A Breath of Winter - Carina Schnell - E-Book

A Breath of Winter E-Book

Carina Schnell

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem SERAPH für das Beste Buch 2024 Ein gesetzloses Land voller Monster und Magie und eine Liebe, die nicht sein darf: »A Breath of Winter« ist der Auftakt einer düster-romantischen Fantasy-Dilogie voller nordischer Mythologie von Bestseller-Autorin Carina Schnell. Middangard ist ein Ort uralter Magie, die Heimat von Hexen und Seherinnen. Seitdem sich die Götter aus dem gebeutelten Reich zurückgezogen haben, machen Trolle die Wälder unsicher und Walküren ziehen mordend und brandschatzend umher. Als ein gnadenloser Mörder immer mehr Hexen den Tod bringt, wird der Trupp des gefürchteten Söldnerführers Gent auf den Hexenschlächter angesetzt. Die junge Smilla schließt sich den Söldnern unter einem Vorwand an: Niemand soll wissen, dass sie eine Hexe ist und endlich Rache für die Ermordung ihrer Familie nehmen will. Während ihrer gefahrvollen Suche nach dem Mörder kommen Smilla und Gent einander näher. Doch Smilla ahnt nicht, wie dunkel das Geheimnis ist, das Gent quält … Carina Schnell ist die Bestseller-Autorin der New-Adult-Reihe »Sommer in Kanada«. Mit Middangard hat sie eine nordische Fantasy-Welt erschaffen, die ihrer düsteren Romantasy »A Breath of Winter« den perfekten, actionreichen Rahmen verleiht. »Dieses Buch brach mir das Herz – und zwar auf die beste Art, die eine Geschichte bieten kann.« Liza Grimm »Carina Schnell verzaubert nicht nur mit ihren Worten, sondern auch mit dem, was zwischen den Zeilen steht.« Justine Pust

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Seitenzahl: 583

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Carina Schnell

A Breath of Winter

Rabenwinter-Saga 1

Roman

Knaur eBooks

 

Über dieses Buch

Ein gesetzloses Land voller Monster und Magie und eine Liebe, die nicht sein darf:

»A Breath of Winter« ist der Auftakt einer düster-romantischen Fantasy-Dilogie voller nordischer Mythologie von Bestseller-Autorin Carina Schnell.

Middangard ist ein Ort uralter Magie, die Heimat von Hexen und Seherinnen. Seitdem sich die Götter aus dem gebeutelten Reich zurückgezogen haben, machen Trolle die Wälder unsicher und Walküren ziehen mordend und brandschatzend umher.

Als ein gnadenloser Mörder immer mehr Hexen den Tod bringt, wird der Trupp des gefürchteten Söldnerführers Gent auf den Hexenschlächter angesetzt. Die junge Smilla schließt sich den Söldnern unter einem Vorwand an: Niemand soll wissen, dass sie eine Hexe ist und endlich Rache für die Ermordung ihrer Familie nehmen will. Während ihrer gefahrvollen Suche nach dem Mörder kommen Smilla und Gent einander näher. Doch Smilla ahnt nicht, wie dunkel das Geheimnis ist, das Gent quält …

Carina Schnell ist die Bestseller-Autorin der New-Adult-Reihe »Sommer in Kanada«. Mit Middangard hat sie eine nordische Fantasy-Welt erschaffen, die ihrer düsteren Romantasy »A Breath of Winter« den perfekten, actionreichen Rahmen verleiht.

»Dieses Buch brach mir das Herz – und zwar auf die beste Art, die eine Geschichte bieten kann.« Liza Grimm

»Carina Schnell verzaubert nicht nur mit ihren Worten, sondern auch mit dem, was zwischen den Zeilen steht.« Justine Pust

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Charakterzeichnung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Danksagung

Glossar der Namen und Begriffe

Kapitel 1

Smilla

Lautlos segelte ein Rabe durch die klirrend kalte Winternacht. Silbernes Licht schimmerte auf seinen tiefschwarzen Federn, dann schoben sich Wolken vor die Mondsichel. Der Rabe stieß ein heiseres Krächzen aus. Eine Warnung.

Still und dunkel breitete sich das Dorf unter ihm aus. Kein Mensch war mehr wach. Niemand bemerkte die Gestalten, die sich im Schutz der Bäume heranpirschten. Niemand hörte das Seufzen der Bogensehnen.

In der Dunkelheit glomm ein Funke auf. Der Rabe krächzte erneut. Er landete vor dem Gitterfenster einer Gefängniszelle im Keller eines Hauses. Als seine Krallen über den Steinboden schabten, blickte Smilla zu der Öffnung hoch über ihrem Kopf auf. Im Mondlicht konnte sie gerade so ein glänzend schwarzes Auge erkennen. Der beißende Wind fuhr in ihre Zelle, ließ sie schaudern. Und obwohl ihr Gesicht vor Kälte kribbelte und sie ihre Zehen bereits seit Stunden nicht mehr spürte, lächelte Smilla.

Raben tauchten immer dort auf, wo bald Blut vergossen wurde. Auf den Schlachtfeldern Middangards speisten sie wie Könige. Wenn die Seherin, die Smilla an diesen götterverlassenen Ort geschickt hatte, recht behielt, war der Vogel jedoch kein Unglücksbote, sondern das Zeichen, auf das sie seit Tagen wartete – und hoffentlich auch der Verkünder ihrer Freiheit.

»Nicht mehr lange«, flüsterte Smilla in die Nacht. Ihre Stimme klang rau. Beinahe so krächzend wie die des Raben. Seit zwei Tagen hatte sie nichts als die Schneeflocken zu sich genommen, die durch das Fenster hereinfielen und auf ihrer Zunge schmolzen.

Sie klammerte sich an diese Worte. Musste daran glauben, dass sie sich bewahrheiten würden. Zugegeben, der Abstecher ins Gefängnis war nicht Teil ihres Plans gewesen. Doch sie hatte es nicht auf sich sitzen lassen können, dass der Händler ihr, der fremdartigen Marktbesucherin, doppelt so viel Rabensilber hatte abknöpfen wollen wie seiner ortsansässigen Kundschaft.

Smilla hätte es besser wissen müssen. In kleinen Dörfern wie diesem waren die Leute misstrauisch und machten ihre eigenen Gesetze. Fremde wurden nicht gern gesehen, schon gar nicht welche, die Waffen trugen. Kein Wunder, dass sie sie kurzerhand eingesperrt hatten. Nun konnte sie nichts anderes tun, als darauf zu vertrauen, dass es trotz allem so kommen würde, wie die Seherin es ihr prophezeit hatte:

Ein Rabe in der Nacht. Ein Angriff auf das Dorf. Feuer und Rauch. Und Smillas Chance, sich der Söldnertruppe anzuschließen, die für all das verantwortlich war. Ein so wahnwitziges Unterfangen, dass es sie das Leben kosten konnte – das einzig Wertvolle, was ihr noch geblieben war. Doch was kümmerte sie das, wenn sie nichts mehr hatte, wofür es sich zu leben lohnte?

Der Rabe krächzte zustimmend, plusterte sein Gefieder auf und erhob sich in die Luft. Im selben Moment zerriss Glockengeläut die nächtliche Stille.

Der Wächter, der bis dahin auf einem Schemel neben der Treppe gedöst hatte, riss den Kopf in die Höhe. Spuckefäden flogen aus seinem Mundwinkel, während er sich orientierungslos im Halbdunkel umsah. Er wischte sich über das pockennarbige Gesicht. Dumpfes Poltern ertönte über seinem Kopf. »Ein Angriff!«, drang es gedämpft durch die Holzdielen an der Decke.

Schwankend sprang der Wächter auf und griff nach der einzigen Lichtquelle in dem feuchten Kellergewölbe, einer Fackel, die in einer eisernen Halterung an der Wand hing. Bevor er die Stufen hinaufeilte, fuhr er zu der einsamen Gefangenen in dem Verlies herum, in dem sich eine leere Zelle an die andere reihte. Das fettige Haar fiel ihm in die Stirn, als er Smilla aus blutunterlaufenen Augen anstierte.

»Mach bloß keinen Ärger, Hexe!« Er spuckte ihr das Wort entgegen wie einen Fluch. Eine viel benutzte Beleidigung ohne tiefere Bedeutung. Er hatte keine Ahnung, dass er damit ins Schwarze traf. Smilla hatte von Kindesbeinen an gelernt, ihre wahre Identität sorgfältig vor den Menschen zu verbergen. »Ich bin gleich zurück!«

Die morsche Holztreppe knarzte unter seinem Gewicht, als er hinaufeilte. Das Licht verschwand mit ihm. Schlüssel klirrten aneinander, bis er den richtigen gefunden und ins Schloss der Tür am obersten Treppenabsatz geschoben hatte. Kurz ertönte aufgeregtes Stimmengewirr, dann fiel die eisenbeschlagene Holztür ins Schloss und sperrte die Geräusche von oben aus.

Nicht jedoch die von draußen. Unter den anhaltenden Glockenschlägen war das Dorf erwacht. Fenster wurden aufgerissen. Dutzende Stimmen schrien durcheinander. Nach dem langen Schweigen in der Zelle bohrte sich der Lärm schrill in Smillas Ohren.

Eilige Schritte näherten sich auf der Straße vor ihrem Zellenfenster, übertönt von Hufgetrappel. Pfeile surrten durch die Luft, daraufhin brach das Läuten abrupt ab.

