Sagen und Legenden vom Niederrhein - Tilman Röhrig - E-Book

Sagen und Legenden vom Niederrhein E-Book

Tilman Röhrig

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Beschreibung

Von Drachen, Zwergen und dem Teufel selbst: Die schönsten Sagen und Legenden vom Niederrhein erzählt uns Tilman Röhrig in seiner wunderbaren Sprache neu – und er hat sie aufgespürt, die legendären Gestalten und Wesen des Niederrheins: Den Schwanenritter von Kleve; die Geschichte der Elga von Liedberg, deren junges Leben auf dem Scheiterhaufen endet; den Schlafkamp bei Meerbusch; die große Drachensage von Geldern; die Legende des Heiligen Norbert von Xanten; die teuflischen Beutezüge in Kempen, Wesel, Büderich und Grefrath ... »Tilman Röhrigs Denken und Schreiben öffnet fundamentale Lebensbilder, die Erfahrungen und Handeln bestimmen. Dabei wird ein umfassendes Zeitbild deutlich, das wie ein Gewebe alle Facetten des Lebens durchwirkt ... Erzählungen entstehen durch seine literarische Kunst, die uns Fremdartiges nahebringt, um zu versuchen, durch Miterleben zu begreifen.« (Prof. Dr. Peter Conrady)

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Sagen und Legenden vom Niederrhein

Tilman Röhrig

Inhalt

1. Der Drache von Geldern

2. Der Schwanenritter von Kleve

3. Der Untergang des Zwergenvolkes

Prolog

Das Riesenwerk

Auf Zwergensuche

Die Erdmännchen von Wachtendonk

Die Övermännkes im Selfkant

Die Seckesmännchen in Willich

Die Bloeten bei Vluyn

Liebe und Tod in Krefeld

Epilog

4. Norbert von Xanten

5. Elga von Liedberg

6. Der Königfrosch von Menzelen

7. Der Schlafkamp bei Meerbusch

8. Teuflisches am Niederrhein

Vorspiel im Reich des Bösen

Vom Beutezug in Kempen

Vom Beutezug in Wesel und Büderich

Vom Beutezug bei Xanten

Zwischenspiel im Reich des Bösen

Vom Beutezug in Grefrath

Nachspiel im Reich des Bösen

Nachwort

Literaturverzeichnis

Ortsverzeichnis

Eins

Der Drache von Geldern

Auf dem Feld hat er fünf Knechte

in seinen Klauen zerrissen.

Im Morgengrauen schäumte das Wasser auf Rhein und Maas. Von Norden her flogen Drachenboote den Ufern zu, die furchtbaren Echsenköpfe zum Angriff erhoben, wie Flammen züngelten ihre gespaltenen Zungen. Aus den Bäuchen sprangen Unholde an Land. Sie ließen die Boote wie leere Hüllen zurück. Jeder Trupp trug sein Drachenhaupt voran, jeder Mann wurde zum Teil eines riesigen Leibes, ihre Schilde fügten sich zur ledernen Schuppenhaut. In den Augen glühten Gier und Mordlust. Mit Feuer, Schwertern und Äxten fielen Wikingerhorden über das blühende Land des Niederrheins her, zerrissen Kinder, Frauen und Männer, fraßen das Vieh, sie stießen den Brand in jede Hütte, jedes Haus. Des Nachts zeichneten Feuerlohen und Funkenregen ihre todbringenden Bahnen. Anfang Mai des Jahres 878 führte die Spur eines der Drachen direkt in das Gebiet des Herrn von Pont.

»Ich verbiete es!«, befahl der verhärmte Mann seinen beiden Söhnen. Lupold und Wichard standen vor dem Vater, beide waren gerüstet. Drache oder Rotte der Wikinger, ganz gleich, die Junker waren zum Kampf bereit. »Wir dürfen doch nicht tatenlos zusehen.« Wichard war stark. Lupold, der ältere Bruder, ersetzte körperliche Kraft durch Gewandtheit und Vernunft. Sie waren der Stolz des Vaters.

»Wir warten.« Otto von Pont wollte keinen der beiden dem sicheren Tod ausliefern. »Vielleicht werden wir und die Burg verschont.«

Kein Angriff bedrohte den Herrensitz. Mordend und plündernd zerstörte das Ungeheuer die Siedlungen und Gehöfte rundum, zog über die Grenze und nistete sich, kaum eine Wegstunde entfernt, im weiten Sumpfgebiet am Ufer der Niers ein. Otto von Pont atmete auf. »Gott hat mein Gebet erhört.«

