Die Flügel der Freiheit - Tilman Röhrig - E-Book

Die Flügel der Freiheit E-Book

Tilman Röhrig

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Beschreibung

Es hat geschneit. Auf den Wehrmauern liegt weißer Schimmer, als Barthel die Wartburg erreicht. Im Auftrag seines Meisters Lucas Cranach soll er Briefe an Martin Luther überbringen. Wie befürchtet, erhält der Reformator Nachricht, dass sein einstiger Verbündeter Thomas Müntzer den gewaltsamen Aufstand gegen die weltliche Obrigkeit fordert. Ein Weg, der viele Menschen in größte Gefahr bringt. Nicht zuletzt Barthel selbst und seine Liebste Dorothea. Eine Katastrophe bahnt sich an, und Luther reist zurück nach Wittenberg, um den Kampf gegen seinen Gegner Müntzer aufzunehmen …

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ISBN 978-3-492-97507-0 © Piper Verlag GmbH, München 2016 Covergestaltung: U1 berlin / Patrizia Di Stefano Covermotiv: Look and Learn/Bridgeman Images (Stadt, Himmel, Fluss) ; Martin Luther, c.1532 (oil on panel), Cranach, Lucas, the Elder (1472–1553) / Museum der Stadt, Regensburg, Bavaria, Germany / Bridgeman Images; AKG-Images (Medaille); DNY59 / Getty Image (Feder und Tinte) Karte: Cartomedia, Karlsruhe Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1 – Und er ließ …

Kapitel 2 – Die Stute weigerte …

Kapitel 3 – Duft nach warmfrischem …

Kapitel 4 – Es schneite nicht …

Kapitel 5 – Aus dem Maul …

Kapitel 6 – Beim Schellenreißen der …

Kapitel 7 – Collegien- und Schlossstraße …

Kapitel 8 – Invokavit. Ein frischer …

Kapitel 9 – Gott schuf die …

Kapitel 10 – Unnd ich werde …

Kapitel 11 – Ein milder Sommerabend. …

Kapitel 12 – Angespannte Stille herrschte …

Kapitel 13 – Das Mitternachtsläuten verstummte. …

Kapitel 14 – Keine Kappe. Spenglermeister …

Kapitel 15 – Die Märzsonne dehnte …

Kapitel 16 – Lose hielt Leonard …

Kapitel 17 – Seit gestern regnete …

Kapitel 18 – Stimmen im Hof. …

Kapitel 19 – War die …

Kapitel 20 – Die Feder kratzte …

Kapitel 21 – Wind bauschte …

Kapitel 22 – Umziehen. In fliegender …

Kapitel 23 – Was hatte …

Kapitel 24 – Ich will nicht …

Kapitel 25 – Ottilie Müntzer legte …

Kapitel 26 – Es sollte doch …

Kapitel 27 – Eiszapfen hingen lang …

Kapitel 28 – Speichel lief aus …

Kapitel 29 – Ein heller Maitag …

Kapitel 30 – Samstag, der 4. Juni. …

Kapitel 31 – Bewaffnete!« »Wo?« »Reiter. …

Kapitel 32 – Leicht außer Atem …

Kapitel 33 – Während der …

Kapitel 34 – Nach der Predigt …

Kapitel 35 – Sie ritten zusammen, …

Kapitel 36 – Kein Glockengeläut, immer …

Kapitel 37 – Ich bin eine …

Kapitel 38 – Tief atmete Martin …

Kapitel 39 – Hunger ist ein …

Kapitel 40 – Unruhe und Empörung …

Kapitel 41 – Seit vorgestern regnete …

Kapitel 42 – Vom Süden her …

Kapitel 43 – Die Schneise war …

Kapitel 44 – Zügig, doch keine …

Kapitel 45 – Tausend Reiter, zweitausendfünfhundert …

Kapitel 46 – Kaum waren der …

Kapitel 47 – Noch an diesem …

Kapitel 48 – Mühlhausen, endlich. Barthel …

Kapitel 49 – Was noch zu …

Personenverzeichnis

Ortsverzeichnis

Historische Karte

Guide

1

Und er ließ einen langen Furz. »Weiche, Satan«, flehte er, »so fahre aus mir!« Angstvoll wagte sich Martin Luther neben seinem Schreibpult wieder aufzurichten. Nur ein Moment der Erleichterung. Dann eckte und riss der übermächtige Peiniger weiter gegen die Innenwände des Bauches. »Oh großer Gott, hilf!«

Er presste beide Hände an den Leib, versuchte gegen die Welle der Qual zu atmen. Endlich ließ der Schmerz etwas nach. Schweiß sickerte ihm von den Schläfen in den Bart. Martin wischte über die Augen, rückte das Blatt auf der Unterlage gerade und vertiefte sich wieder in die Korrektur seiner Übersetzung. »… Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist … Oh hilf!« Martin unterbrach die Lektüre, mühsam ging er die wenigen Schritte durch seine Studierstube zum Fenster.

Auf dem Sims stand der Krug mit angedickter Milch. In Klumpen rutschte die weiße Masse in den Becher. »Trinkt davon«, hatte Burghauptmann Hans von Berlepsch ihn ermuntert, »Sauermilch löst.« Seit Martin Luther hier auf der Wartburg inkognito als Junker Jörg auf kurfürstlichen Befehl in Schutzhaft gehalten wurde, war der Ritter sein Wächter, Beschützer und einziger Gesprächspartner: bedächtig, fürsorglich und der evangelischen Sache aufgeschlossen.

Martin schluckte von der Dickmilch. Der Geschmack verursachte Ekel. Nur halb vermochte er den Becher zu leeren. »Oh Hans! Wenn ich nicht wüsste, dass du es gut mit mir meinst …« Er kehrte zum Sessel zurück, schwer ließ er sich nieder. »Es ist erneut eine Prüfung. Satan nutzt seine heimtückischen Waffen gegen mich.«

Mit einem Seufzer konzentrierte er sich auf den Brief des Paulus an die Römer. »… Verstöre nicht um der Speise willen Gottes Werk … Es ist besser, du essest kein Fleisch und trinkest keinen Wein …« Er las, bald schon griff er nach der Feder, glättete einen Versanfang, sprach leise vor sich hin, hörte auf den Klang und glättete erneut. »Aber der Gott des Friedens zertrete den Satan unter euren Füßen …« Kaum kam ihm der Name des Versuchers über die Lippen, wurde er zum Ruf nach innen. Der Angriff bäumte Martin hoch. Sein Klagestöhnen mündete in einen Wutschrei: »Gift!« Er stieß den Sessel nach hinten, war am Fenstersims. Mit dem Milchkrug in der Hand stürzte er zur Tür, riss sie auf. »Hans!«, schrie er die schmale Außentreppe hinunter: »Zeige dich!« Gleichzeitig schwang er das Gefäß, schleuderte es hinab. Ein harter Aufprall, der Ton zerplatzte und dicklich weiße Masse ergoss sich zäh über die Stufen. »Hans!«

Unten trat Ritter von Berlepsch aus der Wohnung, blickte zu seinem Gast hoch, sah die besudelte Stiege und rieb sich das Kinn. »Aber, Herr?«

»Nicht Herr. Hier steht der Prophet Elias und fährt gleich mit Feuer über Euch. Was habt Ihr mir angetan?«

»Ich verstehe nicht …« Eine dunkle Stimme, bedächtig langsam, zu langsam.

»Diese vergorene Milch sollte mir Linderung verschaffen. Das Gegenteil hat sie bewirkt.« Martin drohte mit der Faust. »Satan hat mich wieder im Hintern geschlagen. Oh verflucht! Er verklemmt mit kantigen Erzklumpen mein Gedärm. Und jetzt zergärt diese Milch auch noch meinen Magen, dass ich sie bald ausspucken muss.«

»Aber meine Gemahlin hat mir dieses Mittel als vorzüglich …« Wie stets behielt Berlepsch den Rest des Satzes für sich und rief nach ihr. Wenig später trat Frau Anne mit dem kleinen Sohn auf dem Arm nach draußen. »Liebste, du sagtest, Dickmilch wird unserm Junker Jörg helfen, ich solle …«

»Nicht so, mein Guter.« Die Hausfrau schüttelte den Kopf. »Du hast es verwechselt. Erst nach dem Schei…«, sie stockte, blickte zur drohenden Gestalt hoch auf der Stiege, »wollte sagen: Erst nach der Entleerung sollte die Dickmilch helfen das Gedärm zu pflegen.« Sie wandte sich an ihren Gatten. »Öl. Ich hatte dir Öl hingestellt. Ein halber Becher gleich am Morgen sollte endlich die Erlösung bringen.«

Martin Luther streckte den Arm, deutete über die Burgmauer hinweg weit über Eisenach und die Wälder Thüringens. »Ich muss nach Erfurt, dort wird mir geholfen.« Mit Schwung wandte er sich ab und verschwand in seiner Studierstube.