Männer brüllten, Kinder weinten und dann hörte Smilla es endlich. Ein leises Knistern. Sie schnupperte in die Luft. Der unverkennbare Duft von Rauch kitzelte ihre Nase.

Smilla lächelte. Rabe und Flammen. Genau wie es die Seherin vorhergesagt hatte.

»Feuer!«, schrie jemand über ihr. Durch die Holzdielen rieselte Staub auf Smillas Haar. Die dumpfen Schritte der Gefängniswärter im Stockwerk über ihr entfernten sich. Neben dem Gitterfenster über ihrem Kopf wurde eine Tür aufgerissen. Durchlöcherte Stiefel rannten vorbei. Dann war Smilla endlich allein.

Mühsam kam sie auf die Beine. Schwärze kroch in ihr Blickfeld. Einen Moment musste sie sich an der Steinwand abstützen. Zu lange hatte sie untätig herumgesessen. Zu lange hatten die Menschen sie hungern lassen. Trotz der Gitterstäbe, die Smilla zu drei Seiten umgaben, hatten sie ihre einzige Gefangene Tag und Nacht bewacht, sodass sie sich kaum auf den lang ersehnten Moment hatte vorbereiten können.

Ungeduldig schüttelte Smilla den Kopf, um den Schwindel zu vertreiben. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Mit zitternden Knien stapfte sie zu dem Vorhängeschloss der Zellentür, vorbei an Rattenkot und schimmeligem Stroh. Sie klammerte sich an die rostigen Eisenstäbe und lauschte. Das Knistern der Flammen kam näher. Beinahe übertönte es die Schreie und das Surren der Pfeile. Ein Glühen fiel durch das hohe Fenster hinter ihr. Es tauchte die Zelle in blutrotes Licht.

Schnell jetzt. Smilla durfte es nicht riskieren, hier unten vom Feuer eingeschlossen zu werden. Sie ging in die Hocke und fuhr mit steifen Fingern durch das Stroh. Kurz darauf ertastete sie etwas Glattes, Spitzes. Vorsichtig befreite sie das Rattenskelett von Strohhalmen und letzten Hautresten. Die Verwesung war in den letzten Tagen zu ihrer Zufriedenheit vorangeschritten. Smilla hatte das Tier bei ihrer Ankunft tot in der Zelle gefunden. Ein Geschenk der Großen Mutter?

Mit einem ihrer spitz zulaufenden Fingernägel trennte sie den winzigen Kopf von der Wirbelsäule. Die übrigen Knochen verstaute sie für später in ihrer Brustinnentasche.

Nachdem sie sich mit einem Blick zur Tür versichert hatte, dass sie wahrhaftig allein war, platzierte Smilla den Rattenschädel auf ihrer geöffneten Handfläche. Die leeren Augenhöhlen starrten sie an, die spitzen Vorderzähne stachen ihr in die Haut.

Smilla schloss die Lider. Sie konzentrierte sich ganz auf das Gewicht des Rattenkopfes. Auf die Stelle, wo der Knochen ihre Haut berührte. Dann murmelte sie die rituellen Worte. »Aus Rauch geboren, aus Asche geformt.«

Sofort setzte das vertraute Ziehen in ihrer Brust ein. Alle Geräusche verebbten, die Kälte wich aus Smillas Gliedern und die Welt stand für einen Moment still.

Die Lebensessenz des Tiers wich aus den Knochen und sank in Smillas Haut. Auf ihrer Handfläche breitete sich die erste Wärme aus, die sie seit Tagen spürte. Kribbelnd floss die Kraft durch ihre rechte Hand, wanderte den Arm hinauf und sammelte sich in ihrer Brust. Ein Pulsieren, ein Flattern. Wie ein Vogel im Käfig, der es kaum erwarten konnte, freigelassen zu werden.

Smillas eigene Knochen antworteten dem Ruf. Ein Beben ging durch ihren Körper, ein Rauschen erfüllte ihre Ohren. Wohlig schaudernd öffnete sie die Augen und legte die freie Hand auf das Eisenschloss der Zelle. Dann tastete sie wieder nach der Kraft in ihrer Brust, zupfte leicht daran. Während sie all ihre Gedanken auf das Zellenschloss richtete, wurde das Pulsieren stärker. Das Summen schwoll an.

Als es seinen Höhepunkt erreichte, schickte Smilla die rohe Macht mit nur einem einzigen Gedanken durch den linken Arm in ihre Hand. Wie flüssiges Feuer raste sie durch Smilla hindurch. Rauch quoll aus den Fingerspitzen, mit denen sie das Schloss umklammerte. Die grauen Schwaden umhüllten es, fraßen sich durch das Metall. Es barst mit einem Knall und die Gittertür schwang quietschend auf.

Das Summen verebbte. Das Pulsieren verschwand. Der Schädel auf Smillas Handfläche färbte sich schwarz und zerfiel zu Asche. Die Luft war erfüllt von dem unverkennbaren Geruch nach Rauch, Sandelholz und verbranntem Haar.

»Asche zu Asche«, flüsterte Smilla. »Ich danke dir für dein Opfer.« Sie ließ die grauen Flocken zu Boden rieseln und wischte sich die Hände an ihrer schwarzen Lederhose ab.

Als Smilla aus ihrer Zelle trat, fühlte sie sich um einiges stärker als noch vor wenigen Atemzügen. Ihre Schritte waren fester, entschlossener. In ihrer Brust kribbelte noch immer der warme Nachhall der Magie.

Mehrere Truhen säumten die sonst kahle Steinwand, auf die sie tagelang durch die Gitterstäbe gestarrt hatte. Smilla riss die erste auf und stieß erleichtert die Luft aus, als sie ihre beiden Kurzschwerter mit den schwarzen Klingen erblickte. Bei ihrer Ankunft hatten sie die Gefängniswärter so übel zugerichtet, dass Smilla sich kaum daran erinnerte, was mit ihrem Hab und Gut geschehen war.

Mit zitternden Fingern nahm sie eins der Schwerter heraus. Zärtlich strich sie über die Parierstange in Form zweier ausgebreiteter Rabenschwingen. Ein Stück Heimat in der Fremde.

Bei dem Gedanken flog ihr Geist zurück zu jener Nacht vor vier Monaten. Zu der rauchgeschwängerten Luft und dem Gestank von Blut. Wie so oft in den letzten Wochen hallten ihr die Todesschreie ihrer Schwestern in den Ohren. Das Wimmern der Sterbenden. Das Schluchzen ihrer Mutter.

Smilla dachte daran, wie fest sie die beiden Schwerter umklammert hatte. Wie schnell sie gerannt war, die Worte der Macht auf den Lippen. Immer auf den Feuerschein und die Schreie zu. Trotzdem war sie zu spät gekommen.

Die Brust wurde ihr so eng, dass Smilla nach Luft schnappte. Ihr Blick klärte sich und sie sah wieder die Steinwand vor sich. Doch die Schreie und der Geruch nach Qualm und Tod waren noch da. Während sie einen Blick zum Fenster hinaufwarf, wappnete sich Smilla innerlich für das ähnliche Bild, das sich ihr zweifellos auf den Straßen des fremden Dorfs bieten würde, sobald sie einen Fuß aus dem Gefängnis setzte. Sie musste jetzt stark sein. Musste es durchziehen. Endlich war der Moment gekommen, auf den sie seit Wochen hinarbeitete. Der Moment, den ihr die Seherin prophezeit hatte. Also klammerte sie sich an ihre Wut und Reue. Beschwor den Hass in sich herauf, der sie beim Anblick der reglosen Körper ihrer Familie überkommen hatte. Sie ließ zu, dass sich der Zorn durch ihre Adern fraß wie tödliches Schlangengift. Bis in ihr nichts mehr übrig war als der Wunsch, die Person zu finden, die für den Tod ihres gesamten Zirkels verantwortlich war.

Sie würde nicht versagen. Diesmal nicht.

Entschlossen schob Smilla beide Klingen über Kreuz in die ledernen Halterungen an ihrem Rücken. Das Gewicht war so vertraut, als hätte sie sich zwei abgetrennte Gliedmaßen wieder angenäht.

Einen kurzen Moment nahm sie sich, um die eisige Luft in ihren Lungen, die Wut in ihren Adern und die Schwerter auf ihrem Rücken zu spüren. Sie war bereit. Seit jenem Tag vor vier Monaten lebte sie allein für diesen Moment. Den ersten Schritt auf ihrem Rachefeldzug.

Eilig suchte sie die übrigen Truhen nach ihrem Otterfellumhang und möglichen brauchbaren Waffen ab. Doch sie fand nichts als rostige Klingen und stumpfe Messer. In einem armen Dorf wie diesem gab es nur wenig, das sich zum Kämpfen eignete. Ein Grund für die verzweifelten Schreie der Dorfbewohner, die sich vermutlich gerade mit Mistgabeln und Knüppeln gegen die Angreifer wehrten.

Als sie an dem Wasserfass vorbeikam, das sie in den letzten drei Tagen immer wieder sehnsüchtig angestarrt hatte, blieb Smilla stehen. Sie warf einen prüfenden Blick auf ihr verzerrtes Spiegelbild und schob sich ein paar wirre Strähnen aus dem Gesicht. Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Tarnung intakt war. Ihr Haar war noch immer schwarz wie Rabenschwingen, ihr Gesicht blass und hager. Mit beiden Händen schöpfte sie Wasser und trank gierig. Dann wischte sie sich über das Kinn und eilte die morsche Holztreppe hinauf, ohne einen Blick zurückzuwerfen.