»Aber Vater!« Lupold zeigte von der Wehrmauer ins verwüstete Land. »Dort lebten Menschen, die für uns das Brot backten, unser Vieh hüteten. Die meisten unserer Höfler liegen nun erschlagen auf den Feldern. Auch sie haben gebetet, doch Gott hat sie nicht erhört. Sie hofften auf unseren Schutz, doch wir haben uns feige verkrochen.«

»Schweig!« Zornröte flammte im Gesicht des Herrn von Pont. »Wage es nicht, deinen Vater zu mahnen.«

Erbittert stieß jetzt Wichard die Fäuste gegeneinander. »Wer sich nicht wehrt, der geht unter.«

»Wie dumm ihr seid!« Der alte Mann zwang sich zur Ruhe. »Seit Jahrzehnten werden mein Land und auch die übrigen Herrschaftsgebiete des Niederrheins immer wieder heimgesucht. Niemand kann dieser teuflischen Geißel widerstehen. Ihr wart noch Kinder ...« Otto von Pont stockte, die Erinnerung bereitete ihm Qual. »Eure Mutter. Sie hat es gewagt. Um euch zu schützen.« Damals saß Frau von Pont am Ufer der Niers. Ihre Söhne ließen glatte Steine übers Wasser hüpfen, jauchzten. Jäh fuhr eine der Bestien zwischen den Sträuchern hervor. Noch ehe das vielköpfige Ungeheuer über den Kindern war, stellte sich ihm die Mutter entgegen.

»Ihr konntet gerettet werden. Doch sie ...« Otto von Pont schloss die Augen. »Was auch geschieht. Ich will euch nicht auch verlieren.« Nie war die Wunde verheilt, der Verlust hatte den Herrn gebrochen. Wichard und Lupold blickten sich an und schwiegen.

Im Juni erreichten bestürzende Nachrichten die Burg: Ein Hirte hatte nahe des Sumpfgebietes seine Schafe auf die Weide getrieben. Des Morgens fanden zwei Müllerknechte den verstümmelten Mann am Wegrand. »Der rote Drache ... Vom Mispelbaum kam er ... Meine Tiere hat er gefressen ... Ich wollte fort ... Dann ...« Mit einem Röcheln starb der Schäfer.

Einige Tage später wankte eine Magd auf den Hof. Der Kittel hing in Fetzen, ihr Gesicht war leichenblass, das Haar verkohlt. »Der Drache!« Sie hustete, keuchte: »Gestank und Feuer kamen aus dem Maul.« Sie rang nach Luft und stürzte leblos zu Boden.

»Die Bestie hat das Dach der Scheune weggerissen. Rüben und alles Korn hat sie gestohlen.«

»Auf dem Feld hat sie gestern fünf Knechte in ihren Klauen zerfleischt.«

Niemand wagte sich mehr in die Nähe des von Schlinggewächsen überwucherten Mispelbaums, niemand bestellte mehr seinen Acker am Rand des Sumpfgebietes. Voll Grauen rafften die Menschen ihre wenige Habe zusammen. Doch wohin? Ihr kleines Volk hatte keinen eigenen Vogt, und der König war weit. Sie flohen über die Grenze zur Burg des Herrn von Pont, lagerten draußen vor dem Tor. Wer Macht hat, der soll uns auch beschützen, verlangten sie stumm.

»Öffnet Speicher und Keller.« Otto von Pont schickte seine Söhne. »Wir teilen mit den Armen. Sie sollen satt werden. Mehr vermag ich nicht zu tun.«

»Doch, Vater«, begehrte Wichard auf.

Ehe Lupold dem Bruder beipflichten konnte, herrschte Otto: »Gehorcht!« Seine hagere Gestalt zitterte.

Im August waren die Vorräte der Burg fast aufgezehrt. Alle Felder lagen brach, keine neue Ernte wurde eingebracht. Von Woche zu Woche mengte der Bäcker mehr Asche und Erde ins Mehl. Es gab kaum noch Fleisch. Wieder und wieder wurden die Knochen des Schlachtviehs ausgekocht. Hunger quälte die Kinder, die Frauen und Männer vor dem Tor, leer blieben die Schüsseln auf dem Tisch in der Burghalle. Wichard zerdrückte das Trinkhorn. »Auch ohne Kampf tötet uns der Drache. Erst verhungern die Leute da draußen, dann wir selbst.«

Otto von Pont stützte den Kopf in beide Hände.