»Bei allen Heiligen …« Der Burghauptmann faltete die Hände. »Nicht schon wieder. Gib mir das Öl, Frau! Ich muss …«

Die Fäuste auf die Lehnen des Holzsessels gestemmt, empfing Martin seinen Wächter. »In diesem Zustand kann ich nicht arbeiten. Auch an Schlaf ist nicht zu denken. Wie soll ich das Neue Testament in schönes Deutsch fassen, wenn ich bei jedem zweiten Atemzug an den verhärteten Unflat in mir erinnert werde?«

»Bitte verzeiht mir die Milch.« Berlepsch stellte das Ölfässchen auf den Fenstersims. »Das hier wird schnellen Erfolg bringen. Ganz sicher. Weil meine …«

»Keine Kur mehr. Ich will nach Erfurt. Dort gibt es Doktoren mit Verstand.«

Berlepsch verschränkte die Hände hinter dem Rücken, leicht hob er die Stimme: »Bitte versteht, ich kann Euch nicht gehen lassen. Einmal habt Ihr mich übertölpelt. Was Anfang Dezember geschah, wird sich nicht wiederholen …«

Vor knapp zwei Monaten war sein Gast unter dem Vorwand auszureiten, einfach weitergeritten bis nach Wittenberg, hatte dort unerkannt als Junker Jörg mit Bart und vollem Haar, mit umgehängtem Schwert und ritterlichem Wams nach dem Wachsen seiner Reformation geschaut, war bei Freund Amsdorf drei Tage untergeschlüpft und dann wieder nach Eisenach auf die Wartburg zurückgekehrt. »Mit Verlaub, damals habt Ihr mein Vertrauen missbraucht. Ich bin für Eure Sicherheit …«

»Nicht missbraucht«, trotz der Übelkeit bemühte Martin ein Lächeln, »es gibt Zwänge, die mich nach Wittenberg zurückziehen.«

Als drohe erneut Gefahr, verstellte von Berlepsch mit breiter Gestalt den Ausgang. »Ihr seid der wichtigste Mann, der mir bisher von seiner kurfürstlichen Durchlaucht anvertraut wurde. Auch all unsere Gespräche … Und ich gestehe, dass ich stolz darauf bin. Aber Ihr seid auch mein Gefangener. Und deshalb …«

Martin hob den Sessel an und stellte ihn mit Wucht zurück. »In dieser Einsamkeit bin ich tausend Teufeln vorgeworfen. Ich falle von einer Not in die andere.« Er stieß den Zeigefinger zur Decke: »Wenn Gott mich ruft, dann werde ich dieses Patmos verlassen.«

Der Zorn prallte an Hans von Berlepsch ab. »Nur wenn ich diesen Ruf schriftlich habe, von offizieller Stelle. Und deshalb, bitte bleibt und trinkt das Öl!«

»Ganz gleich, was Ihr aus mir gemacht habt.« Der Gefangene zerrte am roten Wams, griff sich in den vollen Bart: »Junker Jörg. Aber trotz aller Tarnung bin und bleibe ich Luther, Dr. Martinus Luther.«

Der Burghauptmann nickte. »Den ich hoch verehre und dem ich gute Besserung wünsche.« Er wandte sich zum Gehen, sagte halb über die Schulter: »Zwingt mich nicht, die Außentreppe wegzuschieben …«

2

Die Stute weigerte sich, blieb vor dem niedrigen Haufen aus Geröll und Gestrüpp stehen. »Sei nicht so faul.« Barthel wendete das Pferd auf der Fahrstraße. In genügendem Abstand richtete er das Tier wieder auf das Hindernis aus. »Jetzt aber hopp!« Leicht stieß er die Stiefel in die Flanken. Kein kraftvolles Nachvorn, gemächlich trabte die Braune bis zu den Steinen und weigerte sich erneut. Barthel hob die Fellkappe an, kratzte sich durchs rote Haar und stülpte sie zurück über die Ohren. Vor Kurzem war wohl drüben vom Steilhang des Wartbergs ein Erdrutsch abgegangen, Ausläufer hatten die Burgstraße erreicht. »Kein Wunder, bei dem Regen letzte Nacht.« Er blickte nach oben. Auf Wehrmauern und Dächern der Wartburg lag weißer Schimmer. »Und da in der Höhe hat es sogar geschneit.«

Die Sperre war nicht übermäßig, aber Lisa weigerte sich. »Früher wären wir drüber weggeflogen.« Als hätte die Stute verstanden, schüttelte sie den Kopf. »Ist schon recht.« Der Neunzehnjährige strich ihr die Mähne, tätschelte den Hals und stieg aus dem Sattel. Mit wenigen Griffen räumte er Äste und Brocken beiseite, schaffte einen Durchgang. »Na komm, altes Mädchen! Bis rauf zur Burg ist es nicht mehr weit. Gehen wir den Rest zu Fuß.« Ohne Sträuben folgte ihm die Stute, stupste ihn sogar hin und wieder mit den Nüstern gegen den Rücken.

Steiler wurde die Straße, auf dem letzten Stück überzog Reif das Pflaster. Nur noch vorsichtig, Schritt für Schritt, endlich gelangte Barthel mit der Stute vor das Torhaus. Die Brücke war heruntergelassen.

Aus dem dunklen Bogen löste sich ein Wächter, unter seinem offenen, dick gesteppten Schultermantel blinkte der Brustharnisch. »Was willst du?« Die Augen rot unterlaufen, über den gedunsenen Nasenrücken zog sich ein Netz bläulicher Adern. »Wir erwarten niemand. Und bei dem Sauwetter schon gar nicht. Mach’s Maul auf!«

Barthel ballte die Hand hinter dem Rücken. Wieso fährt der mich so an? Ich hab noch kein Wort gesagt. Dieser thüringische Eisenklotz … Nein, bleib ruhig, befahl er sich, ganz ruhig, und öffnete langsam wieder die Faust. »Sehr freundlicher Empfang. Ich grüße zurück.«

»Arbeit gibt es nicht. Wir haben Leute genug.« Der Wächter patschte mit der Linken gegen die Schwertscheide. »Wenn du was anderes willst, dann sag es mir, dem Walter.«

Barthel verschluckte den Fluch. »Ich komme von Wittenberg. Als Bote«, er deutete auf die Satteltaschen, »hab Briefe …«

»Wie heißt du?«, unterbrach ihn der Klotz.

»Bartholomäus Reiche aus Salza.«

»Kerl«, langsam wuchtete sich der Wächter auf ihn zu, »sagtest du nicht gerade, aus Wittenberg?«

Gegen Schwert und Rüstung war nichts auszurichten. Barthel wich bis zur Stute zurück und nahm die Fellmütze ab. »Beides stimmt. Hab Vater und Mutter in Salza, und Arbeit hab ich in Wittenberg. Von da komme ich«, tapfer reckte er das Kinn, »mit Briefen.«

»Her damit!«

Noch einen Schritt zurück. »Ich muss sie persönlich abliefern. Das ist mein Auftrag. Von Hand zu Hand sozusagen. An den Junker Jörg. Der ist doch hier? Oder?«

Die Linke raffte die Mantelhälfte über dem Schwertknauf. »Du bist kein Bote, du willst spionieren?«

»Nein. Wieso?« Barthel tastete nach Lisas Halfter, drängte sein Pferd herum, als er den Fuß zum Steigbügel hob, zückte der Kerl das Schwert. »Halt! Wag dich nicht vom Fleck.« Die Schwertspitze zielte auf den Hals. »Jetzt hast du dich verraten. Ein Spion.«

Der Mund wurde trocken. Kein böser Traum. Hart schlug das Herz. Dieser Wahnsinnige meinte es ernst. »So hör doch, ich … ich bin nur Bote«, stammelte Barthel. Das geschliffene Eisen wippte vor seiner Kehle. »Bin kein Spion. Warum auch?«

Da stieß der Wächter höhnische Grunzer aus. »Das sagen sie alle. Nein, Bursche, mich, Walter, kannst du nicht täuschen. Runter auf die Knie.« Sein Opfer reagierte nicht. »Runter, sag ich!«

Ohne die Schwertspitze aus den Augen zu lassen, bog Barthel den Kopf zurück und sank langsam nieder.

»Walter!« Eine scharfe Stimme vom Torhaus. »Was gibt es da?«

Über die Schulter rief der Wächter. »Ich hab einen, Herr! Einen Spion. Keine Angst, hab ihn sicher.«

Aus dem Torbogen trat Ritter von Berlepsch, den Pelzkragen hochgeschlagen, dicht gefolgt von einem zweiten Wachmann.

Schnellen Schritts kam der Burgvogt über die Fallbrücke. »Walter, nimm die Waffe runter!«

»Aber so ein Spion ist gefährlich.«

»Gehorche!«

Widerwilliges Knurren. Der Wächter zögerte, wollte die Beute nicht aus den Fängen lassen.

»Wird’s bald!«

Endlich folgte Walter dem Befehl, stieß das Schwert zurück in die Scheide.

Von Berlepsch wies in Richtung Torhaus. »Dahin mit dir«, befahl er wie einem Hund.

»Aber, Herr?« Vorwurf und Kränkung zugleich. »Äußerste Wachsamkeit. Habt Ihr selbst befohlen. Und jetzt hab ich endlich einen erwischt.«

»Ich erkläre es dir später. Und nun geh auf deinen Posten!« Berlepsch gab dem zweiten Wächter einen Wink, und beide zogen sich zurück.