Als Smilla aus dem Haus trat, in dessen Keller sich das Verlies befand, atmete sie tief durch. Sie schmeckte Rauch und Mondlicht, roch die Gewalt, die über allem schwebte. Wirbelnde Schneeflocken und knisternde Flammen.

Schritte ertönten zu ihrer Rechten. Instinktiv hob Smilla die Hand, um nach einem der Schwerter auf ihrem Rücken zu greifen. Doch im letzten Augenblick überlegte sie es sich anders und zog sich stattdessen in den Schatten des Hauseingangs zurück. Dies war nicht der Moment, um zu kämpfen.

Eine Frau mit einem weinenden Kind auf dem Arm und einem weiteren an der Hand eilte an ihr vorbei. Alle drei trugen Nachthemden, waren barfuß. Ihre Spuren vermischten sich mit den Dutzenden Fußabdrücken im rußig grauen Schneematsch. Die Frau hatte die Augen weit aufgerissen, bemerkte Smilla jedoch nicht.

Das schlechte Gewissen wand sich wie ein glitschiger Aal in Smillas Bauch. Unter anderen Umständen hätte sie den Bewohnern geholfen, auch wenn diese sie wenig freundlich behandelt hatten. Sie hätte die Angreifer abgewehrt, das Dorf beschützt. Doch in dieser Nacht durfte sie ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren. Der Gedanke daran, sich der Söldnertruppe anzuschließen, die für diese Zerstörung verantwortlich war, ließ trotz allem einen schalen Geschmack auf ihrer Zunge zurück.

Nachdem die Fliehenden um die Ecke verschwunden waren, trat Smilla aus den Schatten. Sie blinzelte sich die Schneeflocken aus den Wimpern und sah sich um. Die rasiermesserscharfe Mondsichel spendete nur wenig Licht, doch das Feuer hatte sich in ein donnerndes Inferno verwandelt. Im Norden loderten die Flammen hoch auf und verbreiteten ihr schauriges Flackern. Sie mussten sich bereits durch einen Großteil der ärmlichen Holzbauten am Dorfrand gefressen haben. Smillas Körper vibrierte vor Spannung, während sie durch die nun leeren Gassen schlich, vom Feuerschein angezogen wie eine Silbermotte. Ein Nachhall der Magie pochte nach wie vor dumpf in ihrer Brust.

Schließlich kam sie an einen offenen Platz. Der Ort, an dem sie vor wenigen Tagen nach dem Streit mit dem Händler in Gewahrsam genommen worden war. Hier pfiff der Wind noch erbarmungsloser. Er peitschte ihr Haar, das bald vollkommen durchnässt war. Die Schneeflocken stachen ihr in die Haut wie Eissplitter. Halb verborgen unter einer Plane fand Smilla eine verschrumpelte Erdrübe, auf der sie herumkaute, während sie den Platz überquerte.

Die Schreie waren verstummt. Eine unheimliche Stille hatte sich über alles gelegt, nur untermalt vom Knistern der Flammen. Die Härchen an Smillas Armen stellten sich auf. Nicht mehr weit, flüsterten ihr all ihre Sinne zu. Beeil dich, bevor sie von hier verschwinden.

Am Dorfrand waren nichts als schwelende Ruinen übrig geblieben. Das Feuer hatte seine schaurige Arbeit verrichtet und war dann weitergezogen. Sein flackernder Schein reichte nicht mehr bis hierher. Der Rauch mischte sich mit dem Nebel, der vom gefrorenen Boden aufstieg. Die Schwaden liebkosten Smilla und boten ihr Schutz, als witterten sie, dass Smilla aus derselben düster wirbelnden Substanz gemacht war wie sie. Aufgrund der dadurch begrenzten Sicht konnte Smilla allerdings nicht viel mehr als die Umrisse einiger Witwentröster ausmachen, deren kahle Äste sich unter der Schneelast krümmten. Die Angreifer mussten sich in dem angrenzenden Wäldchen verbergen. Oder waren sie bereits fort?

Vorsichtig setzte Smilla einen Fuß vor den anderen, während sie sich wachsam umsah. Schnee und Ascheflocken knirschten unter ihren Stiefelsohlen. Das Herz donnerte ihr in der Brust. Sie war ihrem Ziel so nah. Doch sie musste auf der Hut bleiben. Wenn sie sich verriet, würden ihr diese Leute ohne zu zögern die Kehle durchschneiden, bevor sie nahe genug herankam, um mit ihrem Anführer zu sprechen.

Pferdewiehern zerriss die Stille. Stimmen, die sich leise unterhielten. Dann ein barscher Befehl. »Aufsitzen!«

Nein, sie dürfen noch nicht davonreiten!

Eilig trat Smilla zwischen die Bäume. Bevor sich ihre Augen an die neuerliche Dunkelheit gewöhnt hatten, schlang sich ein Arm von hinten um ihre Taille und sie wurde von den Füßen gerissen.

Smilla keuchte auf – das Geräusch wurde von der Hand des Angreifers gedämpft, die sich im selben Moment über ihren Mund legte. »Wen haben wir denn hier?«, ertönte eine tiefe Stimme an ihrem Ohr. Dann riss der Kerl sie mit sich.

Vergeblich strampelte Smilla mit den Beinen in der Luft. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, wollte sie herumfahren und sich gegen den Angreifer zur Wehr setzen, doch er hielt sie weiterhin so fest an sich gedrückt, dass sie sich nicht rühren konnte, während sich ihr die in Lederscheiden steckenden Schwertklingen unangenehm in den Rücken bohrten.

Der Klammergriff setzte Smilla jedoch nicht vollkommen außer Gefecht. Sie ließ den Kopf nach hinten schnellen, in der Hoffnung, die Nase des Angreifers zu zertrümmern. Der Mann wich ihr mit einem amüsierten Glucksen aus. Sein Griff war unerbittlich, die Arme breit wie Baumstämme, die Brust, an die er sie drückte, hart wie Stahl.

Smilla fluchte innerlich. Irgendwie musste sie seine Hand von ihrem Mund bekommen, um ihm begreiflich zu machen, dass sie keine Gefahr darstellte. Dass sie ihm aus einem bestimmten Grund mitten in die Arme gelaufen war – auch wenn es an ihrem Stolz kratzte, dass sie ihn nicht hatte kommen hören.

Gerade als sie nach hinten austreten wollte, näherten sich knirschende Schritte im Schnee. Smilla erstarrte und blickte umher, um festzustellen, mit wie vielen Gegnern sie es zu tun hatte. In dem dunklen Waldstück konnte sie jedoch kaum etwas erkennen.

»Wen hast du da, Andórr?«, fragte eine andere Stimme. Diesmal eine weibliche. »Wir sollten keine Gefangenen nehmen.«

Smilla spürte, wie der Mann hinter ihr mit den Schultern zuckte. »Sie hat sich an uns rangeschlichen. Jofur hat mich gewarnt, also habe ich sie aufgehalten. Wäre es dir lieber gewesen, sie hätte uns hinterrücks überfallen?«

»Warum nicht?«, fragte eine zweite Männerstimme, halb belustigt und halb fasziniert. »Das wäre ein spannendes Kämpfchen geworden.«

Smilla sah rotes Haar aufblitzen, als sich der Kerl, der sie festhielt, zu dem Sprecher herumdrehte und sie dabei mit sich zog. »Das würdest du nicht sagen, wenn du ihre Waffen gesehen hättest.« Der Hüne löste die Hand von Smillas Mund, um nach den Schwertern auf ihrem Rücken zu greifen. Sobald er einen Knauf berührte, raste Wut durch Smillas Adern – so heiß, dass sie für einen Moment die Fassung verlor.

»Nicht anfassen!« Erneut wehrte sie sich heftig gegen seinen Griff.

»Hol mich der Lindwurm!« Der Mann hatte das Schwert aus der Scheide gezogen, ließ es nun jedoch in den Schnee fallen, um ihr erneut den Mund zuzuhalten. »Sei still! Wer weiß, was du sonst anlockst.«

Smilla spürte, wie er hinter ihr den Kopf in den Nacken legte, um zum Himmel aufzusehen. Sie wollte seinem Blick folgen, doch da wurde sie von der Frau abgelenkt, die näher zu ihnen trat. Blonde Strähnen lösten sich aus ihrem zu einem Kranz geflochtenen Haar, als sie sich bückte, um das Schwert aufzuheben. Dann zog sie Smilla auch die zweite Klinge vom Rücken, während der Mann sie noch fester hielt.

Die plötzliche Leere an der Stelle, wo sich sonst das tröstliche Gewicht ihrer Klingen befand, machte Smilla ein für alle Mal klar, dass sie diesen Leuten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Die Seherin hatte ihr keine Details darüber verraten, wie ihre erste Begegnung mit der Söldnertruppe ablaufen würde. Eine kleine Warnung, dass sie dabei unbewaffnet sein würde, wäre nett gewesen.

Mühsam versuchte Smilla, ihre Gefühle zu beherrschen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren und sich Gehör verschaffen – vorausgesetzt, die grobschlächtigen Krieger ließen sie lange genug am Leben, um ihr zuzuhören.

»Kommt mit«, sagte die Frau. »Statt hier rumzustehen, können wir auch einfach Gent fragen, was wir mit ihr anstellen sollen.«

Gent. Als sie den Namen hörte, stellten sich alle Härchen an Smillas Körper auf. Sie hatte jedoch keine Zeit, sich innerlich zu wappnen, da sie der Kerl, der sie festhielt, bereits grob vor sich herstieß.