Leise drängte Lupold den Vater: »Nichts tun bedeutet Schuld. Wie willst du diese Last tragen?«

Der hagere Mann stöhnte. Schließlich blickte er seine Söhne an. »Ihr habt recht. Gott wird mich strafen, wenn ich weiter tatenlos zusehe. Nur, ich bin zu alt und müde, deshalb sollt ihr …«

»Ja, Vater!«, riefen beide. »Wir kämpfen gegen das Untier!«

»Nein!« Die scharfen Falten um den Mund vertieften sich. »So hört doch.« Er wandte sich an Lupold. »Du hast Verstand. Halte deinen Bruder zurück. Ja, ihr sollt den Drachen töten, doch nicht mit ihm kämpfen.«

Wichard schleuderte das Trinkgefäß gegen die Hallenwand. »Zögern! Zaudern! Wie lange noch? Losschlagen müssen wir. Mit Gott, Drauf und Dran!«

Inständig flehte der Vater um Mäßigung. »Blinde Kühnheit allein macht euch nicht zu Helden. Erst wenn es keinen Ausweg mehr gibt, wird Mut zum Heldenmut.«

Lupold begriff. »Sorg dich nicht. Mir fällt schon was ein.«

Noch am selben Tag riefen sie im Zeltlager vor der Burg die verängstigten Menschen zusammen. »Wer hat den Drachen gesehen?« Breitbeinig stand Wichard da.

Zaghaft meldete sich ein Bauer, dann der Schmied, dann traten Mägde und Knechte vor.

»Wie sieht die Bestie aus?« Alles wollte Lupold wissen, genau musste er den Feind kennen, um gegen ihn anzutreten.

Die Antworten ließen ihn erbleichen. Selbst Wichard sanken die mächtigen Schultern. Groß und rot war er, das wussten sie. Doch dann: drei Echsenköpfe. Aus jedem Maul züngelten todspeiende Schlangen. Der schuppige Rumpf war bis zum Schwanz mit einem spitzigen Höckerkamm bewehrt. Flügel hatte er wie eine riesige Fledermaus und gekrümmte Krallenklauen. Nicht nur Feuer spie der Drache.

Mehr noch wussten die Gequälten zu berichten: Wen der Blick aus den glühenden Augen traf, der wurde blind. Allein sein heißer Atem verwelkte Blätter, verdorrte das Gras. Mit gellenden Schreien lähmte er seine Opfer. Im Schwanz saß die größte Kraft. Ein einziger Schlag fällte Ochsen, oder er umschlang die Beute und zerquetschte sie. »Wenn der Drache einatmet, saugt er alles an, was vor ihm steht.« Der Bauer griff sich an die Kehle. »Niemand …«

»Genug!« Lupold wehrte ab. Mit rauer Stimme versicherte er: »Ich und mein Bruder«, er schluckte schwer, bemühte sich, den Menschen etwas Hoffnung zu geben, »wir werden das Land von dieser Ausgeburt der Hölle befreien.«

Kaum waren die Junker zurück im Burghof, brummte Wichard: »Wie denn? Da hilft nur Drauf und Dran, und wenn es uns das Leben kostet.«

»Warte ab.«

Lupold ließ den Bruder die letzten drei Schweine schlachten. Er selbst rührte im Kessel einen kalten Brei aus Blut, Pech und Haaren, dazu gab er Sumpfschlangenwurz, Kornrade und viel vom Wasserschierling. Diesen Giftschlamm füllte er in die Saumägen und nähte sie mit gezwirbelten Darmsehnen zu.

Im Nachmittag des letzten Augusttages ritten die Brüder aus dem Tor. Heiß war es. Am Rand des Sumpfgebiets saßen sie ab. Drüben, inmitten des kahlgebrannten Feldes, ragte der Mispelbaum. Sie waren entfernt genug, um den Drachen nicht zu reizen, nah genug, um die tödlichen Köder auszulegen. Deutlich führte eine schwarz verkohlte Schneise bis zum Ufer der Niers. Diesen Weg nahm das Ungeheuer, wenn es den Durst stillen wollte.

Rasch legten Wichard und Lupold die prallen Saumägen aus und hasteten davon. Nahe der Grenze warteten sie. Kein Laut war zu hören. Erst in der Dämmerung erzitterte die Erde wie unter hundert Pferdehufen. Lupold fasste den Arm des Bruders. »Vielleicht, Wichard, vielleicht …«

Schreie! Markerschütterndes Gebrüll. Der Lärm riss ab. Nach einer Weile folgte urtiefes Röcheln, Würgen. Feuerlohen zuckten über der Niers. Und dann wieder ließ das Stampfen die Erde dröhnen. Heulend zog der Drache in Richtung Mispelbaum davon.

Wichard ballte zornig die Faust. Doch Lupold versicherte: »Auch wenn das Gift ihn nicht getötet hat, es wird in ihm wühlen. Vertrau mir, Bruder.« Sie warfen sich auf die Pferde und galoppierten nach Pont zurück.

