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Genaustens recherchierte Historie trifft auf meisterhaftes Erzählen: der große Erich-Kästner-Roman von SPIEGEL-Bestsellerautor Tilman Röhrig – intensiv, fesselnd, authentisch. In »Und ohne Tabu explodiert die Welt« lässt Tilman Röhrig einen der beliebtesten deutschen Schriftsteller lebendig werden: Erich Kästner. In diesem beeindruckenden Roman erleben die Leserinnen und Leser den Schöpfer von Kinderbuchklassikern wie »Emil und die Detektive«, »Pünktchen und Anton« oder »Das doppelte Lottchen« in all seinen Facetten: als liebenden Sohn, Freund und Liebhaber, als Autor und politischen Zeitzeuge in dunkelsten Tagen. »Es gibt kaum einen Autor hierzulande, der so gut Geschichte in spannende Romane verwandeln kann wie der große Tilmann Röhrig.« Rheinische Post Berlin 1927: Der Hauptstadt wird er's schon zeigen! Erich Kästner genießt die Cafés, die Kabaretts, die Weltoffenheit und den kritischen Geist Berlins. Er und seine Freunde glauben, die politischen Entwicklungen im Blick zu haben – doch sie müssen ohnmächtig hinnehmen, was sich hinter den Kulissen bereits vor 1933 aufbaut: Unterdrückung der Freiheit, ein neuer Krieg und das Ende ihres Glaubens an die eigene Unverwundbarkeit … Meisterhaft verbindet Tilman Röhrig Historie und Fantasie, Wahrheit und Dramaturgie zu einer spannenden Lektüre. Gebannt folgt man Erich Kästners Kampf um seine künstlerische Integrität und das Überleben in dunklen Zeiten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Cover & Impressum
1
Leipzig, Hohe Straße 51TreppenhausDienstag, 22. März 1927
2
Leipzig, Hohe Straße 51WohnungDienstag, 22. März 1927
3
Berlin, Nürnberger Platz 2Café CarltonSonntag, 30. September 1928
4
Berlin, Nürnberger Platz 2Café CarltonSonntag, 30. September 1928
5
Berlin, Kantstraße 152Sitz der Wochenzeitschrift Die WeltbühneAnfang Juni 1929
6
WarnemündeFreitag, 14. Juni 1929
7
Berlin, Nürnberger Platz 2Café CarltonMontag, 24. Juni 1929
8
BerlinGörlitzer BahnhofSonntag, 22. September 1929
9
Berlin, Roscherstraße 16Montag, 23. September 1929
10
Berlin, Kurfürstendamm 156Kabarett der KomikerDienstag, 15. Oktober 1929
11
Berlin, HegelplatzFriedrich-Wilhelms-UniversitätMontag, 20. Januar 1930
NSDAP-Gauleitung, Hedemannstraße 10
12
Berlin, Roscherstraße 16Montag, 3. März 1930
13
Berlin, Roscherstraße 16Herrenschneider im VorderhausMontag, 15. September 1930
14
Berlin, NollendorfplatzMozartsaalFreitag, 5. Dezember 1930
10. Dezember 1930
12. Dezember 1930
15
Berlin, KurfürstendammCafé LeonMontag, 16. Mai 1931
16
Berlin, Roscherstraße 16Mittwoch, 24. Juni 1931
17
Berlin, KurfürstendammMontag, 13. Juli 1931
18
Berlin, Roscherstraße 16Donnerstag, 16. Juli 1931
19
Berlin, Hedemannstraße 10NSDAP-GauleitungAnfang September 1931
20
Berlin, KurfürstendammDas jüdische Neujahrsfest Rosch ha-SchanaSamstag, 12. September 1931
NSDAP-Gauleitung, Hedemannstraße 10Montag, 14. September 1931
21
Berlin, KurfürstendammMitte November 1931
22
BerlinGedächtniskircheFreitag, 11. März 1932
BerlinSonntag, 13. März 1932
Berlin, Roscherstraße 16Montag, 14. März 1932
BerlinSamstag, 9. April 1932
23
Berlin, WilhelmplatzHotel KaiserhofDienstag, 15. November 1932
24
Berlin, Dreibundstraße 10Büchergilde GutenbergDienstag, 10. Januar 1933
25
Berlin, WilhelmplatzHotel KaiserhofMontag, 30. Januar 1933
26
Zürich, Limmatquai 2Café OdeonDienstag, 28. Februar 1933
27
Berlin, Wilhelmplatz 8/9Reichsministerium für Volksaufklärung und PropagandaDienstag, 9. Mai 1933
28
Berlin, Roscherstraße 16Mittwoch, 10. Mai 1933
29
Eibsee am Fuß der ZugspitzeSommer 1933
30
BerlinFiliale der Dresdner BankMontag, 11. Dezember 1933
31
Berlin, Prinz-Albrecht-Straße 8Mittwoch, 13. Dezember 1933
32
Berlin, Seestraße 8Wohnung des Erich KnaufMontag, 29. Januar 1934
33
Berlin, Seestraße 8Wohnung des Erich KnaufMontag, 21. Mai 1934
Berlin, Seestraße 8Wohnung des Erich KnaufSamstag, 2. Juni 1934
Konzentrationslager OranienburgSamstag, 2. Juni 1934
34
Berlin, Kalischer Straße 34Wohnung des Erich OhserMittwoch, 5. September 1934
35
Berlin, KochstraßeBürohaus des Ullstein VerlagesMittwoch, 5. September 1934
Bürohaus des Ullstein Verlages in der KochstraßeEine Woche späterDonnerstag, 13. September 1934
Berlin, Prinz-Karl-PalaisPropagandaministeriumZwei Tage späterSamstag, 15. September 1934
36
Berlin, Roscherstraße 16Anfang Oktober 1934
Berlin, Roscherstraße 16Zwei Tage später
BerlinMitte Oktober 1934
37
Berlin, Kantstraße 12Kabarett Tingel-TangelDonnerstag, 9. Mai 1935
38
BerlinFreitag, 10. Mai – Mittwoch, 15. Mai 1935
Prinz-Albrecht-Straße 8,Dienstag, 14. Mai
Mittwoch, 15. Mai
39
Berlin, Kurfürstendamm 155–156Café LeonDienstag, 3. März 1936
40
BerlinOlympiadeAugust 1936
41
Berlin, U-Bahn-Station Potsdamer PlatzMittwoch, 12. Mai 1937, vormittags
42
Berlin, SybelstraßeGymnasiumMittwoch, 12. Mai 1937, nachmittags
43
Berlin, BreitscheidplatzSonntag, 5. Dezember 1937
44
Berlin, WilhelmplatzHotel KaiserhofDienstag, 11. Juni 1938
45
ParisDeutsche BotschaftMontag, 7. November 1938
BerlinDienstag, 8. November 1938
MünchenAltes RathausMittwoch, 9. November 1938
Berlin,Die Nacht vom Mittwoch, den 9. auf den 10. November 1938
46
BerlinCafé LeonDienstag, 10. Oktober 1939
47
Berlin, Budapester Straße 51Atelier Erich OhserFebruar 1940
48
Potsdam, BabelsbergFilmstudiosJuli 1940
49
Berlin, Kurfürstendamm 72Johnnys Kleines-KünstlerrestaurantFrühjahr 1941
50
Berlin, Prinz-Karl-PalaisPropagandaministeriumMittwoch, 16. April 1941
Berlin, Roscherstraße 16Mittwoch, 16. April 1941
Berlin, TiergartenDonnerstag, 17. April 1941
51
Berlin, Roscherstraße 16Ende September 1941
52
BerlinJohnnys Kleines Künstler-RestaurantSonntag, 30. November 1941
53
Potsdam, BabelsbergFilmstudios der UfaDonnerstag, 17. Dezember 1942
54
Berlin, Prinz-Karl-PalaisPropagandaministeriumMittwoch, 6. Januar 1943
Berlin, Roscherstraße 16Donnerstag, 14. Januar 1943
55
Berlin, Uhlandstraße/Ecke KurfürstendammMontag, 1. März 1943
Babelsberg, Villa StückrathDienstag, 24. August 1943
56
Berlin, KurfürstendammMontag, 6. Dezember 1943
Berlin-KaulsdorfAm Feldberg 3Samstag, 15. Januar 1944
57
Berlin, nach der BombennachtMittwoch, 16. Februar 1944
58
Berlin-KaulsdorfAm Feldberg 3Mittwoch, 8. März 1944
Berlin-Kaulsdorf, nächster Morgen
59
Berlin, Sybelstraße 8Freitag, 24. März 1944
60
Berlin-KaulsdorfAm Feldberg 3Dienstag, 28. März 1944
61
Berlin, Prinz-Karl-PalaisPropagandaministeriumMittwoch, 29. März 1944
Freitag, 31. März 1944
62
Potsdam, BabelsbergBürohaus der UfaMontag, 3. April 1944
Dienstag, 4. April 1944Amtszimmer des Oberstaatsanwaltes
Mittwoch, 5. April 1944
63
Untersuchungsgefängnis im VolksgerichtshofMittwoch, 5. April 1944, abends
VolksgerichtshofDonnerstag, 6. April 1944
64
Brandenburg-GördenZuchthausSamstag, 15. April 1944
Brandenburg-GördenZuchthausMittwoch, 21. April 1944
Brandenburg-GördenZuchthausSamstag, 24. April 1944
Brandenburg-GördenZuchthausDienstag, 2. Mai 1944
Brandenburg-GördenZuchthaus, VollstreckungskammerDienstag, 2. Mai 194415:55 Uhr!