Während sie der rothaarige Mann und die blonde Frau durch das Wäldchen führten, nutzte Smilla die kurze Verschnaufpause, um ihre Gegner und deren Waffen zu inspizieren. Der Rotschopf trug einen Bogen und einen gut gefüllten Köcher bei sich, von der Hüfte der Frau baumelte eine mit Eisenstacheln besetzte Peitsche. Kurz darauf schloss sich ihnen ein grimmig dreinblickender Kerl mit einem langen geflochtenen Bart und einem Schwert an der Hüfte an. Er streifte Smilla nur mit einem flüchtigen Blick aus grauen Augen und winkte die anderen dann auf eine Lichtung.

Ein letztes Mal versuchte Smilla vergeblich, sich aus dem Griff des Hünen zu befreien. Wenn sie dem Anführer schon ohne ihre Schwerter entgegentreten musste, dann vorzugsweise nicht als Gefangene. Das Gelingen ihres Plans hing davon ab, dass sie sich den Söldnern verständlich machte. Und mit dieser Pranke auf dem Mund war das unmöglich.

Bewahre Ruhe, behalte die Oberhand, wiederholte sie die Worte im Geist, die ihre Mutter ihr beim Nahkampfunterricht stets eingetrichtert hatte. Ein Schritt nach dem anderen.

Starr hielt sie den Blick auf ihre Schwerter gerichtet, die die blonde Frau weiterhin in einer Hand hielt. Smilla fiel auf, dass ihr linker Arm knapp über dem Ellbogen in einem Stumpf endete. Mehr Details konnte sie jedoch nicht erkennen, bevor sie von Licht geblendet wurde. Smilla blinzelte mehrmals, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen.

Mitten zwischen den schneebeladenen Bäumen saß ein schwarz gekleideter Mann auf einem ebenso schwarzen Pferd. Beide hatten ihnen den Rücken zugewandt, doch als der stolze Hengst den Kopf herumwarf, erkannte Smilla, dass es sich um einen Rashäst aus der westlichen Tundra handelte. Ein wahrhaft königliches Pferd, ausdauernd und für den Kampf geschaffen – wie offenbar auch sein Reiter, an dessen Waffengurt ein Schwert hing, während an seinem Sattel eine mächtige Streitaxt und ein Speer befestigt waren. Die Schultern des Mannes waren so breit, sein Körper so muskulös, dass sicher nur ein derart robustes Pferd wie der Rashäst ihn und die schweren Waffen tragen konnte.

Einer der Männer, die Smilla begleiteten, rief ihm etwas zu. Als sich der Reiter daraufhin zu ihnen umdrehte, erhellten die Fackeln, die ringsum im schneebedeckten Boden steckten, seine Züge. Seine Augen aber waren die dunkelsten, die Smilla je gesehen hatte. Selbst der flackernde Feuerschein konnte die Düsternis nicht aus seinem Blick vertreiben.

Sie schauderte. Obwohl sie diesen Mann noch nie gesehen hatte, wusste sie sofort, wer er war.

Gent. Der legendäre Fürst der Unterwelt und Anführer der Wilden Jagd.

Kapitel 2

Gent

Gent blickte auf, als ein Rabe krächzend an ihm vorbeiflog. Die verdammten Biester waren bereits dabei, sich an den wenigen Gefallenen zu laben. Sie folgten ihm und seiner Truppe, wohin sie auch ritten, in der Hoffnung auf ein Festmahl. Schlaue Tiere.

Er warf dem Federvieh einen warnenden Blick zu, das sich daraufhin auf einen Ast verzog. Grimbold, sein schwarzer Hengst, tänzelte zur Seite, als spürte er Gents düstere Stimmung. »Ruhig, Grim.« Seine Lederhandschuhe knirschten, als Gent die Zügel fester packte. Er ließ den Blick über den rauchgeschwängerten Himmel schweifen. Schneeflocken segelten zwischen den Zweigen des kleinen Waldstücks herab, küssten seine Wangen und Wimpern. Sie fielen immer dichter, sodass Gents schwarzes Haar bald so weiß wie das einer Hexe aussehen musste. Bei der Vorstellung verzog er das Gesicht zu einer missmutigen Grimasse.

»Gent!« Leifs raue Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Andórr hat eine Dörflerin aufgegabelt, die sich im Wald herumgetrieben hat.«

Er drehte sich im Sattel herum. Gefolgt von den anderen kam Leif auf ihn zu. Andórr bildete das Schlusslicht. Er hatte eine Frau um die Hüfte gepackt und stieß sie vor sich her auf die Lichtung. Gent bedachte Leif mit einem fragenden Blick. Rußstreifen zogen sich über dessen helle Stirn und die von der Kälte geröteten Wangen, die kaum unter dem dichten dunkelblonden Bart zu erkennen waren. Sein ältester Freund zuckte nur mit den Schultern, als wollte er sagen: Es ist deine Entscheidung, was mit ihr passiert. Du bist hier der Befehlshaber.

Hätte Gent vor Jahren geahnt, was dieser Titel beinhaltete, hätte er sich vielleicht anders entschieden. Die Verantwortung für seine Leute hielt ihn nachts oft genug wach – neben anderen, düsteren Dingen.

Verstimmt stieg er von Grims Rücken. Die Zügel ließ er locker über den Hals des Hengsts fallen und bedeutete Grim mit einem Schnalzen, an Ort und Stelle zu bleiben. Mit weit ausholenden Schritten stapfte er dann zu Andórr und der Frau. Diese blickte ihm mit erhobenem Haupt entgegen, was ihn für einen kurzen Moment aus dem Konzept brachte. Er versuchte, ihren stechenden Blick zu ignorieren.

»Was willst du mit ihr?«, fragte er Andórr barsch. »Der Befehl war unmissverständlich: keine Gefangenen.« Er wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden. Den Gestank nach Feuer und Tod hinter sich lassen, ihn sich im nächstbesten Fluss aus Haut und Haaren schrubben. Wie so viele in den letzten Monaten, war dieser Auftrag unter ihrer Würde gewesen. Gewöhnlich zündete die Wilde Jagd keine Siedlungen an, nur weil die Bewohner lange keine Steuern gezahlt hatten. Nein, gewöhnlich schlachteten er und seine Leute Kreaturen, die den Menschen gefährlich werden konnten. Doch sie waren längst über den Punkt hinaus, wählerisch sein zu können. Es waren schwere Zeiten.

Andórr zuckte anhand seines Tonfalls nicht einmal mit der Wimper. Die anderen waren Gents Launen gewöhnt. »Jofur hat beobachtet, wie sie sich an uns rangeschlichen hat. Und sie sieht nicht wie eine Dörflerin aus.«

»Sie hat Feuer«, warf Óinn amüsiert ein. »Hat Andórr fast überwältigt.« Durch das ferne Glühen des brennenden Dorfs wirkte sein langes Haar noch rötlicher als sonst. Die Sommersprossen auf seiner blassen Haut traten stark hervor.

»Und inwiefern sollte das relevant sein?« Gent verschränkte die Arme vor der Brust und baute sich vor seiner Truppe auf. Er hatte keinen Nerv für derartige Spielchen. Sie hätten längst von hier fort sein müssen.

»Sie trug das hier bei sich, Gent.« Frigga warf zwei Kurzschwerter mit rabenschwarzen Klingen vor Gent in den Schnee und wischte sich dann einige blonde Strähnen aus dem Gesicht, die sich beim Kampf im Dorf aus ihrem Haarkranz gelöst haben mussten. »Und sie ist nicht geflohen wie die anderen Dörfler.«

Die Schwerter erregten Gents Aufmerksamkeit. Rabenstahl. Seit Langem mal wieder eine passable Beute. Doch woher sollte eine Dörflerin derart wertvolle und seltene Waffen haben? Er runzelte die Stirn und musterte die Frau mit neu erwachtem Interesse. Das Blau ihrer Augen war hell wie Gletschereis. Ihr funkelnder Blick war so durchdringend, dass Gent die Gefahr, die von ihr ausging, beinahe körperlich spürte. Wie ein eisiger Windhauch, der seine Wangen streifte.

Andórrs kirschholzbraune Hand an ihrem Nacken bildete einen starken Kontrast zu ihrer blassen Haut. Sie hob sich kaum vom Schnee ab, der mittlerweile in immer dichteren Flocken fiel und das schwarze Haar der Frau weiß puderte.

»Beim Bart des Einäugigen«, fluchte Gent ergeben. Mit einem Wink bedeutete er Andórr, die Frau loszulassen. Sobald dieser seinen Griff lockerte, duckte sie sich unter seinem Arm weg und rammte ihm ihre Faust ins Gesicht. Blut schoss aus Andórrs breiter Nase. Er fluchte und sprang vor, um die Frau wieder einzufangen, doch sie entwand sich ihm geschickt. Flink wie ein Fuchs hechtete sie auf ihre Kurzschwerter am Boden zu.

Weit kam sie nicht. Óinn und Leif hoben ihre Bögen. Zwei Pfeilspitzen deuteten direkt auf das Herz der Frau, die mitten in der Bewegung innehielt. Keuchend drehte sie sich einmal um sich selbst und blickte sich um wie ein in die Enge getriebenes Tier. Ihre Hände schossen zu ihren Schultern. Doch dann erstarrte sie, als sie ins Leere griff. Ihr Blick fiel auf die schwarzen Klingen am Boden.