Lupold beantwortete die Fragen des Vaters nicht, sagte nur: »Mein Plan ist gut.«

Früh am nächsten Morgen ließ er von Wichard die letzten drei Ochsen schlachten. Ihre Köpfe durfte er nicht vom Fell trennen. »Verteile das Fleisch unter den Hungrigen.« In die Häute nähte er zu dem Gedärm verrostete Lanzenspitzen, Schwertklingen und dreigezackte Wurfhaken. Auf einem Karren fuhren sie die gestopften Ochsenleiber jenseits der Grenze zum Ufer der Niers.

Tiefe Gräben und Schlammhügel zeigten, wie sehr der Drache am Vorabend hier vor Schmerz gewütet hatte. Lupold nickte befriedigt. »Hilf mir«, bat er den Bruder. Gemeinsam wuchteten sie die Kadaver in den Fluss, stellten sie aufrecht. Nur Rücken und Schädel ragten aus dem Wasser, die Ochsenaugen stierten leblos zum Ufer. »Daran wird er sich den Schlund aufreißen.«

»Wir verschwenden nur Zeit«, schimpfte Wichard. »Drauf und …«

»Morgen, Bruder«, schnitt ihm Lupold das Wort ab. »Morgen werden wir all unsere Kraft nötig haben.«

Er wartete nicht. Fast hatten sie wieder die Herrschaft Pont erreicht, da vernahmen sie weit hinter sich dumpfes Grollen und Gepolter. »So oder so. Mein Plan ist gut«, sagte er. »Ich weiß es.«

Der dritte Tag brach an. »Vater. Heute werden wir gegen den Drachen kämpfen.«

Lupold musste den alten Mann bis zum hohen Lehnstuhl stützen.

»Du solltest eine Lösung finden.« Otto von Pont sah verzweifelt zu seinem ältesten Sohn auf.

»Ich habe alles versucht.«

Wichard dehnte die Brust. »Ich wusste es gleich. Was nutzt der Verstand, wenn es gegen einen Drachen geht.«

Ohne den Bruder zu beachten, erklärte Lupold: »Keinen Ausweg. Aber ich habe den Weg gefunden, auf dem wir, wenn Gott uns gnädig ist, eine Chance haben, dieses Untier zu besiegen.« Vielleicht hatten ja Gift und Eisenspitzen den Drachen von innen geschwächt. »Jetzt bleibt uns keine Wahl.« Gefasst blickte er zu Wichard hinüber. »Das Drauf und Dran müssen wir heute gemeinsam wagen.«

Sie legten die Kettenhemden an, gürteten ihre Schwerter. Ehe sie in der späten Dämmerung aufbrachen, knieten sie vor dem Vater und baten um seinen Segen. Otto von Pont strich ihnen das Kreuz auf die Stirn. Ein letztes Mal umarmte er seine Söhne. »Ihr seid mein einziges Glück.« Kurz war der Abschied.

Wichard und Lupold bestiegen die Pferde, ließen sich Speer und Morgenstern reichen und trabten zum Tor hinaus. Vom Fenster sah der hagere Mann den Mutigen nach, bis sie zwischen den Bäumen entschwunden waren.

Die Luft war schwül. Schwer hingen die Wolken. Als die Ritter das flache Sumpfland erreichten, flohen Ratten und alles Getier, jedes Geräusch erstarb. Sie ließen die Hengste bei den Büschen zurück. Auf dem freien Feld, am Ende der Schneise, hob sich drohend der schwarze Umriss des Mispelbaums. Die Brüder standen sich gegenüber. Einer sah die Furcht im Gesicht des anderen.

»Oft war ich voller Neid und Missgunst«, sagte Lupold. »Verzeih mir«.

»Oft hab ich dir Unrecht getan, weil ich mehr Kraft besitze«, sagte Wichard. »Verzeih mir.«

Sie umarmten sich, besiegelten jeden alten Zwist mit dem Bruderkuss und schlossen ein neues Band.

»Jetzt sind wir stark.« Lupold lächelte.

Wichard wischte die Stirn. »Drauf und Dran!«

Sie verließen die Deckung. Mitten auf der verkohlten Drachenspur gingen sie nebeneinanderher. Näher und näher. Nichts rührte sich unter dem Mispelbaum. Kaum fünfzig Schritt trennten sie noch vom Lagerplatz der Bestie.

Zwei Punkte glühten auf, dann waren es sechs, schnell wuchsen sie, sprühten Funken. Jetzt schlug ihnen Grollen und Knurren entgegen. Wichard und Lupold schritten weiter. Ihre Speere fest umklammert betraten sie das freie Feld.

Mit einem gellenden Schrei fuhr der Drache aus dem Nachtschatten. Im Dämmerlicht blies er sich auf, spreizte die nackten Flügel. Entsetzt stockten Wichard und Lupold.

