kaum genug Platz für ihre beachtliche Sammlung. Die von der Decke baumelnden Bündel mit getrocknetem Rosmarin, Salbei, Thymian, Beifuß und Johanniskraut raschelten im Luftzug des geöffneten Fensters. Darunter mischte sich das Zischen und Brodeln des schmiedeeisernen Kessels, der im hinteren Teil des Raums über der offenen Feuerstelle hing.
Kurz blieb ich stehen und horchte in mich hinein, wie ich es seit einem Jahr vor jeder Interaktion tat. Zwar hatte ich mich meiner Dunkelheit auf der Lichtung entledigt, doch sie war so unberechenbar, dass ich mir nie sicher sein konnte, wann sie sich wieder bemerkbar machen würde.
»Durch die Nase einatmen«, murmelte ich und zählte im Kopf bis sieben. »Durch den Mund ausatmen.« Langsam stieß ich die Luft aus und wiederholte das Ganze. Erst dann setzte ich mich in Bewegung.
Babas Stimme folgend duckte ich mich unter einem Mistelzweig hindurch. Besonders vorsichtig schob ich mich an den Regalen vorbei. Darauf türmten sich Gläser voller Salben, Tinkturen, Öle und Tränke sowie Körbe mit getrockneten Kamillen-, Ringelblumen-, Schafgarben- und Holunderblüten, Baldrianwurzeln und verschiedenen Pilzsorten. Die Korbstapel hatte ich oft genug zu Fall gebracht und mir damit jedes Mal eine Extralektion in Artenbestimmung eingehandelt, wenn ich den verstreuten Inhalt wieder aufsammeln und sortieren musste.
Im schummrigen Licht machte ich eine Bewegung aus. Baba rührte in ihrem Kessel.
»Da bist du ja.« Ich tänzelte um einen an der Arbeitsplatte lehnenden Reisigbesen herum und schaffte es wie durch ein Wunder, keins der Gläser mit Babas selbst gemachtem Honig umzustoßen. Mit einem wohligen Seufzen gesellte ich mich neben sie ans Feuer. Die Flammen knisterten einladend, und ich hielt meine kalten Finger darüber, die sogleich zu kribbeln begannen.
»Ich?«, fragte meine Großmutter, ohne sich zu mir umzudrehen. Das graue Haar ergoss sich über ihren Rücken bis zu dem Gürtel an ihrer Hüfte, an dem ihr Lederbeutel baumelte. »Bei der Göttin, dasselbe könnte ich zu dir sagen. Wo hast du dich wieder herumgetrieben, Edda? Die anderen Novizinnen haben nach dir gefragt, weil du heute früh nicht zum Unterricht aufgetaucht bist.«
»Entschuldige, ich … habe die Zeit vergessen.«
»Du warst doch nicht wieder auf der Lichtung?«
Ich senkte den Blick, starrte in die tanzenden Flammen. »Du weißt, dass ich dort gut nachdenken kann.« Sie hatte keine Ahnung, was ich wirklich im Moorwald tat.
»Aber doch nicht an einem Tag wie diesem.«
»Heute ganz besonders.«
Anhand meiner belegten Stimme sah sie endlich von dem im Kessel blubbernden Gebräu auf. Ihre Miene war überraschend weich und strafte ihren strengen Tonfall Lügen. »Ich verstehe, dass du dich deiner Mutter dort nahe fühlst. Aber sie und dein Vater hätten nicht gewollt, dass du in der Vergangenheit lebst.«
Sie trat einen Schritt auf mich zu und strich mir eine feuchte Strähne aus der Stirn. »Dein Haar glänzt wie Bernstein«, hatte sie früher oft zu mir gesagt. »Wie Sonnenlicht auf meinen Gläsern mit Waldhonig.« Im Laufe des letzten Jahres waren solche Momente zwischen uns seltener geworden, was einzig und allein daran lag, dass ich mich zurückgezogen hatte – vor ihr und allen anderen.
Seufzend ließ sie die Hand sinken. »Ich habe mir bloß Sorgen um dich gemacht. Es wurden wieder Jäger in der Nähe gesichtet.«
»Was sollen die mir schon anhaben? Sie schaffen es doch sowieso nicht durch unsere Schilde.«
»Das mag stimmen, aber seit wann hältst du dich an die Regeln und bleibst innerhalb der Schutzzauber?«
»Wenn ich einem Jäger über den Weg laufe, werde ich mich zu verteidigen wissen.«
Baba schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Du klingst ja schon wie eine vom Clan der Schatten. Es liegt nicht in unserer Natur, zu kämpfen.«
»Ja, ja.« Ich winkte ab. »Wir verstecken uns lieber hinter unseren Schilden.« Sofort ärgerte ich mich darüber, die Worte ausgesprochen zu haben, denn ich wusste genau, was jetzt folgte.
»Viele unserer Schwestern sind damals in Salem gestorben, damit unsere Vorfahrinnen fliehen und überleben konnten.«
»Das ist mir klar, und ihr Opfer wird nie vergessen werden, aber …« Seufzend fuhr ich mir über das Gesicht. »… was, wenn die Schutzzauber eines Tages versagen oder die Jäger einen Weg finden, sie zu umgehen? Dann wären wir ihnen genauso ausgeliefert wie vor dreihundert Jahren. Manchmal wünschte ich mir einfach, wir würden mehr gegen sie unternehmen, statt uns immer nur zu verstecken.«
»Ich weiß, Edda. Den Kampfgeist hast du von deiner Mutter.« Kurz blitzte Verständnis in ihren eisblauen Augen auf, abgelöst von Mitgefühl. »Sie wäre so stolz auf dich.«
Ihre Worte schnitten tief in meine Brust. Denn mir war klar, dass weder sie noch meine Mutter stolz auf mich wären, wenn sie von der Finsternis wüssten, die mich langsam von innen auffraß.
Bevor ich etwas erwidern konnte, machte Baba eine scheuchende Handbewegung in meine Richtung. »Und jetzt ab mit dir. Im Unterricht zu fehlen, ist eine Sache, aber Urd wird dich in eine Kröte verwandeln, wenn du die letzte Probe vor dem großen Tag verpasst.«
**
Ich ließ meinen Besen neben Babas in der Halterung an der Hauswand zurück und machte mich zu Fuß auf den Weg durchs Dorf. Im Gehen befestigte ich meinen Lederbeutel am Gürtel, der mit Kräutern und anderen Dingen gefüllt war, die ich zum Wirken von Magie brauchte. Auch wenn ich sonst nirgendwo ohne ihn hinging, nahm ich ihn nicht auf meine geheimen Gewittertänze mit. Es fühlte sich falsch an, die Magie, die ich mit den Gaben der Göttin wirkte, mit der Dunkelheit zu mischen.