So nah dran, dachte Gent amüsiert. Statt die Rabenstahlschwerter aufzuheben, senkte sie ergeben den Kopf. Eine weise Entscheidung.

»Durchsucht sie nach weiteren Waffen«, befahl Gent. Er klang gelassener, als er sich fühlte. Diese Frau war schnell. Im Nahkampf ausgebildet. Und es sah so aus, als könnte sie mit den Schwertern umgehen. Eindeutig keine Dörflerin.

Andórr wischte sich über die blutende Nase und packte sie wieder am Arm. Bevor sie sich erneut wehren konnte, schnalzte Gent missbilligend mit der Zunge. »Wenn du leben willst, solltest du das lassen.«

»Solange ihr die Finger von meinen Schwertern lasst«, zischte sie zurück. Zwar fügte sie sich daraufhin, ihrem Gesicht war allerdings anzusehen, dass sie Gent in Gedanken einen Lindwurm auf den Hals hetzte.

»Also dann.« Gent trat einen Schritt auf sie zu, während Frigga die Frau nach versteckten Waffen abtastete. »Ich sehe keinen Grund, warum wir uns nicht wie zivilisierte Personen unterhalten können.«

Die Frau schnaubte. »Ich bin es nicht, die sich unzivilisiert verhält. Dein Mann hat mich zuerst angegriffen.«

»Weil du dich angeschlichen hast.« Gent erwiderte ihren Blick mit an Langeweile grenzender Teilnahmslosigkeit. »Willst du meine Leute der Lüge bezichtigen?«

Sie sah zum Himmel auf, als läge die Antwort in den Sternen – oder als wollte sie den Krieger bitten, Gent mit einem Blitz niederzustrecken. Dann bohrte sich ihr Blick wieder in seinen. »Nein.«

»Also, was hast du hier mitten in der Nacht zu suchen?«

»Ich komme nicht aus dem Dorf, das ihr zerstört habt.« Sie warf einen Blick über die Schulter zu den aufsteigenden Rauchfahnen.

»Was du nicht sagst.« Andórr und Óinn lachten angesichts Gents trockenen Tonfalls. »Aber was willst du dann in dieser Gegend?« Gent musterte die Frau misstrauisch. So weit abseits der Handelsstraßen gab es kaum menschliche Siedlungen. Die nächste war mehrere Rabenflüge entfernt. Wie beiläufig legte er eine Hand auf seinen Schwertknauf, während er sich verstohlen umsah. Das Ganze schrie nach einem Hinterhalt.

»Ich war im Kerker gefangen. Durch den Tumult konnte ich entkommen. Deshalb …« Beinahe konnte Gent hören, wie die Frau mit den Zähnen knirschte, bevor sie ihm die nächsten Worte entgegenspuckte. »Bin ich euch zu Dank verpflichtet.«

Er musterte sie einen Moment, suchte in ihren Augen nach Unaufrichtigkeit. Die Frau starrte ungerührt zurück, ihr Blick brannte sich in ihn wie Eis. Windböen peitschten ihr das schwarze Haar ins Gesicht, doch sie schien es nicht zu bemerken.

In aller Ruhe rieb sich Gent über die Bartstoppeln. »Und wie bist du im Gefängnis dieses götterverlassenen Kaffs gelandet? Was hast du verbrochen?«

Sie sah ihm fest in die Augen, blinzelte kein einziges Mal. »Unruhestiftung.«

Warum wundert mich das nicht? Gents Mundwinkel zuckten. Über seinem Kopf krächzte der vermaledeite Rabe, als wollte er ebenfalls sein Amüsement kundtun.

»Unruhestiftung, was?« Sie deutete ein knappes Nicken an. »Und was für eine Art von Unruhe hast du gestiftet?«

»Der Preis eines Händlers auf dem Markt war unverschämt und das habe ich ihn spüren lassen.«

In ihrem Blick las Gent, dass dies nicht die ganze Wahrheit war. Er musterte die Frau von Kopf bis Fuß, ihre langen Beine, die in hohen Stiefeln und engen Lederhosen steckten. Das taillierte Wams, in dem sie ohne Umhang frieren musste. Ihr schwarzes Haar und die blasse Haut. Ein blauer Fleck bildete sich unter dem rechten Wangenknochen, wo Andórr sie zu grob gepackt hatte. Vor Kälte zitterte sie kaum merklich.

»Ich weiß, wer du bist«, sagte sie mit erhobenem Kinn. »Du bist Gent, auch bekannt als Fürst der Unterwelt, und das ist die Wilde Jagd.« Sie drehte sich langsam um sich selbst, sah jedem seiner Leute in die Augen. »Ich möchte mich euch anschließen.«

Beinahe hätte Gent gelacht, doch es blieb ihm im Hals stecken. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass diese Frau schnell, mutig und wahrscheinlich auch geschickt im Umgang mit ihren Waffen war. Allerdings kaufte er ihr ihre kleine Geschichte nicht ab. Auch ihre Beweggründe dafür, sich der Wilden Jagd anzuschließen, waren ihm ein Rätsel. Es wunderte ihn, dass er ihre Bitte trotzdem in Betracht zog. Leif warf ihm einen warnenden Seitenblick zu. Natürlich wusste er, was in Gent vorging.

»Wir nehmen keine dahergelaufenen Unruhestifterinnen auf«, feixte Andórr.

»Das wird immer noch meine Entscheidung sein«, wies Gent ihn zurecht. Irgendetwas hatte diese Frau an sich. Von ihr ging eine Gefahr aus, so klirrend kalt wie die eisigste Winternacht. Und er wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Woher sie wirklich kam. Und was sie hier zu suchen hatte. Sie war ihnen nicht zufällig über den Weg gelaufen, so viel war sicher.

Über ihnen krächzte der verfluchte Rabe erneut. Gent würde einen Pfeil in seinen Bauch jagen, bevor sie von hier verschwanden.

»Ich kann kämpfen«, sagte die Frau. »Fährten lesen, Tiere abrichten.«

»Tiere abrichten?« Andórr lachte. »Wie sollte uns das nütz–«

Ohne Vorwarnung riss die Frau einen Arm in die Höhe. Sofort spannten die anderen erneut ihre Bögen, bereit, sie auf einen Wink von Gent mit Pfeilen zu durchbohren.

Federn raschelten in der Luft, als der Rabe von seinem Ast herabstieß. Die Frau ballte die erhobene Hand zur Faust und der Vogel landete auf ihrem Unterarm. Sie murmelte etwas Unverständliches und strich dem Raben sanft über das Gefieder, während sie den Arm langsam wieder senkte.

Gent musste zugeben, dass er beeindruckt war. Nicht von ihrer Fähigkeit, einen Vogel zu befehligen, sondern von ihrer Furchtlosigkeit. Hätte er seine Leute nicht so gut im Griff, wäre sie jetzt tot.

Er trat noch einen Schritt vor und hob die Hand. Sofort senkten die anderen die Waffen, auch wenn sie einander fragende Blicke zuwarfen.

»Interessant«, murmelte er nachdenklich, während er sich der Frau näherte. »Woher kommst du?«

»Aus den Wäldern Isgards im Norden, Fürst der Unterwelt.« Aus ihrem Mund klang der ihm von der Bevölkerung Middangards verliehene Titel wie eine Beleidigung.

Wieder hätte Gent fast gelacht. Bei den Leuchtenden, so amüsiert war er nicht mehr gewesen, seit … Er konnte sich nicht erinnern. Er genoss es, dieses Spiel mit ihr zu treiben. Sich zu umtänzeln, zu beschnuppern und zu sehen, wer den nächsten Treffer landete. Nun war er ihr so nahe, dass er ihren Atem sah, der als weiße Wolke vor ihrem Mund tanzte. Sprach sie die Wahrheit? In ihren Augen las er nichts als störrische Entschlossenheit.

Da ertönte das unverkennbare Zischen eines herannahenden Pfeils. Gent fuhr herum. Der Pfeil raste aus der Dunkelheit zwischen den Bäumen direkt auf ihn zu. Niemand reagierte schnell genug.

Niemand außer der Frau.

Sie stieß erneut die Faust in die Höhe. Der Rabe flatterte krächzend auf – und wurde im nächsten Moment von einem Pfeil durchbohrt. Dem Pfeil, der für Gent gedacht gewesen war.

Das Tier wurde mitgerissen und prallte mitsamt des in seinem Körper steckenden Pfeils gegen Gents Brust. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts. Warmes Rabenblut spritzte ihm ins Gesicht. Der Vogel fiel zu Boden. Ein finsterer Fleck im Schnee, umgeben von einem sich rasch ausbreitenden roten Kranz.

Gent konnte nur starren.

Auf die Frau.

Den Vogel.

Das Blut.

Nichts war zu hören als das Pfeifen des Windes und das Knistern des sterbenden Feuers im Dorf.

Seine Leute hatten augenblicklich einen Kreis um ihn und die Frau gebildet und sahen sich mit erhobenen Waffen wachsam um.

Langsam wischte sich Gent das Blut von der stoppeligen Wange. Auf dem schwarzen Leder seines Handschuhs war es kaum zu erkennen. Gegen die Schneeflocken anblinzelnd blickte er in die Richtung, aus der das Geschoss gekommen war. Es folgten keine weiteren.

Noch nicht.

Ein Angriff aus dem Hinterhalt? Ein letzter Versuch der Dörfler, ihr verlorenes Heim zu rächen? Oder steckte mehr dahinter?