Die drei Echsenköpfe zuckten vor, zur Seite, sie bogen sich zurück. »Gelre!« Ein dreifaches Gelächter. Flammen fauchten aus den Rachen. Peitschend schlug der lange Schwanz hin und her, Asche- und Erdwolken stoben. Das Untier richtete sich auf, war jetzt dreimal höher. Aus den Vorderklauen glitten Krallen, blitzten wie Säbel. Der Drache schabte sie aneinander, schärfte sie. Seine glühenden Augenpaare waren fest auf die Opfer gerichtet.

Lupold schüttelte die Angst ab. »Sobald er angreift, springen wir, du nach rechts, ich nach links.«

Wichard nickte.

Das Ungeheuer stampfte mit den Hinterläufen.

Hastig keuchte Lupold: »Treib ihm den Speer ins Herz. Ich lähme den Schwanz.«

Jäh schoss der Drache nach vorn, war zu schnell. Ehe die Brüder ausweichen konnten, streifte sie der Feueratem. Ihre Kettenhemden glühten, die Ringe verschmolzen. Beide schrien, doch es blieb keine Zeit für Schmerz. Mit aller Wucht stieß Wichard zu. Sein Speer glitt an dem harten Schuppenleib ab. Wieder und wieder versuchte der bärenstarke Junker, einen Spalt zwischen den Hornschuppen zu treffen. Alle Echsenköpfe fuhren herum. Schlangen züngelten aus den riesigen Rachen, aus ihren Mäulern zuckten glühende Vipern, wie Pfeile schossen sie auf den Tapferen nieder. Wichard wich aus, duckte sich, wich aus, er verlor den Speer, sprang zurück. Es gelang ihm, das Schwert zu zücken. Eine Viper bohrte sich in den Schenkel, er riss sie heraus. Um seinen Kopf zischte und sprühte es. Mit einem verzweifelten Rundschlag warf sich Wichard nach vorn. Das scharfe Blatt durchschnitt die Schlangenzunge des mittleren Mauls. Das Untier krümmte sich, sprang in die Höhe, schlug krachend zur Erde. Gestank erfüllte die Luft, und wilder noch griff der Drache Wichard an.

Auf der anderen Seite hatte Lupold unbemerkt das Rückenende erreicht. Er schwang den Morgenstern. Die dornenbewehrte Kugel zerschmetterte einen der spitzen Höcker. Sofort rollte das Ungeheuer den Schwanz ein, ließ ihn wie eine gewaltige Peitschenschnur aufschnellen. Lupold blieb dicht an dem geschuppten Leib, ließ die Stachelkugel kreisen. Sein Hieb zermalmte den zweiten Höcker. Hin und her wischte der Schwanz, Lupold rannte, wartete, und mit einem Satz sprang er auf. Rittlings saß er in der freigehauenen Bresche, wurde mitgerissen, auf und ab geschleudert. Er hielt sich mit den Schenkeln, zückte das Schwert, senkrecht setzte er die Spitze an und stieß den Stahl bis zur Heftstange in das ungeschützte Fleisch. Gebrüll. Die Schnelligkeit des Schwanzes erlahmte, doch er bog sich ein, wand sich um den Körper des Ritters, langsam bohrten sich die Höcker in den Kettenpanzer. Lupold rang nach Luft, noch war die Kraft der Bestie nicht gebrochen, und mehr und mehr schnürte ihn der Würgegriff ein. Mit letztem Mut zog Lupold das Schwert wieder heraus, bohrte es noch einmal ins Fleisch.

Unterdes kämpfte Wichard gegen die Echsenköpfe. Die zweite Schlangenzunge hatte er abgeschlagen. In Stößen spie der Drache kochendes Blut. Wichard griff an, er ließ nicht nach. Jetzt schlug das Ungeheuer mit den blitzenden Krallen auf ihn ein. Gegen zwanzig Säbel zugleich musste sich der Junker wehren. Getroffen wankte er. Da hob der Drache die Echsenköpfe, holte zum letzten Schlag aus. Für einen Augenblick war der Leib ungeschützt, die Schuppen weit aufgefächert. Wichard brüllte und trieb das Schwert ins Herz des Ungeheuers.

Der Drache erstarrte. Aus den drei Rachen stöhnte er: »Gelre! Gelre!« und noch einmal »Gelre!« Dann schlug er zu Boden, fauchend blies er den Atem aus.

»Lupold!«, schrie Wichard. »Lupold!« Er fand den Bruder. Immer noch war er eingeschnürt. Erst nach wilden Hieben konnte ihn Wichard befreien.

»Haben wir gesiegt?«, stammelte Lupold.

»Nein! Noch lebt er.« Sie taumelten nach vorn, schwangen ihre Schwerter, mit gemeinsamer Kraft trennten sie die Echsenhälse vom Rumpf. Das Untier war tot.

