Die Könige von Köln - Tilman Röhrig - E-Book

Die Könige von Köln E-Book

Tilman Röhrig

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Beschreibung

Unaufhaltsam nähern sich im Herbst 1794 die französischen Truppen Köln. Der gelehrte Geistliche Ferdinand Franz Wallraf und einige besonnene Männer sorgen sich um die Kunstschätze der Stadt, vor allem um den goldenen Dreikönigenschrein. Eile ist geboten, um alles über den Rhein in ein geheimes Versteck zu schaffen. Doch wer kann die Gegenstände so schnell verladen? Nur ein wahrer Herkules – den Wallraf im Tagelöhner Arnold Klütsch findet. Vereint in der Liebe zu Köln riskieren sie fortan gemeinsam Kopf und Kragen, um vor den Franzosen zu retten, was ansonsten für immer verloren wäre. Dafür setzt Arnold nicht nur seine gewaltigen Körperkräfte ein, sondern auch sein großes Herz. Das hat er schon lange heimlich der Schneidermeisterstochter Walburga geschenkt, der Zukünftigen seines besten Freundes ...

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Veröffentlichungsjahr: 2014

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96750-1

© Pendo Verlag in der Piper Verlag GmbH, München 2014 Covergestaltung: Mediabureau Di Stefano, Berlin Covermotiv: Abbildungen vom Rheinischen Bildarchiv Köln, von Thomas Cranz/Harald Gerhard/Bilderbuch Köln und Renphoto/iStockphoto Karte: Cartomedia, Karlsruhe Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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1

Kein Windhauch. Am späten Vormittag nahm die Schwüle noch zu. Stickig und heiß war es in Köln. Paulus Fletscher ging langsamer. Ehe er durchs Hahnentor schritt, nahm er den schwarzen Filzhut ab, im Mauerschatten trocknete er mit seinem Sacktuch das lederne Schweißband, dabei schnaufte er einige Male tief vor sich hin. »Wäre besser morgen gegangen. Der Termin in Müngersdorf eilt nicht. Morgen wär’s vielleicht frischer.« Er reihte sich in die Schlange der Fußgänger ein, die aus der Stadt nach Westen wollten.

»Nicht stehen bleiben.« Kein Befehl, auch keine heftige Bewegung, der Stadtsoldat in der rot-weißen Uniform ließ nur die Hand kreisen. »Wünsche einen guten Tag, Herr Advokat.«

»Gut? Wo uns der Krieg droht?«

»Draußen vielleicht. Aber nicht bei uns in Köln.«

»Wer’s immer noch glaubt …« Paulus Fletscher seufzte. »Wenigstens du hast es heute gut. Darfst im Kühlen stehen.« Er schob sich am geöffneten Schlagbaum vorbei.

»Schon recht, Herr Advokat«, rief ihm der Posten nach, »für September haben wir’s wirklich zu heiß.« Ohne sich umzudrehen, nickte Paulus Fletscher und sah auf der anderen Seite der Torzufahrt dem langen Stau entgegen. »Gütiger Himmel!«

Reisekutschen, mehr als gewöhnlich, dazwischen große Planwagen, Bauernkarren. Und die Wachposten ließen sich Zeit, prüften Passpapiere, wühlten in der Ladung und verlangten den Zoll. Wer schneller in die Stadt wollte, steckte den Rot-Weißen einige Stuber zu und musste dennoch warten. »Ist wie im Fegefeuer. Freikaufen kann sich da keiner mehr.« Der Advokat ging dicht an den Gespannen entlang, sah in die offenen Fenster der Reisewagen, lächelte den Fremden zu, kannte er ein Gesicht, so grüßte er mit einer leichten Verbeugung.

Er näherte sich einem Obstkarren. Das Zugpferd war unruhig, schabte mit dem Vorderhuf das Pflaster. Auf dem Bock lehnte der Bauer, die Kappe tief über den Augen, döste er vor sich hin. Paulus Fletscher runzelte die Stirn. Um den Mann herum schwirrten Wespen, schlimmer noch, über der hohen Lade stieg eine Wolke von den Obstkörben auf und fiel zurück, schwappte über die Seitenwände und umkreiste in zornigem Wirrwarr den Karren.

Einige der Viecher kamen gefährlich nahe. Das konnten keine Wespen sein, auch Bienen waren nicht so groß. Hornissen, glaubte er, ganz sicher. »He, Kerl!«, schimpfte der Advokat. »Wieso, verflucht, deckst du dein Obst nicht ab?«

Der Mann war noch nicht ganz wach. »Worum geht es, Herr?«

»Haben wir nicht schon Flüchtlinge genug in Köln?« Paulus Fletscher drohte aufgebracht zu den Körben hinauf. »Jetzt auch noch Hornissen. Du schleppst uns ganze Schwärme in die Stadt …« Insekten umsirrten seinen Kopf. »Weg!« Er riss den Hut ab, schlug nach den Angreiferinnen, entfachte ihre wilde Gegenwehr, er drehte sich auf dem Absatz, schlug heftiger, dabei schleuderte er einige gegen den Bauch des Zugpferdes. Gleich fuhr das Tier vor Schmerz hoch, stieg auf die Hinterhand, fiel zurück, ein Vorderhuf traf den Advokaten am Kopf, gefällt schlug er neben dem Speichenrad zu Boden. Wieder stieg der Gaul, gepeinigt, wilder noch, der hoch beladene Karren wankte.

Mit einem Sprung vom Bock rettete sich der Bauer, dann kippte der Wagen, stürzte das Pferd, und beide begruben Paulus Fletscher unter sich. Körbe fielen übereinander, auf dem Pflaster rollten Birnen und Äpfel.

»Mein Gaul!«, schrie der Bauer. »Helft, so helft doch!« Noch angeschirrt lag das Pferd auf der Seite, versuchte immer wieder, den Kopf zu heben. Männer eilten zur Unglücksstelle, halfen dem Tier.

Jetzt erst erinnerte sich der Bauer. »Wo ist der Herr?« Da sah er den Hut zwischen den Birnen, sah das Bein unter der Seitenlade, den zuckenden Fuß. »Jesses! O Jesses.« Zusammen mit einem Mann versuchte er, den Karren anzuheben. Vergeblich. Dabei zertraten sie das herumliegende Obst, waren mitten im sirrenden Schwarm. Aus Angst vor Stichen wich der Helfer einige Schritte zurück.

»Ich schaffe es nicht allein«, flehte der Bauer zu den Gaffern hinüber, »so kommt doch!«

Zwei andere Mutige wagten sich näher. Von weiter her kam ein junger Bursche gelaufen, überholte die Zögernden, war an der Unglücksstelle. Er packte nach der Seitenlade und wuchtete sie bis zur Hüfte hoch. »Zieht ihn raus!«, rief er. »Ich halt schon. Zieht ihn nur raus.«

Wespen surrten um seine krausen, dunklen Locken. Eine setzte sich auf die Wange des Burschen. Kopfschütteln. »Lass mich!« Ohne die Seitenlade loszulassen, blies er aus dem Mundwinkel nach ihr, konnte sie endlich vertreiben. Derweil zog und zerrte der Bauer den Verunglückten an den Schultern unter dem Wagen hervor. Jetzt griffen auch die beiden neuen Helfer zu. Gemeinsam schafften sie den Reglosen übers Straßenpflaster zur gegenüberliegenden Mauer.

Der Bursche spannte den breiten Rücken, hievte die Seitenlade weiter an, mit jedem Keuchen hob sich der Karren, Stück für Stück, noch ein letzter Ruck, dann kippte er zurück in die Waagerechte, stand wieder auf allen Rädern. Als wäre die Kraftanstrengung nichts, drehte sich der Bursche um und eilte zur Gruppe, die bei dem Verletzten stand. »Wie geht es ihm?« Niemand antwortete. Ein Mann kniete neben dem Reglosen, befühlte den Hals, behorchte die Brust.

»Was für ’n Glück, dass ein Arzt in der Nähe war«, flüsterte der Obstbauer dem Burschen zu. »Sieht schlecht aus für den armen Herrn.«

»Aber ich hab doch den Karren gehoben …«, sagte der Bursche, als müsste er sich verteidigen.

»Du hast alles getan.« Der Bauer fasste den Arm des Retters. »Wer bist du?«

»Arnold. Arnold Klütsch.«

»Bist ein guter Junge. Und stark …«

Ohne große Eile näherten sich zwei der Stadtsoldaten. Kurz besahen sie den Verletzten, der ältere von beiden beugte sich näher über das zerquetschte Gesicht. »Das ist der Advokat Fletscher. Hab doch gerade noch mit ihm gesprochen.« Er tippte dem Arzt auf die Schulter, der sah hoch und schüttelte den Kopf. Der andere Posten wandte sich an die Umstehenden. »Was ist passiert?«

Ein Unglück, alle konnten es bezeugen, redeten gleichzeitig.