»Dem Himmel sei Dank.« Barthel erhob sich, betastete seinen Hals. »Das war knapp. Dachte schon, ich bin an Raubritter geraten.«

»Hüte deine Zunge«, warnte der Burghauptmann, »auch ich traue dir noch nicht.«

»Oje«, Barthel schlug mit der Fellkappe auf die Satteltasche. »Ich bringe Nachrichten aus Wittenberg.«

»So? Beiseite!« Mit einem Handschlenker scheuchte Berlepsch ihn einige Schritte von der Stute weg. Kurz prüfte er Maul und Augen des Tieres, griff in die Mähne, betastete die Flanke. »Aus Wittenberg, sagst du? Das wundert mich. Der Gaul ist nicht lange gelaufen … Außerdem zu alt für den weiten Ritt …«

»Das kann ich erklären.« Barthel knautschte die Mütze zwischen den Händen. »Bis nach Salza hab ich das Pferd von meinem Meister geritten …« Dort bei seinen Eltern hatte er es mit der Stute getauscht. »Weil ich meine alte Lisa so lange nicht hatte. Da wollte ich ihr und mir ein Vergnügen machen … Herrgott, besser ich hätt sie zu Haus gelassen.«

Ritter von Berlepsch maß den kräftig gebauten Burschen von den Stiefeln über das Wollwams bis hinauf zu den wirren roten Haaren. »Du bringst Nachrichten?«

»So ist es. Für einen Junker Jörg. Der soll hier wohnen.«

Bei Erwähnung des Namens hob der Burgvogt die Brauen. »Wer schickt dich?«

»Der ehrenwerte Meister Lucas Cranach. Bei dem bin ich Geselle. Aber es sind auch von anderen Briefe dabei: von Herrn Melanchthon, von Herrn Amsdorf …«

»Genug, diese Namen genügen mir als Ausweis. Sei willkommen!« Ritter von Berlepsch wandte sich zur Fallbrücke. »Erst bringst du deine Lisa zum Stall, dann stelle ich dich dem Junker vor.«

3

Duft nach warmfrischem Brot? Mehr noch, etwas Süßes schwang mit durch den kleinen Saal im Vorderhaus der Burg. Weiter hinten unter dem Fenster war der Tisch gedeckt. Dieser Duft zog das Wasser im Mund zusammen. »Hunger hab ich«, flüsterte Barthel. Zu gern wäre er näher gegangen. Nein, nicht um zu naschen, nur um zu sehen, was da Köstliches in der Schüssel dampfte.

Aber: »Warte hier!« Der Burghauptmann hatte ihm gleich neben der Tür den Platz zugewiesen. Und nach dem Empfang am Tor wollte Barthel kein Risiko eingehen. Also blieben ihm nur der Duft in der Nase und die Spucke im Mund.

Draußen näherten sich Schritte, Stimmen, die Tür öffnete sich, der Burgvogt erschien im Rahmen, blieb stehen und schwenkte unterwürfig den Arm.

Das bärtige Kinn leicht vorgereckt, stürmte ein Junker an ihm vorbei, hielt erst in der Saalmitte an. »Wo ist der Bote?«

»Hier«, meldete sich Barthel vom Eingang her.

Lebhaft kehrte der Herr um, stockte, straffte den roten Rock, legte die Hand auf den Schwertknauf. »Ich hatte einen anderen erwartet.«

»Zu Diensten, Herr. Bartholomäus Reiche aus Salza … ich mein, Barthel aus Wittenberg. Beides meine ich.«

Mit gefurchter Stirn musterte er den jungen Mann. »Sind wir uns schon mal begegnet?«

Barthel sah das Wams, das Gesicht. »Eigentlich nicht, Herr. Und doch schon. Ich kenne Euch.«

Wie ein starrer dünner Schweif wedelte die Schwertscheide im Rücken des Herrn hin und her. »Das wundert mich …« Ein scharfer Blick zum Burgvogt. »Hans, habt Ihr mir eine Information vorenthalten?«

»Bei meiner Ehre nein. Er sagte, er bringe Briefe …«

»Genug«, unterbrach der Junker und wandte sich wieder an den Rothaarigen: »Wer … Woher kennst du mich?«

Barthel verstand die Aufregung nicht, er grinste vorsichtig. »Na, Ihr hängt doch bei uns in der Werkstatt. Nicht Ihr, aber Euer Bild. Junker Jörg, so nennt Euch Meister Cranach. Und zu dem vom Bild bin ich geschickt worden, also bin ich bei Euch richtig.«

»Das trifft zu.« Spielerisch drehten die Fingerkuppen an den Bartlocken. »Lucas Cranach ist ein wahrer Künstler. Sag, dieses Gemälde? Hat es Farbe?«

»Ja doch. Genauso wie Ihr …« Barthel zögerte, rümpfte leicht die Nase. »Wenn ich ehrlich sein soll, auf dem Bild seht Ihr etwas frischer aus als jetzt.«

Gleich drohte ihm der Burgvogt mit dem Finger. »Hüte deine Zunge!«

»Lasst nur«, beschwichtige der Junker, Sanftmut lag nun in der hellen Stimme. »Unser junger Freund soll reden, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.« Er wandte sich wieder an den Boten. »Weißt du mir noch Einzelheiten vom Gemälde zu berichten?«

Barthel sah auf seine Stiefelspitzen. Oje, was will der Herr denn hören? Viel war da nicht drauf. Von unten blickte er den Junker an. »Also, zwei Augen, dunkle … Und die dicke Nase. Und vor allem der Bart. Und … ja, und Euer Rock war nicht rot, auch dunkel …«

»Gut, gut. Lassen wir es damit bewenden. Du bringst Nachrichten?«

Barthel öffnete die Felljacke und zog eine flache Brusttasche heraus. »Hab die Briefe in Ziegenleder gepackt, damit unterwegs nichts drankommt.«

Mit schnellem Griff schnappte der Junker nach dem Beutel, wortlos eilte er in Richtung Fenster, auf dem Weg öffnete er die Lasche, erbrach das Siegel des ersten Schreibens und las.

Stille, nur das Rascheln des Papiers, hin und wieder ein empörtes: »Dieser Hundsfott!«, dann wieder Seufzen.

Barthel sah Hilfe suchend auf den Burghauptmann, der beschwichtigte mit den Händen, legte den Finger auf die Lippen.

Also warten. Barthel sah sehnsüchtig zum Tisch. Und dahinten wird alles kalt in der Schüssel.

Das zweite Schreiben. Der Junker schritt lesend auf und ab. Mit einem Mal pochte er den Finger heftig auf das Blatt, Lachen, dann bog sich der Oberkörper zurück und ein schallendes Gelächter brach sich Bahn. Erst nach einer Weile verebbte es in beinah weinerlichen Lauten. Junker Jörg beugte sich wieder über die Zeilen. »Dieser Narr, dieser übereifrige Dummkopf.« Er eilte auf den Burgvogt zu. »Seht nur hier! Freund Melanchthon hat mir geschrieben, womit unser eifriger Andreas Karlstadt versucht, den Zölibat zu widerlegen. Und obwohl ich ihn mehrmals schon auf seine Missdeutung hingewiesen habe, wählt er keine geeignetere Bibelstelle. Man sollte nicht glauben, einen studierten Gelehrten vor sich zu haben.«

Nach raschem Blick auf den Boten hob von Berlepsch die Brauen: »Junker Jörg«, betonte er überdeutlich, »bedenkt, wer Ihr seid. Nicht jeder Mann Eures Standes ist so in der Heiligen Schrift bewandert wie Ihr.«

Die Warnung verflog. Zu sehr beschäftigte der Inhalt des Briefes. »Ich will Euch beweisen, wie einfach die Stelle bei Moses zu verstehen ist.« Der Junker bat den Boten, näher zu kommen. »Mein Sohn. Hast du jemals deinen Samen verbrannt?«

Vor Schreck wich Barthel einen Schritt zurück. Der Herr meint doch nicht …? Er schluckte. »Samen? Was für Samen?«

»Nun scheue dich nicht. Wir sind unter uns Männern. Wenn das Begehren uns überkommt.«

Oh Gott, also meint er doch diesen Samen. »Und, Herr, wieso verbrennen?«

»Vielleicht als Opfer? An Moloch?«

Was? Wo bin ich hier nur hingeraten? »Daran … daran denkt doch keiner.«

»Richtig. Und das nicht nur, weil der Geruch unangenehm und so nah ans Feuer hintreten nicht ohne Gefahr ist.« Junker Jörg wedelte mit dem Brief, dazu wippten die Bartlocken. »Mein Sohn, nach dieser kleinen Vorübung will ich dir eine Stelle aus der Bibel zitieren. Du sagst mir dann, was da gemeint ist. Also, Gott verlangt: ›Du sollst deinen Samen nicht hingeben, dass er dem Gott Moloch als Brandopfer dargebracht wird.‹ Was will Gott von uns?«

Barthel blies die Luft aus. Schule mochte ich nie, dachte er.

»Nun sag, was dir in den Sinn kommt.«

»Samen nicht. Vielleicht meint er die Kinder? Aber die verbrennt doch auch keiner.«

»Früher schon.« Der Junker schnippte Barthel zu. »Feuerkopf. Bewahre dir deinen klaren Verstand.« Und an den Burgvogt gewandt setzte er hinzu: »Unser gelehrter Karlstadt! Was ist das für eine Auslegung? Seinen Samen dem Moloch opfern heißt, sich mit dem eigenen Spermaerguss beflecken … Und das führt er gegen den Zölibat ins Feld. Damit erntet er bei unseren Feinden nur Spott, mehr nicht.«

Zurück am Fenster entnahm der Junker den nächsten Brief, las das Siegel. »Vom Rat der Stadt Wittenberg?« Er überflog die Zeilen und ließ das Blatt sinken. Seine Miene hellte sich auf, feierlicher Glanz stahl sich in die Augen. »Hans, der Ruf Gottes. Ihr wolltet ihn schriftlich. Hier …«

»Nicht weiter, Herr«, unterbrach ihn der Burgvogt. Hastig fasste er den Boten am Arm. »Hinaus mit dir!«

Jetzt wurde es Barthel zu dumm. »Aber die Mahlzeit. Seit heute früh habe ich nichts in den Bauch bekommen.« Sein Blick hing am gedeckten Tisch, an der großen Schüssel. »Ihr habt mir Essen versprochen.«

»Später, Junge. Jetzt warte draußen auf dem Flur.« Er zog und schob. »Später rufe ich dich wieder herein.« Von Berlepsch schloss die Tür und kehrte zurück. »Ihr seid unvorsichtig. Denkt an Eure Tarnung. Welcher Junker diskutiert mit einem einfachen Burschen über eine Bibelstelle? Und dann auch noch über Samen.«

»Mein Inkognito wird bald gelüftet sein.« Martin Luther strich beinah liebevoll über das Pergament. »Gott hat den Ruf nach mir dem Stadtrat von Wittenberg in die Feder diktiert. Es scheinen dort Wölfe in meine Herde eingefallen zu sein. Außerdem toben einige aus unseren eigenen Reihen wie Wilde herum. Tag für Tag nimmt die Unruhe zu.« Unvermittelt schlug er mit der flachen Hand auf den Brief. »Niemand soll es wagen, meine Reformation zu gefährden! Niemand. Hier, lest selbst.« Der Finger pochte auf die Zeilen.