Obwohl ich spät dran war, hatte ich keine Eile. Mit jedem Schritt in Richtung Dorfplatz wuchs meine Nervosität, bis ich mich fühlte, als würde eine ganze Ameisenkolonie über meine Haut krabbeln. Immer wieder sah ich über die Schulter, spähte durch die Fensterscheiben der Hütten, an denen ich vorbeikam, weil ich das Gefühl hatte, dass aller Augen auf mir lagen. Doch die meisten meiner Schwestern gingen ihren täglichen Aufgaben nach, ohne Notiz von mir zu nehmen. Vala und Petronella harkten die Beete im Gemeinschaftsgemüsegarten, um sie für die nächste Saat vorzubereiten. Die Alte Mags hatte nur ein Nicken für mich übrig, während sie das verhexte Fass im Blick behielt, in dem sie Butter stampfte.
»Großer Tag morgen, was?«, rief Atta, die Vorsteherin des Zirkels der Heilerinnen, mir zu. Sie saß auf einer Bank vor dem gespaltenen Stamm der riesigen Eiche, in der sie lebte, und arbeitete an einem Kleid. Eine Nadel schwebte neben ihr in der Luft und bestickte den Saum mit einem komplizierten Muster. Daneben döste ihr rot getigerter Kater in der Frühlingssonne. Sein Fell wies denselben Farbton auf wie Attas Haar, das sie zu einem wilden Büschel auf ihrem Kopf drapiert hatte.
Ich blieb stehen. »Ja. Ich bin auf dem Weg zur letzten Probe.«
»Ich erinnere mich noch gut an meine Initiierung. Eine aufregende Zeit.« Wie bei allen Hexen, die die Zeremonie bereits hinter sich hatten, stahl sich ein träumerischer Ausdruck auf ihr Gesicht. »Bist du nervös?«
Ertappt verschränkte ich die Hände hinter dem Rücken und versuchte, die in mir aufflackernde Panik niederzuringen. Schließlich konnte Atta nicht ahnen, dass ich mich ebenso sehr vor dem morgigen Abend fürchtete, wie ich ihn herbeisehnte. Jedoch aus ganz anderen Gründen als die übrigen Novizinnen.
»Ja, das … sind wir wohl alle«, antwortete ich so neutral wie möglich.
Atta nickte, wobei die rötliche Haarwolke auf ihrem Kopf hin und her wackelte. »Möge die Göttin über dich wachen.«
Dankend neigte ich den Kopf. »Und über dich.«
Auf dem Rest des Wegs hielt ich den Blick starr nach vorn gerichtet, um keine weitere Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Von Weitem sah ich, dass meine Initiierungsschwestern bereits auf dem von ersten Frühlingsblumen gesäumten Dorfplatz eingetroffen waren. Sie standen dicht beisammen und tuschelten.
Atme, ermahnte ich mich. Durch die Nase ein, durch den Mund aus.
Plötzlich hob Svea den Kopf und deutete auf mich. »Da ist sie ja!«
Die anderen fünf verstummten und drehten sich zu mir um. Es war offensichtlich, dass sie über mich gesprochen hatten. Die Erkenntnis versetzte mir einen Stich. Wir waren zusammen aufgewachsen, hatten sowohl unsere Kleidung als auch unsere Träume und Wünsche miteinander geteilt, doch im Laufe des letzten Jahres hatte ich gemerkt, dass wir abgesehen davon nicht viel gemeinsam hatten – zumindest nicht das, was wirklich zählte. Denn was mich seit Monaten beschäftigte, würde ich ihnen nie anvertrauen können.
Der Gedanke ging mit einem schmerzhaften Ziehen in meiner Brust einher. Während wir früher zusammen Kleeblätter für Liebeszauber gesammelt, Obstkuchen aus der Gemeinschaftsvorratskammer gestohlen und Wettflüge veranstaltet hatten, zog ich es nun vor, allein durch den Wald zu streifen.
»Du hast Glück«, merkte Juna an, die die anderen mit ihrem schwarzen Lockenschopf um ein ganzes Stück überragte. »Urd ist noch nicht da.«
»Wir dachten schon, du kneifst.« Frigitta warf sich die braunen Wellen über die Schultern.
Aufgrund ihres abfälligen Tonfalls regte sich etwas in mir. Etwas Düsteres, das nur auf einen unachtsamen Moment lauerte. Doch ich biss die Zähne zusammen und vergrub es so tief wie möglich in mir. Atme. »Wann habe ich jemals gekniffen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Wir kriegen dich kaum noch zu Gesicht. Du bist ständig unterwegs, sagst nicht mal deiner Großmutter, wo du dich aufhältst.«
Ich öffnete den Mund, um mich zu erklären, schloss ihn jedoch wieder. Die Einsamkeit hatte ich selbst gewählt. Wie sollte ich meinen Schwestern auch begreiflich machen, dass ich sie damit bloß schützen wollte?
Um nicht unter ihren forschenden Blicken zusammenzuschrumpfen, hob ich das Kinn. »Ich bin niemandem Rechenschaft schuldig.«
Mir war bewusst, wie defensiv ich klang, doch für eine bessere Ausrede fehlte mir die Kraft. Schon viel zu lange kostete es mich all meine Energie, mich zu jeder Tages- und Nachtzeit zu beherrschen.
Bevor Frigitta etwas erwidern konnte, eilte mir Lorna zu Hilfe wie so oft in den letzten Monaten. Meine engste Freundin hakte sich bei mir unter und zog mich beiseite. »Hör nicht auf sie.« Vor einer krummen Kiefer blieb sie stehen und stützte die Hände in die Hüften. »Aber mir kannst du es sagen: Wo warst du? Warum bist du heute früh nicht zu Kräuterkunde aufgetaucht und …« Sie ließ ihren Blick über mein nach wie vor feuchtes Kleid und die schlammigen Füße wandern. »Warum siehst du aus, als hättest du mit einer Sumpfnixe gekämpft?«
Zwar hatte sie ihre sommersprossige Stupsnase gerümpft, doch gleichzeitig tanzte Sorge in ihren veilchenblauen Augen.
»Ich war im Wald unterwegs und … wurde vom Gewitter überrascht.«
Lorna musterte mich eingehend. Natürlich nahm sie mir meine Ausrede nicht ab, doch wir spielten dieses Spiel nun schon so lange, dass sie es aufgegeben hatte, nachzubohren. Auch jetzt ergab sie sich seufzend.
»Wenigstens deinen grässlichen Aufzug haben wir schnell behoben.« Sie griff in ihren Beutel, zerbröselte ein paar geröstete Sonnenblumenkerne zwischen den Fingern und pustete sie mir mit einigen gemurmelten Worten entgegen. Ein warmer Windstoß fuhr unter meinen Rock und trocknete den Stoff.