Berlin-Tempelhof, Manfred-von-Richthofen-Straße 13bei Familie GilbertSamstag, 6. Mai 1944
65
Berlin, Sybelstraße 8Donnerstag, 20. Juli 1944
BerlinPropagandaministeriumMontag, 25. Juli 1944
66
Berlin, Sybelstraße 8Montag, 6. November 1944
Berlin, Pariser PlatzSonntag, 12. November 1944
67
Berlin, Sybelstraße 8Montag, 14. Februar 1945
68
Berlin, Sybelstraße 8Samstag, 10. März 1945
69
Berlin bis Olching bei FürstenfeldbruckSonntag, 11. März 1945
70
Mayrhofen, ZillertalPension SteinerDonnerstag, 15. März 1945
71
Mayrhofen, ZillertalSamstag, 24. März 1945
72
Mayrhofen, ZillertalPension SteinerSonntag, 21. April 1945
73
Mayrhofen, ZillertalFreitag, 4. Mai 1945
Übersicht der wichtigsten handelnden Personen
Abkürzungs- und Begriffsverzeichnis
Danksagung
Literaturauswahl
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Nur keinen Lärm! Lotte Enderle legte den Finger auf die Lippen und kniff kurz die Lider zusammen. Beide Freundinnen nickten, sie hatten verstanden. Ohne Mühe ließ sich die Haustür aufdrücken. Die jungen Frauen schlüpften in den Flur. »Hier ist es zu dunkel«, flüsterte Gisa. »So können wir uns nicht umziehen.«
»Das musst du auch nicht.« Lena tastete an der Wand nach dem Schalter. Mit lautem Klack flammte das Flurlicht auf. Das Geräusch und die plötzliche Helligkeit erschreckten, gleich bemühten sich die drei nicht loszukichern. Sie stellten das geliehene Grammofon auf die unterste, den Trichter und die Schachtel mit den Schallplatten auf die nächste Stufe, daneben sehr vorsichtig den Beutel mit der großen Ananas. Lena zupfte an den Stoffbändern und reckte die Nase über die Öffnung. »Dieser Duft. Zum Reinbeißen.«
»Unsinn.« Lotte zog die Freundin hoch. »Ananas riechen erst, wenn du sie aufschneidest. Tauschen wir die Sachen.« Jede nahm den Rucksack von der Schulter, stellte ihn vor die Füße. »Los jetzt!« Lotte knöpfte sich den Mantel auf. Gemeinsam hatten sie seit letzter Woche in der Redaktion der Kinderzeitschrift Klaus und Kläre, eines Ablegers der Neuen Leipziger Zeitung, geplant und vorbereitet. Das hunderttausendste Abonnement ihres Blattes war schließlich Grund genug zum Feiern. Nichts Steifes mit stundenlangen Reden. Ganz privat, im kleinen Kreis. Und verkleidet! Das war die Bedingung. Nichts einfacher als das, schmunzelte Lotte. Und wir werden unsern Spaß haben. Nun galt es, die Bürokleidung mit der ausgesuchten Garderobe zu tauschen. Nach Ablegen der Mäntel folgten die engen Röcke, auch die Blusen. »Hoffentlich ist oben geheizt.« Gisa nahm ein marineblaues Kleidchen aus dem Rucksack. »Ich hab gestern noch einige Nähte versetzt, sonst passe ich mit dem Busen nicht mehr rein.«
»Bei mir genauso.« Lena zeigte ein rosafarbenes Jäckchen. Zuknöpfen könne sie es nicht mehr und schwenkte ein grünes Leibhemd. »Das zieh ich drunter. Reicht das? Was meint ihr?«
Beide Freundinnen hoben die Achseln. Lotte meinte, es ginge so gerade. Und während sie selbst versuchte, ihren Schottenrock von der Taille noch etwas runterzuziehen, ergänzte sie betont ernst: »Du musst nur auf die Augen der Kerle achten. Wem sie aus dem Kopf fallen, der findet den engen Fummel gerade richtig.«
»Guck dich doch selbst an!« Lena deutete auf den viel zu kurzen Schottenrock. »Beim Bücken solltest du aufpassen.« Vergnügt lachten sich die drei an.
Jäh erlosch das Flurlicht. Ehe Gisa den Schalter fand, klackte es, und die Lampen leuchteten wieder. Gleichzeitig fiel oben eine Tür ins Schloss, und Schritte kamen rasch die Treppe herunter. Den dreien blieb nur Zeit, mit vorgehaltenen Kleidungsstücken die Blößen zu bedecken. Eine füllige Hausfrau mit Hut und Mantel blieb erschrocken auf dem Zwischenabsatz stehen. »Was geht hier vor?« Zum Schutz fasste sie ihren Henkelkorb mit beiden Händen. »Was in Gottes Namen …?« Nach heftigem Luftschnappen wollte sie die Polizei holen. Lotte ging ihr zwei Stufen entgegen. »Bitte, verzeihen Sie. Bitte, ich kann alles erklären.« Bemüht um einen ruhigen Ton, stellte sie sich und die Freundinnen als Redakteurinnen bei der Kinderzeitschrift der NLZ vor. Sie wären auf dem Weg zu einer kleinen Feier. »Als Überraschung ziehen wir uns nur …«
»Halt!«, wurde sie unterbrochen. »Etwa in unserm Haus? Und wo soll so etwas denn stattfinden?«
»Dritte Etage. Bei Erich Kästner.«
»Bei dem jungen Doktor?« Heftiges Kopf- und Korbschütteln. »Das kann ich mir nicht vorstellen. So ein anständiger junger Herr.« Der neue Gedanke ließ das Gesicht rot anlaufen. »Und fast nackelig? Und gleich drei …?«
»Nein, so verstehen Sie doch. Es sind noch zwei Herren eingeladen.«
»Großer Gott! Ich will nichts mehr hören.« Jäh fasste sich die Hausbewohnerin ein Herz. »Platz! Zur Seite.« Wie ein Bollwerk ging sie Stufe für Stufe hinunter. Niemand sollte es wagen, sich ihr in den Weg zu stellen. Erst als sie an den Halbbekleideten vorbei war, beklagte sie die Sittenlosigkeit, schimpfte weiter vor sich hin, bis sie das Haus verlassen hatte.
Gisa sah ihr nach. »Was die jetzt von uns denkt?«
»Egal.« Lotte zog grün-weiß geringelte Kniestrümpfe aus dem Rucksack. »Wir müssen uns beeilen. Nicht dass uns hier noch jemand überrascht.« Die Freundinnen halfen sich gegenseitig. Sie banden bunte Schärpen um die Taille, und jede erhielt in gleicher Farbe eine übergroße Papierschleife mit Nadeln und Klammern ins kurz geschnittene Haar gesteckt. Gisa in Rot, Lena in Gelb, und Lotte bekam passend zum Schottenröckchen eine blaue. »Lasst euch ansehen.« Sie musterten sich gegenseitig. »Als Schulmädchen finde ich uns etwas gewagt«, stellte Gisa trocken fest. »Aber sonst finde ich uns gut.«
»Wer nimmt sich wen?«, wollte Lena wissen.
Lotte stöhnte auf. »Das haben wir heute Mittag schon entschieden.«
»Ich frag ja nur. Könnte sich ja geändert haben.«
»Du bekommst deinen Bypsilon.« Lotte stopfte ihre Bürokleidung in den Rucksack. »Gisa nimmt den großen Erich, und ich plage mich mit dem kleinen Erich ab.« Von ihrer Chefredakteurin waren die Mädchen vor den Kollegen aus der Hauptredaktion der NLZ vorgewarnt worden. »Nehmt euch in Acht. Keiner von den Herren meint es ernst.« So viel sie wüsste, seien alle drei in festen Händen. Paul Beyer, genannt Bybsilon, sei noch der Anständigste, hingegen hätten der große Erich Ohser und der kleine Erich Kästner es faustdick hinter den Ohren. »Diese beiden sind nur frech, und dabei übertrifft der kleine Erich den großen noch bei Weitem. Also amüsiert euch und mehr nicht.«
Wie Schulranzen schulterten sie ihre Rucksäcke, Lotte nahm das wertvolle Grammofon, Gisa den Trichter samt Schallplatten, und Lena schnupperte beim Treppensteigen wieder an der Ananas. Ein wahrhaft teurer Leckerbissen. Um sich die Frucht leisten zu können, hatte jede einige Groschen hergeben müssen. Neben der Hauptklingel für den Wohnungseigentümer gab es noch zwei weitere für die Untermieter. Doktor Erich Kästner, ein langer Name, aber eng genug geschrieben passte er auf das kleine Schild. Erst nach einer Weile wurde die Tür geöffnet. Beim Anblick der Besucherinnen weitete Paul Beyer die Augen, langsam nahm er die Shagpfeife aus dem Mund. »Ach, ihr seid es«, bemerkte er trocken.
»Da hätte ich mehr erwartet.« Lena trat einen Schritt auf ihn zu. »He, Bypsilon. Wach auf! Es ist Dienstag. Wir sind eingeladen.« Sie verdrehte die Augen und wackelte mit der gelben Schleife. »Oder dürfen kleine Schulmädchen nicht reinkommen?«
»Doch, natürlich.« Er gab sich einen Ruck. »Ihr seht wirklich beeindruckend aus. Wir haben euch erwartet.«
»Na, das hört sich schon besser an.« Lena schaukelte die Ananas unter seiner Nase. »Schau mal, was wir haben!« Sie hakte sich bei ihm unter. »Riechen kannst du sie jetzt noch nicht. Aber bald, wenn sie in der Bowle schwimmt.« Damit zog sie an ihm, bis er begriff und die Schulmädchen durch den Flur zur Wohnung von Erich Kästner führte.
Zwei ineinander übergehende Räume. Im ersten befanden sich Ofen, Tisch und Stühle. Die Waschecke war durch einen geblümten Vorhang abgetrennt. Lena stellte den Beutel mit der wertvollen Frucht auf den Tisch, ihren Rucksack lehnte sie an die Wand und wartete, bis auch die Freundinnen sich ihrer Sachen entledigt hatten. »Und jetzt ran an die Eriche?« Der Scherz entlockte Bypsilon nur ein schwaches Lächeln. »Sie sind nebenan.«
Lotte nahm Gisa bei der Hand. »Los, Mädels! Zeigen wir uns.« Lena schnappte nach Lottes freier Linken, und gemeinsam hüpften sie in den angrenzenden Raum. Dabei sangen sie aus voller Kehle: »Ich fahr’ mit meiner Klara in die Sahara zu den wilden Tieren …« Vor dem Couchtisch hielten sie inne, lachten, kicherten, dann blickten sie erwartungsvoll zu den beiden Erichen auf dem Sofa. »Na, was sagt ihr?«, forderte Lotte.