Hans von Berlepsch neigte sich über das Blatt, dann sah er seinen Gefangenen an. »Sie schreiben von Aufruhr … Gut, sie bitten um Hilfe, um Eure Rückkehr. Doch was geschieht dort in Wittenberg? Was nur Ihr retten könnt? Ich kann Euch nicht gegen den Willen unseres Kurfürsten ziehen lassen … Ich muss es wenigstens vor mir selbst verantworten.«

»Hans!« Luther wollte aufbrausen, mit dem nächsten Atemzug aber hellte sich die Miene auf. »Wir fragen …« Er war schon auf dem Weg zur Tür. »Der Feuerkopf muss es wissen. Rufen wir ihn herein.«

»Weiß nicht.« Kein Wort mehr war aus Barthel herauszubekommen, sosehr Junker Jörg ihn auch bestürmte. Bei jeder Frage hob der Bote die Achseln, dabei heftete sich sein Blick fest auf den Tisch. »Weiß nicht.«

Endlich begriff der Burghauptmann. »Möchtest du etwas essen?«

Ein erlöstes Nicken als Antwort.

»Und fällt dir dann etwas ein?«

»Bestimmt.« Barthel grinste vor sich hin. Ist gut gegangen, dachte er, wenn ich gleich was erzählt hätte, dann hätten sie mich wohl möglich mit leerem Bauch wieder rausgeschickt. Ehe er sich am Tisch niederließ, schob er Gesicht und Nase einmal rasch über die Schüssel. Hirsebrei, durchzogen von hellroten Fäden, ihnen entströmte der Duft. Was aber roch so gut?

Die Herren setzten sich. »Hier ist Brot, Schinken und Käse.« Von Berlepsch schob das Holzbrett näher. »Möchtest du Bier?«

Barthel hatte schon den Napf in der Hand. »Nachher vielleicht.« Hunger macht unvorsichtig, er stieß mit dem Tellerrand gegen die Schüssel. »Erst davon.«

Zwei randvolle Schöpfkellen ließ er sich geben.

Die Herren bestaunten seine Gier. Löffel für Löffel, die Köstlichkeit weitete Zunge und Gaumen. Barthel schmeckte, kannte den Geschmack, konnte ihn aber nicht deuten. »Was ist da drin?«, erkundigte er sich, als der Napf schon halb geleert war.

Von Berlepsch schmunzelte. »Meine Frau kocht den Hirsebrei, danach gibt sie Himbeersirup und Rosinen dazu.« Er selbst nahm sich ein Stück Käse. Junker Jörg griff nach dem langen Messer, zerteilte das Brot. »Ein so kräftiger Bursche zieht Brei einer deftigen Mahlzeit vor?«

Mit vollem Mund nickte Barthel, nach dem Schlucken grinste er: »Wenn es was Süßes gibt, lass ich das Saure stehen.«

Von Berlepsch gründelte mit der Kelle über den Schüsselboden und füllte den Napf erneut. »Ehe du aufbrichst, darfst du in der Küche nach Honig fragen. Meine Frau gibt dir sicher …«

»Danke, Herr, nicht nötig«, wehrte Barthel ab. »Von meinem Dorlein bekomme ich den besten Honig.« Zu schnell war der Satz ihm über die Lippen gekommen, er ließ den Löffel sinken. »Verzeiht, ich wollte nicht unhöflich sein. Natürlich frage ich gerne in der Küche.«

»Dorlein? Wer …?«

»Das ist meine … will sagen: Dorlein, das ist Dorothea Gerlach aus Allstedt. Sie und ich … auch der Honig.«

»Genug gestottert, Feuerkopf«, unterbrach Junker Jörg, »wir haben verstanden. Antworten. Jetzt will ich wissen, was in Wittenberg vor sich geht.«

Barthel schob den geleerten Napf zurück. Er fühlte sich satt, warm, und auf der Zunge kitzelten noch Reste vom Himbeersirup. »Also, obwohl die Studenten auf uns Handwerksgesellen runtergucken, stör ich mich sonst nicht an denen. Aber in letzter Zeit sind sie auch für mich schlimm geworden. Wie sie in der Stadtkirche die Priester mit blankem Messer vom Altar weggejagt haben.«

Hans von Berlepsch versteifte den Rücken. »Während der Messe?«

»Wenn ich es Euch sage …« Barthel berichtete von Spottgesängen in der Stadtkirche. Der grölende Haufe hatte Altäre umgestürzt, Bilder von den Wänden gerissen, Heiligenfiguren und sogar Kreuze zerbrochen. »Ein großes Feuer haben sie draußen angesteckt und all die frommen Sachen verbrannt.«

Junker Jörg legte die geballten Hände vor sich auf die Tischplatte. »Weißt du, wer daran beteiligt war?«

»Studenten …«

»Die nicht allein«, fuhr ihn der Junker an. »Von allein wagen Studenten nichts. Jemand muss sie am Nasenring führen.«

Barthel grinste bei dem Gedanken. Das gefällt mir. All die feinen Herrlein am Ring über den Marktplatz ziehen.

»Denke nach!«

»Ich weiß nur, dass Meister Cranach immer über einen Professor besonders geflucht hat.« Barthel zögerte, sah den Junker wieder von unten an. »Das ist der, über den Ihr vorhin geredet habt, der mit dem Samen.«

»Karlstadt. Ich habe es befürchtet.« Fahrig wischte sich der Junker über die Stirn. »Er kann, er will nicht warten.« Erneut vergewisserte er sich: »Andreas Karlstadt? Hast du den Namen richtig verstanden?«

»Genau der.« Barthel hob leicht die Hand. »Ich schwör’s.«

»Genug!«, herrschte ihn Junker Jörg unvermittelt an, gleich nahm er die Schärfe zurück. »Sei nicht leichtfertig mit deinem Schwur. Zu viele haben Gelübde abgelegt, die sie in diesen Tagen widerrufen müssen, weil ihre Schwüre unfromm und lästerlich waren.«

»Was?« Barthel kratzte sich an der Schläfe. »Das versteh ich nicht, Herr. Ich hab doch nur gesagt, dass der mit dem verbrannten … Ihr wisst schon, dass der der ist, nach dem Ihr gefragt habt.«

Nun lachte der Junker leise. »Genug, Feuerkopf. Denke an deine Dorothea und verleugne nie, dass du ein Mensch aus Fleisch und Blut bist. Bitte lasse uns jetzt allein.«

Und was meint der Herr jetzt damit? Barthel seufzte. Andere Herren reden nicht so schlau. Er war schon fast an der Tür, als ihm Junker Jörg nachrief: »Ich werde dir später einige Briefe mitgeben. Bitte händige sie Meister Cranach aus, der wird sie dann an die adressierten Personen verteilen.«

Und Hans von Berlepsch setzte noch hinzu: »Ab mit dir zum Honig in die Küche! Dort wartest du.«

Kaum waren die Herren allein, beugte sich Martin Luther vor. »Wittenberg im Chaos. Es wird höchste Zeit für mich.«

»Nein, Herr. So sehr drängt es nicht.« Der Burgvogt faltete die Hände auf der Tischplatte. »Schloss und Stadt werden nicht untergehen. Dafür wird Seine Durchlaucht schon sorgen. Außerdem ist Winter …«

»Großer Gott, Hans, was schert mich das Wetter!« Die Faust hieb auf den Tisch. »Und wenn Kurfürst Friedrich in seiner Langmut zu nachsichtig ist?« Der Gefangene hielt inne, sah ins jäh versteinerte Gesicht seines Wächters. »Ich wollte Euch nicht anfahren. Verzeiht. Ein Vorschlag zur Güte: Ich beende erst die Übertragung des Neuen Testamentes ins Deutsche. Dazu benötige ich etwa noch einen Monat. Und danach lasst Ihr mich ziehen.«

Von Berlepsch schob den Bierkrug zwischen den Händen hin und her. »Gut, dann reden wir noch mal drüber.«

4

Es schneite nicht mehr. Noch hing der Himmel grau, unter ihm aber dehnte sich die Ebene, bedeckt mit weichem, reinem Weiß. Weit vorn erkannte Barthel die beiden Kirchtürme von Allstedt, umringt von geduckten Hausdächern, aus den Schornsteinen stieg Rauch hinauf zum Bergrücken, und dort thronte über allem die mächtige Burg. »In einer Stunde hab ich es geschafft. Ach, Dorlein …« Er reckte sich im Sattel. »Ich komme!«, jubelte er, wollte pfeifen, es gelang nicht, die verfrorenen Lippen ließen sich nicht runden. Seit drei Tagen war er unterwegs. In Salza hatte er die alte Lisa wohlbehalten bei den Eltern wieder im Stall untergebracht und war auf dem braunen Wallach seines Meisters weitergeritten.

»Waschen muss ich mich.« Nur die Stiefel hatte er abends in den Herbergen ausgezogen. Eine strohgestopfte Matratze, eine Decke, mehr gaben die Wirte nicht her, und so entstand allein Wärme, wenn die Reisenden, ob nun Verwandte oder Fremde, Mann oder Frau, auf der breiten Bettstatt enger zusammenrückten. Morgens war nur ein Eisklumpen in der Waschschüssel gewesen.