»Danke. Neuer Trick?«
»Ja, ich habe ein bisschen herumexperimentiert und herausgefunden, dass du die durch das Rösten erzeugte Wärme speichern und beliebig wiederverwenden kannst. Funktioniert aber nur, wenn die Sonnenblume bei Vollmond geerntet wurde. Das verstärkt auch die wundheilende Kraft des daraus gewonnenen Öls.«
»Du wirst eine großartige Heilerin werden.«
Grinsend strich sie sich das blonde Haar hinter die Ohren. »Nicht wahr?« Schnell wurde ihre Miene jedoch wieder ernst. Nach einem raschen Blick zu den anderen senkte sie die Stimme. »Ich weiß, dass du wegen morgen nervös bist. Das sind wir alle. Aber du wirst doch nichts Leichtsinniges tun, oder?«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Erschrocken suchte ich in ihrem Gesicht nach einem Anzeichen darauf, dass sie von meinem Geheimnis wusste. Doch das war unmöglich. Niemand wusste davon. Nicht einmal Baba. Im Laufe des letzten Jahres hatte es unzählige Momente gegeben, in denen ich kurz davor gewesen war, mich meiner besten Freundin anzuvertrauen, doch tief in mir drin wusste ich, dass sie es nicht verstehen würde. Und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie mich danach mit anderen Augen sehen würde.
»Natürlich nicht.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Du kennst mich doch.«
Lorna schnaubte. »Gerade deshalb mache ich mir ja Sorgen.«
»Du kannst mir meine Nervosität nicht verdenken. Bei dir ist es so gut wie sicher, dass du bei den Heilerinnen landest. Aber ich habe mich mein Leben lang keinem Zirkel zugehörig gefühlt.« Ich begann, an den Fingern abzuzählen. »Ich bin eindeutig keine Kräuterhexe wie meine Großmutter …«
Lorna winkte ab. »Bisher hat dir bloß die Geduld gefehlt, um die Wirkung und Einsatzweise von Kräutern zu studieren, aber das heißt nicht …«
»Und im Gegensatz zu dir«, nahm ich meine Argumentationskette wieder auf, »habe ich bisher auch kein besonderes Talent fürs Heilen gezeigt.«
Ihre Brauen schossen triumphierend in die Höhe. »Was dich zur perfekten Kandidatin für den dritten Zirkel macht.«
»Nicht das schon wieder«, grummelte ich. Mir war bewusst, dass mich einige Schwestern aufgrund meiner anderweitig fehlenden Gaben bereits hinter vorgehaltener Hand als nächste Weise Frau handelten. Zwar würde ich es nie offen zugeben, doch es war meine große Hoffnung für den morgigen Abend. »Seit fast einem Jahrhundert hat keine Hexe unseres Clans mehr alle drei Fähigkeiten in sich getragen, die sie als Weise Frau qualifizieren würden. Ich bin da keine Ausnahme.«
»Das weißt du nicht mit Sicherheit. Manche Gaben offenbaren sich erst mit zunehmendem Alter. Du könntest Urd fragen, wie es bei ihr war.«
»Ich möchte ihr lieber nicht zu nahe treten. Sie ist … einschüchternd.« Das war nicht die ganze Wahrheit über meine Beweggründe, mich von Urd fernzuhalten, aber wenigstens ein Teil davon.
»Du hast recht.« Verstohlen spähte Lorna zwischen die umstehenden Bäume und senkte die Stimme. »Ich frage mich immer, wie viel sie tatsächlich sieht und hört.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Unmöglich zu sagen. Aber wir sollten trotzdem vorsichtig sein. Sie ist wahrscheinlich schon in der Nähe.«
Der Gedanke schien Lorna Angst einzujagen, denn sie verstummte augenblicklich. In stillem Einverständnis gingen wir zu den anderen zurück. Erneut lagen die Blicke unserer Initiierungsschwestern schwer auf mir. War das Misstrauen auf ihren Zügen? Ahnten sie, was ich vor ihnen verbarg, oder verlor ich langsam den Verstand?
Durch die Nase ein, durch den Mund aus.
»Nivard ist übrigens immer noch nicht aufgetaucht«, flüsterte Lorna und riss mich damit aus meinen düsteren Überlegungen. Ich wusste, wie sehr sie sich auf ein Wiedersehen mit dem Hexer freute, mit dem sie den letzten Sommer verbracht hatte. Seit Tagen wachte sie über den Eingang zum Dorf, in der Hoffnung, dass er doch noch auftauchen würde, wie er es ihr versprochen hatte. Im Vergleich mit meinen waren ihre Probleme geradezu erfrischend normal. »Langsam glaube ich, dass er nicht kommen wird.«
»Da wäre er nicht der Einzige. Es ist schon länger her, dass wir Hexer zu Gesicht bekommen haben.« Meist waren sie Nomaden, die umherzogen und sich nur für wenige Wochen oder Monate in unserem Clan niederließen. Normalerweise tauchten einige an hohen Feiertagen auf, um mit uns zu feiern. Wenn eine Hexe Interesse an einem von ihnen bekundete und ihn sich zum Geliebten nahm, wurde oft neun Monate später Nachwuchs im Clan begrüßt. Auch ich hatte auf diese Weise das ein oder andere Abenteuer erlebt, jedoch immer darauf geachtet, im Nachhinein die richtigen Kräuter einzunehmen.
»Als er letzten Sommer gegangen ist, hat er gesagt, er würde dem Clan der Schatten im Herbst einen Besuch abstatten wollen. Er war fasziniert von den Gerüchten über ihre rauschenden Feste und wollte Samhain dort verbringen. Glaubst du, sie haben ihn vielleicht nicht wieder gehen lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Die dunklen Hexen sind zwar für ihre grausamen Praktiken bekannt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einen fahrenden Hexer gefangen nehmen würden. Aus welchem Grund? Etwa, um ihn ihrem Dunklen Meister zu opfern?«
Es sollte ein Scherz sein, doch Lorna verzog das Gesicht. »Es ist wohl einfacher, mir vorzustellen, dass er irgendwo festgehalten wird, als mir einzugestehen, dass ich ihm nicht genug bedeute, damit er sein Versprechen mir gegenüber einlöst.«
Tröstend legte ich ihr einen Arm um die Schultern. »Morgen ist dein Tag«, erinnerte ich sie. »Lass dir deine Freude nicht von Nivard trüben.«
»Es ist unser Tag«, korrigierte sie mich. »Und du hast recht. Wir dürfen uns keine Ablenkungen erlauben.«
Als würde sie Lornas Worte unterstreichen wollen, tauchte Urd im selben Moment zwischen den Bäumen auf und betrat den Platz. Auf ihrer Schulter saß Eila, ihre Schnee-Eule. Ihr Gefieder war so weiß wie Urds Haar, das ihr in dicken gefilzten Strähnen über den Rücken fiel und einen starken Kontrast zu ihrer umbrabraunen Haut bildete. Schon immer hatte ich sie für ihre tierische Begleiterin bewundert. Nur die mächtigsten Hexen besaßen solche sogenannten fridils, die auch als Manifestation eines Splitters ihrer Seele bezeichnet wurden.