Gent fand seine Stimme wieder. »Andórr, Óinn, Frigga, findet den Schützen. Das war der letzte Pfeil, den er in seinem Leben geschossen hat.«

Mit grimmigen Mienen verschmolzen die drei mit der Dunkelheit. Nur noch Leif stand an Gents Seite. Wie immer. Mit verengten Augen musterte er die Frau.

Sie hatte den Blick auf den toten Vogel gerichtet. Ihre Lippen bewegten sich stumm. Ein Gebet an die Leuchtenden?

Gent öffnete den Mund, doch sie kam ihm zuvor. »Ich habe dir das Leben gerettet, Fürst der Unterwelt«, sagte sie, ohne aufzusehen. »Was gibst du mir im Gegenzug?«

Gents Kiefermuskeln spannten sich an. Beinahe hätte er gelächelt. Ihre Dreistigkeit war … erfrischend. Schon lange war er niemandem mehr begegnet, der in seiner Gegenwart nicht vor Furcht erstarrte. Er wusste, was sie von ihm verlangte, ohne es erneut auszusprechen. Und er hatte seine Entscheidung längst getroffen. »Du hast nach einem Platz in der Wilden Jagd verlangt, also sollst du eine Chance erhalten, dich zu beweisen.« Leif schnappte neben ihm kaum hörbar nach Luft.

Endlich sah die Frau auf. Triumph lag in ihrem Blick, den sie allerdings zu verbergen versuchte. Gent trat so nah an sie heran, dass es ihr nicht gelang. Er hätte die Schneeflocken in ihren Wimpern, die Risse in ihren spröden Lippen zählen können. Das gefährliche Funkeln stahl sich abermals in ihre eisblauen Augen. Es wäre ein Fehler, sie zu unterschätzen.

»Du reitest mit uns«, fuhr er fort. »Bei unserem nächsten Auftrag kannst du dich beweisen. Danach entscheide ich, ob du bleiben darfst.«

»Und was ist euer nächster Auftrag?«

»Das wird sich zeigen.«

Sie nickte und deutete eine spöttische Verbeugung an. »Wie du wünschst, Herr.«

Gent wandte sich ab und stapfte mit großen Schritten zu seinem Pferd. Sie hatten sich viel zu lange hier aufgehalten. Zwar hätte der Pfeil ihn beinahe getroffen, doch er machte sich keine Sorgen wegen des Schützen, da keine weiteren Geschosse gefolgt waren. Pfeile stammten von Menschen. Und mit Angriffen von Menschen wurden sie leicht fertig. Es war an der Zeit zu verschwinden, bevor der Feuerschein und die Raben andere Kreaturen anlockten. Tödlichere Kreaturen.

Während er auf Grims Rücken stieg, warf er einen Blick zum Himmel. Dann suchte er das kleine Wäldchen mit den Augen ab. Bisher keine Spur von den anderen. Ob die Frau etwas mit dem Angriff aus dem Hinterhalt zu tun hatte? Gent musterte sie verstohlen von der Seite. Ein wenig verloren stand sie zwischen den Bäumen. Ihr Blick wanderte wieder zu den Schwertern im Schnee.

»Nimm deine Waffen«, befahl er ihr mit einem Nicken. »Du wirst sie brauchen.«

Sie verzog die Lippen zu einem grimmigen Lächeln, ging in die Hocke und schob die Schwerter in einer so selbstverständlichen Bewegung in die Halterungen an ihrem Rücken, wie andere die Hände in die Hosentaschen steckten. Mit den Schenkeln lenkte Gent sein Pferd auf sie zu. Von seinem erhöhten Platz im Sattel sah er auf sie herab. »Wie ist dein Name?«

»Ich heiße Smilla«, antwortete sie mit kaum verhohlenem Stolz.

»Smilla.« Gent ließ den Namen über seine Zunge rollen. Er konnte den Verrat förmlich schmecken. Furchtlos erwiderte sie seinen Blick, doch ihm fiel erneut auf, dass sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte die Zähne fest zusammengepresst, damit sie nicht aufeinanderschlugen.

Gent löste ein schneeweißes Wolfsfell von seiner Satteltasche. Er hatte das Tier eigenhändig erlegt und gehäutet. Durch die Körperwärme seines Pferds dampfte das Fell in der kalten Luft. Er warf es Smilla zu, die es mühelos auffing. Als sie es sich um die Schultern legte, schloss sie kurz die Augen und ihr entwich ein erleichtertes Seufzen, das verriet, wie sehr sie gefroren haben musste.

Als sie die Lider wieder öffnete, lag Dankbarkeit in ihrem Blick, auch wenn sie sie nicht aussprach.

Einige Herzschläge lang musterte Gent die Frau, die ihm soeben das Leben gerettet hatte. Sie legte den Kopf schief und starrte zurück, als könnte sie in seinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Der Gedanke sandte ihm einen kalten Schauer über den Rücken.

Rasch setzte er eine stahlharte Miene auf und verlieh seiner Stimme einen warnenden Unterton, als er sagte: »Willkommen bei der Wilden Jagd, Smilla aus Isgard.«

Kapitel 3

Smilla

Willkommen bei der Wilden Jagd, Smilla aus Isgard.«

Noch nie hatte etwas gleichzeitig so vielversprechend und so furchterregend geklungen.

Smilla zog sich das schneeweiße Fell fester um die Schultern. Einst musste es einen Wolf warmgehalten haben. Nun roch es nach Pferd, Eisen und Schnee. Nach dem Mann, der davonritt, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Dicht gefolgt von dem Kerl mit dem geflochtenen Bart lenkte er seinen schwarzen Hengst in die entgegengesetzte Richtung als die, in der die anderen verschwunden waren. Smilla versuchte, das in ihr aufsteigende Triumphgefühl zu unterdrücken.

Sie hatte es geschafft. Alles war so gekommen, wie es die Seherin prophezeit hatte. Trotzdem fühlte es sich nicht wie ein Sieg an. Eher wie der erste Schritt in die richtige Richtung. Denn der Weg war noch weit.

Verstohlen warf Smilla einen Blick zurück zum Dorf. Zu den Opfern, die ihr Triumph verlangt hatte. Durch den dichten Schneefall war nur noch ein schwaches Glimmen zwischen den Ästen der Witwentröster auszumachen. Asche hatte sich unter die fallenden Flocken gemischt. Smilla straffte die Schultern und wandte sich ab. Vor dem Ende würde ihre Reise weitere Opfer verlangen.

»Jofur!« Gents Ruf riss sie aus ihren Gedanken. Er hob die Hand und drehte sie in einer Geste, die Smilla nicht verstand. Dann deutete er mit dem Daumen zwischen die Bäume. »Gib Smilla eins der Packpferde. Sobald die anderen zurück sind, reiten wir los.«

Smilla sah sich um. Mit wem sprach er? Da stürzte sich etwas von oben auf sie. Smilla hechtete zur Seite und zückte in einer fließenden Bewegung beide Kurzschwerter. Nahezu lautlos landete ein Mann vor ihr auf dem Waldboden. Er parierte Smillas Schwertstreich mit einem schwarzen Stab. Smillas Klinge sprühte Funken, als sie auf das Material traf. Rabenstahl auf Rabenstahl.

Verblüfft hob sie den Blick und begegnete den haselnussbraunen Augen des Mannes. Er lächelte ihr so freundlich zu, dass Smilla die Waffen sinken ließ. »Jofur, nehme ich an?«

Sein Blick huschte zu ihren Lippen. Einen Wimpernschlag später nickte er. Ohne Vorwarnung stieß er das untere Ende seines Stabs auf den Boden. Daraufhin schrumpfte die Waffe so schnell, dass Smillas Augen kaum folgen konnten. Der Stab zog sich zusammen, bis nichts mehr übrig war als ein Stock der Länge von Jofurs Unterarm.

Smilla blinzelte beeindruckt. Offenbar waren die Mitglieder der Wilden Jagd immer für eine Überraschung gut. Ein Beweis dafür, dass sie keinem von ihnen trauen konnte, auch wenn sie keinen weiteren gebraucht hätte.

Weiterhin lächelnd befestigte Jofur den Stab an seinem Gürtel. Smillas Augen weiteten sich, als sie daneben eine ganze Reihe Wurfmesser entdeckte. Der schweigsame Mann verbarg einige tödliche Geheimnisse hinter seinem freundlichen Gebaren.

Smilla sah zum Himmel auf. »Wo bist du so plötzlich hergekommen?«

Jofur deutete auf den ihnen am nächsten stehenden Baum, dessen Äste sich weit über ihre Köpfe ausbreiteten. Er musste sich die ganze Zeit über dort verborgen haben. Unwillkürlich erinnerte sich Smilla an die Worte des breitschultrigen Hünen, der sie beim Betreten des Wäldchens geschnappt hatte. »Jofur hat beobachtet, wie sie sich an uns rangeschlichen hat.«

Hitze stieg ihr in die Wangen. Sie musste aufhören, Gents Truppe zu unterschätzen.

Anerkennend nickte sie Jofur zu und steckte ihre Waffen weg. Er bedeutete ihr mit einem Wink, ihm zu folgen. Kurz darauf hörte Smilla leises Schnauben, dann stieg ihr unverkennbarer Pferdegeruch in die Nase. Jofur steuerte auf sieben Tiere zu, die sich unter den ausladenden Ästen eines Witwentrösters gegen die Kälte aneinanderdrängten. Sie begrüßten ihn mit freudigem Wiehern, rieben ihre Nüstern an seinen ausgestreckten Händen und stießen ihn mit dem Kopf an der Schulter an.