Gleichzeitig erhoben sich die jungen Männer. Erich Ohser überragte mit seinen vierundzwanzig Jahren den vier Jahre älteren Erich Kästner um Kopfeslänge. Beide trugen Schlips und Jackett zum weißen Hemd. »Wie schön, dass ihr da seid«, sagte der Kleinere und bemühte ein schmales Lächeln. Er gab jeder die Hand. »Und welch schöne Verkleidung.« Auch Erich Ohser begrüßte die Mädchen. Gisa knickste übertrieben artig vor ihm. »Großer Bleistiftschwinger. Ich bin froh, dass ich dich besuchen darf.«
Der Zeichner und Karikaturist schüttelte den Kopf. »Ich hab dich nicht verstanden. Du weißt, ich höre schlecht. Entweder musst du mich anschauen oder einfach lauter sprechen.«
»Hab nicht dran gedacht.« Gisa nickte und sagte sehr deutlich: »Ich freue mich, dich wiederzusehen.«
»Mir geht es auch so«, murmelte er vor sich hin.
Lotte sah von einem Gesicht zum anderen. Etwas stimmt hier nicht, dachte sie. Letzten Freitag sind die beiden noch in der Redaktion um uns herumgeschwänzelt, konnten die Feier gar nicht erwarten. Und Kostüme wünschten sie sich. Wir sollten sie überraschen. Sie würden die Getränke besorgen und die Wohnung vom Kästner dekorieren. Lotte blickte sich um. Tja. Eine Luftschlange ringelte sich auf dem Schreibtisch neben dem Bücherregal, eine zweite hing an der Deckenlampe. Also, geschmückt würde ich das nicht nennen. Die Eriche kehrten zum Sofa zurück, griffen nach Zigaretten, und Bypsilon setzte sich zu ihnen, zog heftig an seiner Pfeife. Da saßen sie zu dritt mit sauertöpfischen Mienen. Das kann nur ein Spiel sein, mit einem Mal war sich Lotte ganz sicher: Die Kerle spielen uns was vor. Also warten wir mal getrost ab, wie sich das Theaterstück weiterentwickelt. »Haben die Herren Leichenbestatter an den Wein gedacht?«
»Auch an den Sekt.« Der kleine Erich deutete in Richtung Küche. »Die Flaschen stehen auf der Fensterbank.«
Lotte winkte den Freundinnen. »Kommt. Wir stören hier nicht länger. Machen wir es uns nebenan gemütlich.«
Schnell war der Trichter auf das Grammofon gesteckt, das Stromkabel lang genug, und Max Kuttner sang: »Wer hat bloß den Käse zum Bahnhof gerollt?«
Eine Ananasbowle. Aus Ermanglung einer großen Glasschüssel fand sich ein Suppentopf unten im Schrank. »Da passen der Sekt und alle drei Weinflaschen rein.« Lena ließ es sich nicht nehmen, mit dem großen Messer zerteilte sie die Ananas. Gisa nahm die Schöpfkelle, rührte die gelben Fruchtwürfel in den Wein und sang unterstützt von den Freundinnen mit Max Kuttner den neusten Schlager, bis er aufhörte, nach dem Übeltäter zu fragen, der unerlaubt den Käse zum Bahnhof gerollt hatte. Die Musik schwieg. Von nebenan war kein Laut zu hören. Lotte schüttelte den Kopf. »Die Kerle haben irgendwas vor. Wenn ich nur wüsste was?« Sie hielt Gisa ein Glas hin. »Schenk ein! Ich will feiern.« Nach zwei weiteren Schallplatten waren die Gläser geleert. Weil keiner der Herren herüberkam oder sich wenigstens durch Rufen bemerkbar machte, zogen die Schulmädchen samt Bowle ins Wohn- und Arbeitszimmer um. Sie füllten die Gläser und zwängten sich so zwischen die Herren, dass jede links neben dem Vorbestimmten saß. »Prosit.« Die Frauen nahmen einen Schluck, während die Männer, als hätten sie’s verabredet, das Glas bis auf den Grund leerten und die Ananasstücke zerkauten. Kein Wort, kein Lachen. Lotte blickte den kleinen Erich von der Seite an. »Ist das hier euer Ernst?«
Gleich boxte Gisa ihrem Bypsilon leicht gegen den Oberarm. »Ihr seid wirklich tolle Gastgeber. Und so lustig.« Keine Antwort. Paul Beyer zog nur heftiger an seiner Pfeife.
Erich Kästner beugte sich vor, wandte sich an die Kollegen. »Wollen wir es den Mädchen sagen?« Beide nickten altväterlich, und er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Es ist mir zu hell.« Nachdem er das Deckenlicht ausgeschaltet hatte und nur noch eine Stehlampe brannte, kehrte er zum Couchtisch zurück. Mehrmals presste er die flachen Hände unter dem Kinn zusammen. »Kurz gesagt: Ohser und ich sind heute Mittag rausgeworfen worden.«
Die Mädchen erstarrten. Gisa fasste sich als Erste, fragte zur Sicherheit. »Woraus?«
»Na, aus der Zeitung«, schimpfte Kästner, dabei zitterte seine Stimme. »Woraus sonst? Die NLZ verzichtet auf meine Mitarbeit, und auch Ohser ist gefeuert. Paul kann bleiben. Ich betone, nochbleiben. Wer weiß es schon bei diesem unfähigen Verlagsdirektor.« Er ging zum Schreibtisch und schlug beide Fäuste auf die Platte. Dann kehrte er zum Tisch zurück, schöpfte sich ein Glas Bowle und leerte es in einem Zug. Er starrte in die entsetzten Gesichter der Besucherinnen. »Jetzt wisst ihr, warum es uns das Fest verhagelt hat.«
Heftig schüttelte Lotte den Kopf. »Nichts begreife ich. Du bist erst achtundzwanzig Jahre alt und schon unser bester Redakteur.« Jeder lobe oder fürchte seine politischen Artikel. Niemand könne solche Theaterkritiken schreiben. »Weswegen also hat man dich gefeuert? Und wieso den Ohser gleich mit?«
»Wegen eines Gedichtes!«
»Was?«, entfuhr es Gisa und Lena gleichzeitig.
»Es ist wahr.« Auch Ohser schöpfte sich Bowle nach. »Der Nachtgesang des Kammervirtuosen hat uns die Stelle gekostet.«
»Kann doch nicht sein«, staunte Lotte ungläubig. »Das stand doch vor vier Wochen in der Faschingszeitung der Kunstakademie. Wunderbar schlüpfrig.«
Auch Lena kannte das Gedicht. »Und deswegen die Kündigung? So prüde kann doch niemand sein.«
»Da hängt noch mehr dran.« Der kleine Erich setzte sich wieder aufs Sofa. Während Gisa das erneute Füllen der Gläser übernahm, zündete er sich eine Zigarette an. »Der Ärger begann nicht mit der Faschingszeitung«, erklärte er. Die Verse habe er schon vor zwei Jahren geschrieben und veröffentlicht. Niemand habe sich damals daran gestört. Vor vierzehn Tagen nun haben auch die Plauener Nachrichten das Gedicht gebracht. »Und zwar mit einer Zeichnung von unserm großen Erich.«
Gisa lachte leise und schlug Ohser aufs Knie. »Du hast dem Virtuosen das Cello wie eine schöne Nackte zwischen die Beine gestellt.«
Er hob die Schultern. »So, wie es der Text vorschreibt.«
Langsam setzte Lotte ihr Glas ab. »Wartet. Gleich bekomme ich die erste Strophe zusammen.« Sie rieb sich die Stirn.
»Du meine Neunte letzte Sinfonie!
Wenn du das Hemd anhast mit rosa Streifen …
Komm wie ein Cello zwischen meine Knie,
Und lass mich zart in deine Seiten greifen!«
Lene klatschte; da niemand mit einfiel, ließ sie es wieder. Heftig blies Kästner den Zigarettenrauch zur Decke. »Unser dritter Erich hat es gut gemeint und das Abendlied in seiner Plauener Volkszeitung an exponierter Stelle veröffentlicht.« So sei es jedem gleich ins Auge gefallen. Erich Knauf habe nur das getan, was Freunde füreinander tun. »Sie helfen sich gegenseitig. Doch dieses Mal hat er unserm Konkurrenzblatt, diesen hirnlosen Machern der Leipziger Neueste Nachrichten, einen Trumpf in die Hände gespielt.« Nun endlich konnten sie dem wegen seines Erfolges so verhassten Redakteur das Handwerk legen. Die Herausgeber hätten nichts Eiligeres zu tun gehabt, als in ihrem Blatt ebenfalls das Gedicht samt Illustration abzudrucken. »Allerdings mit der drohenden Überschrift: ›Tempelschänder!‹« Kästner wiederholte betroffen das Wort, hielt inne, er senkte den Kopf, schirmte die Augen mit der Hand.