Arnold Klütsch trat näher, starrte auf den Toten. »Unser Nachbar.« Er schluckte, wischte die Tränen aus den Augen. »Der Vater von meinem Freund.«

»Was sagst du? Du kennst den Advokaten?« Der ältere Stadtsoldat fasste ihn am Arm. »Dann weißt du auch, wo er wohnt. Du bleibst hier!« Er gab seinem Kollegen einen Wink. »Schick die Leute weiter. Jeder Auflauf so dicht vorm Tor ist untersagt. Und sorg dafür, dass der Bauer mit seinem Obstkarren verschwindet!« Er wandte sich an den Arzt. »Ist da nichts mehr zu machen? Ist der Advokat wirklich tot?«

»Schau doch hin. Eine Trage muss her.«

»So ein Jammer.« Der Rot-Weiße betastete die Rocktaschen des Toten und fand den Passierschein. »Ich wusste es. Und das bei dieser Hitze.« Er bettelte fast: »Auch nicht ein kleiner Funken Leben mehr?«

Der Arzt sah ihn prüfend an. »Stimmt etwas nicht?«

Mit dem Finger tippte der Posten auf das Papier. »Der Schein gilt für den Advokat Fletscher, für den lebendigen. Die Leiche darf damit nicht in die Stadt. Dafür muss ein neuer Passierschein ausgestellt werden. Und das dauert, und bei der Hitze sowieso noch länger. Können wir es nicht …?« Der Stadtsoldat schob Arnold Klütsch etwas zur Seite, ehe er sich zum Ohr des Mediziners reckte und flüsterte, bis der Arzt die Schultern hob. »Mir soll’s recht sein.«

Erleichtert seufzte der Posten. »Also dann. Schaffen wir den Verletzten in die Stadt!«

Arnold schüttelte den Kopf. »Jetzt lebt er wieder?«

»Frag nicht. Halt den Mund und hilf uns!«

Der Siebzehnjährige wischte sich die Augen. »Bis ich das begreife«, flüsterte er vor sich hin.

Wenig später wurde Advokat Fletscher auf einen leichten, zweirädrigen Karren gelegt. Da kein Zugtier vorhanden war, nahm Arnold die beiden Deichselholme unter die Achseln, und in Begleitung des Arztes zog er die Fracht an den wartenden Kutschen und Planwagen vorbei auf das Hahnentor zu. Am Schlagbaum prüfte der ältere Posten selbst die Passierscheine und winkte Karren und Begleitung weiter. Gleich übergab er den Wachdienst dem jüngeren, und noch im Schatten der dicken Mauern, doch innerhalb der Stadt, untersuchte der Arzt den Reglosen und stellte den Tod des Advokaten fest.

Der Stadtsoldat bedankte sich: »Doktor, das werd ich Euch wiedergutmachen.«

»Jeder hilft jedem.« Gemessenen Schritts entfernte sich der Mediziner.

»Und jetzt zu dir«, der Rot-Weiße wandte sich an Arnold, »wo steht das Haus von dem armen Teufel?«

»Bei uns um die Ecke. An der Großen Budengasse.«

»Da bringst du mich und den Advokat jetzt hin.« Er sah auf das blutverschmierte, zerstörte Gesicht. »Schlecht kann es so einem Studierten nicht gehen. Das gibt Wegegeld von der Familie. So verdien ich heute wenigstens etwas.«

Warum sagst du so was?, dachte Arnold und schüttelte den Kopf. Der Rot-Weiße verstand die Geste falsch und tätschelte den Arm des Jungen. »Du bekommst auch was davon ab. Wir teilen. Nur keine Angst.«

Um nicht die Fäuste zu ballen, packte Arnold fest nach beiden Deichselholmen. »Mir ist … Der Herr Paulus Fletscher war ein guter Mensch.« Er stürmte mit dem Karren über die Hahnenstraße in Richtung St.Aposteln.

Zwischen Gemüsegärten holte ihn der Rot-Weiße ein. »Langsamer, Junge, langsamer. Sonst fällt uns der Advokat noch von der Lade.« Mitfühlendes Lachen. »Nimm’s nicht so schwer. Du bist noch jung. Wer schon so oft wie ich den Tod gesehen hat, der nimmt es einfach.«

Das will ich nicht, dachte Arnold und biss sich nur auf die Unterlippe.

Neben ihm zückte der Stadtsoldat eine Stummelpfeife aus der Sacktasche seiner verschmierten weißen Hose, saugte einige Male, ohne sie anzuzünden, dann spuckte er aus. »Weißt du, Kleiner …« Er verzog die Lippen. »Nichts für ungut. Auch wenn du schon zu einem mächtigen Kerl angewachsen bist, nenn ich dich mal so. Mich darfst du Peter nennen, Stadtsoldat Peter, so kennen mich alle. Also, Kleiner, als ich im Krieg war … Also auf so einem Schlachtfeld, da gibt’s viele Tote. Da lernst du das mit den Leichen.«

»Ich will das nie lernen.«

Sie gingen an St.Aposteln vorbei, erreichten die Baumallee entlang des Neumarktes.

Grollen, fernes Donnern, lauter, heftiger.

Der Rot-Weiße fuhr zusammen, dann, wie von der Sehne geschnellt, hetzte er zur Seite auf die Häuser zu und warf sich im Eingang vom Blankenheimer Hof auf den Boden.

Wieder das bedrohliche Grollen. Jetzt erst begriff Arnold, dass sein Begleiter verschwunden war. Er wandte sich um, am westlichen Himmel hatten sich dunkle, fast schwarze Wolken aufgetürmt, dann sah er zum Hoteleingang hinüber. Dort rappelte sich Stadtsoldat Peter langsam hoch, klopfte sich den Staub vom roten Rock und rückte den schwarzen Zweispitz gerade.

Arnold stieß ein leises Lachen aus. Dieser Feigling. Er grinste ihm vergnügt entgegen. »Da kommt ein Gewitter auf uns zu. Von Aachen her.«

»Weiß ich auch«, blaffte Peter. »Weiter! Bevor es regnet, will ich die Leiche los sein.«

Um sie herum gingen die Passanten schneller, hin und wieder ein rascher Blick auf den Reglosen, im Vorbeigehen fragte einer: »Verwundeter Zivilist? Von den Franzosen?«

»Nein. Der arme Kerl ist unter einen Karren gekommen«, gab der Stadtsoldat Auskunft und saugte wieder gelassen an der kalten Stummelpfeife. »Nur keine Angst. Der Feind ist noch weit.«

»Dem Himmel sei Dank. Gott schütze unser Köln.«

In der Schildergasse hielt es Arnold nicht länger, der Satz drängte einfach hinaus. »Ihr wart nie im Krieg …« Er bemühte sich, nicht zu lachen. »Ich mein, so wie Ihr Euch grade verkrochen habt. Und dabei hat es nur gedonnert.«

Ohne den Kopf zu drehen, sah ihn Peter von der Seite an. »Du hast ein loses Maul, Kleiner. Aber ich will mal nicht so sein.« Er spuckte aus. »Sollst was von mir lernen: Also …« Der Pfeifenstiel ersetzte den Zeigefinger. »Das Erste, was ein Soldat lernen muss, ist, sich zu verstecken. Sobald es knallt oder donnert, ab hinter die Mauer oder rein in die Grube und Kopf runter … So überlebst du, Kleiner. Aber nur, wenn du schlau bist.«

»Und was ist mit den vielen Verwundeten in unsern Spitälern?« Arnold seufzte. »Das waren dann alles Dumme?«

Mit einem Schritt war Peter an seiner Seite, scharf sah er ins breitflächige Gesicht. »Du machst dich nicht lustig über mich?« Er prüfte die grauen Augen. »Oder?«

»Würde ich nie wagen.« Arnold wich dem Blick aus und ging weiter. »Ich zieh nur den armen Advokat Fletscher. Mehr nicht.«

2

In der Schildergasse rückten die Häuser enger zusammen, und die Straße wurde schlechter. Gestank dünstete aus dem nur angetrockneten Modder, die Fahrspuren waren tief, immer wieder rutschten die Räder in die Furchen, und der Stadtsoldat musste den Leichenkarren von hinten anschieben. Arnold blickte sich nach dem Wetter um. Die Wolkentürme waren bedrohlich nah, ragten schon über St.Aposteln auf. Wird gut gehen, hoffte er. Wenn der Regen eher kommt, versinken wir gleich im Schmier, dann wird’s schwerer, und es stinkt noch mehr. Er sah zum Bretterpfad entlang der Hauswände. Ein Rad würde draufpassen, aber dann ist der Wagen schief, und der arme Herr Fletscher rollt runter. »Nutzt nichts«, flüsterte er und beschleunigte den Schritt. »Wird schon gut gehen.«

Erste Tropfen fielen, als das schmale Haus gleich am Anfang der Budengasse schon in Sicht war. Arnold klappte die Stützen runter und stellte den Wagen dicht an der Wand ab. So bot der Überstand des Daches etwas Schutz, falls es stärker regnete. Niemand im Haus hatte ihre Ankunft bemerkt. Arnold wischte sich den Schweiß von der Stirn, sah den Uniformierten an. Der starrte nur zurück, schließlich stopfte er die Stummelpfeife in die Sacktasche, und nach gründlichem Räuspern forderte er: »Na los, nun klopf schon!«

Arnold schüttelte den Kopf. »Ihr habt in so was mehr Erfahrung.« Seine Stimme gehorchte kaum.

Stadtsoldat Peter straffte sich. Mit beinah militärischem Schritt trat er an die Haustür und pochte mit der Faust.

»Komme«, hörten sie von drinnen, dann wurde geöffnet. Strahlende blaue Augen, dicke Zöpfe baumelten, dann erstarb das Lachen. Ursel, die sechzehnjährige Tochter des Advokaten, blickte völlig überrascht auf den Uniformierten, wischte die Hände an der Schürze und zog sich einen Schritt zurück. »Ich dachte, es wäre … Der Vater ist nicht daheim.« Sie winkte mit der Hand. »Aber die Mama. Wartet, ich hol sie aus der Küche.«

Ehe der Stadtsoldat zu Wort kam, war das Mädchen verschwunden. Er wandte sich zu Arnold: »Wie viele Kinder sind im Haus?«

»Noch die Beate, das ist die Älteste. Und Norbert, mein Freund. Der ist zwei Jahre älter als ich.«

»Drei Stück.« Kurz pfiff Peter durch die Zähne. »Das kann ja was werden.«

Eine schmale, leicht gebückte Frau kam durch den halbdunklen Flur, die Augen groß, scharfe Falten engten den Mund ein. In vorsichtigem Abstand folgten Ursel und gleich dahinter Beate.