»Ein Bottich mit dampfendem Wasser …« Barthel schüttelte den Kopf. »Nein, erst ein Kuss, dann der Bottich.« Er unterbrach sich, roch in seine Jacke. »Besser erst waschen. So wie du stinkst.«

Das Stadttor stand weit offen. Unter dem Bogen hielt Barthel das Pferd an, wartete, doch niemand kam. Er stellte sich in die Steigbügel, blickte nach rechts ins Guckfenster, die Wachstube war leer. »Ah, verstehe. Da drinnen ist es sicher zu kalt«, feixte er. »Und so spät am Tag kommt der Feind nicht. Jetzt wird sich daheim aufgewärmt.«

Leises Schnalzen und der Braune trottete weiter. Nur wenig Schnee bedeckte das Pflaster, doch dämpfte er den Hufschlag. Vorbei an St. Wigberti, bog Barthel nach links ab in Richtung Stadtkirche.

Das Hoftor, einfach aus Balken und Brettern gezimmert. Mein Himmelstor. Sein Herz schlug heftiger. Vergessen waren der steife Rücken, die verfrorenen Glieder, neu erwacht schwang er sich aus dem Sattel, band den Wallach an und drückte die Pforte auf. Gleichmäßiges Hämmern drang aus der Werkstatt im Nebengebäude. Geruch nach Holzbrand, vermischt mit Duft von gekochten Rüben erfüllte den Hof. Barthel ging direkt zum Haupthaus, pochte kaum hörbar an die Küchentür und wartete nicht. Bei seinem Eintreten rührte Frau Gerlach im Tiegel über dem Feuer, eine leicht füllige Gestalt, das angegraute Haar zum Knoten am Hinterkopf gesteckt. Sie wandte sich nicht um, sagte nur erstaunt: »Bist du schon zurück, Mädchen?«

Er trat einige Schritte näher. »Nein, ich bin’s nur.«

»Wer?« Sie blickte über die Schulter. Der erste Schreck wurde gleich vom Lächeln weggewischt. »Du? Aber ich wusste gar nicht …?«

Barthel dienerte. »Bitte verzeiht.« Kurz berichtete er von seinem Botenritt. »Vorher schreiben ging nicht. Und da dachte ich …«

»Du bist mir immer willkommen.« Agathe Gerlach ging auf ihn zu, der Blick ihrer hellen Augen prüfte den jungen Burschen mit mütterlichem Wohlwollen, sie fasste seinen Arm, ließ die Hand aber gleich wieder sinken. »Warst du schon in der Werkstatt?«

»Nein. Ich wollte zuerst …«

»Dummer Junge«, sie furchte die Stirn, »erst musst du ihn begrüßen. Immer zuerst den Hausherrn.« Leise setzte sie hinzu: »Ordnung bedeutet so viel für meinen Konrad. Dorothea ist ohnehin nicht da. Sie fegt und wischt mit anderen Mädchen drüben in St. Johannis. Sonst verkommt unsere Kirche ganz.« Ein leises Lachen, und Agathe Gerlach deutete an sich hinunter. »Und meinetwegen bist du sicher nicht hier.«

»So will ich das auch nicht sagen …«, beeilte sich Barthel.

»Nicht weiter, sonst bricht dir noch die Zunge.« Der Finger zeigte zur Tür: »Und nun geh rüber zum Vater.«

Schlag und Schaben und wieder der kurze Schlag, gefolgt von Schaben, ein leichter, fast beschwingter Rhythmus. Konrad Gerlach saß vor dem Amboss, seine Linke drehte die Wand des Messingkelches auf dem Horn, und die Rechte führte den Polierhammer. Schlag und Schaben. Er sah nur kurz auf, graue, scharfe Augen unter buschigen Brauen, ein hageres Gesicht. »Bin gleich so weit.«

Drüben von der Feuerstelle stieg bläulicher Rauch auf, verteilte sich träge unter der Decke. Barthel verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Wie aufgeräumt es hier ist. Haken, Scheren, die Eisen und die verschiedenen Hämmer, jedes Werkzeug hatte seinen Platz an den Wänden. Die Bleche sorgfältig gestapelt, Messing, Kupfer …

»Ja, schau dich nur um.« Konrad Gerlach stellte das Gefäß neben dem Amboss ab und erhob sich. Auch nach dem Räuspern blieb die Stimme eng in der Kehle: »Ich könnte einen tüchtigen Lehrbuben gebrauchen.«

»Sehr freundlich. Aber Spengler ist nichts für mich.« Barthel zeigte die Hände. »Da hätte ich nur blaue Finger vom Draufhauen. Da lerne ich lieber das Formschnitzen und Drucken …« Er stockte. Die Miene des Hausherrn hatte sich verdüstert.

Eilig dienerte Barthel. »Verzeiht, ich hab gleich dahergeredet. Erst mal: Gott zum Gruß, Meister Gerlach. Ich war in Eisenach und bin auf dem Weg zurück nach Wittenberg.«

»Über Allstedt? Ein ziemlicher Umweg.«

»Für mich nicht«, beteuerte er viel zu rasch und nahm sich gleich zurück: »Ihr wisst schon, warum.« Ein Schlucken half. »Ich bitte um Gastfreundschaft. Herberge, wollte sagen, ein Bett … Nur für eine Nacht. Und wenn ich mein Pferd unterstellen darf?«

»So gefällst du mir. Sei unser Gast, junger Mann.« Leichtes Lächeln zeigte sich in den Mundwinkeln. »Ich denke, auch meine Tochter wird nichts einzuwenden haben.«

Um sich nicht durch die Vorfreude im Gesicht zu verraten, dienerte Barthel wieder. »Danke, Meister.«

Frau Gerlach öffnete die Tür, mit kurzem Blick prüfte sie die Stimmung zwischen den Männern. »Gottlob. Begrüßt habt ihr euch also schon.« Aufmunternd blickte sie ihren Gatten an. »Es ist doch schön, dass der junge Herr Bartholomäus uns mit seinem Besuch beehrt?« Ehe eine Antwort kam, setzte sie hinzu: »Deshalb will ich den Rübentopf aufbessern. Bitte, Mann, geh und schlachte uns ein Huhn!«

Meister Gerlach hob die Brauen. »Heute ist Mittwoch und kein Sonntag.« Scharf sog er die Luft ein. »Oder gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«

»Nur eine Ausnahme. Bitte!« Mit beiden Händen beschwichtigte sie. »Nur zur Feier des Tages.«

Es dauerte, dann erst glättete sich wieder die Stirn. »Meinetwegen.« Konrad Gerlach deutete auf den Gast. »Bring dein Pferd nebenan in die Scheune, versorgen kannst du es später, und komm nach zum Hühnerstall. Kannst mir helfen.«

Als Barthel durch den schmalen, dunklen Brandstieg zwischen Werkstatt und Scheune in den angrenzenden Garten gelangte, verließ Meister Gerlach gerade den Hühnerstall. Er hielt die Henne an beiden Füßen gepackt, und das Tier flatterte, gackerte. Als hörte er das empörte Gezeter nicht, wies Konrad mit der freien Hand zum hoch gestapelten Brennholz an der Scheunenwand. »Rück den Hackklotz weiter nach drüben. Will das Freilaufgehege nicht versauen, sonst legen mir die andern zwei Tage nicht.«

Barthel gehorchte, schleppte den klobigen Holzklotz vor der Brust einige Schritte in die schneebedeckte Wiese und setzte ihn ab. Als er sich umdrehte, stand der Vater seines Dorleins dicht hinter ihm. An der linken Faust hing das zappelnde Huhn, die andere hatte das Beil zum Schlag erhoben. Barthel zuckte zusammen. Ohne darauf zu reagieren, befahl der Meister nur: »Geh zur Seite!« Mit hartem Schlag hieb er die Schneide ins Holz. Er schwang das Huhn, ließ es am langen Arm wie ein Windrad kreisen, das Gackern geriet in entsetzte Schreie, dabei sah er Barthel scharf an. »Das nächste Mal, wenn du meinen Hof betrittst, kommst du erst zu mir und rennst nicht gleich ins Haus. Haben wir uns verstanden?«

»Verzeiht, Meister. Aber ich dachte …«

»Schweig! Versündige dich nicht mit einer Lüge.« Das Kreischen der Henne verstummte, und Konrad brach das Herumwirbeln ab. Kurz überzeugte er sich von der Benommenheit, dann presste er den Federleib seitlich auf den Hackklotz, dass die Henne beide Flügel nicht bewegen konnte. Barthel sah den kleinen Kopf, den gezackten Kamm, er sah das Auge. Im gleichen Moment fuhr das Beil nieder. Blut spritzte. Geübt griff Konrad Gerlach wieder die Beine und hielt den Rumpf von sich. Jetzt erwachten die Flügel, ließen den Torso auf- und niederfahren. Blut, mehr und mehr schoss aus der Wunde, das wilde Flattern versprengte es rundum, färbte den Schnee.

Lachen ertönte im Durchstieg zwischen Werkstatt und Scheune, eilte voraus, Dorothea Gerlach erschien im Garten. »Barthel! Wie kommst du hierher? Ich fasse es …« Jetzt traf sie das Bild, der Liebste inmitten von blutgetränktem Schnee, auch der Vater stand dort, verspritzte das Blut der Henne auf dem reinen Wiesenlaken, dazu schlugen die Flügel den Takt. »Nein, nicht!«, stammelte sie und verbarg das Gesicht.