Weinend sanken die Tapferen zu Boden, dankten dem Himmel für Kraft und Rettung. Furchtbares Reißen! Entsetzt starrten sie auf den Drachen. Aus dem klaffenden Leib quollen Köpfe, die abgehauenen Köpfe von mehr als dreißig Wikingern. Der Körper fiel in sich zusammen, schließlich lag die Schuppenhaut wie ein ausgeleerter riesiger Sack vor den Junkern.

»Wir haben den Kampf gewonnen«, sagte Wichard.

»Nicht wir allein«, sagte Lupold. »Gott hatte Erbarmen mit uns.« Sie wankten zu ihren Pferden zurück. Einer stützte den anderen.

Spät in der Nacht erreichten sie die Burg. Fackeln loderten im Zeltlager. Kaum achteten die erschöpften Ritter auf den Jubel der Leute. Otto von Pont erwartete seine Söhne vor der Zugbrücke.

»Mein Plan war gut, Vater«, murmelte Lupold.

Wichard bemühte sich zu lächeln. »Mit Verstand und Drauf und Dran. Nur so kann ein Drache getötet werden.«

»Für eure Mutter habt ihr gekämpft.« Der alte Mann straffte den Rücken. »Ich bin stolz.«

Lupold schüttelte den Kopf. »Nicht allein für unsere Mutter.« Er hob das schwer gezeichnete Gesicht. »Für unser Land und für alle, die mit uns leben.«

Da reckten die armen Leute den Rettern die Hände entgegen.

Schwäche übermannte Wichard und Lupold. Behutsam wurden sie auf das Lager gebettet. Fieber. Qualvolle Schmerzen. Über den Herbst und Winter rangen beide mit dem Tod. Erst zur Schneeschmelze waren die offenen Wunden verheilt. Wichard behielt nur Narben zurück. Doch dem älteren Bruder fiel das Atmen schwer. Das Stechen in der Brust ließ nicht nach.

An einem hellen Frühlingstag des Jahres 879 führte Otto von Pont seine Söhne hinaus. Zwar waren alle Zelte abgebrochen, doch heute hatte sich wieder das Volk aus den Gebieten jenseits der Grenze eingefunden.

»Ein neuer Drache?« Fahrig rieb Wichard das Kinn. Auch Lupold erbleichte.

»Nein. Ihr habt den Feind vernichtet.« Herr von Pont lächelte. »Sie warten auf euch.«

Das Haar der Kinder war mit Blumen geschmückt. Frauen und Höfler trugen den Sonntagskittel. Ein Bauer übernahm das Sprechen. »Kommt mit uns. Ihr habt uns befreit, jetzt wollen wir Euch dienen.« Er beugte das Knie. Zum Willkommen bot er den jungen Herren Brot und Salz.

Die Brüder zögerten. Otto von Pont nickte: »Alles ist längst vorbereitet.« Während seine Söhne schwerverletzt ans Lager gefesselt waren, hatte er König Ludwig das Begehren der Leute unterbreitet und die Ernennung erreicht. »Ihr seid die rechtmäßigen Vögte über das weite fruchtbare Land. Ihr seid nicht nur meine Söhne, sondern jetzt auch meine Nachbarn.«

»Mit Gottes Hilfe.« Dankbar nahm Lupold das Brot und das Salz. Ehe Wichard sich fasste, setzte der Vater hinzu: »Mehr noch. An der Stelle, an der ihr den Drachen besiegt habt, dort am Mispelbaum wird eure Burg errichtet.« Seit Wochen schon rollten Karren, hochbeladen mit Steinen, über die Grenze zum Ufer der Niers.

Voll Staunen sahen die Söhne auf den Vater. Neue Kraft hatte den alten Mann belebt. »Ich habe für euch entschieden.« Er runzelte die Stirn. »Nur eins fehlt noch. Burg und Land sollen einen guten, starken Namen erhalten, erst dann werden sich die Menschen zu Hause fühlen.«

Wichard war ratlos. Nach einer Weile sagte Lupold: »Mit dem Schrei: ,Gelre!‘ hat der Drache uns alle in Angst und Schrecken versetzt. Doch wir haben ihn besiegt. ,Gelre‘. Dies Wort soll der Name sein. Denn in unserem Land werden fortan Menschen leben, die den Drachen nicht fürchten.«

Zwei Jahre regierten die Junker gemeinsam auf Burg Gelre. Als Lupold starb, weinte Wichard. Mispelzweige schmückten den Sarg. »Dein Plan war gut«, flüsterte er. Wichard gab an seine Söhne weiter, was er vom Bruder gelernt hatte.

Auch heute noch gibt es Menschen in Geldern, die erst den Verstand einsetzen, und nur wenn kein Ausweg bleibt, das Drauf und Dran wählen. Denn allein so ist der Drache zu besiegen.