»Ich bin Frau Klara Fletscher. Was gibt es, Herr Leutnant? Mein Mann ist …«

»Deshalb komme ich.« Der Stadtsoldat trat zurück und deutete zum Karren: »Da bringen wir ihn, den Advokat Fletscher.«

Fuß für Fuß, als gäbe es nur einen schmalen Grat, so tastete sich die Ehefrau bis zum Wagen hin. Sie sah ihren Mann, sah das zerstörte Gesicht und wimmerte.

Jetzt begriffen ihre Töchter, stürzten aus dem Haus, sie erblickten den Vater, und Ursel schrie auf, schrie und schrie. Beate weinte, zerrte am Kittel über dem Busen. Sie suchte nach Halt. Da Arnold neben ihr stand, warf sie sich an ihn, auch Ursel suchte Schutz und verbarg den Kopf an seiner Brust. Hilflos drückte, tätschelte Arnold die Schultern der beiden. Zu sagen wusste er nichts; so verzweifelt war das Unglück um ihn, dass auch ihm die Tränen über die Wangen rollten.

Der Rot-Weiße bemühte sich um Klara Fletscher. Er hielt ihre Hand in beiden Händen. »Beruhigt Euch, Frau«, sagte er immer wieder, und zwischendurch betonte er: »Das Leben geht weiter … Ich hab da Erfahrung.«

Ein junger Mann im schwarzen Studentenrock erschien in der Tür. »Was geht hier vor?«

»Norbert!«, riefen die Mädchen gleichzeitig und stürzten zu ihm hin. »Der Vater!«

Mit ärgerlichem Drehen und Rucken versuchte sich Norbert von den Armen und Fingern der Schwestern zu befreien. Vergeblich, die Mädchen hingen an ihm, und er zog sie bis zum Wagen hinter sich her. Beim Anblick des Toten wich das Blut aus dem schmalen, glatten Gesicht, die dunklen Augen verloren ihren Glanz, einen Moment lang wankte Norbert, und die Schwestern schienen die schlanke Gestalt sogar halten zu müssen. Tief atmete er, hob das Kinn und strich die schwarze Haarsträhne aus der Stirn. »Wer war das?« Er blickte Arnold an. »Ein Überfall? Sag schon!«

Der Freund schüttelte den Kopf. »Ein Unglück.« Stockend berichtete er. Norbert unterbrach ihn. »Dieser Bauer … Das waren sein Pferd und sein Wagen. Also hat er Schuld. Der muss für den Schaden aufkommen. Schließlich ist der Vater jetzt tot.«

»Moment, junger Herr«, mischte sich der Stadtsoldat ein. »Es gab Zeugen genug, und alle sagen, für den Unfall kann keiner was.« Er trat dicht vor Norbert hin. »Scheinst mir vernünftig zu sein, Junge.« Er sah den empörten Blick. »Verzeih, junger Herr wollt ich sagen. So schlimm es ist mit Eurem Vater, nehmt es ruhig hin.«

»Wollte nur wissen …«

»Am Tod kann keiner was ändern«, unterbrach der Rot-Weiße. »Ich hab da Erfahrung. Und jetzt bringen wir den Vater ins Haus. Nein, Ihr nicht! Das machen wir.« Ein Wink für Arnold, dann setzte er hinzu: »Mal angefangen, müssen wir die Arbeit auch zu Ende bringen.«

Er hob mit Arnold die Bahre von der Ladefläche, und begleitet vom Schluchzen der Ehefrau und den Töchtern trugen sie den Leichnam des Paulus Fletscher in den Flur. Norbert ging voraus, über die Schulter rief er: »Wohin, Mutter? In die Wohnstube?«

»Da ist noch nicht geputzt«, wehrte die Witwe leise ab, »in sein Bett.«

Nachdem der Tote im Schlafraum niedergelegt war, bat der Stadtsoldat den Sohn mit auf den Flur. »Da wäre noch eine Kleinigkeit. Ich denke, sechs Stuber sind genug fürs Herbringen.«

Norbert spannte die Lippen. »Etwa für jeden?«

»Nein, nein«, beschwichtigte der Rot-Weiße, und sein Finger schloss Arnold mit ein. »Zusammen.«

Nach kurzem Zögern nickte Norbert. »Ich besorg es von der Mutter. Wartet vor dem Haus!«

Beim Hinausgehen fasste der Stadtsoldat Arnold an der Schulter. »Was hab ich gesagt? Bei den Studierten lohnt sich das Arbeiten.«

Arnold antwortete nicht. Er sah zum schwarz verhangenen Himmel, kein Regen, mit den wenigen Tropfen hatte die Schwüle noch zugenommen. Norbert folgte ihnen nach draußen und händigte dem Stadtsoldaten das Wegegeld aus, der zählte zwei von den sechs Münzen ab, die er Arnold hinreichte.

»Ich nehme nichts.«

»Aber, Kleiner, das ist dein Lohn.«

»Ich hab es so gemacht. Für den armen Herrn Fletscher.«

»Hast recht. Hilfe unter Freunden und Nachbarn sollte nichts kosten.« Die Hand schnappte zu, und alle sechs Münzen verschwanden im Hosensack, mit der Stummelpfeife zwischen den Fingern kehrte sie zurück. »Bring aber wenigstens noch die Karre runter zum Rhein. Stellst sie am Markmannstor ab. Sag den Posten, sie wird morgen abgeholt. So, ich muss jetzt los …« Er wollte gehen, besann sich und schüttelte Norbert die Hand. »Mein aufrichtiges Beileid. Denke, das Leben geht weiter.«

Beide Freunde blickten ihm nach, bis er um die Ecke gebogen war. Schweigen. Schließlich sagte Arnold: »Kann ich euch noch was helfen? Ich mein, irgendwas …«

Norbert schüttelte den Kopf. »War ein feiner Zug von dir vorhin, kein Geld zu nehmen.«

»Konnte ich wirklich nicht.«

»War aber trotzdem falsch.«

»Wieso? «

Norbert tätschelte kurz den Arm des Freundes. »Ist ja nicht schlimm, nur schade eben.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Ist doch egal.« Norbert rieb sich den Nasenrücken. »Aber du hättest die zwei Stuber nehmen sollen und mir jetzt zurückgeben. Das wäre gescheit gewesen. Dann hätte ich jetzt was davon.«

»So was ist mir nicht eingefallen. Bei all dem Schreck heute.« Erst nach einer Weile sah Arnold den Freund an. »Und nun? Was wird mit euch, so ohne Vater?«

»Ich bin ab jetzt der Herr im Haus. Ganz einfach. Daran werden sich alle gewöhnen müssen. Nicht nur Ursel und Beate, sondern auch die Mutter.«

»Aber du studierst doch noch.«

»Mach dir darüber keinen Gedanken. Das Examen schaffe ich leicht.« Norbert stellte den rechten Fuß aufs Karrenrad. In zwei Jahren wollte er Advokat sein und in die Fußstapfen des Vaters treten. Geld sei genug da. »Und wenn es nicht reicht, dann besorg ich schon welches. Mir fällt mehr ein, als du dir vorstellen kannst.«

»Das glaub ich«, sagte Arnold ehrlich überzeugt. »Aber was ist, wenn die Franzosen kommen?«

»Sollen sie doch. Ich hab gehört, dass sie den Städten nichts tun, wenn die sich freiwillig ergeben. Nein, ich habe keine Angst vor der Zukunft. Sollst sehen, ich hab Erfolg, werde heiraten und reich sein.«

Überrascht lachte Arnold. »Wenn das so einfach wäre. Ich mein, heiraten. Kennst du denn schon eine?«

»Aber ja. Walburga. Die Tochter vom Schneidermeister Reinhold Müller, drüben in der Salzgasse.«

Ein Stich. Mit dem Namen spürte Arnold den Schmerz bis tief in die Brust. Der Freund plauderte einfach weiter: »Du kennst sie doch bestimmt. Schöne braune Haare. Ich glaub, wenn sie den Zopf aufmacht, fallen sie bis über die Schulter. Und hier …« Er formte einen Busen vor dem Hemd. »Solche Früchte hat sie schon.«

Lass das, dachte Arnold und ballte eine Faust, red nicht so über sie.

»Da staunst du.« Norbert zupfte die Ärmel seines Rocks zu den Handgelenken. »Ja, die Walburga ist schon ein Schmuckstück. Die passt zu mir.«

Arnold zwang sich, ruhiger zu atmen. »Habt ihr euch schon …?«

»Nein. Spazieren waren wir. Da waren ihre Freundinnen dabei und du auch. Weißt du noch?«

»Ich mein, weiß sie es? Das mit der Heirat?«

»Nein. Aber das ist auch nicht so wichtig. Schau mich doch an. Wenn ich frage … Der Schneidermeister kann froh sein, wenn die Tochter so einen wie mich bekommt.«

Ich fall in ein Loch, dachte Arnold, schwarz ist es, einfach schwarz und tief.

Der Neunzehnjährige plusterte sich weiter: »Und sobald wir den Vater beerdigt haben, werde ich Walburga mal zum Tanz einladen. Man soll die Frauen langsam anlocken, verstehst du, immer so ein bisschen mehr.«

»Nein, versteh ich nicht«, murmelte Arnold.

»Wenn es mal bei dir so weit ist, frag nur mich, deinen Freund.«

Arnold zwang sich, ihm in die Augen zu blicken. »Ich muss jetzt los. Muss den Karren noch runter zum Hafen bringen.« Er klappte die Holzstützen ein, griff nach den Deichselholmen. »Tut mir leid, das mit deinem armen Vater.« Er stapfte eilig davon. Die Räder holperten über Steine und Furchen.

