In 300 Jahren vielleicht - Tilman Röhrig - E-Book

In 300 Jahren vielleicht E-Book

Tilman Röhrig

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Beschreibung

Hunger, Elend und Furcht bestimmen das Leben in Eggenbusch im Jahre 1641. Nur wenige Menschen können sich noch an die Zeit vor dem Krieg erinnern. Gegen die Not, den Krieg mit seinen plündernden Soldatenhorden und die Angst vor der Pest setzt der 15-jährige Jockel seine Liebe zu Katharina und die Hoffnung, dass irgendwann wieder Friede sein wird: in dreihundert Jahren vielleicht. 

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Tilman Röhrig

In 300 Jahren

vielleicht

Deutscher Jugendliteraturpreis

Mit einem Nachwort von Wolfgang Benz

»Ich habe um meine Geschichte nur das Kleid des Dreißigjährigen Krieges gehüllt, genauso hätte sie in Vietnam, in Beirut oder überall dort spielen können, wo ein Krieg stattfindet. Sie spielt dort, wo der Mensch des Menschen Wolf ist.« Tilman Röhrig

Tilman Röhrig,1945 geboren, arbeitet seit 1973 freischaffend als Schriftsteller, Regisseur und Schauspieler. Bereits für sein erstes Jugendbuch »Thoms Bericht« wurde er mit dem »Buxtehuder Bulle« ausgezeichnet, zahlreiche andere Auszeichnungen folgten, u.a. der Deutsche Jugendliteraturpreis für das vorliegende Buch oder der »KölnLiteraturPreis 1990«.

Von diesem Buch liegen Übersetzungen vor ins Dänische, Isländische, Japanische, Koreanische, Niederländische, Schwedische und Spanische.

Mit einem Nachwort von Wolfgang Benz, S. 151

Informationen zu Unterrichtsmaterialien unter www.arena-verlag.de

1. Auflage als Sonderausgabe 2017 © 1983 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Juliane Hergt ISBN 978-3-401-80741-6

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Kapitel 1

Wie eine schwarze Wunde klaffte das geöffnete Portal in dem gelblich verwitterten Mauerwerk der Kirche. »Seid ihr so weit?«, fragte eine Stimme gedämpft aus dem dunklen Innenraum.

Draußen – versteckt hinter einem Grabhügel – hatte sich Elsa Hobe zusammen mit ihrem Sohn niedergekauert. Jetzt huschten die beiden über den kleinen Vorplatz bis zum Kircheneingang hinüber. Hastig entrollte die hagere Frau ein engmaschiges Netz, das mit den Längsseiten an Holzstangen befestigt war. »Nicht loslassen nachher, Tobias!«, mahnte sie. Ihre Hände umschlossen zitternd die Haltestange.

Dem Vierzehnjährigen hatte die Angst den Mund ausgetrocknet und das Schlucken würgte ihn. Während er die schweißfeuchten Hände an seinem Kittel rieb, blickte er prüfend zu den Hütten und halb verfallenen Häusern hinüber. An diesem 3. Oktober des Jahres 1641 war es warm und windstill in Eggebusch. Das Licht der Mittagssonne trieb die Schatten der Linde vom niederen Brunnendach quer über den Dorfplatz bis zur Mauer des Friedhofs hin. Innerhalb des festen Steinwalls umlagerten die Gräber dicht gedrängt den flachen Kirchenhügel. Sie reichten bis an den Pfad, der vom Mauertor herauf zum Vorplatz des schmalen Gotteshauses führte.

Niemand war am Brunnen und in der Nähe des Friedhofs zu entdecken. Tobias packte die Haltestange, presste die Lippen zusammen und nickte seiner Mutter zu.

Schnell richteten sich beide auf und spannten das Netz quer vor das offen stehende Portal.

»Jetzt, Mathias!«, flüsterte Elsa Hobe in die Dunkelheit hinein.

Scharf knackte ein Gewehrhahn. Tobias hielt den Atem an. Wie ein Donnerschlag dröhnte der Schuss durch den Kirchenraum.

Auf den Knall folgten erschrecktes Kreischen und Flügelschlagen. Die Vögel, die im Dachgebälk der Kirche ihre Nester hatten, flatterten dem hellen Ausgang zu und verfingen sich in den engen Maschen des Netzes. Ehe sie sich befreien konnten, sprang Tobias mitsamt der Netzstange zu seiner Mutter hinüber und schloss so die Falle. Gemeinsam legten sie die zappelnde Beute auf den Boden.