Barthel eilte zu ihr. »Aber, Dorlein. Wir haben nur … Ein Huhn.« Er wollte sie in den Arm nehmen, noch ehe er ihre Schultern berühren konnte, rief der Meister scharf: »Das genügt, junger Mann!« Nach einem Atemzug wurde die Stimme etwas weicher. »Tochter, so kenne ich dich gar nicht.«

Sie wischte über die Augen. »Verzeih, Vater. Es war nur der Schreck.« Sie schob einige Haarsträhnen zurück unters Kopftuch. »Mutter sagte, dass er …« Ein Blick zum Liebsten, im Braun ihrer Augen glomm das Bernsteinlicht auf. »Ich mein, dass Barthel angekommen ist. Vom Huhn hat sie nichts gesagt, oder ich war zu eilig. Deshalb wusste ich vom Schlachten nichts.«

»Jetzt weißt du es.« Konrad Gerlach streckte ihr den Torso hin. »Hier nimm, Blut kommt keins mehr. Geh deiner Mutter zur Hand und rupfe den Vogel.«

»Aber, Vater …« Die vollen Lippen zitterten. »Du weißt genau, dass ich mich davor ekle.«

»Keine Widerworte! Was getan werden muss, muss getan werden. Auch wenn da draußen alles in Unordnung gerät und es in der Kirche zurzeit drunter und drüber geht. Bei uns hier erfüllt jeder seine Pflicht. Federvieh rupfen und ausnehmen gehört zu den Pflichten einer Frau.«

Mit Mühe schwieg Dorothea, nur das Zucken des kleinen Muttermals über dem Grübchen auf der rechten Wange zeigte ihre Empörung.

Barthel wollte helfen, streckte die Hand, wollte das Huhn nehmen.

»Untersteh dich, junger Mann!« Der Vater ging auf die Tochter zu. »Hier nimm«, forderte er.

Noch ein heftiges Atmen, dann sank der Protest, ohne hinzusehen, griff Dorothea nach den gelblichen Krallenbeinen und ging in Richtung Durchstieg.

Barthel zeigte ihr nach. »Bitte, Meister, darf ich? Zu zweit geht das Rupfen schneller.«

»Die Frau wird ihr helfen. Das genügt.« Er furchte die Stirn. »Kümmere du dich um dein Pferd. Und dann um dich selbst. Ich sitze nicht gern mit einem stinkenden Ziegenbock am Esstisch.«

»Oje.« Barthel nickte. »Das stimmt.«

Kein Kuss, keine Berührung, dafür in den wenigen unbeobachteten Momenten ihre Blicke, die küssten, die umarmten, fragten. Barthel versuchte zurückzugeben, zu antworten, hatte Angst, sich zu verraten, und wusste nach dem Essen nicht, ob der Rübeneintopf wirklich geschmeckt hatte. Auf die Frage der Hausfrau aber versicherte er aufgeschreckt: »Danke, gut war es. Auch das Huhn. Gut satt bin ich.« Er verlor sich wieder in den braunen Augen auf der anderen Tischseite. Trotzdem habe ich Hunger, solchen Hunger …

Kurzes Räuspern brachte ihn zurück. »Junger Mann«, Meister Gerlach wischte mit der flachen Hand über den Tisch, »berichte mir von Wittenberg. Wie steht es dort um die Ordnung? Seit Doktor Martin Luther verschwunden ist …« Kopfschütteln. »Nein, ich bin mir sicher, seine Gegner haben ihn verschleppt und längst ermordet. Also, wer führt jetzt das Wort?«

Barthel zuckte mit den Schultern. »Kann ich nicht sagen, Meister. Mal ist es Professor Melanchthon, der spricht ruhig. Am lautesten ist wohl dieser Professor Karlstadt … Aber Ordnung?« Barthel lachte vor sich hin. »Bei uns herrscht Krieg. Die Studierten gehen auf die Mönche los. Da wird geschrien, geprügelt, und was allen vorher heilig war, fliegt aus der Kirche und wird auf der Gasse verbrannt. Zu sagen hat da wohl niemand mehr.«

»Das ist unser Übel.« Konrad ließ von seiner Tochter den Branntwein bringen und schenkte ein, er trank mit dem Gast und setzte den Becher hart zurück. »Ich bin nicht gegen das Neue. Im Gegenteil. Wenn ich es verstehe, ist es gut. Aber wir brauchen jemand, der sich auskennt und uns die Richtung zeigt.« Jetzt presste er die Faust auf den Tisch. »Wir haben über ein Jahr keinen Pfarrer mehr. Und dieser Hilfsprediger, dieser Haferitz, ist ein versoffener, liederlicher entlaufener Mönch aus dem Karmeliterkloster.« Konrad Gerlach füllte sich erneut den Becher bis zum Rand, leerte ihn hastig und ereiferte sich über den Hilfsprediger. »Er redet von den Neuerungen drüben in Wittenberg. Aber er schwafelt nur, weiß nicht, was die Professoren wirklich meinen.« Die Faust knallte auf den Tisch. »Da bringt er Unruhe in unsern Glauben und hat keinen Weg. Verflucht, ich wünscht, der Kerl wär im Kloster geblieben.« Wieder griff er nach dem Krug. Kurz entschlossen schob seine Frau das Gefäß außer Reichweite. »Bitte, Mann, nicht. Die Kirche ist kein gutes Thema für dich, und mit Branntwein wird alles noch schlimmer.«

»Gib her!« Der Ton nahm an Schärfe zu. »Du wagst dich mir zu widersetzen?«

»Um Gottes willen, Vater.« Dorothea presste beide Hände an die Schläfen. »Beruhige dich. Bitte! Wir haben doch einen Gast.« Sie wischte mit dem Ärmel über die Augen. »Verdirb uns nicht den Abend.«

Ihre Tränen ließen ihn stocken, unvermittelt verlor sich die Härte in seiner Miene, dennoch schnappte er nach dem Krug und goss erst Barthel, dann sich selbst randvoll ein. »Also schweigen wir, junger Mann. Auf dass alles besser werde.«

Die Frauen zogen sich ans Herdfeuer zurück, bald schnurrte das Spinnrad. Wie gern hätte sich Barthel zu ihnen gesetzt, doch er blieb, erkundigte sich höflich nach der Werkstatt, zeigte Interesse und dachte insgeheim nur an Dorlein dort drüben und wie vergeudet jeder Atemzug hier am Tisch war. »Und, Meister, wie steht es mit den Aufträgen?«

»Das Gute kommt oben vom Berg zu uns runter.« Der Verwalter des Schlosses, Zeiß, hatte zwanzig Messingkelche und ebenso viele Teller bei dem Spengler bestellt. »Damit halten wir uns gut bis über den Winter.«

Konrad Gerlach erhob sich. »Es ist Schlafenszeit.« Er deutete zum Ausgang. »Du kennst dich ja drüben aus. Darfst dich in der Werkstatt hinlegen. Da ist es noch gut warm. Nimm dir aus der Kammer nebendran den Strohsack und die Decke.«

Der Vater bewachte die Tochter, als sie dem Liebsten eine gute Nacht wünschte. Keine Berührung. Und kaum hatte Barthel die Küche verlassen, wurde die Tür hinter ihm verriegelt.

Seit dem Waschen mit warmem Wasser war Barthel kalt gewesen, das Essen und vor allem der Branntwein hatten kurz gewärmt, jetzt aber fröstelte ihn wieder, obwohl die Matratze dicht an der noch glutknisternden Feuerstelle lag und die Zudecke aus Wolle war. »Wenn ich sie schon nicht küssen kann, hätte ich den Dreck auch dranlassen können«, murmelte er und rollte sich müde zusammen. »Was ist besser, stinken oder frieren?« Die Antwort nahm er mit in den Schlaf hinüber.

Ein schwerer Riegel schabte, weit schwang ein Tor auf.

»Barthel?«

Er ließ die Lider geschlossen. Hab nur geträumt.

»Liebster«, dicht neben seinem Ohr, »lass mich zu dir!«

Er war wach, drehte sich, sie trug nur ein Hemd, er spürte ihren Körper, nahm ihren Duft, davon gab es für ihn niemals genug, er ließ sie unter die Decke, zog sie an sich. »Mein Herz.« Nach Küssen und heftigem Kosen fragte er beim ersten Atemholen: »Wo kommst du her?«

Sie tippte mit dem Finger auf seine Lippen und lachte leise. »Woher wohl? Von drüben. Ich musste nur warten, bis Vater endlich laut genug schnarchte.«

Seine Hand fuhr vom Kinn über den Hals, glitt weiter. Das Hemd spannte über den Brüsten. Dorothea seufzte: »Ich hab mich so nach dir gesehnt.« Er presste den Mund auf die Brustwarzen unter dem Stoff, saugte an ihnen. Sie umschlang seinen Kopf, drückte sein Gesicht fester an den Busen. In Barthel pulste das Blut, er zog und zerrte an ihrem Hemd. Seine Finger berührten die Schenkel, fanden das Vlies, die Wärme. Nach einigen tiefen Atemzügen nahm Dorothea sein Streicheln an, bewegte den Leib, gab den Rhythmus vor bis ins Wimmern hinein. Sie schmiegte die Wange an seine Schulter. »Es ist so gut … Ach, Liebster.«

Barthel wollte mehr, hastig streifte er sein Unterzeug ab, legte sich über sie.

»Nein, bitte!« Dorothea wand sich, stemmte beide Hände gegen seine Hüften. »Das dürfen wir nicht. Nicht vorher.«

»Lass uns nicht warten.« Seine Erregung nahm ihm die Stimme, er drängte zwischen ihre Schenkel. »Jetzt, bitte!«

»Versündige dich nicht. Bitte, Liebster, erst nach der Heirat.« Sie drückte ihn beiseite, und er ließ es geschehen. Mit der Faust schlug er sich gegen die Stirn. »Verflucht, ich weiß es ja. Du hast recht.« Er zerrte an den Locken. »Aber es ist schwer, verdammt schwer.«

Dorothea beugte sich über sein Gesicht. »Warte, mein roter Held«, flüsterte sie, »gleich wird dir leichter.« Ihre Hände verschwanden zuerst unter der Decke, bald auch der Kopf. Barthel lag ganz still, dann ging sein Atem rascher, schließlich biss er sich in die Faust, um nicht laut zu stöhnen.