Ich musste den Drang unterdrücken, vor ihr zurückzuweichen. So weit es mir möglich gewesen war, hatte ich während der ersten beiden Proben Abstand zu ihr gehalten. Als Weise Frau war sie die Einzige, die mein Geheimnis erschnüffeln, die Einzige, die mich der Lüge überführen könnte. Bisher hatte sie mir jedoch keinen Grund zur Sorge gegeben. Ebenso wie die männlichen Hexen mischte sich das älteste Mitglied unseres Clans sonst nur selten unter uns.
Nachdem Urd uns mit ihrer rauen Stimme begrüßt hatte, trat Iska vor. Nervös spielte sie mit einem ihrer langen kornblonden Zöpfe und warf den anderen einen Blick zu. Offenbar hatten sie sich abgesprochen und Iska als Sprecherin der Gruppe auserkoren. Ich versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich verletzte, dass sie mich nicht in ihr Vorhaben eingeweiht hatten.
»Kannst du sehen, in welchen Zirkeln wir morgen unterkommen werden?«, wandte sie sich an Urd.
Diese schürzte die Lippen. Durch die trübweißen Schlieren, die durch ihre Augen zogen, konnte ich unmöglich sagen, was und wie viel sie tatsächlich damit sehen konnte. »Ich bin ein Gefäß der Göttin, empfange, was sie mir schickt. Und es liegt weder in ihrem noch in meinem Interesse, die Ungeduld junger Frauen zu belohnen. Ihr werdet bis morgen warten müssen.«
Vesna kam Iska zu Hilfe. »Aber du hast doch sicher eine Einschätzung, oder? Eine Ahnung, in welchen Zirkel wir am besten passen würden?«
Tadelnd schnalzte Urd mit der Zunge. »Am morgigen Tag geht es für euch nicht nur darum, einem der drei Zirkel beizutreten. Euer wahres Ich wird sich euch während der Zeremonie offenbaren, und euer ganzes magisches Potenzial wird sich endlich entfalten. Von diesem Zeitpunkt an werdet ihr eure Talente für genau den Zweck einsetzen, für den die Göttin sie euch geschenkt hat, und euren angestammten Platz im Clan einnehmen. So wie alle Hexen vor euch und alle, die nach euch kommen werden.«
Bei ihren Worten drehte sich mir der Magen um. Was, wenn mein wahres Ich ausschließlich aus Dunkelheit bestand? Wenn ich meinem Clan nichts anderes zu bieten hatte? Würde die Zeremonie alles ans Licht bringen, was ich so sorgfältig zu verstecken versuchte?
»Und jetzt genug mit den Spekulationen.« Urd klatschte in die Hände. »Ihr kennt die Abfolge. Stellt euch auf.«
Wie wir es bereits vielfach geübt hatten, reihten wir uns nebeneinander ein. Im Gegensatz zu den anderen Novizinnen, die hoch konzentrierte Mienen zur Schau trugen, grübelte ich nach wie vor über Urds Worte nach. So abgelenkt war ich, dass ich beinahe über meine eigenen Füße stolperte, als ich mich auf meinen Platz neben Lorna stellte. Während Urd nochmals den Ablauf der morgigen Zeremonie erklärte, wurde meine Aufmerksamkeit von einem Specht erregt, der am Stamm der Kiefer hockte und mit dem Schnabel gegen die Rinde hämmerte. Sein rotes Köpfchen und das schwarz-weiß gemusterte Federkleid stachen aus dem Zwielicht zwischen den Bäumen heraus. Je mehr ich mich auf Urds Worte zu konzentrieren versuche, desto lauter schien sein Klopfen zu werden. Es hallte in meinem Kopf wider und vermischte sich mit meinem donnernden Herzschlag.
»Wir beginnen mit einem Gebet, um die Göttin um ihre Führung zu bitten.«
Meine Schwestern senkten die Köpfe, schlossen die Augen und begannen im Chor zu rezitieren.
»Du bist die Erde unter unseren Füßen, nährst uns mit deinen Gaben.«
Ich beeilte mich, mit einzustimmen, doch da klopfte es erneut. Verstohlen öffnete ich die Lider, um zu dem Specht zu spähen. Er sah sich aufmerksam in alle Richtungen um.
»Du bist das Wasser, das uns erfrischt und reinigt.«
Er schlug ein paarmal mit den Flügeln, als wolle er testen, ob sie ihn trugen.
»Du bist das Mondlicht, das unsere Träume bereichert.«
Mit einem heiseren Krächzen erhob er sich in die Luft. Mein Herz machte einen sehnsüchtigen Satz, als er dicht über meinen Kopf flog und dann, von einer Brise getragen, gen Himmel aufstieg.
»Du herrschst über Tod und Wiedergeburt im ewigen Kreislauf des Lebens …«
Während ich die Augen wieder schloss und die Worte murmelte, folgte ich in Gedanken dem Specht. Höher und höher flogen wir. Weit fort von hier. An einen Ort, an dem ich vollkommen frei von all meinen Ängsten und Sorgen war.
Im Traum wurde ich von der Dunkelheit gejagt. Ich rannte und rannte, konnte ihr jedoch nicht entkommen. Als ich einen Blick über die Schulter warf, erkannte ich, dass es nicht die Dunkelheit selbst, sondern eine düstere Gestalt war. Doch sosehr ich es auch versuchte, ich konnte ihre Züge nicht unter der schwarzen Kapuze ausmachen. Sie packte mich, wirbelte mich herum, und wir tanzten um ein riesiges Feuer. Ich rief um Hilfe, doch ihr Griff war unerbittlich. Wir drehten uns immer schneller, bis ich kaum mehr Luft bekam. Mit einem Schlag erloschen die Flammen, und ich wurde von der Finsternis verschlungen.
Keuchend riss ich die Augen auf und brauchte einen Moment, um mich zu orientieren. Die Balken hoch über meinem Kopf, der Geruch von Seife und Holzrauch, das vertraute Gewicht der Wolldecke. Ich war zu Hause. Ich war in Sicherheit.
Während ich versuchte, meine Atmung in den Griff zu bekommen, horchte ich tief in mich hinein. Nach wie vor war da nichts als Leere, auch wenn ich die Dunkelheit eben im Traum so deutlich gespürt hatte. Ich betete, dass sie am heutigen Tag fortbleiben würde. Dass ich die Zeremonie überstehen würde, ohne den anderen mein wahres Ich preiszugeben.