Zögerlich näherte sich auch Smilla den Pferden. Alle sahen gut genährt und makellos gepflegt aus. Ihr Fell glänzte, das Sattelleder schien frisch geölt und alle Mähnen wiesen komplizierte Flechtmuster auf.

Staunend trat Smilla auf eine fuchsrote Stute zu. Sie streckte eine Hand aus, um das Pferd an ihren Fingern schnuppern zu lassen. Dann strich sie über die geflochtene Mähne. Jofur gesellte sich zu ihr und deutete auf die Stute. Als Smilla ihn fragend ansah, klopfte er auf die zerschlissene Decke, die über dem Rücken des Tiers hing.

»Du meinst, ich soll sie reiten?« Er nickte und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Oh, es macht mir nichts aus, dass sie keinen Sattel hat.« Smilla lächelte. Tatsächlich ritt sie besser ohne, wie sie es von Kindesbeinen an gelernt hatte.

Jofur erwiderte ihr Lächeln und machte sich daran, dem Pferd mehrere Satteltaschen abzunehmen. Es musste bis dahin als Packpferd gedient haben. Freudig strich Smilla der Stute über die Blesse. »Wir werden uns gut verstehen, meine Schöne.« Noch während sie dem Pferd den Hals tätschelte, spitzte es die Ohren und drehte den Kopf. Auch Jofur wandte sich um.

Schritte näherten sich, Gesprächsfetzen wehten zu ihnen heran. »… kann ich nicht begreifen«, sagte eine tiefe Männerstimme. »Seit wann nehmen wir jede dahergelaufene Streunerin auf, die sich uns anschließen will?«

Smilla biss sich auf die Lippe. Die Person sprach eindeutig über sie.

»Um genau zu sein, hat noch nie jemand so direkt gefragt«, antwortete die Frau, die Smilla zuvor ihre Schwerter abgenommen hatte. Frigga war ihr Name, wenn sie sich recht erinnerte. »Allein dafür hat sie eine Chance verdient, sich zu beweisen.«

Smilla glaubte, einen Hauch von Respekt in ihrer Stimme mitschwingen zu hören. Als sie verstohlen den Kopf drehte, kamen die Sprecher in Sicht, angeführt von Frigga, die ihr kornblondes Haar nun wieder zu einem makellos geflochtenen Kranz auf dem Kopf trug. Sie warf Smilla einen flüchtigen Blick zu. Neben ihr ging der Mann mit dem langen Bart. Er ignorierte Smilla vollkommen. Vermutlich war er es, der sich so abfällig über ihre Aufnahme bei der Wilden Jagd geäußert hatte.

Gefolgt wurden die beiden von dem breitschultrigen Hünen, der Smilla gefangengenommen und vor Gent gezerrt hatte. Andórr. Seine Nase blutete nicht mehr. Als sich ihre Blicke trafen, warf er ihr ein freches Grinsen zu und schielte mit hochgezogenen Brauen zu den Schwertern auf ihrem Rücken. Der warnende Blick, mit dem sie ihn daraufhin bedachte, ließ ihm das Grinsen auf den Lippen gefrieren.

Der dritte Mann mit feuerrotem Haar, Sommersprossen und einem dauerverschmitzten Gesichtsausdruck kommunizierte per Handzeichen mit Jofur. Als Antwort bewegten sich dessen Finger so schnell, dass Smilla nicht folgen konnte. Da begriff sie, dass dies Jofurs Sprache war. Eine Sprache, die sie würde lernen müssen, wenn sie alles verstehen wollte, was in der Wilden Jagd gesagt wurde.

Alle trugen wild zusammengewürfelte Kleidung. An unzähligen Stellen geflickte Leinenhemden und Tuniken. Nicht zueinander passende Teile von Lederrüstungen. Selbst ihre Waffen wirkten, als hätten sie sie sich über Jahre zusammengesucht – oder ihren Opfern abgenommen. Frigga trug weiterhin ihre stachelbesetzte Peitsche am Gürtel. Die beiden Bogenschützen hatten Pfeile mit verschiedenster Befiederung in ihren Köchern. Neben dem Schwert an Leifs Gürtel und Jofurs Wurfmessern waren auch die Sattel über und über mit Waffen behangen. Altmodische zweihändige Schwerter, juwelenbesetzte Dolche, selbst einen gekrümmten Säbel aus den Ländern jenseits des Vergessenen Meers hatte Smilla entdeckt. Dann war da noch Gents riesige Axt, die nicht von dieser Welt zu schein schien. Und Smilla würde noch herausfinden müssen, was es mit Jofurs Rabenstahlstab auf sich hatte. Es bestand kein Zweifel, dass dabei Magie im Spiel war.

Nur eins hatten alle Waffen der Truppe gemeinsam: Sie wurden augenscheinlich makellos gepflegt. Gerade wischte Andórr seinen Dolch an einem Tuch ab, auf dem er rote Schlieren hinterließ. Sie mussten den Bogenschützen aufgespürt haben, der den Anschlag auf Gents Leben verübt hatte.

Wer war es?, wollte Smilla fragen. Ein einfacher Dörfler? Oder war es ein lange geplantes Attentat gewesen?Der gefürchtete Fürst der Unterwelt hatte sicher Feinde im ganzen Land. Sie bezweifelte allerdings, dass sie eine Antwort erhalten würde. Die anderen schenkten ihr keine Beachtung mehr. Sie machten sich geschäftig daran, alles für die Abreise vorzubereiten. Schweigend prüften sie die Sattelgurte, verstauten ihre Waffen in ledernen Halterungen und stiegen auf ihre Pferde.

»Gent wartet außerhalb des Wäldchens«, verkündete Leif, der Mann mit dem geflochtenen Bart und dem stechenden Blick. Smilla vermutete, dass er Gents rechte Hand war und in dessen Abwesenheit das Sagen hatte. Schon lenkte er sein Pferd in Richtung Osten. Die anderen folgten ihm und Smilla beeilte sich, auf ihre Fuchsstute zu steigen.

Sie ritten hintereinander, da die breiten Stämme kaum Platz für zwei Pferde ließen. Smilla bildete das Schlusslicht. Die anderen gaben ein forsches Tempo vor und kümmerten sich ganz offensichtlich kein Stück darum, ob sie mithalten konnte oder zurückblieb. Es sollte ihr recht sein. Schließlich war sie nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Ganz im Gegenteil. Gent und seine Truppe waren bloß ein Mittel zum Zweck. Smillas einzige Chance darauf, den Mörder ihrer Familie zu finden, wenn sie den Worten der Seherin Glauben schenkte.

Deren Anweisungen hatte sie streng befolgt. Sie hatte auf das Zeichen gewartet – den Raben vor dem Fenster –, hatte sich durch Feuer und Rauch gekämpft und sich der Söldnertruppe angeschlossen. Alles verlief nach Plan. Unerwähnt hatte die Seherin jedoch gelassen, dass Smilla dem Anführer der Wilden Jagd bereits wenige Minuten nach ihrer ersten Begegnung das Leben retten würde. Gent stand nun in ihrer Schuld. Und diese Schuld würde sie einfordern, wenn die Zeit gekommen war.

Stille hatte sich über das Wäldchen gesenkt. Auch wenn die anderen sie nicht sehen konnten, verbot Smilla es sich, einen Blick zurück zu dem schwelenden Dorf zu werfen. Das lag nun hinter ihr, während sich vor ihr ein neuer, blutiger Pfad auftat. Wenn sie nicht den Mut verlieren wollte, musste Smilla daran glauben, dass die Seherin sie auf den richtigen Weg geführt hatte. Sonst wäre sie unter diesen Söldnern und Halsabschneidern vollkommen verloren.

Kapitel 4

Gent

Am Rand des kleinen Waldstücks saß Gent auf Grims Rücken und wartete auf seine Truppe. Das erste Tageslicht zeichnete sich als fahlgrauer Streifen am Horizont ab. Gent ließ den Blick über den noch dunklen Himmel schweifen. Eine innere Unruhe hatte ihn erfasst. Unbehaglich verlagerte er sein Gewicht im Sattel.

Verschneite Felder breiteten sich vor ihm aus. Wo sich in der lichten Jahreszeit ein schier endloses Meer aus goldenem Korn erstreckte, ragten in der dunklen Jahreszeit nur wenige verkümmerte Büsche hier und dort zwischen Schneewehen auf. Hier gab es kaum ein Versteck, sollte der schlimmste Fall eintreten.

Gent wusste, dass sie das perfekte Ziel für einen Angriff aus der Luft abgeben würden, doch sie mussten den Schutz des Wäldchens verlassen, um so viel Distanz wie möglich zwischen sich und die schwelenden Überreste des Dorfs zu bringen. Denn der nach wie vor aufsteigende Rauch mochte ein Grauen in diese Gegend locken, gegen das selbst er im Kampf machtlos war.

Weiter nach Norden zu reiten war keine Option. Dieser Teil des Landes war bereits vor Monaten aufgegeben worden. Dort regierten nun Schreckgestalten, die den Albträumen der fliehenden Menschen entsprungen zu sein schienen. Wie Würmer zogen sich die Flüchtlingskolonnen der wenigen Überlebenden durch Middangard – auf der Suche nach Schutz, den es nicht gab. Den selbst er und seine Truppe ihnen nicht länger bieten konnten. Auch wenn die Wilde Jagd sonst bereitwillig gefährliche Kreaturen schlachtete, mussten sie von irgendetwas leben. Und solange die Leute ihr Heil in der Flucht suchten, hatte niemand Geld für Muskelkraft und Schwertklingen übrig. So lange wie möglich hatte er den Moment hinausgezögert, an dem sie Aufträge anderer Natur annehmen mussten, um über die Runden zu kommen. Doch der Zeitpunkt war gekommen. Und nun brannte die Erinnerung an letzte Nacht wie Ascheflocken in seiner Kehle. Gents Gedanken wanderten zurück zu dem Angriff auf das Dorf.