»Bist ein guter Freund!«, hörte er Norbert ihm nachrufen. Was hab ich schon davon?, dachte Arnold. Er war der Sohn eines Tagelöhners. Zu Haus warteten noch sieben Geschwister, drei ältere Schwestern, und von den jüngeren waren zwei Mädchen und zwei Buben. Allein konnte der Vater die vielen Mäuler nicht stopfen. Für die Schule war Arnold keine Zeit geblieben, schon als Junge … und seit seine Muskeln mehr und mehr wurden, erst recht … musste auch er sich Tag für Tag eine Arbeit suchen, sonst reichte es nicht. Das Hahnentor war ein guter Standort. Bei all den Fremden und den großen Warenladungen war dort stets Bedarf nach starken Armen. »Ich will mich gar nicht beschweren«, flüsterte er. Nur der neue Schmerz in seiner Brust wollte nicht nachlassen. Walburga. Traum. Zuflucht der Gedanken. Manchmal ein Gruß, einige Worte, mehr nicht.

Walburga, sie war die schönste Heimlichkeit seines Lebens. Und jetzt wollte Norbert sie einfach wegheiraten. Immer schon war der Freund der Kluge, trug bessere Kleider, verfügte auch über mehr Geld, dafür hatte Arnold ungewöhnliche Kräfte, zusammen waren sie stets den Gleichaltrigen überlegen, und darauf war Arnold stolz. Heute aber fühlte er sich im Vergleich zu dem Studenten zu wenig und nur erbärmlich.

Vielleicht … vielleicht will sie ihn ja gar nicht. An diesem Gedanken versuchte er sich festzuhalten. Könnte ja sein.

»Platz. Gib den Weg frei!«

Arnold zog den Karren in einen Hauswinkel. Zwei schwarze Reisekutschen ohne Wappen rollten die Markmannsgasse zum Hafentor hinunter, dicht dahinter folgte ein geschlossener Planwagen. Jeden Tag werden es mehr, dachte Arnold. Die frommen Herren vom Dom sind auf der Flucht vor den Franzosen. Mit der Fliegenden Brücke über den Rhein und weg. Ich versteh’s nicht. Die Franzosen beten doch sicher auch, genau wie wir. Und fromme Herren braucht es dazu. Warum fürchten die sich? Er schüttelte den Kopf. Wenn das so weitergeht, sitzt im Dom bald keiner mehr im Beichtstuhl.

Nachdem er den Karren bei den Wachposten abgeliefert hatte, ging er nicht direkt nach Hause, er nahm den kurzen Umweg über die Salzgasse. Dort stellte er sich neben der Bäckerei in den halbdunklen Durchstieg. Hier war sein Platz. Wenn es irgend ging, kam er jeden Tag nach der Arbeit hierher. Von diesem Versteck aus konnte er unbemerkt das Schneiderhaus, vor allem die Tür, gut beobachten.

Zweimal Glockenschlagen erlaubte er sich, länger nicht. Die Zeit lief, sobald es von St.Martin schlug, danach noch eine Viertelstunde bis zum nächsten Glockenton. Manchmal hatte er Glück, und Walburga erschien an der Tür, um einen Kunden zu begrüßen oder zu verabschieden. Ein Augenfest aber war es für Arnold, wenn sie draußen Tür und Fenster putzte. »Eines Tages werd ich dir dabei helfen«, flüsterte er.

Walburga, sie arbeitete beim Vater in der Werkstatt, nähte auch selbst, vor allem aber bediente sie die Kunden, suchte Stoffe mit ihnen aus, half den Damen beim Aus- und Ankleiden. Ratsherren, reiche Geschäftsleute und vornehme Adelige aus dem Domkapitel gehörten zur zufriedenen Kundschaft des Schneidermeisters Müller. Viele kamen nicht nur der Qualität wegen wieder, sondern auch weil sie sich von Walburga so freundlich umsorgt wussten.

Heute verstrich die Viertelstunde, ohne dass sich die Tür zur Werkstatt öffnete. Stattdessen setzte mit dem zweiten Glockenschlag wie auf Befehl der Regen ein. Dicke Tropfen. Arnold verließ den Beobachtungsposten und ging langsam am Haus des Schneiders vorbei. Es regnete heftiger, ganz gleich, er beschleunigte nicht den Schritt, spähte durchs Fenster. Walburga stand mit dem Rücken zu ihm und drapierte ein Kleid über eine Drahtpuppe. Nicht stehen bleiben, befahl er sich. Erst an der nächsten Straßenecke störte ihn der pladdernde Regen, und er beeilte sich. Blitze zuckten, gleich krachte der Donner, ehe er verklungen war, folgte der nächste Schlag.

Völlig durchnässt erreichte Arnold das Klostergässchen an St.Laurenz. Das Wasser platschte von den Dächern, sammelte sich zwischen den eng stehenden Häusern in großen Pfützen. Arnold versuchte sie durch Springen und Balancieren zu umgehen, trat aber schließlich doch mitten hinein.

Von der Domseite her näherte sich der Vater dem Klostergässchen, den breitkrempigen Hut tief über der Stirn. Gleichzeitig mit ihm erreichte Arnold die Haustür.

Der hagere, große Mann nahm den halb gefüllten Ledersack von den Schultern und setzte ihn auf dem Flurboden ab. »Hab gut verdient heute im Hafen. Konnte davon Wurst und Speck kaufen und hab sogar noch was übrig.« Er lachte leicht. »Mutter wird sich freuen.« Dabei nahm er den Sohn an der Schulter. »Und du? Wie war’s am Hahnentor? Gab es genug Aufträge?«

Arnold fuhr sich durch die nassen Locken. »Hab nichts verdient heute.« Er berichtete vom Unglück, erzählte auch, dass er den Lohn abgelehnt hatte. Dazu sagte der Vater nichts, sagte nur: »Ohne dich, Junge, schaffe ich es nicht. Und für Gotteslohn wird keins deiner Geschwister satt. Denk morgen daran, hörst du?«

3

Wie Schwerthiebe fahren die Nachrichten im September 1794 auf Köln nieder: Der linke Flügel der kaiserlich-österreichischen Armee ist bei Lüttich vernichtend geschlagen worden. Die Truppen müssen der starken französischen Übermacht weichen. Sie haben sich bis hinter die Roer zurückgezogen. Aachen ist ohne Schutz. Die Franzosen drängen weiter vor! Wie lange hält die neue Abwehrlinie bei Düren dem Feind stand?

Sturm droht der Residenzstadt Bonn. Sturm heult auf Köln zu …

Im Sitzungssaal des Kapitels an der Nordseite des Doms herrschte Tumult. Fragen, Vorschläge und Ratlosigkeit lärmten durcheinander. Kaum vermochte der Protokollführer die Beschlüsse in klare Worte zu fassen. »… Alle noch vorhandenen Kostbarkeiten des Domschatzes sind unverzüglich über den Rhein wegzuschaffen …«

Die Stadt Arnsberg in Westfalen war das erwählte Exil des Domkapitels. Vor allem mussten die Reliquien der Heiligen Drei Könige wie auch die Reliquien der Heiligen Märtyrer Felix, Nabor und Gregorius von Spoleto fliehen. »… sie sind unverzüglich in Sicherheit zu bringen.«

Außerdem war der Schreinermeister Claudy zu beauftragen, zwei Kisten für den oberen und den unteren Teil des Dreikönigenschreins anzufertigen.

»Zusammen? Sollen die Gebeine zusammen mit dem Schrein abtransportiert werden?«

»Zu gefährlich!« Darin waren sich die Herren einig. Gold, Silber und die Edelsteine des kostbaren Schreins waren für Räuberbanden zu verlockend. Im Falle eines Überfalls würden diese Halunken womöglich nur die Kostbarkeiten nehmen und den wahren Schatz, die Reliquien der Heiligen, achtlos wegwerfen. »Undenkbar!« Allein bei der Vorstellung eines solchen Frevels mussten sich einige der frommen Herren bekreuzigen.

»Getrennt! Der Schrein und die Heiligen müssen getrennt fliehen.«

Dompropst Graf von Oettingen verlangte energisch nach Ruhe. Als Stille eingekehrt war, huschte ein schwaches Lächeln über das wohlgenährte Gesicht, eine Heiterkeit, die mit den zu Kringeln ondulierten und stets wippenden Ohrlocken noch vor Monaten seine Lebensfreude ausstrahlte, jetzt aber lediglich beherrschte Sorge signalisierte. »Auch wir, werte Herren, müssen fliehen, und zwar rasch. In Anbetracht der Gefahr soll es jedem erlaubt sein, selbst zu entscheiden, wann und wie er sich nach Arnsberg in Sicherheit bringt.« Wieder ein Lächeln, dieses Mal gefärbt mit einem Anflug von Tapferkeit. »Ich selbst werde unser … und verzeiht das Bild … unser geliebtes Domschiff, wie es sich für einen Kapitän gehört, erst nach unsern wertvollsten Passagieren, den Heiligen Drei Königen, verlassen. Erst wenn wir sie auf sicherem Weg ins Exil wissen, werde auch ich aufbrechen. Liebe Brüder, Dominus vobiscum.«

Früh am nächsten Morgen bog Ferdinand Franz Wallraf ins Klostergässchen von St.Laurenz ein. Für die wenigen Schritte von seiner Wohnung in der Dompropstei bis zum Hause des Tagelöhners hatte er sich nur einen leichten Schultermantel übergeworfen. Die Sonne war gerade über das östliche Domdach gestiegen, warf erstes Licht in die enge Straße. Wallraf klopfte, wartete, musste heftiger klopfen. Endlich wurde geöffnet. »Verzeih die Störung schon zu dieser Stunde. Ich bin Professor …«

»Ich weiß, wer Ihr seid.« Erwartungsvoll sah Anton Klütsch den Besucher an.