Mit aller Kraft klammerte ich mich an diese Hoffnung, während ich mir das wirre Haar aus dem Gesicht strich und mich aufsetzte. Staub schwebte im fahlen Morgenlicht, das durch mein Fenster hereinfiel und die Schatten der Nacht vertrieb. Das Nachthemd klebte mir am verschwitzten Körper, und mein Atem ging nach wie vor zu schnell. Ich brauchte dringend frische Luft, um auch noch die letzten Fetzen des Albtraums aus meinem Kopf zu vertreiben. Also schwang ich die Beine über die Bettkante, schnappte mir das nächstbeste Kleid aus dem Schrank und verschwand nach draußen.
Der Geruch von feuchter Erde und Moos empfing mich. Die Luft war kühl, trug noch einen letzten Hauch von Winter mit sich, auch wenn wir heute Nacht den Beginn der warmen Jahreszeit feiern würden. Es war so früh, dass in den Fenstern der benachbarten Hütten noch keine Kerzen brannten. Nur wenige Vögel hatten bereits ihr erstes Lied des Tages angestimmt.
Ich blickte auf. Der brodelnde Himmel war ein Abbild meines Inneren. Graue Wolken türmten sich auf, trieben schnell dahin, als wären sie ebenso rastlos, wie ich mich fühlte. Sie brachten jedoch nur Regen, kein Gewitter. Keine zweite Chance, um mich vor heute Abend nochmals der Dunkelheit zu entledigen und so rein zu werden wie irgend möglich, bevor ich vor die Göttin trat.
Bei dem Gedanken an die Zeremonie kroch Übelkeit meine Kehle hinauf. Der Fluchtinstinkt wurde so stark, dass ich am ganzen Körper zu zittern begann. Mein Blick schoss zu meinem Besen, der neben Babas in seiner Halterung an der Wand wartete. Es wäre ein Leichtes, einfach aufzusteigen und davonzufliegen. Diesen Ort, der mir in den letzten Monaten stetig mehr wie ein Gefängnis vorgekommen war, zu verlassen, und irgendwo ein neues Leben anzufangen.
Es kostete mich all meine Willenskraft, den Besen stehen zu lassen und stattdessen die Hütte zu umrunden. Das Plätschern des kleinen Bachs, der sich durch unseren Garten zog, begrüßte mich. Mit einem Satz sprang ich über das glasklare Wasser und entschwand in den Wald – den Ort, der mir stets Trost gespendet hatte.
Ziellos streifte ich umher, während die Welt um mich herum erwachte. Nichts als der gelegentliche Schrei einer Eule begleitete mich, während ich tief zwischen die Bäume vordrang. Baba würde mit dem Frühstück auf mich warten, doch ich konnte mich nicht dazu durchringen, umzukehren und nach Hause zu gehen.
Höher und höher kletterte die Sonne, weiter und weiter lief ich, vorbei an den vertrauten Bäumen und Büschen, bis ich schließlich das Schimmern unseres Schutzzaubers in der Luft ausmachte. Wie von selbst hatten mich meine Füße an diese Stelle getragen, an der ich schon oft hindurchgeschlüpft war.
Sterblichen Wanderern würde hier nichts Ungewöhnliches auffallen, doch sie würden aus unerklärlichen Gründen den starken Drang verspüren, umzudrehen und einen anderen Pfad zu nehmen. Bisher hatten selbst die Hexenjäger keinen Weg hineingefunden, doch schon seit meiner Kindheit ahnte ich, dass es nur eine Frage der Zeit war. Früher hatten mich oft Albträume geplagt, in denen sie mitten in der Nacht in unser Dorf stürmten und alle Hütten in Brand steckten. Auch wenn wir hier bereits seit Jahrhunderten sicher waren, ahnte ich, dass es auf lange Sicht nicht reichen würde, wenn wir nicht lernten, uns zu verteidigen.
Meine Haut begann zu kribbeln, als ich auf das Schimmern zulief. Mit verengten Augen spähte ich hindurch. Auf der anderen Seite stieg das Land an. Aus der Luft sah die vor mir liegende Hügelkette aus wie der Rücken eines schlafenden Drachen, der sich aus dem grünen Ozean des Waldes reckte, von hier aus war es hingegen nichts weiter als ein mit Bäumen bewachsener Steilhang.
Direkt vor der magischen Grenze blieb ich stehen. Baba hatte gesagt, dass Jäger in der Gegend gesichtet worden waren. Die Vorstellung, ihnen dort draußen zu begegnen, ließ mein Herz schneller schlagen. Jedoch war die Furcht vor einem Kampf nichts im Vergleich zu der Furcht vor dem heutigen Abend. Ich hob eine Hand, streifte das Schimmern mit den Fingerspitzen. Das davon ausgehende Prickeln war nicht schmerzhaft, sondern verheißungsvoll. Mein Körper drängte mich, die Grenze zu überschreiten, lechzte nach der Gefahr, dem Nervenkitzel, der Freiheit, die auf der anderen Seite auf mich warteten.
Sollte ich es wagen? Ein letzter Ausflug, bevor ich mich meinem Schicksal ergab? Oder einfach immer weiterlaufen und nie mehr zurückblicken? Letzteres wäre jedoch unumkehrbar. Wenn ich meinem Clan einmal den Rücken kehrte, würde ich mich hier nie wieder blicken lassen können. Dafür waren die Regeln zu streng und meine Schwestern zu festgefahren in ihrer Denkweise. Und wo sollte ich auch hin? Obwohl ich als Kind immer davon geträumt hatte, die endlosen Wälder meiner Heimat zu verlassen, war mir die Welt da draußen fremd.
Trotz allem schien sie mich nun zu rufen, zu locken, sodass ich noch dichter vor das Schimmern trat. Da war ein Säuseln im Wind, ein Versprechen auf ein besseres Leben, wenn ich es nur endlich wagte, mich von meinen Fesseln zu befreien. Ich straffte die Schultern und wappnete mich für das noch viel stärkere Prickeln, das meine Haut überziehen würde, wenn ich durch den Schild trat.
»Ist das klug?«, schnarrte eine Stimme hinter mir.
Ich zuckte zusammen und fuhr herum.
Ein paar Schritte entfernt saß Urd auf einem umgestürzten Baumstamm. Hoch über ihrem Kopf thronte ihr fridil und musterte mich mit schief gelegtem Kopf. Meine Wangen brannten. Ich erinnerte mich an die Eulenschreie, die mich auf meinem Weg begleitet hatten. War sie mir die ganze Zeit über gefolgt?
»Was macht ihr hier?«, entfuhr es mir. Ich klang anklagender als beabsichtigt. Dabei war ich es doch, die gerade bei etwas Verbotenem erwischt worden war.