Paul Beyer nahm die Pfeife aus dem Mund. »Der Begleitartikel ist so ungerecht. Mit Absicht wird da ein guter Ruf zerstört. Und noch schlimmer ist es, dass gerade unser Chef darauf reinfällt.«
Gisa sah ihn fragend an. »Ich begreife überhaupt nichts.«
»Wir haben jetzt das Beethovenjahr. Und das Gedicht beginnt mit der Neunten Sinfonie. Und ist ein wunderbares Lob des Kammervirtuosen. Aber die Leipziger Neueste Nachrichten haben beide Eriche beschuldigt, den Beethoven durch den Dreck zu ziehen.« Er drohte mit dem Pfeifenstiel: »Keine Ehrfurcht vor dem großen Meister.«
»Und deswegen also?« Lotte sah auf den kleinen Erich. Wie verletzt er dahockt, dachte sie. Sonst immer gut gelaunt und frech und nun so hilflos. Sie füllte ihm Bowle nach. »Komm, trink mit mir!« Erich blickte auf, nahm das Glas. Für eine Weile blieb er mit den Augen bei ihr, sie tranken gemeinsam. Als er absetzte, löste er sich mit einem Ruck, die Lebendigkeit kehrte zurück. Er wandte sich an den großen Erich. »Weißt du was, Ohser?« Die Zunge gehorchte ihm nicht mehr so recht. »Das ganze Leipzig kann uns gestohlen bleiben. Wir, wir gehen nach Berlin! Da werden wir berühmt. Was meinst du?«
Zu früh ist manchmal ärgerlicher als zu spät, dachte Elfriede Mechnig, während sie die steile Treppe aus dem U-Bahn-Schacht hinaufstieg. Oben angelangt, blieb sie neben dem Eisengeländer stehen. Unschlüssig blickte sie von der Platzmitte hinüber zum Café Carlton an der Ecke zur Geisbergstraße. Irgendwo wird er dort sitzen. Bei dem sonnigen Wetter heute sicher draußen unter den Markisen. Für Ende September ist es angenehm warm. Oder sitzt er doch drinnen? Ich weiß nicht, wie Dichter so sind. Na, ich werde ihn schon finden. Noch bin ich zehn Minuten zu früh. Pünktlich will ich schon sein. Punkt elf Uhr. Da mache ich nichts falsch. Die siebenundzwanzigjährige schlanke Frau wartete, bis sich eine Lücke zwischen den dicht an dicht vorbeifahrenden Autos bot, und ging raschen Schritts über die Straße. Vor dem Schaufenster eines kleinen Hutgeschäfts blieb sie stehen, schaute die Auslage an, ohne die Hüte wahrzunehmen. Ob er noch mehr Bewerberinnen hierher bestellt hat? Sie hatte durch eine Freundin von seiner Suche gehört und ihm geschrieben, er hatte geantwortet und sie für heute zum Kennenlernen ins Café gebeten. Und wenn da noch welche sitzen …? Elfriede schüttelte den Kopf. Gott, bin ich aufgeregt. Und wie sehe ich aus? Sie betrachtete sich im schwachen Spiegel des Schaufensters. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte ich die dunkelblaue Hose, meine Lieblingsbluse und das Jackett angezogen. Aber Mutter bestand auf diesem dunkelgrünen Hemdblusenkleid und der weißen Weste. »Du bist schließlich kein Kerl.«
»Das weiß ich, Mama. Aber heutzutage tragen die Frauen so bequeme Sachen wie die Männer …«
»Neumodische Allüren. In deiner Freizeit, bitte sehr. Aber nicht, wenn du Eindruck machen sollst. Ich meine es doch nur gut, Kind.«
Elfriede hatte keinen Streit gewollt und sich gefügt. Sie trat näher an die Scheibe heran und prüfte ihren Scheitel. Er teilte den dunkelblonden Bubikopf auf der rechten Seite und erlaubte einen Blick auf ihre hohe Stirn. »Wenigstens hab ich den Topfhut in der Diele wieder abgesetzt und rasch unter Vaters Mantel versteckt.« Sie blickte auf die Uhr. Noch vier Minuten. Es war so weit. Elfriede klemmte die schmale Handtasche fester unter den Arm und straffte den Rücken.
Das Café war gut besucht. Auf dem Weg entlang der Terrasse beobachtete sie die Gäste. Wie ein Dichter sieht hier keiner aus. Am Eingang blieb sie stehen. Ich könnte drinnen fragen.
»Verehrtes Fräulein?« Neben ihr lächelte der Kellner. »Kann ich helfen?«
»Ich bin hier mit einem Herrn verabredet.« Sie zeigte ihm den Zettel mit dem Namen Dr. Erich Kästner. Da nickte der Kellner freudig. »Ah, unser Stammgast. Kommen Sie, Fräulein.« Er geleitete sie ein Stück auf dem schmalen Pfad zwischen den schlemmenden Sonntagsgästen und deutete hinüber zum Tisch links hinten an der Terrassenwand. »Dort drüben sitzt er.«
Elfriede ging langsam näher. Den habe ich mir ganz anders vorgestellt. Weißer Kragen und Schlips, dazu passend das Tuch vorn in der Jacketttasche. Das geleerte Cognacglas und die Kaffeetasse von sich geschoben, saß Kästner über eine Kladde gebeugt und schrieb. Zwei Schritt entfernt blieb sie stehen, ohne aufzusehen, bat er: »Josef, bringen Sie mir noch einen Muntermacher!«
Meint er das ernst? Oder? Es blieb ihr keine Zeit. »Welche Sorte bevorzugt der Herr?«
Der Stift rutschte übers Papier, aufgeschreckt sah Kästner hoch, nur einen Moment, schon hatte er sich gefasst. »Wunderbar.« Beim zweiten Wunderbar erhob er sich, streckte die Hand aus. »Wie schlagfertig. Eine gute Antwort.« Er lächelte, Elfriede bemerkte flüchtig das kleine Zwinkern in den Augenwinkeln, schon musste sie die Hand fassen, kam aber nicht zu Wort. »Sie also sind Fräulein Mechnig. Und wie …« Er zückte die Taschenuhr. »Tatsächlich, auf die Minute. Willkommen!« Mit der Linken rückte er einen Stuhl, mit der Rechten lud er ein. »So setzen Sie sich doch.«
Beim Niederlassen gelang Elfriede endlich der Gruß. »Guten Tag, Herr Doktor Kästner.«
Er nahm selbst wieder Platz und lehnte sich zurück, langsam griff er eine Zigarette aus dem Etui, über die Flamme des Feuerzeugs sah er sie an, schwieg. Elfriede blickte zurück, wusste nicht, ob sie etwas sagen sollte. Fein angezogen ist er, dachte sie, überhaupt so vom Aussehen ist es ein feiner Herr. Nicht besonders groß, aber das kann mir egal sein.
»Fräulein Mechnig.« Er blies den Rauch langsam in die Luft und sagte, die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger: »Ich werde Sie jetzt zu Anfang etwas fragen und bitte um eine klare Antwort. Auch wenn Sie noch nichts von dem wissen, was Sie erwartet.« Wieder das verschmitzte Lächeln. »Sind Sie bereit?«
Elfriede nickte, zu mehr, schon gar nicht zum Lächeln, war ihr nicht zumute.
Langsam beugte sich Kästner vor. »Wollen Sie mir helfen, berühmt zu werden?«
Kein Scherz. Sie sah es in seinem Blick. Elfriede atmete und sagte: »Ja.« Als sie die Augen senkte, bemerkte sie ihre gefalteten Hände. Hastig löste sie die Finger. Dumme Gans, du bist hier nicht in der Kirche. Kästner schien es nicht bemerkt zu haben. »Wie schön. Das war klar und deutlich.« Damit beugte er sich zu seinem Mantel auf dem freien Stuhl neben ihm und zog ein schmales Buch aus der Tasche. Leicht drückte er das Bändchen an seine Brust, tippte mit dem Zeigefinger auf den Titel. »Herz auf Taille. Sie haben es sicher gelesen.« Es sei sein erstes Buch, erst vor wenigen Monaten erschienen und jetzt schon stadtbekannt. »In aller Bescheidenheit darf ich sagen: Das Publikum ist begeistert, die Rezensionen sind voll des Lobes …« Er brach ab und sah sie prüfend an. »Sind Sie anderer Meinung?«
Elfriede spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. »Um Verzeihung. Ich … ich habe keine Meinung. Weil ich nichts vom Inhalt … weiß.«
»Aber, mein Fräulein …« Falten sprangen auf die Stirn, die Augenbrauen wölbten sich über den dunklen Augen. »Sie bewerben sich bei mir und kennen nichts von meiner Arbeit?«
O Gott, gleich jagt er mich davon. »Doch, doch. Alle bei mir zu Hause kennen Ihren Namen, auch Gedichte, wenigstens die, die in der Vossischen Zeitung abgedruckt waren. Aber das Buch da …« Elfriede streckte vorsichtig den Finger. »Ich will es mir kaufen, aber erst nachher.« Es koste fast überall fünf Reichsmark. Das sei ihr zu teuer gewesen, für vorher. »Ich habe ja schon zwanzig Pfennige für die U-Bahn ausgegeben. Und die Rückfahrt kostet auch noch. Wenn Sie verstehen?«
Leichtes Fingertrommeln auf der Tischplatte. »Was meinen Sie mit vorher oder nachher?«
Elfriede nahm allen Mut zusammen. »Ich wollte mich vorher nicht zu sehr in Unkosten stürzen. Aber wenn ich die Stelle bekomme, dann kaufe ich mir das Buch.«
Kästner sah sie verblüfft an, dann lachte er mit einem Mal kurz auf. »Ich bekäme eine Sekretärin und gleichzeitig eine neue Leserin? Da wird mir die Entscheidung sehr leicht gemacht.« Er legte das Bändchen vor sich auf den Tisch. »Ihrem Schreiben entnahm ich, dass Sie nach der Schule eine Ausbildung als Stenotypistin absolviert haben?«
»Die Eltern wollten es so.« Mit der Handfläche strich Elfriede über die Tischplatte. »Ich hätte lieber Musik studiert.« Sie ginge auch gern ins Theater. »Ich lese viel. Besonders die Klassiker …« Sie stockte, setzte gleich hinzu: »Und nun auch Ihre Verse.« Vor allem aber sei das Klavierspielen ihre große Leidenschaft.
Erich Kästner schlug eine neue Seite in seinem Notizblock auf und schob ihn samt Stift vor sie hin. »Nur ein kleiner Stenotest. Ob wir uns verstehen und zusammenpassen.« Er wolle ihr diktieren. Und was eigne sich besser als einige Verse aus Herz auf Taille.
Elfriede rückte näher an den Tisch. Eine Weile blätterte er in seinem Buch. »Möchten Sie etwas Ernstes oder Heiteres, etwas Politisches oder Frivoles? Von allem gibt es ausreichend.«
»Wenn ich wählen darf: etwas Nachdenkliches.«
Kästner spitzte die Lippen, suchte und hatte sich entschlossen. »Wir beginnen mit der Überschrift: Der Mensch ist gut. Neue Zeile.