Zwei

Der Schwanenritter von Kleve

Stellst du die Frage doch,

so muss ich dich verlassen.

Die junge Gräfin Beatrix von Kleve weinte nicht mehr. Sie saß auf dem Altan der Burg zu Nimwegen. Unter ihr zog träge der Rhein dem offenen Meer entgegen. Dämmerung legte sich über die weite Landschaft. Mit dem Ende dieses ersten Gerichtstages war auch ihre letzte Hoffnung zerbrochen.

Der Stellvertreter des unmündigen Königs war heute selbst nach Nimwegen gekommen. Adel und Ritterschaft der umliegenden Länder und Lehnsgüter hatten sich versammelt. Klage und Streit durften dem Herrscher vorgetragen werden. Wie hatte Beatrix diesen Tag herbeigesehnt. Pippin II., Majordomus und mächtigster Fürst des Reiches, er sollte entscheiden.

Gleich nach dem Tod ihres Vaters erhob sein Bruder Roderick Anspruch auf das Klevische Land. Allein, Graf Dietrich hatte auf dem Sterbebett verfügt, dass seine Gemahlin und nach ihr seine Tochter das Erbe behalten und die Herrschaft weiterführen sollten.

»Keinem Weib steht diese Macht zu.« Den Schwager kümmerten weder Urkunde noch Vertrag. Er fiel in das Land ein, brandschatzte die Dörfer und verwüstete die Felder. Angst und Elend bestimmten den Alltag. Der Kummer zerbrach die Witwe. Nach ihrem raschen Tod glaubte sich Roderick schon als Sieger. Doch mutig widersetzte sich jetzt Beatrix, beugte sich nicht seinen Forderungen. Gegen die plündernden Horden vermochte auch sie nichts auszurichten. Ihre Vasallen waren der Übermacht unterlegen. Die Ritter wagten erst gar nicht, zum offenen Kampf anzutreten. In festem Glauben an ihr Recht schickte Beatrix Bittschrift nach Bittschrift zum Majordomus, und endlich erhielt sie Antwort. Ihre Klage sollte auf dem Gerichtstag entschieden werden. Beide Parteien waren vorgeladen.

Fanfarenklänge hatten am Morgen den Einzug des Fürsten in den geschmückten Saal begleitet. Der pelzverbrämte Mantel fiel in weichen Falten von den Schultern des mächtigen Herrn. Grußworte. Mit gebeugtem Knie huldigten die Edlen. Das gemeinsame Gebet. Kaum war die festliche Zeremonie beendet, als Pippin II. die Hand hob. Sein Herold stieß den Stab dreimal auf den gestampften Lehmboden. »Beatrix, Gräfin von Kleve!«

Sie trat vor den Richterstuhl. Sie spürte die Blicke der Versammlung, spürte das Wohlgefallen, mit dem der Fürst ihre schlanke, hochgewachsene Gestalt betrachtete. Doch sie versuchte, Gehör für ihre Sache zu finden, wollte nicht, dass die Männer nur gafften. Mit klarer Stimme führte sie ihre Klage. »Zu Recht bin ich die Erbin meiner Eltern«, schloss Beatrix und überreichte Pippin II. den letzten Willen des Vaters.

Zustimmendes Gemurmel ging durch die Reihen. Ihre Rede schien alle Anwesenden tief beeindruckt zu haben. Beatrix atmete auf. Als der Fürst ihr zulächelte, glaubte sie fest an ein gerechtes Urteil.

Breit baute sich Roderick neben der Klägerin vor dem Richterstuhl auf. Ein riesenhafter, bärtiger Mann. Er war ein ungeschlagener Kämpfer auf den Turnierplätzen. In vielen Schlachten hatte er sich seinem Herrscher bewiesen. Er war ein Sieger. »Gott weiß es: Ich verlange nichts Unrechtes. Mein Bruder ist tot. War er ein Erbgraf? Nein. Hat er einen männlichen Nachkommen? Nein. Deshalb trete ich an seine Stelle. Das Kleverland wird ein Teil meiner Besitzungen.« Verächtlich fuhr er fort: »Keinem Weib steht die Macht zu. Was soll aus dem Reich werden, wenn Frauen solch große Herrschaft an sich reißen?« Kälte glitzerte in den dunklen Augen. »Wer mir das Erbe streitig macht, der muss mir und meinem Heer zu jeder Zeit überlegen sein, denn ich werde nie auf meinen Anspruch verzichten.«