Die vielen Runzeln in Urds Gesicht vertieften sich, als sie leise lachte. »Ich wohne ganz in der Nähe. Was ist deine Ausrede?«
Sofort fühlte ich mich noch törichter. Natürlich wusste ich, dass Urd in einer Hütte auf der nahen Hügelkuppe lebte. Vage erinnerte ich mich daran, als Kind ein paarmal bei ihr zu Besuch gewesen zu sein. Wie es Brauch war, hatte Baba mich für Weissagungen zu ihr gebracht, doch ich war so klein gewesen, dass ich mir keine Details ins Gedächtnis rufen konnte.
»Setz dich und mach eine Pause.« Seelenruhig klopfte sie neben sich auf den Baumstamm. »Es ist ein weiter Weg bis nach Hause, und du solltest heute Abend in vollem Besitz deiner Kräfte sein.«
Würde sie mir keine Vorhaltungen darüber machen, dass ich im Begriff gewesen war, eine der strengsten Regeln unseres Clans zu brechen? Schlimmer noch: Ahnte sie, dass ich mehr vorgehabt hatte, als bloß den Schutzschild zu passieren?
Neuerliche Verzweiflung brandete in mir auf. Ich warf einen Blick zum Himmel. Durch den Stand der Sonne, die ich gerade so über den Wipfeln ausmachen konnte, erkannte ich, dass es bereits nach Mittag war. Urd hatte recht. Wenn ich es pünktlich nach Hause schaffen wollte, musste ich bald umkehren. Mein Herz sank.
Vorsichtig näherte ich mich Urd und setzte mich in gebührendem Abstand neben sie. Die einzige Weise Frau unseres Clans sah mich nicht direkt an, schien ihre Umgebung allgemein nicht mit den Augen, sondern mit einem ganz anderen Sinn wahrzunehmen. Die Schlieren, die unentwegt durch ihre Pupillen waberten, hatten dieselbe Farbe wie die gefilzten Strähnen ihres Haars, die sie heute hochgesteckt trug.
»Was beschäftigt dich, Kind?«
Erst wollte ich aufbrausen, doch dann erinnerte ich mich daran, dass sie so gut wie alle Personen mit »Kind« ansprach, was ihr durch ihr stolzes Alter zweifellos zustand. Niemand wusste, wie alt Urd wirklich war. Sie war schon immer da gewesen – zwar ein Teil des Clans, aber vor allem eine stille Beobachterin, die nur einschritt, wenn es nötig war. »Sie war schon alt, als ich geboren wurde«, pflegte Baba zu sagen.
Ich musterte sie von der Seite. Ihre umbrabraunen Züge strahlten eine tiefe Weisheit und Klarsicht aus, die weit über jene aller anderen Hexen hinausging, die ich kannte. Ich fragte mich, wie viel sie über mich wusste. Konnte sie in diesem Moment meine Gedanken lesen? Spürte sie das Flattern der Panik, das ich kaum mehr unterdrücken konnte? Das kalte Gewicht der Angst, die ich seit einem Jahr mit mir herumschleppte?
»Du fragst dich, ob ich dich lesen kann wie ein offenes Buch.«
Erschrocken fuhr ich zusammen. »Das … äh … ich …«
»Sicher weißt du, dass eine Hexe drei Voraussetzungen erfüllen, genauer gesagt über drei verschiedene Gaben verfügen muss, um den Titel der Weisen Frau verliehen zu bekommen?«
Ich nickte. »Das Fühlen, also die Emotionen anderer spüren und beeinflussen zu können. Das Hören, die Gedanken anderer Personen zu vernehmen. Und das Sehen, durch Visionen einen Einblick in die Zukunft zu erhalten.«
»Richtig. Diese Gaben sind allerdings bei jeder Weisen Frau anders ausgeprägt und zeigen sich auf höchst unterschiedliche Arten. Ich kann deine Gedanken nicht hören, aber wenn du dich in meiner Nähe aufhältst, bekomme ich eine Ahnung davon, was dich beschäftigt.«
Das beruhigte mich nur geringfügig, denn mir war klar, dass ich Urd trotzdem nichts vormachen konnte. Schließlich hatte sie schon bei meiner Geburt Dinge über mein Leben vorhergesehen. Wie viel wusste sie wirklich über mich? Und wie viel hatte sie Baba erzählt?
Sie gab nichts preis, schien darauf zu warten, dass ich mich ihr anvertraute. Doch das konnte ich nicht tun. »Ich … fühle mich nicht bereit für heute Abend«, stammelte ich. Das kam der Wahrheit so nah wie möglich.
»Wenn ihr jungen Frauen euch auch um andere Dinge so viele Gedanken machen würdet wie um euren Ruf …« Urd seufzte. »Ja, es ist ein wichtiger Moment, ein Privileg, im Beisein des gesamten Clans der Göttin vorgeführt zu werden und ihren Segen zu empfangen. Aber es ist kein Grund, sich zu fürchten. Die Zeremonie hat lediglich symbolischen Charakter.«
»Aber was, wenn … das Ergebnis anders ist als erhofft?« Anders als alles je Dagewesene, fügte ich in Gedanken hinzu. »Es ist noch nie vorgekommen, dass eine Hexe keinem der drei Zirkel zugeordnet werden konnte, nicht wahr?«
Bedächtig schüttelte Urd den Kopf. »Das ist in der Tat noch nie passiert.«
»Was würde mit einer Hexe geschehen, die … nirgendwo reinpasst?«
Ihr entwich ein leises, raues Lachen, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten. »Du stellst die falschen Fragen, Edda.«
Verständnislos blinzelte ich sie an.
»Die Zeremonie ist bloß eine Zeremonie, aber die Große Mutter kennt dich seit deiner Geburt. Dein tiefstes Inneres, all deine Wünsche und Gedanken. Du kannst nichts vor ihr verbergen, nicht vor ihr davonlaufen.«
Ich schnappte nach Luft und grub die Finger in die raue Borke. Der Gedanke, dass die Göttin mich so sah, wie ich wirklich war, mit all der Dunkelheit, den Lügen und Geheimnissen, die ich seit einem Jahr mit mir herumtrug, war zu viel. Sie konnte mich unmöglich als eine ihrer Töchter akzeptieren.
Ich wollte aufspringen, losrennen, fliehen, doch Urd wusste ganz offensichtlich, was ich vorhatte. Deshalb war sie genau zum richtigen Zeitpunkt hier aufgetaucht: Um mich davon abzuhalten, davonzulaufen. Mit einem Schlag wurden jegliche Hoffnungen, die ich bisher gehegt hatte, zunichtegemacht. Ich fühlte mich wie ein Kaninchen, das einem Fuchs in die Falle gegangen war. Was würde Urd tun, wenn ich dennoch einen Fluchtversuch wagte? Würde sie mir ihre Eule hinterherschicken, mich womöglich von den anderen aufspüren und zum Heiligen Hain zerren lassen?