Der Mensch ist gut. Da gibt es nichts zu lachen.
In Lesebüchern schmeckt das wie Kompott.
Der Mensch ist gut. Da kann man gar nichts machen.
Er hat das, wie man hört, vom lieben Gott …
Punkt.«
Der Bleistift flog über die Zeilen, Elfriede sah auf seine Lippen, sah aufs Papier und fand schon beim zweiten Vers den Rhythmus in seinem Sprechen. Beim sechsten Vers war sie in der Geschwindigkeit fast gleich mit ihm.
»Der Mensch ist gut. Drum haut ihm in die Fresse!
Drum seid so gut: und seid so schlecht, wie’s geht!
Drückt Löhne! Zelebriert die Leipziger Messe!
Der Himmel hat für so was immer Interesse. –
Der Mensch bleibt gut, weil ihr den Kram versteht.
Punkt.«
Elfriede ließ den Bleistift sinken und blickte ihn aus großen Augen an. »Erlauben Sie mir, was zu sagen? Ich meine nicht nur jetzt, auch sonst? Oder soll ich nur schreiben und still sein.« Sie versuchte ein Lächeln. »Verstehen Sie? Ich will nicht viel sagen, nur manchmal etwas, denn so ganz ohne ein Wort würde mir das Mitschreiben schwerer fallen.«
Wieder wuchsen die Falten auf der Stirn. »Ich benötige eine Sekretärin«, schnappte er, »und keine …« Er unterbrach sich, die Wolke verschwand. »Nur zur Probe. Was würden Sie zu dem Gedicht anmerken?«
»Das Lachen bleibt einem im Hals stecken. Weil es wahr ist.«
Da kehrte das Schmunzeln in die Augenwinkel zurück. Während er die Kladde zu sich heranzog, nickte er: »Einverstanden. Mitdenken sei Ihnen jederzeit erlaubt.« Er überflog das Stenogramm. Er könne es lesen, beinah besser entziffern als seine eigene Kurzschrift. »Wir schreiben beide nach derselben Methode. Hier sehen Sie. So verfasse ich meine Texte.« Er zeigte ihr eine beschriebene Seite in seiner Kladde. Elfriede überflog einige Zeilen der Stenozeichen. »Damit komme ich gut zurecht.«
»Allerdings …« Mit Absicht ließ er eine Pause. »Wenn der Text sich zum Beispiel in gewissen Etablissements aufhält und Ausdrücke notwendig werden, die wohlerzogenen jungen Frauen nicht geläufig sind, so werde ich sie ausschreiben.«
Wofür hält er mich? Elfriede strich die Haarsträhne rechts des Scheitels bis über das Ohr zurück. »Keine Sorge. Ich lerne schnell.«
»Davon bin ich inzwischen überzeugt.« Er schloss den Notizblock, winkte dem Kellner, gleichzeitig erkundigte er sich: »Mohn- oder Apfelstrudel? Beides ist zu empfehlen. Was sage ich. In ganz Berlin gibt es keinen köstlicheren Strudel.«
Als sie zögerte, setzte er hinzu: »Keine Sorge, Fräulein Mechnig. Sie sind mein Gast.«
Elfriede entschied sich für den mit Mohn gebackenen. Während des Wartens erläuterte er seine Pläne. Er würde ihr die Theaterkritiken, seine politischen Kommentare, seine Gedichte vorgeschrieben geben oder diktieren, die sie dann umgehend tippen sollte. »Das aber ist noch längst nicht alles.« Außerdem möchte er, dass seine Gedichte und Kommentare möglichst vielen Zeitungen angeboten werden. »Wir stellen eine Adressenliste der Redaktionen zusammen. Und zwar aus allen Ländern, in denen Deutsch gesprochen wird.« Ein leises Lachen. »Ich träume von einer kleinen Schreibfabrik, die von Jahr zu Jahr größer wird. Und Sie können mit einer Halbtagsstelle und hundertfünfzig Reichsmark ein Teil davon werden.« Er streckte ihr beide Hände hin. »Nun? Was sagen Sie? Wollen Sie mir immer noch helfen, berühmt zu werden?«
Ich traue es ihm zu, dachte Elfriede und sagte: »Ja. Von Herzen gern.«
Lautes Lachen vom Bürgersteig her. Es schallte über die Köpfe der Gäste bis hin zum Tisch links hinten an der Terrassenwand. Die Kuchengabel in der Hand wandte Elfriede sich um. Erich Kästner setzte die Kaffeetasse ab. »Das gilt mir.« Rasch berührte er ihren Arm. »Erschrecken Sie nicht. Da kommen zwei meiner besten Freunde. Ernsthafte Kerle, denen das Lachen einfach nicht vergehen will.« Besonders der Große sei anfällig für Witze, vor allem wenn es um Politik gehe, und der gedrungene Kleine habe davon ein schier unerschöpfliches Reservoir.
»Ich werde es ertragen«, versicherte sie. Ihr Vater sei Oberinspektor bei der Stadt, und der bringe so einiges aus dem Büro mit nach Hause. »Manche Scherze sind so bösartig, dass man nur deshalb drüber lacht.«
Als Erster erreichte der gedrungene kleine Mann den Tisch, einen Schritt hinter ihm folgte der größere. Beide hatten nur Augen für den weiblichen Gast des Freundes. »Sie müssen Karin sein«, sagte der Gedrungene und nahm den Hut ab. Der Große ergänzte: »Wir freuen uns, endlich Ihre Bekanntschaft zu machen.« Auch er lüftete den Hut. Jeder gab dem anderen einen kurzen Ellbogenstoß, und beide sagten mit todernster Miene zugleich: »Gestatten: Erich.«
Einen Atemzug lang schloss Elfriede die Augen. Diese Clowns haben sich abgesprochen. Sie wollen dich testen. Spiel mit, befahl sie sich. »Sehr freundlich. Ich vermute, die Herren stehen mit Vornamen auf dem Kriegsfuß. Denn hier gibt es weder eine Karin, noch glaube ich, zwei Eriche vor mir zu sehen.«
»Darüber ließe sich streiten.« Der Gedrungene rieb sich das leicht vorgeschobene breite Kinn. »Denn in Wahrheit gibt es hier gleich drei mit dem Namen Erich. Aber sollten Sie nicht Karin sein, so entschuldigen Sie unser vorlautes Eindringen.«
Ich weiß nicht weiter. Sie sah Hilfe suchend auf Kästner, der sofort das bübische Schmunzeln einstellte. »Genug, Freunde. In mehr Fettnäpfe solltet ihr nicht treten. Dies ist Fräulein Elfriede Mechnig. Seit einer Viertelstunde ist sie meine Sekretärin und vor allem eine neue Leserin meiner Werke.«
Gespielt schuldbewusst senkten die Freunde die Köpfe, murmelten irgendwelche Entschuldigungen in sich hinein und hockten sich auf die noch freien Stühle. Kästner beugte sich zu Elfriede. »Was die Vornamen betrifft, so kann ich meinem Freund Knauf nur recht geben. Wir sind die drei Eriche.« Er wies auf den Großen. »Erich Ohser, der Karikaturist und Zeichner.« Der Finger wanderte weiter. »Und dies ist Erich Knauf, gerade frischgebackener Cheflektor der Büchergilde Gutenberg.« Kästner tippte sich gegen die Brust. »Und ich freue mich, dass Sie mir helfen wollen. Gestatten: Erich.«
Der Kellner war den neuen Gästen gefolgt. »Was darf ich den Herren bringen? Das Übliche?« Er wartete das Kopfnicken ab. »Also je eine Berliner Weiße mit Waldmeister, dazu Salzgebäck. Kommt sofort.« Schon wandte er sich zum Gehen. Kästner rief ihm nach: »Mir noch einen Cognac, Josef. Und für die Dame noch eine Tasse Kaffee.«
»Für mich bitte nicht«, wehrte Elfriede ab und war froh, dass Josef es noch gehört hatte. »Ich wollte mich eigentlich verabschieden.« Gewiss hätten die Herren wichtige Dinge zu besprechen. Da wolle sie nicht stören.
»Mein Fräulein.« Der große Erich legte ihr kurz die Hand auf den Arm. »Da Sie jetzt künftig zur Familie gehören wollen, dürfen wir Sie nicht ohne gründliche Aufklärung ziehen lassen. Denn sicher hat Ihnen Ihr neuer Chef so einiges vorenthalten.«
Gleich schnellte Kästners Zeigefinger hoch. »Wage es nicht, Freund …« Da lachte Ohser auf. »Nur keine Furcht. Das Nachtleben kommt später.«
»Kein Wort …« Einer funkelte den anderen an.