Er hielt die Zügel mit einer Hand, in der anderen trug er eine brennende Fackel. Als sein Pferd aus dem Wäldchen stürmte, duckte er sich unter den tief hängenden Zweigen hindurch. In vollem Galopp hielt er auf das Dorf zu. Die erste Hütte schälte sich aus der nächtlichen Finsternis. Jemand hörte sie kommen. Warnschreie ertönten. Eine Glocke läutete die Bewohner aus ihren Betten. Pfeile surrten von hinten an ihm vorbei, bohrten sich in die wenigen Dörfler, die mit Mistgabeln aus ihren Ställen kamen. Gents Truppe kümmerte sich um sie. Das Läuten brach abrupt ab.

Grims Hufschläge donnerten laut in Gents Ohren, wirbelten Schnee auf, der ihn wild umtanzte. Er packte die Zügel fester, hob die Fackel höher. Ein strohgedecktes Dach kam in Sicht. Er holte aus, zögerte einen schier endlosen Moment lang, in dem ihn Zweifel zu übermannen drohten … und schleuderte den Tod.

Keuchend öffnete Gent die Augen. Grim riss den Kopf hin und her. Er hatte die Zügel zu fest gepackt. Sofort lockerte er seinen Griff und murmelte dem Pferd beruhigende Worte zu. Sein Atem ging zu schnell, in seinem Kopf drehte sich alles. Er hatte sich für einen Moment verloren. Der finstere Teil von ihm hatte die Kontrolle übernommen. Ein Gefühl, das sich vertrauter anfühlte, als ihm lieb war.

Fluchend spuckte Gent in den Schnee und rieb sich über das Gesicht. Hinter ihm hörte er leises Hufgetrappel. Wie immer erdete ihn die Anwesenheit seiner Truppe. Sie würden nie zulassen, dass er sich endgültig in der Dunkelheit verlor, die ihn manchmal überkam. Sie waren seine Rettung, so wie er ihre war.

Rasch stopfte Gent einige Strähnen zurück in den Knoten an seinem Hinterkopf und setzte eine neutrale Miene auf. Er drehte sich in dem Moment zu den anderen um, als diese aus dem Wäldchen kamen. Augenblicklich fiel sein Blick auf Smilla, die in einiger Entfernung hinter den anderen herritt. Ungerührt starrte sie ihm entgegen. Das Wolfsfell hatte sie sich um die Schultern geschlungen und schien nicht mehr so stark zu frieren wie zuvor. Er fragte sich, ob sie wohl mit der Truppe mithalten konnte. In den nächsten Tagen würde sich zeigen, ob sie das Zeug hatte, eine von ihnen zu werden. Insgeheim hoffte Gent, dass sie es schaffte. Vor Smilla würde er es nicht zugeben, doch in diesen schweren Zeiten konnten sie eine weitere Klinge gut gebrauchen.

Als die anderen ihn auf ihren Pferden erreichten, riss sich Gent von Smillas Anblick los. »Jofur!« Auf Gents Handzeichen hin lenkte der Späher sein Pferd neben seins. »Reite zu Jarl Jörmund und heimse unsere Bezahlung ein«, wies er ihn mit fliegenden Fingern an. »Wir reiten gen Osten. Schau, dass du so schnell wie möglich wieder zu uns stößt. Und dann …« Gent senkte die Hände und beugte sich dicht zu Jofur vor, damit dieser ihm jedes Wort von den Lippen ablesen, aber niemand anderes ihr Gespräch mitverfolgen konnte. »Hab ein Auge auf Smilla für mich, ja? Ich möchte verstehen, was sie antreibt. Warum sie sich uns anschließen will.«

Jofur antwortete mit einem knappen Nicken. Er verabschiedete sich rasch von den anderen und galoppierte in die entgegengesetzte Richtung davon.

Gent schickte einen letzten unheilschwangeren Blick zum Himmel und gab Grim ebenfalls die Sporen.

**

Trotz des eisigen Winds und des immer dichter fallenden Schnees ritt Gent mit erhobenem Kopf. In all seinen Jahren als Söldner hatte er schon schlimmeres Wetter erlebt als dieses. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt er den Blick auf den Horizont gerichtet. Der graue Streifen wurde immer breiter. Bald würden die ersten Sonnenstrahlen die Dunkelheit der Nacht vertreiben. Und hoffentlich auch die in seinem Kopf.

Vom Schnee gedämpftes Hufgetrappel ertönte, dann tauchte Leif auf seinem Braunen neben ihm auf. Sie nickten einander zu. Zwischen ihnen hatte es nie vieler Worte bedurft. Seit sie sich mit zwölf Jahren am verdreckten Hafen von Golvarsund getroffen und sich wegen einer Krabbenpastete beinahe gegenseitig den Schädel eingeschlagen hatten, waren Gent und Leif ein unzertrennliches Gespann. Damals hatte ein einziger Blick zwischen ihnen gereicht, um zu verstehen, dass beide ums Überleben kämpften und es schlauer wäre, wenn sie es von nun an zusammen täten.

Fast sah Gent nun wieder den Jungen mit den nackten Füßen, dem dreckigen Gesicht, dem matschbraunen Haar und der aufgeplatzten Unterlippe vor sich, der ihn so herausfordernd angefunkelt hatte. Auch jetzt wirkte Leif angriffslustig, jedoch auf eine andere Art. Er würde Gent mit Worten überfallen, nicht mit Fäusten.

Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinanderher, während die Anspannung zwischen ihnen wuchs. Gerade als Gent ihn anblaffen wollte, dass er seine Zeit nicht mit feiger Herumdruckserei vergeuden sollte, räusperte sich Leif.

»Die Neue … sie gefällt mir nicht«, sagte er so leise, dass Gent ihn über den heulenden Wind kaum verstand. Doch selbst wenn er die Worte nicht gehört hätte, hätte Gent gewusst, was Leif ihm mitteilen wollte. Er las es in dessen gefurchter Stirn, den besorgt funkelnden grauen Augen und den Lippen, die Leif nun so fest zusammenpresste, dass sie vollständig unter seinem Bart verschwanden.

»Du stellst meine Entscheidung infrage, sie mitgenommen zu haben.«

Leif antwortete nicht, schließlich war es eine Feststellung und keine Frage.

»Was genau stört dich an Smilla?«

»Sie passt nicht zu uns.«

»Inwiefern?«

»Ich traue ihr nicht.«

»Warum nicht?«

Leif seufzte. »Ist es nicht meine Aufgabe, dir zu sagen, was meiner Meinung nach das Beste für die Truppe ist?«

»Nicht, wenn du dabei von Furcht geblendet wirst.«

»Lieber von Angst geblendet werden als von ein paar hübschen blauen Augen.«

Gent grummelte verärgert vor sich hin. »Ihre Augen tun nichts zur Sache.«

»Also hast du sie aus reiner Herzensgüte mit uns reiten lassen?« Nun blitzte Belustigung in Leifs Augen auf, kaum zu erkennen im grauen Zwielicht des Morgens.

Gent zuckte mit den Schultern. »Nenn es, wie du willst. Tatsache ist, dass sie ohne unseren Angriff auf das Dorf immer noch im Gefängnis säße.«

»Irgendetwas sagt mir, dass Smilla sehr gut ohne uns zurechtgekommen wäre«, fuhr Leif fort. »Oder willst du mir wirklich weismachen, dass du sie nur mit uns reiten lässt, um sie vor einem schlimmen Schicksal zu bewahren? Du, der gefürchtete Fürst der Unterwelt?«

Gent zuckte entnervt mit den Schultern. Er hasste es, wenn Leif den lächerlichen Titel, den ihm das gemeine Volk vor langer Zeit gegeben hatte, gegen ihn verwendete. »Im Grunde ist es nicht anders als damals bei Frigga oder Óinn.«

»Es ist überhaupt nicht so wie bei Frigga und Óinn. Muss ich dich daran erinnern, wie gefährlich es wäre, wenn Smilla gewisse Dinge in Erfahrung bringt? Sie könnte unser aller Untergang sein.«

Gent brummte mürrisch vor sich hin. Leif hatte wirklich ein Talent, ihm den letzten Nerv zu rauben. Auch wenn er es nur gut meinte. »Sie hat um eine Chance gebeten, um sich zu beweisen«, knurrte er. »Und die habe ich ihr gegeben. Das ist mehr, als die meisten Menschen in diesem götterverlassenen Land bekommen. Außerdem hat sie mir das Leben gerettet, schon vergessen?«

»Wie könnte ich das vergessen? Deshalb müssen wir uns jetzt schließlich unsere eh schon mageren Löhne mit einer weiteren Person teilen.« Ein flüchtiges Lächeln erhellte seine sonst so ernsten Züge. Es stand in Kontrast zu seinen barschen Worten. »Du tust zwar so, als hättest du ein Herz aus Stein, aber im Grunde kannst du nicht widerstehen, Leuten in Not zu helfen.«

»Leuten, die dafür bezahlen. Nicht einfach jedem dahergelaufenen …«