Beatrix wandte sich ihrem Oheim zu, doch der würdigte sie keines Blickes, gefasst sagte sie: »Ich habe keine Truppen, um gegen Euch anzutreten, das wisst Ihr.« Sein rohes Lachen polterte durch den Saal. Sie wandte sich an den Majordomus: »Nur Ihr, Herr, in Eurer Gnade, könnt mich und mein Land vor Gewalt und Unrecht bewahren. Ich will das Erbe meines Vaters erhalten. Nicht allein für mich, sondern für meine Kinder, die Gott mir irgendwann schenken wird.«

»Das Weib hat noch nicht einmal einen Gatten«, höhnte Roderick. »Und da spricht sie schon von Kindern.«

»Schweigt!«, herrschte ihn der Fürst an. Er richtete sich auf. »Von Gottes Gnaden bin ich zum Richter bestellt. Euer Streit muss jetzt und hier in Frieden geschlichtet werden. So hört das Urteil: Mein Vasall Roderick soll auf jeden Anspruch verzichten. Er soll überdies allen Schaden, den er dem Klevischen Land zugefügt hat, wiedergutmachen.«

Wärme und Erleichterung durchströmten Beatrix.

Neben ihr reckte Roderick das bärtige Kinn, er schlug die Faust an seine Brust. »Ich diene Euch, mein Fürst. Ich bin Euch sonst in allem gehorsam. Aber was bedeutet schon eine Urkunde. Pergament lässt sich geduldig beschreiben. Nein, das Erbe meines Bruders gehört in Wahrheit mir. Dafür stehe ich mit meinem Leben. Und wenn der Streit jetzt und hier entschieden werden muss, dann fordere ich den Entscheid durch einen Zweikampf. Die Gräfin soll einen Mutigen benennen. Jeder Gegner ist mir willkommen. Er und ich werden auf Leben und Tod streiten, dem Sieger fällt das Kleverland zu.«

Empörte Rufe. Flüche! Tumult hob sich in der Versammlung.

Beatrix wich zur Seite. Ihre Lippen bebten. Ein Zweikampf? Roderick war stark, ungeschlagen. Er war jetzt schon der Sieger. Angstvoll sah sie auf den Majordomus. Pippin II. stützte die Stirn in seine Hand. Nach einer Weile hob er den Kopf. Die Ritterschaft verstummte.

Mitfühlend sprach er zu Beatrix. »Der Beklagte ruft Gott zum Richter an. Ich muss seinem Wunsch entsprechen. Wählt Euch unter Euren Getreuen einen Tapferen, der für Euch diesen Kampf austrägt. Morgen zur Mittagsstunde soll der Streit entschieden werden.«

Und Beatrix rief ihre Getreuen, die Ritter und Dienstmannen. Im Hof der Burg schritt sie von einem zum nächsten. »Und du?«

»Und du?« Der hob bedauernd die Achseln, der schüttelte ängstlich den Kopf, der senkte den Blick. Sie fragte den Letzten: »Und du?«

»Graf Roderick kämpft besser als jeder im Land. Ich darf meine Frau nicht zur Witwe, meinen Sohn nicht zum Waisen machen.«

Mit Mühe hielt sich Beatrix aufrecht. »Ich zürne euch nicht. Jeder sorgt sich erst um sein persönliches Glück. Doch ich sorge mich um unser Klevisches Land und stehe allein. Geht jetzt.«

Erst oben im Gemach weinte Beatrix. Ihre Amme beugte sich zu ihr. Nicht nur Dienerin, längst war sie der Herrin zur Freundin geworden. »Wenn ich ein Mann wäre«, sagte sie drohend, »ich würde für Euch kämpfen, und wenn ich diesem Kerl nur mit einem Messer entgegentreten müsste.«

»Du bist tapferer als all meine Ritter. Nur, was nutzt uns Frauen ein mutiges Herz? Was nutzen Klugheit und Güte in einer Welt, die von Männern bestimmt wird?« Bitter fuhr sie fort: »Mein Fehler war, ich habe versucht, wie ein Mann mein Ziel zu erreichen. Und ich habe verloren.« Beatrix hatte ihre Tränen getrocknet. »So bleibt mir nur das Gebet. Wenn Gott mich erhört und doch einer aufsteht, der siegreich für mich streitet, dann werde ich alles tun, um dieses Land meinen Nachkommen zu sichern. Und ich bin bereit, das schwöre ich, mein Glück und mich selbst dafür hinzugeben.« Fest hatte sie die Hand der Amme gedrückt. »Ich danke dir. Ruh dich aus. Lass uns hoffen bis zum letzten Augenblick.«

Lange saß Beatrix an diesem Abend noch draußen. Sie weinte nicht mehr. Spät legte sie sich nieder. Kein Schlaf hob sie auf. Nach durchwachter Nacht kehrte sie bei der ersten Morgendämmerung zu ihrem Platz auf dem Altan zurück.