Völlig gelassen nahm der gedrungene Erich Herz auf Taille vom Tisch. Und rückte näher an Elfriede heran. »Bis die beiden sich einig sind, darf ich Ihnen zeigen, was sie für gewöhnlich so treiben.« Er schlug das Büchlein auf, blätterte bis zur ersten Karikatur. »Schauen Sie!« Ein geflügeltes Pferdchen stand mit den Hinterläufen auf Schlittenkufen und schlitterte in ein großes Herz hinein. Elfriede lächelte. Wie verspielt, dachte sie. Die nächste Zeichnung zeigte eine üppige Nackte, auf dem Rücken liegend. Sie balancierte auf dem Fuß des hochgestreckten linken Beins ein kasperliges Männlein. Elfriede stutzte, dann lachte sie leise. »Recht gewagt. Meinem Patenkind würde ich das nicht erklären wollen. Zumindest, solange das Mädchen noch so jung ist.«
Erich Knauf ließ die weiteren Seiten über den Daumen laufen. »Bei den folgenden Zeichnungen geht es nicht gesitteter zu. Bilder und Gedichte ergänzen sich auf delikate Weise. Nur für kleine Mädchen sind sie in der Tat nicht geeignet.«
Gleich schaltete sich Ohser ein. »Ich bin zwar etwas taub. Aber sobald du über meine Arbeit herziehst, höre ich das sehr wohl.«
Und Kästner lamentierte. »Da versuche ich, den ganzen Vormittag bei Fräulein Mechnig einen seriösen Eindruck zu machen, und kaum tauchen meine besten Freunde auf, da fallen sie mir in den Rücken.«
Elfriede wusste nicht, was ihr hier vorgespielt wurde oder ernst gemeint war. »Auch wenn ich noch vieles nicht begreife, so habe ich bisher einen guten Eindruck gewonnen. Man spürt, dass Sie sich schon lange kennen?«
Alle drei antworteten. Mit Mühe hörte sie aus dem Durcheinander heraus, dass Ohser und Knauf sich schon aus der Schulzeit in Plauen kannten. Kästner lernte die beiden in Leipzig kennen, und richtig verbunden hatte die drei das Gedicht Abendlied eines Kammervirtuosen. Kästner hatte es geschrieben, Ohser illustriert, und Knauf druckte es in seiner Plauener Volkszeitung. »Unser Glück begann mit einem Unglück.« Erich Kästner schnippte am Feuerzeug und lächelte in die Flamme. »Gut ein Jahr ist es her.« Wegen des Gedichts seien Ohser und er entlassen worden. »Wir zogen nach Berlin.« Knauf sei vor ein paar Monaten nachgekommen. »Und nun zeigen wir es zu dritt der Hauptstadt.«
Als er das Feuerzeug zuklappte, nickte Elfriede. »Ich bin fest überzeugt, dass es Ihnen gelingen wird.« Sie nahm ihre Handtasche. »Nun möchte ich wirklich nicht weiter stören.« Sie hatte sich halb erhoben, als ein Gedanke sie wieder zurücksinken ließ. »Die Adresse? Soll ich in die Prager Straße 17 kommen?«
Kästner schüttelte den Kopf. »Nein, da wohne ich zur Untermiete bei Frau Ratkowski.«
»Und wo ist Ihr Büro?«
Er breitete die Arme, wies über die Köpfe der Gäste. »Na, hier im Café Carlton. Bei schlechtem Wetter drinnen, bei Wärme und Sonnenschein auf der Terrasse.« Beide Hände legte er auf den runden Marmortisch. »Dies hier ist unser Büro und unser Konferenzraum.« Gleich schirmten Ohser und Knauf mit den Händen ihre Augen und senkten die Köpfe.
»Und wo …? Ich meine, wo soll ich tippen?«
Gewinnend lächelte Kästner. »Bei Ihnen zu Hause? Vielleicht könnten Sie Ihr Kinderzimmer zum Vorzimmer unseres Büros …?«
Ach du Schreck. Elfriede sank für einen Moment das Kinn. Rasch setzte Kästner hinzu: »Sie verstehen sicher, wie ich das meine?«
»Nur langsam, muss ich zugeben. Aber es gelingt mir.«
»Ich wusste es.« Das Lächeln ließ nicht nach. »Fräulein Mechnig, Sie passen zu mir.«
»Nach einer Schreibmaschine sollte ich wohl erst gar nicht fragen?«
»Gut, dass Sie das ansprechen.« Kästner legte die Hände vor der Brust zueinander. »Bitte benutzen Sie Ihre eigene. Ich selbst verfüge nur über eine Reiseschreibmaschine, und die benötige ich selbst.« Jäh verdunkelte Sorge seinen Blick. »Bei Ihnen zu Hause gibt es eine Maschine? Oder?«
»Da kann ich Sie beruhigen.« Elfriede wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Und das soll meine neue Stelle sein? Normal ist Herr Kästner nicht. Aber er strahlt etwas aus, das mir gefällt. »Ich besitze eine Erika.« Die Eltern hätten ihr die Reiseschreibmaschine zur bestandenen Prüfung geschenkt.
»Welch ein Gleichklang. Auch ich habe eine Erika von meiner Tante Lina Augustin geschenkt bekommen. Für meine Doktorarbeit und den Welterfolg …«
Das prustende Lachen der beiden Freunde versuchte er mit Handklatschen auf der Marmorplatte einzudämmen. Elfriede stand auf. Gleich erhoben sich alle drei. »Ich bin sehr gespannt auf meine neue Arbeit.« Sie blickte Kästner an. »Und morgen ist mein erster Arbeitstag?«
Er werde sie anrufen und die Uhrzeit verabreden, versprach er. Elfriede sah ihn, dann die Freunde an. »Und danke. Noch nie habe ich drei Eriche auf einmal kennengelernt.«
Sie wandte sich um und ging den schmalen Pfad zwischen den Tischen entlang in Richtung Ausgang.
Die Männer sahen ihr nach. Erich Ohser legte Kästner die Hand auf die Schulter. »So eine nette junge Frau. Hoffentlich ist sie nicht zu schade für dich.« Erich Knauf rieb sich das Kinn. »Ich habe eine Sekretärin. Die aber wurde von der Büchergilde eingestellt.« Er seufzte. »Und du, mein Freund? Kannst du dir Elfriede leisten? Wovon willst du sie bezahlen?«
»Ihr Kleingläubigen.« Kästner zündete sich eine Zigarette an. »Elfriede will mir helfen, berühmt zu werden.« Er blies den Rauch in die Luft. »Ums Geld mache ich mir keine Sorgen.«
Es gab weder Essiggurken aus dem Spreewald noch Schrippen mit Blut- oder Leberwurst, auch keine Soleier. Nicht einmal ein frisches Bier. Erich stand inmitten der Kollegen im Konferenzraum des Verlages. Unwillkürlich drückte er die Linke auf den Magen. Ich bin reingelegt worden. Dieser Schuft von Hermann Kesten. »Heute lässt die Jacobsohn sich nicht lumpen.« Damit hat er mich gelockt. »Heute gibt es bei der Chefin endlich mal ein großzügiges deftiges Büfett.« Auf dem weiß gedeckten Tisch stand nur der Samowar. Davor die Teetassen nebst Zucker und Milch. Auf dem Gebäckteller lagen noch zwei verwaiste Plätzchen, der kümmerliche Rest von sicher sehr wenig. Er zückte die Taschenuhr: Viertel nach drei. Ich hab mich nur um fünfzehn Minuten verspätet, und schon ist der Teller leer. Nein, viel kann da nicht draufgelegen haben.
»Guter Freund.« Erich verspürte ein Tippen an der Schulter und wandte sich um. Hermann Kesten lächelte ihn an. »Wie schön, Sie hier bei der allmonatlichen Hungerstunde anzutreffen. Schauen Sie nur. Alle sind sie gekommen, angeführt von Carl von Ossietzky, Toller, Feuchtwanger und all den anderen Schreibern bis hin zu uns beiden.«
Erich spielte mit und grollte: »Sie hatten mir Fleischtöpfe versprochen.«
»Ein Scherz.« Kesten strich sich über das sorgsam gescheitelte glatte Haar. »Als unser Verleger Siegfried Jacobsohn noch lebte, da gab es tatsächlich bei den Treffen noch etwas Schmackhaftes für uns freie Mitarbeiter.«
»Demnach bin ich nicht nur um Minuten, sondern um drei Jahre zu spät gekommen«, klagte Erich. »Ach, die gute alte Zeit. Ich habe sie verpasst.«
»Nicht verzagen, lieber Freund.« Hermann Kesten hatte sichtlich Vergnügen an der Plänkelei. »Seine Witwe, unsere verehrte Edith, ist nicht sparsam. Nein, nein. Sie meint wohl, für einen linksdemokratischen Intellektuellen sei es unziemlich, sich den Bauch vollzuschlagen.«
Die Gespräche rundum versickerten, alle Augen wandten sich zur Saaltür. Edith Jacobsohn betrat den Raum. Eine Dame. Leicht angegrautes Haar, das eng anliegende lange Kleid betonte die schlanke, fast hagere Gestalt. Einer der Autoren klatschte ihr zu, gleich fielen weitere mit ein. »Danke, danke!« Sie hob die Hand. »Ich freue mich, Sie alle bei mir begrüßen zu dürfen. Fürchten Sie keine Rede. Lassen Sie sich nicht in Ihren Gesprächen stören. Ich komme zu Ihnen.« Damit ging sie zur Gruppe um Carl von Ossietzky und begrüßte ihn mit herzlichem Händeschütteln.
»Ein Trost.« Hermann Kesten beugte sich zu Erich. »Um Ihren Hunger ein wenig zu stillen, wollte ich Ihnen mitteilen, dass ich Ihre Geschichte Duell bei Dresden in meine Anthologie bei Kiepenheuer aufnehmen werde. Welch eine Sprache. Allein schon die Rekrutenausbildung …« Er tippte den Finger an die Kinnkerbe und zitierte: »Sie lernten grüßen, stillstehen, Parademarsch, Kniebeugen, und was sonst zum Sterben nötig war.« Ein Fingerschnipp. »Wie knapp und doch so scharf.«
Wärme. Sie stieg den Rücken hinauf. Erich bemühte sich, keine überschwängliche Regung zu zeigen, sagte: »Das freut mich.« Welch ein Glück, frohlockte es in ihm. Der fast gleichaltrige Hermann Kesten war freier Autor wie Erich, zum Broterwerb aber fest als Lektor bei Kiepenheuer angestellt. Er brachte einen Band 24 neue deutsche Erzähler heraus. Und ich gehöre jetzt dazu, bin nicht länger nur Journalist und Lyriker. »Was habe ich an Honorar zu erwarten …?«
Sein Kollege hörte ihm nicht mehr zu. Frau Jacobsohn war bei ihnen stehen geblieben. Sie begrüßte Kesten, erkundigte sich nach dessen Frau Mutter und ob deren Trödelhandel weiterhin so gut floriere. »Bestellen Sie Ihrer Mama einen herzlichen Gruß. Ich komme in den nächsten Tagen vorbei. Seit Langem suche ich eine kleine Vitrine.« Schließlich reichte sie Erich die Hand. »Wie schön, dass Sie kommen konnten. Das erspart mir einen Anruf.« Mit schmalen Lippen verschenkte sie ein Lächeln. »Ich habe mit Ihnen etwas zu besprechen.« Eine Entschuldigung an Kesten. Sie wolle Kästner allein sprechen. Ihre Hand wies zur Balkontür. »Gehen wir für eine Weile hinaus.«
Kündigung oder Lob? Erich folgte ihr. Ein geräumiger Balkon mit Korbsesseln und einem flachen Tisch. In den Blumenkästen auf dem Gemäuer rundum wucherten die Pflanzen, frisches Gelb der Blüten leuchtete neben halb abgestorbenen, blass bräunlichen Blumenköpfen. Das würde es bei meiner Mutter nie geben, ging es ihm durch den Kopf. Für sie müssen die Blumenkästen jeden Morgen sorgsam gepflegt werden.