Hilflos schrien die Vögel. Elsa Hobe packte ein Tier nach dem anderen und riss ihnen die Köpfe ab.

»Mutter!«, stammelte Tobias, sein Herz verkrampfte sich. Mit weit geöffneten Augen starrte er auf ihre Hände.

»Den Sack. Schnell, Junge, schnell!«, keuchte Elsa Hobe. Benommen zog Tobias den Beutel aus der Tasche seines grauen Leinenkittels. Die Mutter zerrte die Öffnung auseinander und stopfte die blutenden Federkörper hinein. Vom Boden las sie die Köpfe auf und legte sie dazu.

»Wie viele sind es?« Mathias Hobe trat mit dem Gewehr in der Hand aus der Kirche ins Freie.

»Fünf. Wirklich, fünf.« Elsa Hobe blickte ihren Mann an. Das dunkle Haar hatte sich gelöst und hing ihr strähnig über die Augen, Tränen rollten die eingefallenen Wangen hinunter und vermischten sich mit dem Zucken der Mundwinkel – sie versuchte zu lächeln.

Durch den Schuss alarmiert, kamen Menschen über den Dorfplatz gelaufen. Ihnen voran humpelte Veit. Trotz seines lahmen Beines war er schneller als die anderen. Noch bevor er die Kirchhofsmauer erreicht hatte, schrie er: »Küster! Was schießt du?«

Hastig raffte Elsa Hobe das Netz und den Beutel an sich, verschwand um die Ecke der Kirche und floh über den rückwärtigen Friedhof. Tobias drängte sich dicht an seinen Vater.

Jetzt keuchte Veit den Pfad zwischen den Gräbern hinauf. Nur drei Frauen folgten ihm noch. Die anderen Dorfbewohner hatten schon auf dem Marktplatz gezögert, als sie den Küster so ruhig vor der Kirche stehen sahen.

Der alte Veit stemmte sein gesundes rechtes Bein auf die Steine des Kirchenvorplatzes. Mit dem anderen stützte er nur das Gleichgewicht. Seine Augen unter den buschigen Brauen lauerten Vater und Sohn an.

Langsam lehnte Mathias Hobe das Gewehr an die Kirchenmauer. »Wir reinigen den Dachstuhl über dem Altar. Ich habe die Vögel verjagt«, erklärte er mit ruhiger Stimme.

Veit kicherte. »Warum? Der Pfarrer ist schon lange weg.«

Unbeirrt nickte Mathias. »Gottes Haus muss sauber sein.«

Der Lahme rieb sich über die Narben in seinem Gesicht. »Wenn du in der Kirche was gejagt hast, dann gehört das uns allen!«, forderte er.

Der Küster spürte neben sich das Zittern seines Sohnes und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich hab nichts geschossen.« Damit beendete er das Gespräch.

Stumm hatten die Frauen zugehört. Eine biss sich auf die Fingerknöchel. Ihre Wangen waren bis zu den Zahnreihen eingefallen. Nur bleiche Haut spannte sich noch über Kinn und Kieferknochen.

Die blass gewaschenen Farben der zerlumpten Leinenkleider verstärkten die Hoffnungslosigkeit, die in den aufgerissenen Augen der Frauen stand. Ausgezehrt und hungrig glichen die Menschen von Eggebusch einer dem anderen.

Wortlos wandten die Frauen sich ab und verließen den Friedhof.

Veit folgte dem Küster und Tobias in die Kirche. Im trüben Dämmerlicht gingen sie über den Steinboden. Die Trümmer der zerstörten Holzkanzel waren weiß gefleckt vom Kot der Vögel. Wie ein Steinsarg stand der leere Altar vor der Stirnwand des Kirchenschiffes. Das Rundfenster hoch in der Mauer war milchig blind geworden.

»Du kannst helfen, Veit«, sagte Mathias und nahm einen langen Strick von der Altarstufe. Mit geübtem Schwung schleuderte er das mit einem Stein beschwerte Ende über den breiten Querbalken, der weit oben die Seitenmauern der Kirche verband. Der Stein fiel zurück und zog das Seil über den Balken.

Nachdem sie Tobias das andere Ende des Strickes fest um den Brustkorb geknotet hatten, gab sein Vater ihm einen langen Reisigbesen. »Hab keine Angst, wir halten dich.«

Tobias nickte. Die beiden Männer strafften das Seil und zogen den schmächtigen Jungen hinauf. Der Strick schnürte den Brustkorb unter den Achseln und seine herunterhängenden Arme breiteten sich leicht auseinander. Mit der rechten Hand hielt er den großen Besen. So schwebte Tobias am Altar vorbei langsam nach oben.