Langsam erhob ich mich, um mich von ihr und ihrem fridil mit den allwissenden Augen zu entfernen. »Ich muss dann jetzt gehen und mich für die Zeremonie fertig machen.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Eine weise Entscheidung.« Urd zeigte keinerlei Regung. Mein Sinneswandel schien sie nicht zu überraschen. Nach einem letzten Nicken in ihre Richtung floh ich in den Wald.
»Auch für dich hat die Göttin einen Plan, Edda«, rief Urd mir hinterher. »Schon sehr bald wird sich dir ihr Wille offenbaren.«
Die Worte klangen wie eine Drohung. Sie verfolgten mich bis nach Hause.
Als ich vor unsere Hütte trat, stand die Sonne tief. Der vertraute Anblick des windschiefen Dachs, der trüben Fensterscheiben und moosbewachsenen Schindeln stürzte mich noch tiefer in meine Verzweiflung. Würde Urd den anderen erzählen, wobei sie mich erwischt hatte? Würden sie mich bestrafen?
Grauenvolle Bilder schossen durch meinen Kopf. Urd, wie sie vor allen anderen mit einem anklagenden Finger auf mich zeigte und dem Clan mein Geheimnis offenbarte. Baba, die sich mit entsetzter Miene von mir abwandte. Der Altar im Heiligen Hain, der durch meine verderbte Kraft auseinanderbrach, statt mir zu offenbaren, zu welchem Zirkel ich gehörte. In keinem dieser Szenarien ging die Zeremonie gut für mich aus.
Mein Blick zuckte zu meinem Besen. Einmal mehr war ich kurz davor zu fliehen. Zwischen die Wolken zu schlüpfen und nicht zurückzuschauen. Doch das wäre zwecklos, wie Urd unmissverständlich klargemacht hatte.
»Die Große Mutter kennt dich seit deiner Geburt. Dein tiefstes Inneres, all deine Wünsche und Gedanken. Du kannst nichts vor ihr verbergen, nicht vor ihr davonlaufen.«
Meine Brust zog sich so schmerzhaft zusammen, dass ich nach Luft schnappte. Denn was sie damit eigentlich meinte, war: Ich konnte nicht vor mir selbst davonlaufen.
Resigniert fuhr ich mit den Fingern über das raue Holz der Tür, stellte mir vor, wie Baba dahinter krank vor Sorge auf mich wartete. Und in diesem Moment wurde mir klar, dass ich es nicht über mich bringen würde, sie zurückzulassen. Diese Frau, die ihre Tochter verloren und mich aufgezogen hatte, als wäre ich ihr eigenes Kind. Die meine Schürfwunden und Krankheiten geheilt, mich in den Schlaf gewiegt und mir meinen ersten Besen geschenkt hatte. Ich war die einzige Familie, die sie hatte, und bei der Göttin, ich würde sie nicht dermaßen im Stich lassen.
Meine Finger zitterten, als ich sie um die Klinke schloss. Atme. Durch die Nase ein, durch den Mund aus.
Als ich eintrat, sah Baba von ihrer Strickarbeit auf. Sie saß in ihrem Schaukelstuhl neben dem Regal voller alter, in Leder gebundener Bücher, die seit Generationen in Familienbesitz waren und sogar die Flucht aus Salem überlebt hatten. In Vorbereitung auf die heutigen Beltanefeierlichkeiten hatte sie ihr graues Haar an manchen Stellen zu Zöpfen geflochten und mit Perlen und Federn verziert. Ich musterte ihr vertrautes Gesicht, in das sich trotz ihres hohen Alters nur wenige Falten gruben, las die Anklage in ihren eisblauen Augen. Was konnte sie in meinen erkennen?
Ein paar Herzschläge lang sahen wir uns nur an.
»Uns bleibt wenig Zeit, um dich für die Initiierungszeremonie herzurichten«, sagte sie schließlich mit einem Nicken in Richtung meiner schlammverkrusteten Füße. »Wie es aussieht, hast du ein Bad dringend nötig.«
Zu meiner Überraschung fragte sie mich nicht, wo ich mich herumgetrieben hatte, wie es in den letzten Monaten zwischen uns zur Gewohnheit geworden war. Ob aus Zeitmangel oder Resignation – ich wusste es nicht.
Eilig schluckte ich sämtliche Ausreden herunter, die ich mir überlegt hatte, und nickte. »Ich gehe mich waschen.«
Als Baba sich erhob, verzog sie das Gesicht und stützte sich auf der Lehne ab. Sofort war ich bei ihr und schlang ihr einen Arm um die Hüfte.
»Was ist los? Macht dir deine alte Verletzung zu schaffen?«
Sie winkte ab. »Es ist das Wetter. Die Feuchtigkeit kriecht mir in die Gelenke.«
Tatsächlich fiel mir auf, dass sie stärker humpelte als sonst. Das schlechte Gewissen, weil ich sie den ganzen Tag über allein gelassen und beinahe für immer verlassen hatte, traf mich wie ein Schlag in den Magen. Um mir nichts anmerken zu lassen, wandte ich mich ab und holte ihren Eichenstab. Ich reichte ihn ihr, ohne ihrem Blick zu begegnen, und sie nahm ihn bereitwillig entgegen.
»Geh schon vor. Ich erhitze Wasser für dein Bad.«
»Danke.« Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass sie zurechtkommen würde, schlüpfte ich in mein Zimmer.
Als die Tür hinter mir ins Schloss fiel, lehnte ich mich mit dem Rücken dagegen. Beinahe wehmütig ließ ich den Blick durch den Raum schweifen, der nach heute Abend nicht mehr meiner sein würde, egal, was passierte. Dabei blieb ich an dem Gewand hängen, das Baba schon auf dem Bett für mich bereitgelegt hatte. Allein der Anblick des muschelweißen Stoffs brachte die Panik tausendfach verstärkt zurück.
Atme.
Statt das Kleid aufzuheben und damit ins Bad zu gehen, schloss ich die Augen, versuchte, mich ganz auf meine Atmung zu konzentrieren. Langsam ließ ich meine linke Hand über den Türrahmen nach unten gleiten, bis ich eine Unebenheit spürte. Mit den Fingerspitzen fuhr ich über die ins Holz geritzten Einkerbungen. So oft hatte ich das schon getan, dass das Holz drum herum ganz glatt war. Vier Bergspitzen, zwei Täler. M.M.
Die Initialen waren Teil der wenigen Dinge, die meine Mutter auf dieser Welt zurückgelassen hatte. Einst war dies ihr Zimmer gewesen. Doch das sorgte nicht dafür, dass ich mich ihr hier näher fühlte. Vielmehr war es der Ort ihres Todes, an den es mich immer wieder zog.