Wallraf betrachtete die hagere Gestalt und hob die Brauen. »Bin ich hier richtig? Bei Klütsch?«

»Ja, Herr.« Von drinnen tönte Kichern und vergnügtes Lärmen. Ein kurzer Blick über die Schulter. »Die Kinder. So ist es nun mal. Morgens toben sie besonders laut, als müssten sie sich vom langen Schweigen in der Nacht erholen. Womit kann ich dienen?«

»Ich weiß nicht so genau, ob du der Richtige …?« Der Professor rieb sich das vorstehende Kinn. »Wenn ich ehrlich sein soll, ich habe von dem Karren am Hahnentor gehört. Bei dem tragischen Unfall ist der von mir geschätzte Advokat Fletscher ums Leben gekommen. Diesen Karren soll ein Klütsch wieder auf die Räder gestellt haben. Ohne jede Hilfe. Deine Statur jedoch verspricht nicht … Aber vielleicht gibt es noch eine andere Familie Klütsch?«

»Ihr seid schon richtig. Ihr meint sicher meinen Sohn.«

Wallraf zögerte. »Nimm es mir nicht übel. Ich verstehe, dass du dir den guten Verdienst sichern möchtest. Aber ich suche keinen Jüngling. Ich benötige einen Mann mit mehr als großen Kräften.«

Nun schmunzelte Vater Klütsch. »Bitte bleibt. Seht euch meinen Jungen erst mal an.« Er ging einige Schritte in den Flur, öffnete die Tür und rief über den Kinderlärm nach dem Sohn. Kurz darauf erschien ein doppeltes Pferd. Auf jedem Schultersattel von Arnold hockte ein Knabe, mit Kochlöffeln trugen beide über dem Lockenkopf des Bruders einen Fechtkampf aus. »Genug jetzt!« Sie ließen sich im Kampfgetümmel nicht stören, erst als das Pferd unter ihnen bockte, sie beinah aus dem Sattel warf, bemerkten beide den Besucher an der Tür. Das Ritterspiel war zu Ende. Die Kleinen umhalsten den Bruder, wischten übermütig noch kurz die Gesichter durch die Lockenmähne und ließen sich absetzen.

Mit nackten Armen, nur in Leibhemd und Hose stand Arnold neben dem Vater und verbeugte sich vor dem berühmten Professor. Wallraf bestaunte die Muskeln und Schultern des jungen Mannes. »So kann man sich irren«, murmelte er und entschuldigte sich beim Vater. »Hier bin ich richtig.«

Auch Anton Klütsch glaubte erklären zu müssen. »Von mir hat’s der Arnold nicht. Eher von meiner Adelheid. Sie ist auch so … will sagen tüchtig. Acht gesunde Kinder …«

»Mein Kompliment«, unterbrach Wallraf. »Mir genügt es, den richtigen Klütsch gefunden zu haben. Zur Arbeit: Dein Sohn wird zum Ausräumen und Verladen benötigt. Bedingung ist Fleiß, und er wird zum Stillschweigen über alle Vorgänge verpflichtet. Bei Zufriedenheit soll er gut entlohnt werden.«

»Wie lange?«

»Nun, zwei Tage muss er zur Verfügung stehen. Vielleicht sogar eine Nacht. Näheres darf ich über die Arbeit nicht mitteilen.«

»Dann kann ich mir schon denken, worum es geht.« Anton Klütsch nickte seinem Sohn zu, der nickte zurück und dachte: Also Flucht. Aber warum jetzt auch der Professor?

Während sie die Gasse zum Dom hin verließen, kam Wallraf noch einmal auf den Tod des Advokaten zurück. »Ein herber Verlust nicht nur für mich, für uns alle. Paulus Fletscher liebte seine Vaterstadt. Und gerade jetzt, da Köln bedroht ist, benötigen wir solche Männer.«

Arnold sah ihn verstohlen von der Seite an. Und Ihr? Er wollte schweigen, konnte es aber nicht: »Aber, Herr, wenn alle weggehen, wie soll denn dann die Stadt gerettet werden?«

»Worauf spielst du an?« Abrupt blieb Wallraf stehen.

»Ich sag besser nichts.«

»Heraus damit!«

Arnold bemerkte die steile Falte auf der Stirn des Professors. Gleich schickt er mich wieder nach Hause, und der Verdienst ist weg.

»Ich höre, junger Mann.« Der Ton erlaubte kein Ausweichen mehr.

»Also, ich mein, aus Angst vor den Franzosen ziehen sich die Kaiserlichen über den Rhein zurück. Alles nehmen sie mit, ich hab’s mir angeschaut, sogar die Kanonen. Und Ihr Vornehmen packt auch Eure Sachen. Da bleibt doch kaum jemand übrig!«

Erst ein Staunen, dann rieb sich Wallraf den scharfen Nasenrücken und lachte leise. »Die Sachlage ist komplizierter, aber so ganz unrecht hast du nicht.« Er tippte Arnold auf den Arm. »Eins kann ich dir zusichern: Ich bleibe.«

»Und ich dachte, ich sollte bei Euch ausräumen.«

»Nein, wir halten die Stellung.« Er hob den Finger. »Heute und in den nächsten Tagen aber bereiten wir die Flucht für hochgestellte Persönlichkeiten vor. Es geht um Grafen und Könige. Und mit denen gibt es nichts zu diskutieren, denke daran.«

»Hab verstanden.« Arnold passte seinen Schritt dem schmal gebauten Professor an. Ist ein feiner Mensch, dachte er, obwohl er so klug ist, redet er mit mir, dass ich es verstehe. Ist ein feiner Mensch.

An der alten Dompropstei bat Wallraf: »Warte einen Moment. Ich verständige nur rasch den guten Pick, dass wir loslegen können.« Der Professor stieß die in den Angeln ächzende Eichentür auf, rief durch den kleinen Garten zum Haus hinüber, und als hätte er nur gewartet, kam ein etwas rundlicher Herr im schwarzen Rock mit Priesterkragen in schnellen kurzen Schritten nach draußen. »Hast du unsern Samson gefunden …?« Jetzt erst nahm er Arnold wahr und klappte hörbar den Mund zu, staunte und öffnete ihn wieder. »Nach all dem, was mir erzählt wurde, hatte ich mich auf ein Ungetüm eingestellt. Stattdessen …«, er drohte Wallraf spielerisch mit der Faust, »… bringst du einen Herkules in üppigster Blüte.«

»Das ist Arnold, nicht mehr und nicht weniger.« Der Professor schmunzelte und erklärte seinem frisch angeworbenen Helfer: »Und dieser Herr hier bezeichnet sich als meinen besten Freund, er ist der Kanonikus Franz Pick, mit dem ich in diesem Gemäuer wohne.«

»Wir achten aufeinander. Sollte ein Balken herunterbrechen oder einer von uns von abbröckelnden Steinen getroffen werden, so kann der andere noch Hilfe holen.«

Arnold kratzte sich in den Locken. War das ein Scherz? Nach der Kleidung ist das ein frommer Herr, erst jetzt fiel ihm auf, dass auch der Professor den frommen Kragen trug. Also sind beide … Und dann machen sie Spaß? »Wenn Ihr es so sagt«, meinte er vorsichtig. »Vielleicht glaub ich es.«

»Wir sollten uns beeilen«, unterbrach Wallraf, »der Frachtwagen muss noch heute Nachmittag mit der Fähre über den Rhein.« Die Herren gingen voraus, und Arnold folgte ihnen bis zum großzügigen Gebäude an der Westseite des Domhofes. Hier residierte der oberste Kapitelherr, Dompropst Franz Wilhelm, regierender Graf von Oettingen und Baldern, zugleich auch Kanzler der Kölner Universität. Weil er den Schimmelgeruch nicht ertrug und sein rechter Fuß im Winter durch Feuchtigkeit und Kälte noch mehr schmerzte, hatte er die alte, baufällige Dompropstei den zwei jüngeren Priestern überlassen. Beide standen hoch in seiner Gunst, vor allem Franz Pick, den er in väterlicher Güte förderte, aber auch Ferdinand Wallraf verdankte dem Dompropst geheime Unterstützung bei der Erlangung einer Pfründe, die es ihm erleichterte, den Lebensunterhalt zu finanzieren. Dankbarkeit musste der Graf bei seinen Schützlingen nicht erst einfordern. Gutes wird mit Gutem vergolten, wie für jeden wahren Kölner war für Ferdinand Wallraf diese Stadtweisheit selbstverständlich, und selbst für einen Bonner wie Franz Pick gehörte Dankbarkeit zur Herzensbildung.

Seit Tagen schon hatten die beiden Freunde für den Dompropst die wertvollste Habe zusammengepackt. Eine Aufgabe, die von der zwar vornehmen, doch überalterten und gebrechlichen Dienerschaft nicht mehr geleistet werden konnte.

»Wir nehmen uns zunächst die Sammlungen im Kunstkabinett vor.« Wallraf streifte den Mantel ab.

Jede Büste, jedes Opfergefäß, jeder Altar, stammten die Gegenstände nun aus dem alten Ägypten, aus Rom oder von den Griechen, sie waren in Tücher gewickelt und in Kisten verstaut worden. Waffen, Instrumente, Kleidungsstücke und Schnitzwerke aus vergangenen Jahrhunderten füllten weitere Truhen. Nicht genug, Gemälde, Stiche und Reliefs verlangten besondere Sorgfalt in der Verpackung. Musikinstrumente, Erfindungen aus Italien, Spanien und Frankreich. Dazu Gläser, Porzellan und eine unschätzbare Münzsammlung.