Vor dem mächtigen Holzkreuz in der Mitte der Stirnwand hielten die Männer den Jungen an. Seine Augen klammerten sich an die gekreuzten Balken. Der Körper des Christus war schon im Frühjahr herausgebrochen worden. Nur die Hände und Füße hingen wie abgehackt noch an den großen, rostigen Nägeln. Schon oft hatte Tobias vom sicheren Boden der Kirche zu dem verwundeten Kreuz hinaufgeblickt – doch die plötzliche Nähe erschreckte ihn jetzt.

»Was ist?«, fragte sein Vater besorgt von unten. Die Stimme löste Tobias aus seiner Erstarrung. »Es geht schon«, antwortete er und kehrte mit dem Besen über die leere Stelle auf den Balken, stieß ein Vogelnest vom rechten Kreuzarm – die genagelten Hände und Füße berührte er nicht.

»Weiterziehen!«, rief er den Männern zu.

Endlich hatte er die Höhe des Rundfensters erreicht. Staub und Spinnweben lösten sich von den Scheiben und jeder Strich mit dem Reisig ließ mehr Licht in das Innere der Kirche fallen. Tobias konnte jetzt durch das Fenster über die Dächer der niedrigen Häuser und weiter über die zerwühlten Äcker und aufgerissenen Wiesenhügel bis zum Waldrand blicken. Die Sonne tauchte alles in ein versöhnliches Licht.

In der Mitte der Waldlichtung verfingen sich die Sonnenstrahlen in dem ausladenden Blätterdach der Buche.

Es war still – nur das Wimmern eines kleinen Mädchens drang vom Fuß des Baumes her. Die Klagerufe wurden schon von den dichten Brombeerranken und Holunderbüschen verschluckt, die den runden Platz umstanden und die hohen Laubbäume des Waldes abdrängten.

Die Hände der Neunjährigen waren über dem Kopf zusammengebunden und ein Lederriemen riss ihre dünnen Arme nach oben zum ersten Ast der Buche. Dicht neben Elisabeths Gesicht baumelten zehn tote Waldmäuse an einem anderen Riemen. Sie waren mit den Schwänzen verknotet.

Das graue Kittelchen war ihr hochgerutscht und bedeckte den nackten Körper nur noch bis zum Nabel.

Über den schmalen Pfad zwischen den dornigen Randsträuchern schleppte Jockel einen prall gefüllten Sack. Keuchend erreichte der Fünfzehnjährige die Lichtung. Kaum hatte Elisabeth ihn entdeckt, als sie mit gellenden Schreien auf sich aufmerksam machte.

Jockel Markart grinste vergnügt und setzte den Sack vor dem Mädchen ab. Er versuchte, seiner Stimme einen männlich-harten Klang zu geben. »Was machst du hier?«, fragte er.

Als Elisabeth das feixende Gesicht des Bruders sah, fiel es ihr schwer, ernst zu bleiben. »Hilf mir, Bauer! Ich bin überfallen worden!« Sie kicherte. »Ich schenke dir auch die Mäuse dafür.«

Jockel spielte die Rolle des überraschten Bauern weiter. »Na gut. Ich bind dich los.« Umständlich nahm er sein Messer aus der Kitteltasche und reckte sich zu den Lederriemen.

Aus den Holunderbüschen hinter seinem Rücken tauchten jetzt vier andere Kinder auf und schlichen quer über die Lichtung zur Buche. Die beiden halbwüchsigen Mädchen hielten kurze, armdicke Äste in den Händen. Auf Zehenspitzen folgten ihnen zwei kleine Jungen.

Maria und ihre Freundin schwangen die Knüppel, als wollten sie Jockel von hinten den Schädel zertrümmern. Unmittelbar über seinem Kopf bremsten sie die Schläge ab. Wie getroffen ließ Jockel das Messer fallen und stürzte neben dem Baum zu Boden.

Johlend tanzten die Kinder um den liegenden Bruder herum. Immer noch an den Baum gefesselt, strampelte Elisabeth vergnügt mit den Beinen. »Der Bauer ist tot. Tot. Tot!«, krähte sie.