Frau Jacobsohn setzte sich und bot Erich den Platz ihr gegenüber an. »Ich erlaube Ihnen zu rauchen, Kästner. Allerdings nur, wenn Sie mich zu einer Zigarette einladen.«
Um der Chefin Feuer zu geben, erhob sich Erich wieder, wartete ihren ersten Zug ab, ehe er zu seinem Sessel zurückkehrte. Edith Jacobsohn tastete mit der freien Hand nach dem Monokel an der Goldkette vor ihrer Brust und klemmte es vor das rechte Auge. »Ihr letzter Beitrag in der Weltbühne hat mir sehr zugesagt: Schmutzsonderklasse. Allein schon der Titel. Wirklich gut. Dieser Deutsche Frauenkampfbund hat einen Dämpfer verdient. Auch wenn der Spott meinen Geschlechtsgenossinnen gilt, stehe ich völlig hinter Ihrem Artikel. Er ist bissig und bleibt dennoch im Rahmen einer erträglichen Satire.«
Ein Lob. Erich spürte den Herzschlag. Also liege ich richtig: Die Jacobsohn will mehr solcher Artikel. Die kann sie haben. »Danke für das Kompliment.« Er streifte die Zigarette am Rand des Aschenbechers ab. »Brennende Themen gibt es genug. Ich denke da an die Unruhen am 1. Mai. Die vielen Toten. Und dies nur wegen des mehr als brutalen Eingreifens der Polizei.« Erich rückte bis zur Sesselkante vor, unterstützte jetzt mit den Händen seine Rede. »Die Demonstrationen der KPD waren nicht genehmigt. Gut. Es kam zu Schlägereien. Aber rechtfertigt das den Einsatz von Maschinengewehren?« Er wartete eine Reaktion der Verlegerin erst gar nicht ab. »Ich sage Ihnen, was ich befürchte?« Den Nutzen der Kämpfe zwischen Kommunisten und der Staatsmacht habe dieser Gauleiter Goebbels mit seiner Sturmabteilung. Diese Nationalsozialisten schürten den Volkszorn, zeigten sich mit Aufmärschen in den Armenvierteln. »Nicht hier bei uns in Wilmersdorf, dafür aber drüben in Neukölln oder rund um den Alexanderplatz, da marschiert diese SA. Zugegeben, es ist eine kleine Gruppe, politisch ohne Bedeutung. Aber sie bekommt stetigen Zulauf. Ich könnte mit einem Artikel …«
»Verehrter Kästner«, unterbrach Frau Jacobsohn den Redeschwall. »Ihre Begeisterung in allen Ehren. Für Politik haben wir unsern Chefredakteur. Er gehört sogar dem Ausschuss an, der die Vorgänge am 1. Mai untersucht. Der Blutmai ist bei Ossietzky bestens aufgehoben.«
Eine Ohrfeige. Erich wich ihrem Blick aus. Sie hält mich für unreif. Dabei kennt sie mich noch gar nicht. Jung sein heißt nicht gleich blöd sein. Still, beruhigte er sich. Bleibe freundlich. »Das verstehe ich«, log er. »Carl von Ossietzky hat natürlich mehr Erfahrung.«
Sie setzte das Monokel ab. »Ich schätze Ihr Talent, Ihre Lyrik.« Auch der gerade erschienene zweite Band Lärm im Spiegel gefalle ihr außerordentlich. »Doch genug. Kommen wir zur Sache.« Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Wie er wisse, gehöre ihr nicht nur Die Weltbühne, sondern sie sei auch Verlegerin eines eigenen, recht erfolgreichen Kinderbuchverlages. »Und in diesem Zusammenhang dachte ich an Sie.«
Ruckartig richtete sich Erich auf, konnte es nicht glauben, schließlich deutete er mit dem Finger auf seine Brust. »Sie halten mich für geeignet? Ich bin kein Kinderbuchautor.«
Wieder dieses Lächeln mit schmalen Lippen. »Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel. Ich habe ein wenig nachgeforscht.« Dabei sei sie auf wunderbare Geschichten gestoßen, die er in Leipzig für eine Kinderzeitschrift verfasst habe und die von Erich Ohser ebenso einfühlsam illustriert worden seien. »Kästner, schreiben Sie für mich. Keine kurze Geschichte. Ein richtiges Buch soll es sein.« Sie ließ eine kurze Pause, setzte das Monokel wieder auf. »Nehmen Sie an? Ich möchte eine Antwort.«
Erich sog an seiner Zigarette. Ich werde überrumpelt. Ein Roman für Kinder? Dazu fehlt mir jede Idee. Er blies den Rauch in Richtung der Blumenkästen. Lehne ich ab, dann verzichtet sie womöglich auch auf meine Mitarbeit bei der Weltbühne, und das darf und will ich nicht riskieren. Im Übrigen bist du bisher noch nie vor einer Herausforderung zurückgeschreckt. Mir wird schon irgendwas einfallen. Erich gab das Lächeln zurück. »Ich werde es versuchen.«
Die Verlegerin erhob sich. »Damit sind wir im Wort. Ich erkundige mich, sagen wir Ende Juni, bei Ihnen, zu welchem Thema Sie sich entschlossen haben.«
Eine Belohnung, Erich nickte sich selbst zu, die habe ich mir redlich verdient. Er sah zur großen Uhr an der Stirnwand des Kopfbahnhofs von Warnemünde. Noch fünf Minuten bis zur Ankunft des Schnellzugs Berlin–Rostock–Warnemünde mit Fährverbindung nach Dänemark, wenn er pünktlich ist. Eine Belohnung für anderthalb Wochen Schufterei. Warm ist mir. Hier auf dem Bahnsteig war nichts vom Seewind zu spüren. Er hob die Schirmmütze und wischte mit dem Handrücken die Stirn. Der Anfang war schwierig. So ein Kinderbuch braucht wirklich eine andere Welt, keine bessere, aber der Blickwinkel von unten nach oben verändert zwangsläufig die Sichtweise. Ich bin gut vorangekommen. Und die Hauptperson heißt Emil und keinesfalls Erich, dabei bleibt es. Wenigstens mit deinem Namen musst du dich aus der Geschichte raushalten, obwohl du der Emil bist. Dieser Musterknabe mit der Mutter als Friseuse, die sich für ihn aufopfert. Außer den wenigen in Dresden, die dich noch von früher kennen, werden die Leser bei Emil Tischbein und seiner Mutter nicht dich und deine Familie dahinter vermuten.
Mit Fauchen, Zischen und viel Dampf kam der Schnellzug im Kopfbahnhof vor dem Prellbock zum Stehen. Die Türen flogen auf. Erich reckte den Kopf. Als die Menge der Passagiere mehr und mehr den Bahnsteig flutete, hob er sich auf die Zehenspitzen. Da entdeckte er sie. Ihr leichter Gang, das blonde Haar zum Pferdeschwanz gebunden, die glatte Stirn über den hellen Augen. »Meine Belohnung«, murmelte er und ging ihr entgegen. Die Blicke trafen sich. Margot Schönlank blieb stehen, sie ließ die Reisetasche auf den Boden fallen. Ihr unsicheres Lächeln wurde zum Strahlen. »Erich.« Er schloss sie in die Arme. »Pony, meine schöne Pony.« Gleich löste er sich. »Halt! Ehe sie zerdrücken.« Er griff in die Hemdtasche und nestelte ein Sträußchen Gänseblumen hervor. »Ich habe keine Mühen und Kosten gescheut und den besten Floristen von Warnemünde bemüht. Diesen Strauß band er nur für dich zur Begrüßung.«
»Ach, Erich, wie wunderbar.« Die Zweiundzwanzigjährige nahm die Blümchen und küsste ihn. »Danke.« Mit einem Augenzwinkern erkundigte sie sich: »Auf welcher Wiese hat der Florist seinen Blumenladen?«
»Direkt vor der Pension Hübner.« Erich lachte, nahm ihre Tasche und legte den freien Arm um ihre Hüfte. »Komm, Fräulein Schönlank. Ich bin so froh, dass du endlich da bist.«
Der Weg über die Drehbrücke bis zur Unterkunft war nicht weit. Erich hatte bei den Wirtsleuten seine Cousine fürs Wochenende angekündigt und ohne weitere Nachfragen ein Zimmer neben dem seinen buchen können.
Erst Haut an Haut spüren, fühlen und ineinander versinken. »Bitte, Liebster«, gelang es Pony noch zu ermahnen. »Wir müssen aufpassen.« Sie hatte für ihren Schutz vorgesorgt, und obwohl Erich ihn nicht nötig, eher lästig fand, akzeptierte er, und als das Zueinanderdrängen nachließ, lag er schwer atmend, verschwitzt und hingegeben lächelnd neben ihr. »Davon habe ich jede Nacht geträumt.« Er streichelte ihre Brüste. »Doch was ist schon der Traum gegen das wahre Erleben.«
»Liebster«, flüsterte sie und barg die Nase in seiner Achselhöhle, sog seinen Duft in sich auf.