»Da hab ich was zu tun.« Arnold bestaunte die Menge an gestapelten Truhen und Tonnen, Kisten und Koffern.

»Nicht allein, mein Freund, wir helfen dir nach unseren bescheidenen Kräften.«

Zweimal versuchte Arnold mithilfe der Herren, eine Truhe aus dem ersten Stock hinunterzuschaffen. Anstatt zu halten, drückten sie von oben, dass er alle Mühe hatte, nicht samt den Schätzen über die Treppe in die Halle zu stürzen. Beim zweiten Versuch klemmte sich Kanonikus Pick die Hand zwischen Kofferecke und Geländer, während der Professor auf dem Treppenabsatz mit dem Allerwertesten eine Vase vom Hocker stieß und sich danach eine Scherbe in den Stiefel trat.

»Wenn ich was sagen darf.« Arnold suchte nach Höflichkeit: »Also, ein paar Gurte, meinetwegen auch Stricke, die würden mir mehr helfen … Ich mein, die wären genug. Dann schaff ich es schneller.«

Wallraf stemmte eine Faust in die Seite. »Du glaubst, wir hätten jeder nur zwei linke Hände?« Freund Pick blies heftig auf die wehen Finger, zwischen dem Luftholen setzte er hinzu: »Herkules meint, wir sind zu ungeschickt.«

Arnold nickte. »So ähnlich, wenn ich ehrlich bin.«

Die Herren sahen sich an und schmunzelten. Nachdem von einem der greisen Diener breite Gurte beschafft waren, schulterte Arnold ohne Pause Kiste um Kiste. Die Freunde standen draußen neben dem Frachtwagen und prüften anhand einer Liste, ob auch alle Gepäckstücke richtig gekennzeichnet waren. Nur Buchstaben und Zahlen. Um falsche Begehrlichkeiten auszuschließen, sollte keiner von den Fuhrleuten über den wahren Inhalt der einzelnen Truhen Bescheid wissen.

In der Mitte des Nachmittags kehrte Graf Oettingen eilig vom Kapitelhaus zurück. Kurz warf er einen Blick in den Planwagen. »Werdet Ihr mit dem Verladen noch bei Tageslicht fertig?«

»Denke schon, Durchlaucht.« Kanonikus Pick deutete auf den schwitzenden Arnold. »Wir haben den besten Helfer aus der Antike gefunden: Herkules. Es ist eine Freude, ihn bei der Arbeit zu beobachten.«

»Gut, gut. Jetzt ist keine Zeit für ein Palaver über griechische Heroen.« Der Graf grüßte mit einem Nicken in Richtung des Burschen und wandte sich halblaut an die beiden Kleriker. »Er soll im Haus warten. Unsere Lage spitzt sich zu und bedarf einer kurzen Unterredung.«

Kein Zögern, keine Nachfrage. Die Miene des Dompropstes verlangte nach sofortigem Handeln. Wallraf befahl Arnold: »In der Bibliothek hinten im Erdgeschoss findest du die gepackten Kisten. Trage sie nach vorn in die Halle. Beginne schon mal ohne uns. Wir überprüfen nachher die Listen.«

Auf dem Weg hinein schmunzelte Arnold. Warum so umständlich? Sagt doch einfach, dass es was zu besprechen gibt, was ich nicht hören soll. Und fertig.

Gleich beim Betreten der Bibliothek brachte einer der Diener ein Tablett mit Wasserkaraffe und Glas und stellte es auf dem runden Tisch ab. Arnold sah sich um. Regale bis unter die Decke. Bis auf einige Buchstützen waren die Bretter leer, nur blanke Staubschatten zeigten noch, welche Menge an Büchern dort gestanden hatte. Nach der dritten Kiste verschnaufte er, leerte das Wasserglas in einem Zug.

»Arbeit macht durstig, nicht wahr, mein Freund?«

Arnold fuhr herum. In der Tür stand ein schmalbrüstiger Herr im grauen Gehrock, über der spitzen Dreiecksnase lauerten schwarze Augenpunkte. »Arbeitest du hier allein? Ganz ohne eine dritte Hand?«

»Was?« Verblüfft zeigte Arnold seine Hände. »Mit den beiden hab ich genug …«

Kurzes Lachen unterbrach ihn. »Ich meine, so ohne Unterstützung?«

»Ich schaff das schon.«

Jetzt näherte sich der Herr mit langsamen Schritten, nahe dem Tisch entdeckte er etwas auf dem Boden, bückte sich und richtete sich mit einem Blaffert in der Hand wieder auf. »Hier, mein Freund. Die Münze hast du verloren.«

Arnold schüttelte den Kopf. »Gehört mir nicht. Hatte kein Geld bei mir.«

»Aber ja doch. Der Blaffert ist dir gerade eben aus der Tasche gefallen. Ich kann es bezeugen. Hier, nimm!« Als Arnold nicht zugriff, steckte ihm der Herr das Geldstück in die Kitteltasche. »Und jetzt kein Wort mehr darüber.« Er ging an den leeren Regalen entlang, zog mit dem Finger eine Schlangenspur durch den Staub.

So was ist mir noch nie passiert. Arnold schluckte. »Herr, wer seid Ihr? Gehört Ihr zum Haus?«

»Gewissermaßen ja. Mein Name ist Dupuis, Bartholomäus Dupuis. Ich bin kurkölnischer Registrator. Aber dies muss dich nicht interessieren.« Seine Hände lagen auf zwei nebeneinanderstehenden Kisten. »Was befindet sich hier drinnen? Dies muss ich wissen. Deshalb wirst du mir bitte den Deckel öffnen, damit ich mir einen Überblick verschaffen kann.« Er zückte einen zweiten Blaffert aus der Rocktasche. »Und hierfür wirst du mir bitte sagen, was draußen schon im Wagen verstaut ist. Und wann die Abfahrt geplant ist.«

»Also«, Arnold rieb sich das Ohr, »dann lag die andere Münze gar nicht auf dem Boden?«

»Ach, guter Freund, ein kleiner Scherz von mir. So als Anerkennung für deine Mitarbeit.«

Wo gerate ich hier rein? Arnold schüttelte den Kopf. »Ich glaub, Ihr seid da bei mir beim Falschen, Herr, ich arbeite für den Professor und für seine Leute.«

»Aber ich gehöre doch dazu …«

Ein heftiger Schlag gegen die Tür unterbrach ihn. »Dupuis!« Der Hausherr kam mit den beiden Klerikern in die Bibliothek, sein Stock zielte direkt auf die Spitznase im blassen Gesicht. »Wer hat Euch erlaubt …?«

»Nur meine Pflicht.« Beschwichtigend hob der Registrator beide Hände. »Wie Ihr wisst, bin ich von Seiner Kurfürstlichen Durchlaucht, Erzbischof Maximilian Franz, beauftragt, die Archive zu kontrollieren.«

»Aber nicht in meinem Hause!«, donnerte der Graf. »Und schon gar nicht, wenn es sich um meine Privatbibliothek handelt. Hinaus!« Ungewohnt schwungvoll hob Graf Oettingen den Stock zum Schlag. »Hinaus!« Er ging drohend einige Schritte hinter dem Eindringling her. »Das Domarchiv, nur darum sollt Ihr Euch kümmern! Und wehe, ich treffe Euch noch einmal hier an.«

Lautlos, doch in großer Eile entschwand der Registrator durch die Halle.

Oettingen starrte ihm nach. »Ratte oder pflichtbewusster Beamter? Ich zweifle in diesen Wochen der Flucht nicht nur an ihm, nein, bei einigen sonst so unscheinbaren grauen Kontorhockern bemerke ich eine neue Lebendigkeit, als witterten sie wie Ratten reiche Beute.«

Er ließ von Wallraf und Pick die Dienerschaft zusammenrufen. Während die betagten Hausgeister sich einfanden, wollte der Professor Arnold hinausschicken, doch Graf Oettingen bestimmte: »Lasst ihn nur anhören, was ich zu sagen habe. Schließlich haben wir ihn vorhin für eine wahrhaft große Aufgabe ausersehen.«

Arnold hob erschrocken das Kinn, gleich spürte er die Hand des Professors auf dem Arm. »Ruhig. Ich erkläre dir alles. Später, wenn es so weit ist.«

Der Dompropst wandte sich an seine Diener, sieben Greise in tadelloser Livree, mit weißem oder silbernem Haar, großen Ohren und braunfleckigen Handrücken. »Meine Treuen. Einige von euch haben schon meinem Vater gedient, haben mich als Kind durch die Gärten unseres Schlosses im schwäbischen Baldern geführt. Mein Dank gehört euch. Heute nun muss ich fort … ohne euch.«

Die Diener bewahrten Fassung, nur leichtes Zittern der Lippen und Hochfahren der Augenbrauen zeigten ihre Erregung.

»Ohne euch. So schwer es mir fällt«, fuhr Oettingen fort. Auf der Flucht und im Exil könnten die Strapazen zu anstrengend für die Getreuen werden.