Meine Kehle schnürte sich zusammen. Hatte Mabona am Tag ihrer Initiierung wohl auch an dieser Stelle gestanden? Hatte sie die Buchstaben womöglich erst kurz vorher ins Holz geritzt? Hatte sie sich ebenfalls vor der Zukunft gefürchtet und nicht gewusst, wo ihr Platz war?
»Das Wasser ist warm«, drang es gedämpft durch die geschlossene Tür.
Ich zuckte zusammen. »Danke!« Die Panik in meiner Stimme war kaum zu überhören. Eilig räusperte ich mich, stieß mich vom Rahmen ab, schnappte mir das Kleid vom Bett und eilte ins Bad.
Der Raum wurde von einer gusseisernen Wanne dominiert. Daneben stand ein Krug Wasser auf einem Schemel. Wie in Trance führte ich die vertrauten Handgriffe aus, gab ein paar Tropfen Wasser in die Wanne und hielt meine Hand darüber, um die Verbindung herzustellen. Als ich die Tropfen unter meinen Fingerspitzen vibrieren spürte, tastete ich im Geist nach dem Wasser, das Baba in der Stube für mich erhitzt hatte, und rief es im Namen der Göttin herbei. Nur wenige Herzschläge später füllte sich die Wanne damit. Ich streute noch ein paar Flocken von der Rosenblütenseife darüber, die Baba mir zur Wintersonnenwende geschenkt hatte, und öffnete meinen Gürtel. Vorsichtig löste ich meinen Beutel und legte beides auf den Boden. Dann schälte ich mich aus meinem dreckigen Kleid.
Als ich einen Fuß in das warme Wasser tauchte, entwich mir trotz meiner inneren Unruhe ein wohliges Stöhnen. Langsam ließ ich mich hineingleiten, tauchte einmal ganz unter und lehnte den Kopf danach gegen den Wannenrand. Rinnsale liefen mir über das Gesicht, tropften von meinem Kinn und erzeugten kleine Wellen auf der milchig trüben Oberfläche. Ich beobachtete, wie sich die Seifenschlieren an meinen Körper schmiegten, und nahm mir einen Moment, um den Rosenduft einzuatmen und mein donnerndes Herz zu beruhigen.
Da klopfte es an der Tür.
Ich drehte den Kopf. »Herein.«
Auf ihren Stab gestützt, trat Baba über die Schwelle. Der Feuerschein aus der Stube ließ ihr graues Haar orangerot leuchten. »Soll ich dir das Haar flechten?«
Die Geste erinnerte mich so sehr an früher, dass meine Kehle noch enger wurde. Damit mich meine Stimme nicht betrog, nickte ich nur.
Während Baba in den Raum humpelte, streifte ihr Blick das Kleid, das ich an einen Haken gehängt hatte. Ich tat so, als würde ich nicht bemerken, wie dabei ein melancholisches Lächeln an ihren Mundwinkeln zupfte. Stattdessen machte ich mich daran, mir die Haare zu waschen.
In der Zwischenzeit lehnte Baba ihren Stab an die Wand, zog den Schemel hinter die Wanne und nahm darauf Platz. Ich lehnte mich wieder zurück und ließ zu, dass sie mein nasses Haar mit kräftigen Bewegungen auswrang. Zu spüren, wie ihre Hände sanft über meine Kopfhaut strichen, die Knoten entwirrten und schließlich Strähnen zum Flechten abteilten, verursachte ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust. Es war so vertraut und doch so lange her, dass wir einen solchen Moment miteinander geteilt hatten. Mich überkam der Drang, mich ihr anzuvertrauen, wie ich es früher getan hatte. Doch es war unmöglich, zu einer Zeit zurückzukehren, in der es keine Geheimnisse zwischen uns gegeben hatte.
Die größten Sorgen in Babas Leben waren potenzielle Jägerangriffe und ihre Beinverletzung. Wie sollte ich ihr begreiflich machen, wie es sich anfühlte, mich vor mir selbst zu fürchten? Nicht zu wissen, wann mich die Dunkelheit endgültig überwältigen würde. Und dass ich womöglich eine Gefahr für die Leute in meinem Umfeld darstellte, wenn das passierte.
Die in mir aufsteigenden Tränen fortblinzelnd, richtete ich mich auf, schlang die Arme um die Beine und legte das Kinn auf den Knien ab. »Baba«, murmelte ich, um wenigstens die Worte auszusprechen, die ich bereits Urd gegenüber geäußert hatte. Die einzigen Worte, die ich äußern konnte. »Ich … bin nicht bereit für heute Nacht.«
»Das ist niemand, Edda.« Liebevoll strich sie mir übers Haar. »Ich erinnere mich noch gut an meine eigene Initiierungszeremonie. So aufgeregt war ich nie wieder in meinem Leben.«
»Ehrlich?«
»O ja.« Ich hörte das Lächeln aus ihrer Stimme heraus, auch wenn ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. »Vielleicht noch ein einziges Mal. Bei der Initiierung deiner Mutter.«
Ich schluckte. »Erzähl mir davon.«
»Im Gegensatz zu allen anderen war Mabona bereit, geradezu ungeduldig. Sie konnte ihren einundzwanzigsten Geburtstag kaum erwarten. Du weißt ja, dass sie von klein auf die stark ausgeprägte Gabe der Heilung besaß. Deshalb waren wir uns alle sicher, wie die Zeremonie in ihrem Fall ausgehen würde. Aber selbst wenn man noch so überzeugt davon ist, das Ergebnis zu kennen, bleibt immer ein winziger Zweifel zurück. Das ist normal und wichtig. Den Willen der Göttin kennt nur sie allein.«
»Und bei ihr war es am Ende keine Überraschung.« Ein Anflug von Bitterkeit schlich sich in meine Stimme.
Baba schüttelte den Kopf. »Nein, es zog deine Mutter schnurstracks zum Sichelmesser. Die anderen Zirkel kamen für sie nicht infrage.«
Mein Herz fühlte sich schwer an wie immer, wenn ich Geschichten über meine Mutter hörte. Doch diesmal war es nicht nur Bedauern darüber, sie nicht gekannt zu haben. Es war auch der starke Wunsch, in Mabonas Fußstapfen zu treten, auch wenn ich wusste, wie schlecht die Chancen dafür standen.
Während Baba den fertig geflochtenen Zopf auf meinem Kopf zu einem Kranz drapierte, ließ ich mich tiefer in das nun kühlere Badewasser sinken. Wie sehr ich mich danach sehnte, mit Mabona über meine Ängste sprechen zu können. Mich meiner Mutter anzuvertrauen, wie es all die anderen Novizinnen wahrscheinlich gerade in den Nachbarhütten taten. Doch Mabona blieb eine Fremde, der ich mich nur durch Geschichten und Erinnerungen anderer nahe fühlen konnte.