Als der Hunger sich meldete, führte Erich sie hinunter in den Speisesaal. Es gab auch Scholle mit Petersilienkartoffeln und einer gewürzten Buttersoße, sie entschieden sich aber für Hering nach Hausfrauenart mit Bratkartoffeln und einem Tomatensalat. »Was hast du deinen Eltern gesagt?«
Pony ließ die Gabel sinken. »Du meinst, wohin ich fahre?«
»Welche Ausrede hast du dir einfallen lassen?«
»Die beste.« Sie nahm einen Schluck vom Bier und zwinkerte ihm über den Glasrand zu. »Die Wahrheit.« Margot studierte an der Kunstgewerbeschule, wohnte, weil es praktisch war, noch bei den Eltern. »Sie sind großzügig und vertrauen mir.« Vor allem seien sie sehr angetan von Erichs Gedichtbänden. Gleich nach Erscheinen habe der Vater sie gekauft. Als die Mutter hörte, zu wem die Tochter übers Wochenende fahren wollte, habe sie ein paar Mark zum Reisegeld dazugegeben. »Du gefällst ihr.« Wieder das Zwinkern. »Mit mir gibt es also schon zwei aus meiner Familie, die begeistert von dir sind.«
Unvermittelt spürte Erich den harten Herzschlag, einen Atemzug lang musste er das Schmunzeln hinauszögern. »Gib nur acht. Noch mehr solcher Schmeicheleien, und ehe du dichs versiehst, habe ich dich in meinem Roman verewigt.«
Am nächsten Morgen ließen sie sich nach dem Frühstück vom Küchenchef eine Tüte mit Proviant für den Tag geben. »Wir wandern bis zur Menschenleere, bis ins Alleinsein.« Erich schulterte den Rucksack, und Pony trug die mit einem Riemen geschnürte Wolldecke unter dem Arm. Lange nach dem offiziellen Badestrand rückten Dünen und Büsche dichter ans Wasser. »Hier rasten wir.« Pony breitete die Decke aus.
»Wir sollten nackt baden«, schlug Erich vor. »Dann haben wir nachher trockene Sachen.« Über diese Begründung musste Pony lachen, folgte aber seinem Rat. Sie liefen hintereinanderher, schaufelten Wasser mit den Händen und bespritzten sich. Nach der Wasserschlacht gab es eine innige Versöhnungsfeier, dann hockten sie in trockenen Badeanzügen auf der Decke. Pony reckte wohlig die Arme und lehnte sich an seine Schulter. »Ach, mein Erich. Ich hab dich nicht nur lieb. Ich liebe dich.«
Er versteifte den Rücken. »Sag das nicht«, flüsterte er. »Bitte. Du erschreckst mich.«
Ein fremder Ton verdüsterte die Sonne. Pony stockte, starrte ihn aus geweiteten Augen an. »Was … Ich verstehe nicht? Was hab ich denn gesagt?«
Er klaubte eine Zigarette aus dem Päckchen, zündete sie an, tief sog er den Rauch ein und sagte nichts.
»Bitte, Liebster. So antworte doch.«
»Es ist …« Die eigene Stimme klang ihm fremd, heftig räusperte er sich. »Ich meine den Unterschied. Verliebt ist etwas anderes als Liebhaben oder gar Liebe.«
»Das meine ich ja. Ich empfinde inzwischen mehr als nur Verliebtsein.«
Er blickte aufs Wasser hinaus. »Und ich kann nicht mehr als verliebt sein.«
Pony rutschte auf Knien um ihn herum, bis sie sein Gesicht ganz sehen konnte. »Habe ich etwas falsch gemacht? Hab ich dich gekränkt? Und ich dachte, zwischen uns …?«
»Still.« Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Nichts dergleichen. Es liegt an mir. In mir ist alles verbrannt. Ich kann wohl nie mehr lieben.«
Heftig schüttelte sie den Kopf. Es gebe keinen, der so einfühlsam, so zärtlich sei. »Und deine Augen. Die erzählen doch von Hingabe.« Sie bemühte sich um einen heiteren Ton. »Noch zu erwähnen, Herr Kästner, wären da Lust und Begierde.«
Er zerdrückte die halb gerauchte Zigarette in einem Dosendeckel. »Das mag so sein. Aber die geheime Stube, in der beim Menschen das Wahre und Reine aufbewahrt wird. Diese Stube ist in mir zerstört und verbrannt worden.«
»Von wem?« Pony suchte seine Hand und streichelte sie. »Oder ist es zu schwer für dich?«
»Nein, schon gut.« Bisher habe er das Thema möglichst nicht angerührt. Außer bei seiner Mutter. Ihr könne er alles erzählen. »Zu ihr habe ich das größte Vertrauen. Weil sie zuhören kann.« Er sah Unsicherheit und Bitte zugleich in Ponys Blick, wollte sie beruhigen: »Nach Muttchen kommst gleich du.« Sie wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. Da löste er sich und stand auf. »Nicht traurig werden. Die Geschichte ist seit drei Jahren vorbei. Endgültig.« Er bückte sich nach einem dicken Stein, wog ihn in der Hand. »Hab ich dir schon bewiesen, dass ich ein großer Sportler bin?«
Mehr Tränen rollten. Pony schüttelte den Kopf. Erich stellte sich in die Position eines Kugelstoßers, nahm den Stein bis an sein Ohr zurück, streckte den freien Arm, hüpfte einige Schritte vorwärts und stieß den Brocken von sich. Der Stein landete in einem Busch. »Auf festem Boden schaffe ich es weiter.« Unvermittelt sanken ihm die Schultern, so kehrte er zur Decke zurück und setzte sich zu ihr. »Ich müsste längst drüber weg sein. Hab die Sachliche Romanze deswegen geschrieben. Verstehst du? Um mir mit diesem Gedicht zu helfen. Aber dann …« Er öffnete und schloss die rechte Hand. »Sie hieß Ilse. Wir lernten uns während der Studienzeit kennen.« Die Hochzeit sollte nach Abschluss seiner Doktorarbeit stattfinden. »Am Anfang war es eine schöne Zeit. Ich hab ihr mein ganzes Herz geöffnet. Mit einem Mal aber veränderte sie sich.« Ilse sei von ihm weggerückt. »Richtig fremd wurde sie mir. Ich habe nach Gründen gesucht, hab sie gefragt. Nein, es sei nichts, hat sie mir versichert, nur wollte sie etwas mehr Abstand.« Erich nestelte die nächste Zigarette aus dem Päckchen, vergaß sie anzuzünden. »Auch das mit dem Bett fand sie unwichtig. Aber einen Grund dafür sagte sie nicht.« Er habe ihr Brief um Brief geschrieben und nur hin und wieder eine Antwort erhalten. »Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Und ich sagte ihr, dass sie mich nie lieb gehabt hätte. Vielleicht am Anfang, die ersten zwei Jahre, aber dann schon seit sechs Jahren nicht mehr. Sicher war da ein anderer Mann. Sie sprach dagegen, doch das klang mir schon nicht mehr ehrlich.« In diesen acht Jahren habe er den Glauben an die Liebe verloren. Erich entzündete die Zigarette. »Verliebt bin ich gern.« Er streichelte die Tränen von ihren Wangen. »Insbesondere in dich. Vor mehr …«, ein langes Zögern, dann setzte er leise hinzu: »… fürchte ich mich. So ist es nun mal mit mir.«
Pony richtete sich auf, umarmte ihn, schmiegte die Lippen an sein Ohr: »Ich bin glücklich, wenn du verliebt in mich bist.« Sie küsste sanft das Ohrläppchen. »Gib uns Zeit, dann wird alles gut.«
Weil die Vormittagssonne noch fehlte, waren die Außentische vom Café Carlton unbesetzt, bis auf den links hinten an der Terrassenwand. Kellner Josef hatte auf Bitten des Stammgastes als Erstes dort den Tau von Tisch und Stühlen gewischt und eine saubere Decke aufgelegt. Die Bestellung war dieselbe wie gestern und vorgestern und an den Tagen davor: zwei Tassen, Kaffee, gleich eine Kanne. »Es ist noch etwas frisch hier draußen, aber sobald die Sonne kommt, wird es besser.« Mit dieser Entschuldigung hatte Erich Kästner vor gut einer Stunde sein Büro geöffnet und das Diktat seines Kinderromans fortgesetzt.
Egal, wie schnell ich stenografiere, dachte Elfriede Mechnig, die Finger werden einfach nicht warm. Sie blickte zu ihm hinüber. Während er in seinen Notizen suchte, ordnete, schloss sie die Strickjacke bis zum Hals.
»Ist Ihnen etwa kalt?«, erkundigte er sich zerstreut, wartete die Antwort nicht ab. »Sollen wir hineingehen?« Ihr Zögern interpretierte er als Nein und lächelte. »Dann können wir fortfahren. Bitte, lesen Sie den letzten Satz.«
»Es ist die wörtliche Rede des Professors.« Elfriede ließ den Bleistift mitwandern. »›Wir müssen was überlegen, wie wir den Kerl besser beobachten können‹, sagte er, ›denkt mal bitte scharf nach.‹«
Kästner nickte und formulierte mit Blick auf seine in Steno gehaltenen Notizen weiter: »So saßen sie geraume Zeit und grübelten heftig. Neue Zeile. Da ertönte im Hof eine Fahrradklingel, und in den Hof rollte ein kleines vernickeltes Rad. Darauf saß ein kleines Mädchen, und hinten auf dem Rad stand Kamerad Bleuer. Und beide riefen: ›Hurra!‹ Neue Zeile. Emil sprang auf, half beiden vom Rad, schüttelte dem kleinen Mädchen begeistert die Hand und sagte zu den anderen: ›Das ist meine Kusine Pony Hütchen.‹ Neue Zeile.
Der Professor bot Hütchen höflich seinen Stuhl an, und sie setzte sich …«
Elfriede Mechnig hob den Bleistift. Das abgemachte Zeichen für eine Unterbrechung. »Verzeihen Sie, habe ich den Namen richtig verstanden? Pony Hütchen?«
»Ganz korrekt.« Überrascht hob Erich die Brauen. »Sie wundern sich?«
»Sonderbar ist er schon.« Mehr zu sich selbst setzte sie hinzu: »Also gut: Pony Hütchen.«