Arnold sah verstohlen in die faltigen Gesichter. Arme Kerle, da habt ihr so lange bei eurem Herrn ausgehalten und jetzt … Ehe er den Gedanken weiterführen konnte, versprach der Graf: »Ich schicke euch nicht fort. Ihr sollt alle in diesem Hause bleiben, ihr seid für Möbel, Teppiche, Küche und Keller verantwortlich wie bisher. Und pocht in wenigen Tagen der Franzose an die Tür und fragt nach mir, so gebt ihm und jedem anderen dieselbe Auskunft: Der Herr ist auf einer Reise. Er kommt zurück, doch wann, das entzieht sich unserer Kenntnis.« Er hob den Finger. »Zu eurer eigenen Sicherheit vergesst nie zu betonen: Der Herr kommt zurück. Graf Oettingen wohnt noch in diesem Haus. Denn sonst, so fürchte ich, wird der Franzose alles beschlagnahmen und euch hinauswerfen.«

Geduldig wartete der Dompropst, bis alle Diener durch Kopfnicken zeigten, dass sie verstanden hatten. »Zum Abschluss noch eine gute Nachricht.« Oettingen ließ die Ohrlocken wippen. »Zwar wird mich Kanonikus Pick heute begleiten, doch sobald ich mich in Arnsberg eingerichtet habe, wird er nach Köln zurückkehren und an meiner statt die Sorge für unser Haus übernehmen. Das ist alles. Lebt wohl!«

Arnold wartete, bis der Hausherr die Bibliothek verlassen hatte. »Und was soll ich …?« Er sah den Professor an. »Die große Aufgabe?«

»Eins nach dem anderen.« Wallraf deutete auf den Rest an Kisten. »In den Wagen damit. Zunächst müssen wir für die Abreise sorgen.«

Auch gut, dachte Arnold, um den Lohn brauch ich mich nicht sorgen. Sind fromme Herren, die betrügen nicht. Und außerdem … Er fühlte nach der Münze in seiner Kitteltasche. Der Herr mit der Spitznase ist weg. Etwas Zeit geb ich ihm noch. Wenn er den Blaffert bis heute Abend nicht zurückverlangt, behalte ich ihn.

4

Die Plane des Frachtwagens war verschlossen, die Reisekutsche vorgefahren. Graf Oettingen reichte Wallraf die Hand. »Falls die Bedrängnis zu groß wird, mein Freund, falls Ihr nicht mehr ein noch aus wisst, so findet Ihr Zuflucht auf meinen Gütern in Baldern.«

»Danke, Erlaucht.« Wallraf straffte sich. »Köln ist meine Vaterstadt. Kein Unglück kann so groß sein, dass es mich von hier forttreiben könnte.« Er half dem Dompropst einzusteigen, reichte ihm den Gehstock in den Fond.

Dann standen sich die Freunde gegenüber. Blicke, Worte genügten nicht. Sie umarmten einander. »Wehe, du kommst nicht zurück«, drohte Wallraf, »und zwar bald und gesund.« Kanonikus Pick wischte sich mit dem Sacktuch die Augenwinkel. »Du kannst die Zeit nutzen und endlich aufräumen. Wenigstens deine Steinsammlung. Oder beginne mit den Büchern.«

»Schluss damit, du Pedant«, unterbrach ihn Wallraf, die Drohung gelang seiner Stimme nicht. »Oder ich behalte dich nicht in guter Erinnerung.«

Noch einmal ein Händeschütteln, ein leises »Gott behüte dich«, dann rollte die Kutsche an, ihr nach holperte der Planwagen in Richtung Rheinufer hinunter. Der Professor winkte, obwohl niemand den Abschiedsgruß zurückgab, als es ihm auffiel, stopfte er das Taschentuch in den Rock. »Hoffe nur«, sagte er mehr zu sich, »das Wetter bleibt gut, dass kein Wagenrad bricht, kein Raubüberfall unterwegs … Ach, was soll das Sorgen?«

Arnold nickte. »Ihr mögt den Herrn Kanonikus gut leiden.«

»Wir sind Freunde. Sonst würden wir nicht unter einem Dach wohnen und schon gar nicht unter solch einem undichten wie dem der Dompropstei.« Wallraf sah seinem Helfer in die Augen. »Eine wichtige Nacht liegt vor uns. Nicht falsch, wenn wir etwas mehr voneinander wissen. Also, wie steht es mit dir? Hast du Freunde? Vielleicht sogar schon eine Zukünftige?«

Zukünftige? Wie fremd das klingt. Das ist kein Wort für Walburga. Arnold wich dem Blick aus. »Einen Freund hab ich. Es ist der Sohn vom verunglückten Advokat Fletscher. Der Norbert studiert auch auf Advokat. Der ist schon neunzehn Jahre. Vielleicht kennt Ihr ihn sogar?«

»Das wäre Zufall. Ich unterrichte nicht in Rechtswissenschaft, meine Fächer sind Botanik und die schönen Künste. Und als Rektor der Universität kann ich unmöglich alle Studenten persönlich kennen.« Das Gesicht wurde ernst. »Genug davon. Es ist Zeit, junger Freund, dich mit der großen Aufgabe vertraut zu machen. Es geht um die Heiligen Drei Könige. Im Dom sind sie nicht mehr sicher. Auch sie müssen fliehen. Graf Oettingen hat dich auf mein Anraten hin ausersehen, heute Nacht bei den Vorbereitungen und morgen in der Frühe bei der Flucht aus dem Dom mitzuhelfen. Die Herren vom Kapitel sind davon unterrichtet.«

Arnold wusste nicht, ob er staunen oder sich freuen sollte. Wo bin ich hier nur reingeraten? »Was ich kann, mache ich«, versprach er.

Nach dem Abendläuten folgte er Professor Wallraf in den Dom. Wie die Stämme von Riesenbäumen ragten die Säulen ins Halbdunkel der Decke. Duft nach Weihrauch wärmte die kühle Stille etwas. Vorn im Chorraum bewegten sich Gestalten. Kerzen brannten an beiden Seiten des Hochaltars. Beim Näherkommen erkannte Arnold bewaffnete Domschweizer, sie hielten abgeschirmte Blendlaternen in Händen und sperrten links zwischen Altar und Kapitelhaus den Umgang des Chorraumes ab.

»Warte hier!«, bestimmte der Professor und näherte sich der Gruppe dunkel gekleideter Herren. Wenig später kehrte er zurück. »Graf von Königsegg ist der Vertreter des Dompropstes. Er leitet heute Nacht die Aktion. Komm, er will dich sehen.«

Arnold dienerte vor dem Dekan des Domkapitels. Erst beim Aufschauen bemerkte er den breiten Pelzkragen und das Glitzern einer Kette.

Graf Königsegg schnalzte leicht mit der Zunge, als schmecke er sein Sprechen vorweg. »Du bist dir im Klaren, dass nichts von dem, was in dieser Nacht geschieht, weitererzählt werden darf?«

»Ja, Herr.«

»Ein Zurück gibt es für dich ohnehin nicht mehr, dafür bist du schon zu weit vorgedrungen. Deshalb merke dir: Jeglicher Indiskretion werde ich nachgehen lassen und persönlich dafür sorgen, dass der Schuldige auf das Schärfste bestraft wird. Hast du mich verstanden?«

Arnold sah Hilfe suchend zum Professor, doch der nickte nur.

Nutzt mir nichts, dachte Arnold bekümmert. »Ehe ich was falsch mache, Herr. Ich versteh das Wort nicht, wem wollt Ihr nachgehen? Indis…?«

Gleich fasste Wallraf nach dem Arm seines Schützlings. »Verrat«, raunte er. »Wenn du nicht schweigst.«

Arnold dienerte wieder vor dem Grafen. »Hab jetzt verstanden.«

»Also dann.« Der Dekan winkte den wartenden Herren. »Wir beginnen.«

Die Domwächter gaben den Weg frei. Vorbei an den Kapellen im Chorumgang näherte sich die Gruppe der Achskapelle an der Stirnseite. Hin und wieder war Arnold beim Mausoleum der Heiligen Drei Könige gewesen. An kein besonderes Gefühl konnte er sich erinnern. Jetzt aber … Außen neben den Sperrgittern flackerten Kerzen, spiegelten sich im dunklen Marmor, und ihr Lichthauch erreichte noch über der Kammer die steinernen Legionäre und ließ sie lebendig werden. Arnold sog den Atem ein. Der Weihrauchgeruch war stärker geworden. Vor dem rot-schwarzen Stoff im Innern des Mausoleums erstrahlten Kerzen auf silbernen Wandleuchtern und erhöhten das Edelsteinfunkeln und Goldglitzern des Schreins.

»Löscht die Kerzen!«

Zwei Domschweizer drückten mit kleinen Glockenhauben an langen Stielen eine Flamme nach der anderen aus. Die übrigen Wächter öffneten ihre Blendlaternen, und Arnold spürte, wie sich in ihm mit den erlöschenden Kerzen und dem anwachsenden hellen Licht die feierliche Beklemmung löste.

»Öffnet den oberen Teil!«

Zwei Domschweizer traten seitlich an den goldenen Schrein heran und stellten eine Trittbank bereit, erst dann folgte Schreinermeister Claudy, das Werkzeug trug er in einer offenen Tasche an der Hüfte.

Arnold wollte besser sehen, wollte näher, besann sich rechtzeitig und blieb neben dem Professor, schob nur den Kopf vor.

Behutsames Schlagen. Mit Holzhammer und Eisenstift löste der Meister rechts und links die Splinte, wenig später klappte er die linke Dachseite hoch und zog sich an die Wand des Mausoleums zurück.

Nun näherte sich ein Priester in Begleitung zweier Domschweizer, die einen mit Seidentüchern ausgekleideten Korb trugen.

Wallraf beugte sich zu Arnold. »Das ist Vikar Heinrich Nettekoven«, flüsterte er, »ein guter Freund. Er ist ausersehen, die Reliquien zu versorgen.« Arnold spürte den Handdruck des Professors im Rücken. »Gehe jetzt einige Schritte nach vorn. Sobald Vikar Nettekoven die Gebeine der Märtyrer herausgenommen hat, wirst du sie hinüber ins Kapitelhaus tragen. Den Weg zeigt dir einer der Domwächter. Du kommst zurück. Später wirst du dann die drei Heiligen hinüberbringen.«

Arnold wurde der Mund trocken. »Kann ich das?« Er wischte sich über die Stirn. »Wieso Märtyrer? Ich dachte, Könige wären das?«

»Beides, mein Freund.« Trotz der eigenen Anspannung lächelte Ferdinand Wallraf mit schmalen Lippen. »Oben liegen die Märtyrer Felix, Nabor und Gregorius, außerdem die Gebeine eines unbekannten Kindes. Der untere große Raum ist den Königen vorbehalten.« Er begleitete den Helfer bis zur geöffneten Gittertür des Mausoleums.