Ihre beiden Brüder, der sechsjährige Leonhard und der zehnjährige Valentin, entdeckten gleichzeitig die gute Gelegenheit. Mit ausgestreckten Händen näherten sie sich und begannen unter Siegesgeheul, die wehrlose Schwester zu kitzeln.

Jockel drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Zufrieden grinste er zu dem größeren Mädchen hinauf. »So wird’s gemacht. Ganz einfach.«

Anne Hobe, die dreizehnjährige Tochter des Küsters von Eggebusch, warf den Knüppel neben den Sack. Sie blickte die gleichaltrige Freundin an. »Ich könnte nie einen Menschen erschlagen.«

Maria zuckte mit den Achseln. »Ich auch nicht. Aber der Hunger ist schlimm. Ich weiß nicht.«

Ruckartig hoben die beiden Mädchen die Köpfe und starrten zu der Stelle hinüber, an der der Pfad die Brombeerbüsche durchbrach.

In das ausgelassene Toben der Kleinen mischten sich vom Wald her Rufen und anderes Lachen. Jockel setzte sich auf.

Scharf befahl er den dreien am Baum, still zu sein. Sofort hielten die Kinder den Atem an.

Befehle von Frauenstimmen, Zurufe und Antworten von Kindern wurden immer lauter.

Sofort war Jockel auf den Beinen. »Maria, trag du den Sack!«, zischte er. Gleichzeitig schob er Anne zum Baum. »Du nimmst die Mäuse. Schnell.«

Schon stand Jockel neben Elisabeth. Er versuchte, die Handfesseln zu zerreißen.

Zu fest. Sein Herz schlug hart.

Das Messer lag zwischen den Wurzeln der Buche, die wie Arme in den Boden griffen. Jockel packte den Dolch und richtete sich wieder auf.

In diesem Moment brachen gut fünfzehn Kinder durch das Unterholz am Rand der Lichtung und formierten sich zu einem Halbkreis. Jockel schätzte die größten nicht älter als zwölf Jahre. Die Fremden trugen schmutzig bunte Jacken über den Kitteln. Einige hatten Körbe, andere halb gefüllte Beutel in den Händen. Geschlossen näherten sie sich der Buche.

Jockel stellte sich vor Elisabeth. Bereit zum Angriff, hielt er das Messer mit der Spitze nach oben. Die Feindseligkeit der Fremden umschloss seinen Magen wie eine Eisenklammer.

»Nicht weiter!«, brüllte er. Rechts von ihm stand seine Schwester, auf der anderen Seite Anne Hobe. Beide hatten wieder ihre Knüppel in den Händen.

»Ich stech jeden ab, der näher kommt.« Jockels Stimme überschlug sich.

Seine beiden Brüder umarmten beschützend die gefesselte Elisabeth.

Für einen Moment hielt die Drohung den Halbkreis auf. Ein Mädchen mit struppig blonden Haaren trat noch zwei Schritte vor und grinste. »Was habt ihr da in dem Sack?« Die Zähne der Anführerin waren nur schwarze Stummel.

Jockel schwieg, doch der kleine Leonhard rief kampflustig: »Das sind unsere Rüben! Unsere Nüsse!«

Jockel fuhr ihn an: »Sei still!«

Der Kleine ließ sich nicht aufhalten. »Und die Mäuse haben wir ganz allein gefangen, die schmecken besser als Ratten!«

Hungrige Gier sprang in die Augen der fremden Kinder. Sie setzten die Beutel und Körbe ab und plötzlich hatten sie Messer in den Händen. Langsam schob sich der Halbkreis weiter auf die Mitte der Lichtung.

»Keinen Schritt mehr!«, fauchte Jockel, doch er wusste, wie sinnlos jetzt noch jedes Warnen war.

»Angriff!« Die helle Stimme der Anführerin schrillte über die Köpfe der Bande. Wie gezückte Säbel hielten die Fremden ihre Dolche in den Händen und stürmten auf die Buche zu.