Der Kopf erschien wieder. »Diesen Honig bringen mir meine Bienen nicht.« Darüber mussten beide kichern. Barthel zog sie eng an sich. »Meine Imkerin.« Und dieser Professor Karlstadt will den Samen verbrennen.

Nach einer Weile fragte sie: »Wann musst du fort?«

Er streichelte ihr Haar. »Einen Tag könnte ich noch bleiben. Wenn dein Vater mich lässt.«

»Dafür sorge ich.« Dorothea erhob sich. »Besser, ich gehe jetzt.«

Barthel begleitete sie, noch ein Kuss. »Ich wollte dir so viel sagen.«

Dorothea verschloss seine Lippen mit dem Finger: »Wir erzählen morgen.« Sie drückte sich durch den Türspalt und huschte hinüber zum Haupthaus.

Zurück auf dem Strohlager, sah Barthel ihren leichten Gang, wie sie durch den Schnee lief. Der Schnee! Erschreckt richtete er sich auf. Ihre Fußspuren führten direkt zur Werkstatt. »Sie sind kleiner als meine.« Wenn Meister Gerlach sie entdeckt. »Dann jagt er mich sofort vom Hof.« Ein Blick zur Decke. »Oh Gott, erhöre mich! Schicke uns neuen Schnee, oder lasse es tauen.«

Und am Morgen, als er nachschaute, hatte es geschneit.

5

Aus dem Maul hing eine lange rote Zunge, schlabberte hin und her, kehlig kicherte die Hexe, als der Teufel um sie herumsprang und seinen langen Schweif um ihre Taille schlang, sie von hinten packte. »Mein schönes Fräulein«, lallte er, »darf ich?«

»Mach’s mir! Warte nicht, bis es dunkel wird.« Das Hinterteil rieb sich an ihm. »Mach’s mir! Gleich hier auf dem Marktplatz.« Sofort umringten Drache und Eule, Pfaffe und Esel das betrunkene Paar, auch der Henker und sein Kopfloser blieben stehen. Die maskierten Studenten fassten sich an den Händen, langsam begannen sie im Kreis zu hüpfen, grölten: »Zeig’s der Hex! Zeig’s der Hex!«

Der Henker stolperte, klammerte sich an den Kopflosen, beide verloren das Gleichgewicht und rissen Pfaffe, Esel, Drache und Eule mit zu Boden. Hexe und Teufel hielten inne, starrten auf die Gestürzten.

»Was ist?«, stammelte Satan.

Die Hexe hob ihre baumelnde Zunge, zerrte die Maske hinauf ins Haar. »Wer hat euch das angetan?«

Wind heulte, es donnerte, gleich folgte ein Regenschwall. Blitze zuckten, der Himmel erbrach sich über dem Marktplatz von Jena.

»Es ist doch Fastnacht.« Die Hexe hatte sich zurückverwandelt, war eine verschreckte junge Frau, jammerte: »Niemand von uns hat Böses getan.«

Der Regen nahm zu, in Stößen wirbelte der Sturm den Unflat über den Platz. »Schaut euch mein Hexenkleid an!«

Nach und nach rafften sich die Kommilitonen vom Pflaster hoch, einer stützte den anderen. Die Gruppe wankte auf ein Wirtshaus am Ende des Platzes zu.

Zwei Gestalten kreuzten den Weg. Beide im Reiseumhang, darunter wölbten dicke Ranzen den Rücken zum Buckel, die Kapuzen klebten nass an den Köpfen. »Verzeiht, eine Frage?«

»Kommt darauf an.« Satan blieb stehen, beugte sich, dass er unter den Hauben die Gesichter sah. »Hässlich.« Er säuselte wie zu Kindern: »Oder sind das etwa eure Masken?«

Gleich wichen beide einen Schritt zurück. »Nichts für ungut. Wir wollten nicht stören.«

Der Henker baute sich vor ihnen auf. »Hiergeblieben!« Mit seinem Richtschwert fuchtelte er zur Spelunke hinüber. »Ihr kommt mit. Dort an der Tränke spendiert ihr uns eine Kanne Bier. Und schon sind wir Freunde.«

Der schmalere von den Männern verbeugte sich. »Verzeiht, aber wir sind arme Studenten, müde von der Reise«, in der Stimme schwang Verzweiflung, »sind völlig durchnässt, und das Geld reicht kaum noch.«

»Und wir finden kein Bett«, fiel sein Kamerad mit in die Klage ein. »Wir haben überall gefragt. Immer hat man uns weggeschickt. Zur Fastnacht will in Jena niemand Fremde unterm Dach haben.«

Die Hexe zerrte an ihrem Satan. »Gehen wir weiter. Ich will endlich aus dem Regen raus. Außerdem habe ich Durst.«

»Gleich, mein Fräulein.« Der betrunkene Versucher umschlang mit dem Arm ihre Schultern und wandte sich den Fremden zu, winkte sie näher. Als ginge es um ein großes Geheimnis, senkte er die Stimme. »Fragt im Wirtshaus ›Zum Schwarzen Bären‹.«

»Wo finden wir …?«

»Nicht so laut.« Mit Schwung deutete er zum hinteren Ende des Platzes, die heftige Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht, nur mit Mühe konnte das Mädchen ihn halten. »Da, in diese Richtung. Ihr könnt den Schwarzen Bären nicht verfehlen.«

»Was redest du?« Entschlossen zog und zerrte die Hexe ihren Teufel weiter, noch in Hörweite kicherte sie: »Na, die werden sich wundern. Der Bär ist doch viel zu teuer.« Den anderen Maskierten schrie sie nach: »Wartet!«

Blitz und direkter Donnerschlag, erneut ging ein Wolkenbruch nieder. Die beiden Erschöpften klammerten sich aneinander. »Unsere letzte Chance«, sagte der eine.

»Und ganz gleich, wie teuer.« Sie senkten die Köpfe unter den Hauben, und Buckel neben Buckel eilten sie durch Pfützen und schmierigen Modder zum anderen Ende des Marktplatzes.

Das Licht am Tor lockte. Lange studierte der Wirt die Reisepapiere. »Von so weit? Aus der Schweiz?« Er spitzte die Lippen, spannte sie gleich wieder. »Und beide heißen Johannes? Wie das? Wer ist wer?«

Der Kräftigere deutete auf seine Brust. »Ich bin Johannes Gröter, mein Freund ist Johannes Kessler.« Zugleich nickten sie zur Bestätigung, dann schluckte Johannes der Schmalere heftig, ehe er sagte: »Wir wollen es offen gestehen: Viel Geld können wir nicht bezahlen. Und doch flehen wir Euch an, bitte schickt uns nicht fort. Es wird bald Nacht. Wir wissen nicht mehr, wohin.« Der Wirt betrachtete die nassen Gestalten, schließlich huschte ein wehmütiges Lächeln über das runde Gesicht. »Mein Sohn wäre jetzt in eurem Alter, aber er ist tot.«

»Wie schrecklich.« Beide neigten den Kopf. »Unser Beileid.«

»Es ist schon lange her. Als Junge fiel er beim Spielen in die Saale und ist ertrunken.«

»Auch das tut uns leid.«

Von einem Atemzug zum nächsten verflog die Wolke. »Also gut«, die Stimme wurde klar und fest, »ich habe eine Kammer unter dem Dach. Ich lasse sie euch für einen Groschen. Aber«, der Zeigefinger streckte sich, »keine Fastnacht, kein Mummenschanz! Dies ist ein ehrbares Haus für ehrenwerte Gäste.« Die Studenten sollten sich erst umziehen, ihre nassen Kleider könnten sie in der Küche zum Trocknen aufhängen. »Danach kommt in die Stube. Eine warme Suppe weckt die Lebensgeister neu.«

Auf der Stiege flüsterte Johannes der Kräftigere dem Freund zu: »Eine Gottesfügung. Findest du nicht auch?«

»Sehr wundersam, wirklich.«

Angetan mit dem schwarzen Studentenrock, betraten die beiden Schweizer wenig später den Gastraum, ihre Füße steckten in zu großen, vom Wirt geliehenen Filzschuhen. Er hatte darauf bestanden, dass auch die durchnässten und verdreckten Stiefel am Herd trocknen und später gereinigt werden müssten. »Dies ist ein sauberes Haus.«

Zwischen Jagdbildern mit Bären und Füchsen flackerten Öllampen an den Wänden. Dazu verbreiteten die Kerzen auf den Tischen warmes Licht. Ein einzelner Gast saß nahe dem Feuer. Das Haar voll, ein mächtiger, gelockter Bart. Den roten Rock offen, eine Hand auf dem Schwertknauf, so lehnte er im Stuhl und war in ein Buch versunken.

Still hockten sich die Schweizer gleich neben der Tür auf die Bank. Der Wirt brachte ihnen zwei Näpfe mit dampfender Suppe und legte jedem noch ein gutes Stück Brot dazu. Er sagte nichts, lächelte nur voll Güte und näherte sich vorsichtig dem Gast neben dem Feuer. Leicht schnippte er mit den Fingern. »Junker Jörg? Ich bitte um Vergebung.«

»Was gibt es?«

»Ich wollte nur …« Der Wirt reckte das Mondgesicht vor. »Dort sind zwei Studenten, aus der Schweiz und anständig erzogen. Sie werden sicher nicht stören.«

»Nur um das zu sagen, störst du mich?«

Betroffen legte der Wirt die Hand auf den Mund. Gleich schmunzelte der Junker. »Es sei dir verziehen.« Ein Blick zur Bank hinüber. »Etwas Abwechslung wird mir guttun.« Er bestellte eine Kanne Bier mit drei Krügen. »Und sobald die jungen Herren ihr Mahl beendet haben, bittest du sie zu mir.«

Der Wirt geleitete die Studenten selbst an den Tisch. »Wie befohlen, gnädigster Herr. Hier bringe ich Euch Johannes und Johannes.«

Die Augenbrauen hoben sich. »Erstaunlich.« Junker Jörg wies auf die freien Stühle. »Nehmt Platz, seid meine Gäste und leistet mir etwas Gesellschaft.« Nach dem Einschenken bedeutete ein Handschlenker dem Wirt, sich zu entfernen, ungern gehorchte er, blieb aber in Hörweite, rückte an Hockern und wischte über die Tische.