Nach einigen wollenen Tüchern entnahm Vikar Nettekoven der oberen Kammer nacheinander drei schwere und einen kleineren Seidenbeutel und bettete sie in den Korb.

Er richtete sich auf, hob die Hand.

»Dein Zeichen«, raunte der Professor.

Arnold betrat das Mausoleum, ohne dass es ihm bewusst war, ging er auf Zehenspitzen, als dürfe er den ewigen Schlaf nicht stören. Mit beiden Händen fasste er den Korb, kein Gewicht und doch so wichtig. Er folgte dem Domschweizer. Beim Vorbeitragen der Reliquien bekreuzigten sich die anwesenden Domherren. Am linken Ende des Chorumgangs, kurz vor der Seitentür zum Kapitelhaus: ein Gesicht. Arnold bemerkte es aus dem Augenwinkel: das Gesicht, die spitze Nase. Erst als er den Korb im Nebenzimmer des Saals abstellte, wusste er es: der Registrator, dieser Dupuis. Der will seine Münze wiederhaben? Oder?

Auf dem Weg zurück hielt sich Arnold einige Schritte hinter dem Domwächter. Gleich am Ende des Durchgangs wartete der dünne Herr. Arnold fasste in seiner Rocktasche nach der Münze. Doch Dupuis kam nicht auf ihn zu, er lächelte den Domschweizer an, blieb an dessen Seite. »Ich weiß, wie schlecht ihr bezahlt werdet.« Ohne sich anzustrengen, verstand Arnold das hastige Gewisper. »Wie wäre es mit einem kleinen Nebenverdienst?«

»Wofür, Herr? Und wie viel?«

Arnold schluckte. Einfach so? Der Domschweizer hat nicht einmal gezögert.

»Nur eine Uhrzeit. Ich muss wissen, für wann morgen früh der Abtransport der Reliquien geplant ist. Die Auskunft ist mir einen Blaffert wert.«

»Steht noch nicht fest.«

»Sobald du es weißt, verständigst du mich. Ich warte ab dem ersten Morgengrauen draußen vor dem Portal.«

»Im Voraus.« Der Wächter hielt dicht an seinem Rock verstohlen die Hand auf. Dupuis drückte ihm die Münze hinein und blieb gleich zurück.

Ehe der Domschweizer mit Arnold in Hörweite der Kapitelherren gelangte, drohte er über die Schulter: »Kameraden verraten sich nicht. Bist du ein Kamerad?«

»Ja, schon …«

»Wir sind hier im Dom viele Kameraden, und jeder gönnt es dem anderen, wenn’s was nebenher zu verdienen gibt. Und Verräter kann keiner von uns leiden. Also denk dran, du hast eben nichts gehört und gesehen.«

»Schon recht«, flüsterte Arnold und dachte wieder, wo bin ich hier nur reingeraten?

Schreinermeister Claudy hatte inzwischen das Dachgeschoss des goldenen Palastes abgenommen und es mithilfe der Wächter in eine der angefertigten Kisten gelegt. Sonst von einem Gitter geschützt, standen nun die drei gekrönten Schädel der Heiligen offen und gut sichtbar auf dem Präsentierbrett über dem geräumigen Hauptsarg.

»Zuerst die Kronen.«

Heinrich Nettekoven nahm nacheinander die Würdezeichen aus schwerem Gold von den Schädeln. Unter dem wachsamen Blick des Grafen von Königsegg verstauten zwei Domherren die Kronen in einer eisernen Kassette, verriegelten sie, und der Dekan nahm den Schlüssel an sich. Er winkte Nettekoven. »Weiter, Bruder.« Der ließ vom Schreinermeister die große Deckenplatte entfernen, erbat sich danach zwei Domschweizer mit ihren Blendlaternen näher an die Seiten und bestieg wieder die Trittbank, lange beugte er sich über den Sarg. Dann flüsterte er: »Haltet die Laternen höher!« Schweigen. Nettekoven bewegte sich nicht.

Nach geraumer Weile fragte Graf Königsegg in die Stille: »Was ist, Bruder? Ist dir nicht wohl?«

Langsam richtete sich Nettekoven auf. Im Dämmerlicht schien sein Gesicht noch blasser geworden zu sein. »Keine Ordnung. Sie liegen … Die Heiligen liegen durcheinander.«

Erschrecktes Atmen ging durch die Anwesenden. Graf Königsegg trat bis zum Schrein vor. »Was willst du damit andeuten?«

»Nicht andeuten … Was ich im Gewühl der Tücher erblicke: Die heiligen Könige liegen nicht sorgsam getrennt voneinander wie die Märtyrer Felix, Nabor und Gregorius, sondern … Ich bitte um Vergebung, in ihrem Sarkophag herrscht einfach keine Ordnung.«

»Vikar Nettekoven!« Scharf ging ihn der Dekan an: »Zerwühlte Tücher? Heilloses Durcheinander? Solche Begriffe beschreiben den Zustand nach einer durchzechten Nacht.« Die Stimme wurde drohend dunkel. »Nettekoven, ich muss um mehr Respekt bitten. Dies sind die wertvollsten, die heiligsten Reliquien der ganzen Welt.«

Tapfer hob der Kleriker die Hand. »Und doch ist es so.«

»Herunter da!« Beinah grob zog Graf Königsegg den Vikar von der Trittbank und stieg selbst hinauf, beugte sich über den reich mit Gold und Edelsteinen verzierten Sarg. Sein Rücken erbebte bis hinauf in den Pelzkragen, dann hob er wieder den Kopf, stieg hinab und sah in die gespannten Gesichter der Kapitelherren. »Es ist so, wie er sagt. In diesem Zustand dürfen wir die Heiligen nicht auf die Flucht schicken.« Er glättete die Kette vor seiner Brust, wandte sich an den Vikar und befahl: »Beseitige das Durcheinander! Bis zum Morgengrauen soll jeder König in eigener Seide liegen. Und zwar getrennt von den anderen.«

»Aber …«

»Kein Aber, Bruder. Alle Vorkehrungen für die Sicherheit sind getroffen, alles ist genau geplant. Der Transport ist nicht mehr zu verschieben. Beim ersten Tageslicht werde ich zurückkommen und den Reisesarg versiegeln. Also spute dich!«

Nettekoven ging einige Schritte hilflos auf und ab, dann fasste er sich. »Hier ist zu wenig Licht. Der Schrein muss ins Kapitelhaus. Dazu benötige ich starke Männer.«

In der vordersten Reihe stieß Professor Wallraf seinen Schützling an. »Wie gut, dass wir dich haben, mein Freund. Geh und hilf ihnen!«

»Herr, da ist noch was, worüber …«

»Später ist Zeit genug für Fragen. Geh jetzt erst, und hilf ihnen!«

Zwei Domschweizer hinten, je zwei an den Seiten und Arnold allein an der Kopfseite, so trugen sie den Hauptsarg entlang der Chorkapellen bis hinüber ins Kapitelhaus und setzten ihn neben dem Korb mit den geordneten Gebeinen der Märtyrer ab.

Arnold half dem Vikar noch, drei große Laken auf dem Boden auszulegen, dann wurde er hinausgeschickt.

Froh sieht er nicht aus, dachte Arnold. Muss nicht leicht sein, so allein mit den heiligen Knochen die Nacht zu verbringen, selbst für einen frommen Herrn nicht.

Am Ende des Durchgangs zum Dom standen einige Domschweizer beieinander. Arnold spürte den Blick des Wächters, der ihm gedroht hatte, und sah nicht zu ihm hinüber.

Professor Wallraf stand bei der Gruppe der Kapitelherren. Er nahm seinen Schützling beiseite. »Auf Befehl des Dekans darfst du den Dom bis zur Abfahrt der Könige nicht verlassen. In der Sakristei gibt es Brot, Wurst und Bier, außerdem liegen Matratzen und Decken bereit. Nein, kein Misstrauen gegen dich. Nur eine Vorsichtsmaßnahme.«

Arnold nickte. »Darüber wollte ich vorhin schon mit Euch reden. Normalerweise würde ich nichts sagen, weil kein Arbeitsmann dem anderen den Verdienst wegnimmt, aber die Heiligen sind nun mal was anderes.«

Wallraf furchte die Stirn. »Wovon sprichst du?«

Und Arnold berichtet kurz von dem belauschten Gespräch zwischen Dupuis und einem der Wächter. »Dachte, da muss doch Obacht gegeben werden.«

»Du bist ein treuer junger Mann.« Leise seufzte Wallraf. »Aber sorge dich nicht. Graf von Königsegg und die anderen Verantwortlichen haben ohnehin mit Verrat gerechnet und sind darauf vorbereitet. Ob nun bei den Domschweizern oder auch in den eigenen Reihen. Überall gibt es undichte Stellen.«

»Und warum werden die nicht gestopft?«

Ein trockenes Lachen. »Lieber Freund, wenn alle Verdächtigen entlassen werden, gibt es nicht mehr genug Männer für die notwendigen Arbeiten. Da ist es schon besser, wenn man sich auf Verrat oder Faulheit einstellt.«

Gefällt mir nicht, dachte Arnold und hob nur die Achseln.

Der Professor versprach, mit ihm gemeinsam die Nachtstunden zu verbringen. »An Schlaf ist ohnehin kaum zu denken. Auch ich werde erst wieder ruhiger, wenn die Heiligen sicher über den Rhein sind.«

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