Maria und Anne wirbelten die Knüppel über ihren Köpfen. Jockel sprang auf die Anführerin los. Sein Fuß traf hart ihren Messerarm. Schmerzvoll schrie das Mädchen auf und ließ die spitze Waffe fallen. Jetzt griff Jockel wild nach dem mageren Hals und setzte der Anführerin die Schneide seines Messers an die Kehle. »Aufhören! Sonst schneid ich ihr die Gurgel durch!«

In seiner Angst um die Geschwister hatte Jockel nicht bemerkt, dass der Angriff längst schon wieder unterbrochen worden war. Einen Augenblick lang starrte er verblüfft in die höhnischen Gesichter der Fremden. Dann wurde er von hinten an den Haaren gepackt und sein Kopf zurückgerissen. Gleichzeitig erschienen große Gestalten neben ihm und schlugen seine Arme herunter. Jockel erkannte nur Augen, zerrissene Uniformjacken, glitzernde Ohrringe – Hexen, schoss es ihm durch den Kopf. Ein heftiger Stoß in den Rücken bog seinen Körper weiter nach hinten. Mit den Fäusten schlugen sie ihm den Atem aus dem Leib, dann sah er nur noch einen Pistolenknauf. In seinem Kopf zersprang das Bewusstsein.

Der erste Gedanke, der ihn wieder erreichte, ließ den Griff der Pistole heruntersausen. Jockel schrie und riss die Augen auf. Er lag am Boden, Maria und Anne knieten neben ihm.

»Wo sind sie?«, stammelte er.

»Fort.« Anne strich vorsichtig über seine Haare.

»Wie geht es den Kleinen?« Jockel verschluckte sich an seinem Speichel, er hustete. Maria stützte ihn. »Sie haben uns nichts getan.« Die Schwester stockte. »Den Sack und die Mäuse haben sie mitgenommen. Was wird Mutter sagen?«

Jockel schloss die Augen. »Soldatenweiber«, murmelte er und spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg. Er stöhnte: »Das waren Soldatenweiber.«

Plötzlich war er ganz wach und setzte sich auf. Sein Kopf schmerzte. Fest presste er beide Hände an die Schläfen.

»Sie sind wieder da!«

Jetzt begriffen auch die beiden Mädchen. Wenn Truppen in der Nähe lagerten, dann schwärmten Frauen und Kinder aus, die mit dem Tross zogen. In den Wäldern sammelten sie Beeren und Pilze. Auf den schon lange nicht mehr bestellten Äckern suchten sie nach Getreideresten und durchwühlten die Erde nach Rüben und wild gewachsenen Möhren. Später plünderten sie in den Häusern und nahmen das, was die Soldaten nicht schon weggeschleppt hatten. Ihre Kinder lernten stehlen und morden wie andere das Singen und Beten.

Jockel erhob sich mühsam. Elisabeth schluchzte. Sie stand immer noch gefesselt an dem glatten Stamm der Buche. Valentin hatte beide Arme um sie geschlungen und weinte mit ihr. Der Fünfzehnjährige fand sein Messer im grasigen Waldboden und schnitt die Lederriemen durch.

Leonhard fehlte!

»Wo ist der Kerl?« Jockel blickte sich suchend um. Jetzt riefen alle nach dem Jüngsten. Vom Wald her kam eine dünne Antwort. Jockel befahl den anderen zu warten und verließ rasch die Lichtung.

Er fand Leonhard auf dem Boden kauernd neben einem etwa gleichaltrigen Jungen.

Ein Soldatenkind! Es lag da – Schweiß stand auf der blassen Stirn und Blut hatte seine Wangen verschmiert. Mit jedem Keuchen quoll ihm neues Blut in Stößen aus dem Mund. Der Junge hatte sich das Hemd aufgerissen – seine Brust war blauschwarz verfärbt. Unter den Achseln war die Haut in Rissen aufgeplatzt. Zärtlich streichelte Leonhard dem Stöhnenden die Stirn.

Wie gelähmt starrte Jockel auf das fremde Kind. Nur einen Moment lang, dann stürzte er sich mit einem Schrei auf seinen Bruder und riss ihn von dem kranken Soldatenjungen weg.

Die Pest! Jockel kannte ihre Zeichen, die sich erbarmungslos aus dem Körper nach außen drängten.

Verzweifelt schüttelte Jockel den kleinen Bruder. »Niemand sagst du etwas! Verstehst du?«

Leonhard schüttelte den Kopf. »Aber es tut ihm doch weh.«

Angsttränen standen Jockel in den Augen. »Leonhard. Wir erzählen niemand von dem Jungen hier. Hörst du? Seine Mutter wartet nur, bis wir weg sind. Dann holt sie ihn.«

Das begriff Leonhard. Jockel zog den Sechsjährigen von dem sterbenden Kind weg und brachte ihn zur Lichtung. »Wir müssen nach Hause.«

Wortlos gingen Anne und die übrigen Geschwister voran. Jockel folgte – er hielt Leonhard fest an der Hand.