Offen musterte der Junker die Studenten. »So, so. Johannes und Johannes.« Der Zeigefinger drehte sich in eine Bartlocke. »Wer von euch ist denn der Evangelist? Wer der Prophet aus Patmos?«

»Wir kommen aus St. Gallen …« Jetzt erst begriff Johannes der Stärkere den Sinn der Frage. »Ihr beliebt mit unseren Namen zu scherzen.« Höflich lachte er, mit halb erhobenem Zeigefinger wandte er sich an seinen Kameraden: »Verstehst du?«

»Nicht so ganz.« Zur Sicherheit aber lachte Johannes der Schmalere ein wenig mit, wieder ernst gestand er: »Wir sind noch am Anfang der Theologie. In Wittenberg wollen wir die Heilige Schrift studieren.«

»An der Leucorea. Ein kluger Entschluss.«

»Nicht wahr? Und vor allem …« Beglückt über die Zustimmung, rückte der Student den Hocker enger an den Tisch, um dem Ritter noch etwas näher zu sein. Ehe er fortfahren konnte, hob Junker Jörg den Bierkrug. »Auf Wittenberg. Auf die Universität und alle, die darin lehren und studieren!«

Längst hatten die jungen Männer nach dem ersten Schluck wieder abgesetzt, als der Junker noch trank und trank. Endlich nahm er den Krug von den Lippen und rülpste aus der Tiefe seines Bauches. »Dieser Gerstensaft, welch ein Genuss.« Mit dem Ärmel wischte er sich den Schaum aus dem Bart. »An der Leucorea werdet ihr Rektor Hieronymus Schurff, einen Landsmann von euch, treffen.«

»Da soll doch der …« Johannes der Stärkere beherrschte sich gerade noch rechtzeitig. »Ich wollte sagen, Ihr, gnädiger Herr, seid gut unterrichtet.« Jetzt rückte auch er näher und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Wir haben ein Empfehlungsschreiben an Rektor Schurff.«

»Und«, meldete sich der Schmalere, »wir wollen vor allem dem großen Doktor Martinus Luther zu Füßen sitzen und seinen Predigten lauschen.«

»Ein guter Vorsatz.« Junker Jörg dehnte sich im Stuhl, seufzte vernehmlich und nahm wie beiläufig seine Lektüre auf, blätterte.

Die Studenten bemerkten die Schriftzeichen auf dem Titel. »Hebräisch?« Ehrfurcht ließ den Schmaleren flüstern. »Ihr seid äußerst sprachkundig, gnädiger Herr.«

»Nicht der Rede wert. Dieser Psalter hat es mir angetan.«

»Verzeiht. Wenn Ihr Euch so auskennt, wisst Ihr vielleicht, ob sich Doktor Luther in Wittenberg aufhält?«

Junker Jörg betrachtete die Studenten, nach einer Weile stahl sich ein Zwinkern in die Augenwinkel: »Ein kleines Rätsel verbirgt sich in der Antwort. Also: Ich weiß ganz sicher, dass er zurzeit nicht dort ist. Ebenso aber weiß ich, dass er bald dort sein wird. Meine Freunde, die Deutung liegt nun bei euch.« Damit griff er wieder zum Bier und trank in vernehmlichen Schlucken.

Der Wirt hatte mitgehört, legte ein Holzscheit aufs Feuer und blieb erwartungsvoll in der Nähe stehen. Am Tisch flüsterten die beiden Johannisse angeregt miteinander.

Schließlich setzte Junker Jörg den Krug ab. »Nun, meine Freunde, zu welchem Schluss seid ihr gekommen?« Er lächelte breit. »Was versteckt sich hinter meiner Antwort?«

Johannes der Schmalere übernahm das Wort. »Wir meinen, für einen einfachen Ritter seid Ihr viel zu klug. Deshalb meinen wir …« Er zögerte, ehe er fortfuhr:

»Wir meinen, Junker Jörg ist nur ein Inkognito, in Wahrheit seid Ihr …« Wieder eine Pause. Leicht ließ der Gastgeber die Finger wippen. »Nur zu, weiter. Du bist auf dem richtigen Weg.«

»Ihr seid in Wahrheit Ulrich von Hutten, der berühmte Ritter und Dichter.«

Das wohlwollende Zwinkern erlosch. Ein scharfer Blick zu Johannes dem Stärkeren. »Denke nach!«

»Wenn Ihr so fragt?« Schlauheit erleuchtete die Studentenmiene. »Dann darf ich mich nicht beirren lassen. Jetzt bin ich mir ganz sicher, Ihr seid der edle Ritter und gerühmte Poet Ulrich von Hutten. Selbst bei uns in St. Gallen ist man von ihm des Lobes voll.«

Mit schnellem Griff hob Junker Jörg das hebräische Buch und hieb es auf die Tischplatte. »Was genau lobt man dort an diesem Herrn?«

Beide Studenten duckten die Köpfe. »Verzeiht«, der Schmalere sah von unten auf, »das können wir noch nicht wissen. Erinnert Euch, wir sind ganz am Beginn unserer Studien.«

Von der Feuerstelle her wagte sich der Wirt mit leichtem Fingerschnippen zu Wort. »Wenn ich helfen darf?«

Er wartete die Handgeste ab, dann sagte er: »Wenn Ihr wirklich ein anderer seid, könnte ich bald glauben …«, er schüttelte den Kopf, amüsierte sich über den eigenen Gedanken, »… dass Ihr … dass Ihr der Doktor Luther selbst seid.« Gleich nahm er sich zurück. »Unvorstellbar. Verzeiht den Scherz.«

Die Studenten wussten nicht, ob nun Heiterkeit erlaubt war, gespannt blickten sie ihren Gastgeber an.

Mit unbewegter Miene nahm Junker Jörg wieder seine Lektüre und deutete damit auf die beiden Schweizer. »Ihr Knaben sagt, ich sei Hutten. Dieser da glaubt, ich sei Luther …« Er erhob sich. »Nun, ich bin müde.« Die Hand auf dem Schwertknauf schritt er durch die Gaststube. Nahe der Tür, wandte er sich noch einmal um. »Vielleicht bin ich gar der Leibhaftige? Wer weiß?« Jetzt zupfte er demonstrativ am Kinnbart. »Schließlich ist Fastnacht. Da verkleidet man sich gern.« Kurz zeigte er ein Grinsen, wieder ernst, setzte er hinzu: »Gute Nacht, meine Freunde.« Damit entschwand er aus der Stube.

6

Beim Schellenreißen der Eingangstür zur Wittenberger Apotheke blickten die beiden Wundärzte kurz über die Schulter, sie grüßten den fremden Ritter mit einem Kopfnicken. Als das harte Gebimmel verstummte, wandten sie sich wieder dem Apotheker Basilius Axt zu. »Mischt etwas mehr Zitwerwurzel bei.« Die zerkleinerten Stücke fielen in den Mörser, wurden vom Stößel gequetscht und in die anderen Ingredienzen gerieben. »Nun noch eine Prise vom Baldrian. Das genügt.« Die Ärzte waren mit der Zubereitung ihrer Rezeptur zufrieden. »Lasst uns das Medikament umgehend zu unserem Kranken bringen.«

Die Herren wandten sich zum Gehen, nickten erneut dem Ritter im Schultermantel zu. Die Türschellen schrillten.

»Womit darf ich dienen?« Basilius Axt kam um den Verkaufstisch herum, ein schmaler Mann, durch die Brillengläser wirkten die Augen übergroß.

Tief sog der Kunde den Atem durch die knollige Nase, schnüffelte wie ein Hund. »Nach welchem Kraut, Öl oder Saft riecht es hier am besten? Ich erkenne Zimt, Minze, auch Knoblauch, doch was ist das Bittere? Nein, ich meine nicht den Harzgeruch, so fremd ist mir der Weihrauch noch nicht geworden.«

»Mit Verlaub, Herr«, Axt hüstelte vernehmlich, »Ihr befindet Euch hier in einer Apotheke, und zwar der einzigen unserer Stadt Wittenberg. Wenn Ihr ein Medikament wünscht oder Zutaten, um Farben herzustellen, so seid Ihr hier richtig. Auch kann ich mit Zuckerwaren dienen, und nicht zuletzt könntet Ihr Süßweine jeglicher Art erwerben. Gerüche aber kann ich Euch nicht verkaufen.«

Der Junker zog die Brauen zusammen. »Höre ich da einen verärgerten Unterton? Habe ich Euch etwa die Laune verhagelt?«

»Verzeiht, nicht Ihr. Die gesamte Stimmung in der Stadt ist angespannt. Jederzeit kann neue Unruhe ausbrechen. Von Tag zu Tag fällt es mir schwerer, die nötige Gelassenheit oder gar Heiterkeit aufzubringen.« Der Apotheker rückte die Brille zurecht. »Womit also kann ich dienen?«

»So meldet mich Eurem Herrn.«

»Ihr wollt eine Beschwerde vorbringen? Bitte, habt Nachsicht …«

»Genug.« Der Fremde öffnete den Schultermantel, sein rotes Wams leuchtete, er ließ die Linke auf den Schwertknauf sinken. »Sagt Meister Cranach, dass Junker Jörg angekommen ist und ihn zu sprechen wünscht. Sputet Euch!«