Sie gingen neben dem spitzsteinigen Fahrweg den Waldrand entlang. Leonhard zog an der Hand des großen Bruders. Endlich gab Jockel ihn frei und der Sechsjährige rannte nach vorn zu Elisabeth und Valentin. »Huh, ich bin der Bauer!« Er hüpfte mit den bloßen Füßen über Disteln, die schon verwelkt den Weg säumten.

Übermütig alberten die drei Geschwister und liefen, dabei versuchte einer, den anderen zu überholen. Den Überfall bei der Buche hatten sie schon mit dem nächsten Spiel überwunden.

Sobald der Weg vom Waldrand abknickte und sich gerade zwischen den Wiesen und Äckern nach Eggebusch hinunterzog, kugelten sich die Kleinen über das Gras. Mit den Köpfen voran, den zappelnden Beinen in der Luft und wieder den Köpfen voran.

Jockel hatte Anne und Maria eingeholt. Der Kopf schmerzte ihm. Seine Schwester untersuchte die Beule. »Sie ist nicht aufgeplatzt.« Leicht drückte sie mit der Fingerkuppe auf die harte Schwellung. Sofort zuckte ihr Bruder zusammen.

Anne stieß die Freundin zur Seite. »Du tust ihm ja weh.«

Maria grinste leicht und überließ der Tochter des Küsters die Verletzung. Sanft blies Anne auf die Beule, dabei hielt sie Jockels Kopf mit beiden Händen. Sie musste sich zwingen, die Freundin nicht anzublicken.

Einen Moment lang empfand Jockel die Fürsorge als tröstend – dann aber entzog er sich Annes Händen.

»Es geht schon«, murmelte er. Ihre Behutsamkeit war ihm plötzlich zu viel und er strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht. Dazu ärgerte er sich über das Grinsen seiner Schwester.

»Der Tobias kommt!« Elisabeth saß zwischen ihren Brüdern auf einem Wiesenstück und winkte mit den Händen.

Fast hatte der Sohn des Küsters die Gruppe schon erreicht. Atemlos stand er dann vor Jockel. »Der Vater hat mich gehen lassen.« Fragend blickte er die Mädchen und den Freund an. »Warum seid ihr nicht mehr bei der Buche?«

Maria zeigte auf den Kopf ihres Bruders. »Sie haben Jockel niedergeschlagen.«

Jetzt berichteten die Großen, die Kleinen riefen dazwischen und langsam begriff Tobias, was im Wald geschehen war.

Wieder krallte sich das Wort »Soldatenweiber« in die Erinnerung der jungen Menschen. Wie große Aasvögel waren solche Frauen im Frühjahr durch die Stuben und Ställe von Eggebusch gezogen. Man gab ihnen zwei Hühner, um das Versteck des letzten Huhns zu schützen. Das Bitten und Flehen der Mütter erreichte diese gierigen Frauen nicht. Sie rafften Tiegel und Schüsseln zusammen – dabei verständigten sie sich mit abgehackten, harten Lauten.

»So sprechen sie in der Hölle«, hatte Jockel damals zu Tobias gesagt.

Der Sohn des Küsters las einen runden Kiesel zwischen den spitzen Steinbrocken des Weges auf und warf ihn weit über die Wiese, als könnte er so die Erinnerung an das Frühjahr fortschleudern. »Vielleicht . . .« Er schwieg.

Und an dieses Vielleicht klammerte sich auch die Hoffnung seines Freundes und die der Mädchen.

Ein Pferdekarren rumpelte gefährlich schnell oben den Wald entlang und erreichte die Kurve. Das Äußere der beiden großen Räder rutschte über den Fahrweg hinaus, doch der Mann auf der Kutschbank hieb mit der Gerte auf das Pferd ein, dass es wiehernd den Karren zurück in die Spurrinnen brachte. Mit ausholenden Sätzen jagte es jetzt den Hügel hinunter, die Nüstern weit nach vorn gestreckt. Immer wieder peitschte der Lenker auf die Kruppe des Gauls und zwang ihn schneller voran.

Gebannt starrten die Kinder dem kastenförmigen Wagen entgegen. Schon hatte er sie erreicht. Für Augenblicke erkannte Tobias das angstverzerrte Gesicht des Dorfvogts, die polternden Räder – dann tobte der Karren weiter hinunter in Richtung Eggebusch.

Elisabeth und Leonhard juchzten – Valentin patschte begeistert die Hände zusammen.