Die Formen des Vergessens - Marc Augé - E-Book

Die Formen des Vergessens E-Book

Marc Augé

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Beschreibung

Vergessen und Erinnern bedingen einander. Augé unterscheidet im Verlauf der Geschichte und im Leben des Individuums drei Formen des Vergessens. Davon ausgehend zeigt er, welche Möglichkeiten der Gegenwärtigkeit im Vergessen liegen, und weist Wege zu einem glücklichen Leben im Hier und Jetzt.

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Die Formen des Vergessens

Marc Augé

Die Formen des Vergessens

Aus dem Französischenvon Till Bardoux

INHALT

PROLOG

GEDÄCHTNIS UND VERGESSEN

DAS LEBEN ALS ERZÄHLUNG

DIE DREI FIGUREN DES VERGESSENS

EINE VERPFLICHTUNG ZUM VERGESSEN

Anmerkungen

PROLOG

Das Vergessen ist für die Gesellschaft so notwendig wie für das Individuum. Man muss sich darauf verstehen, zu vergessen, um die Gegenwart, den Augenblick und die Erwartung auszukosten. Doch auch das Gedächtnis selbst braucht das Vergessen: Man muss die nahe Vergangenheit vergessen, um die ferne Vergangenheit wiederzufinden. Darum wird es in diesem Buch hauptsächlich gehen, und deshalb kommt es als kurze Abhandlung über den Gebrauch der Zeit daher.

Ich habe ihm die Form einer Vorlesung in drei Lektionen gegeben, doch handelt es sich um keine wirkliche Vorlesung, und ich habe auch nicht vor, irgendjemandem Lektionen zu erteilen. Diese Form erlaubt mir lediglich, mich direkter an den Leser zu wenden. Bei einem solchen Thema will ich ihn nicht nur als Zuhörer gewinnen; ich will ihn auch als Komplizen. Ich möchte ihn ermuntern, an seiner eigenen Erfahrung zu bemessen, wie richtig oder weniger richtig die von mir hier vorgetragenen Überlegungen sind.

Die erste »Lektion« macht sich mit den Psychoanalytikern Gedanken über den Begriff der »Erinnerungsspur« und die Beziehung zwischen Erinnerung und Vergessen. Die zweite führt einen Dialog mit Anthropologen und Philosophen, um die Hypothese zu prüfen, nach der alles Leben wie eine Erzählung gelebt werde. Die dritte versucht, mithilfe einiger Romanschriftsteller die drei Figuren des Vergessens durchzudeklinieren: die Rückkehr, den Schwebezustand und den Neubeginn.

Da ich Ethnologe bin, schöpfe ich aus den Erinnerungen an meine eigene Feldforschung oder aus der ethnologischen Literatur den Stoff für die Fragen, auf die die folgenden drei Kapitel zu antworten versuchen. Es handelt sich demnach um eine Übung in umgekehrter Ethnologie, denn wer Gegenstand der Untersuchung ist, liefert für gewöhnlich Antworten, aber stellt keine Fragen.

GEDÄCHTNIS UND VERGESSEN

Ich möchte mir zu Beginn einen kleinen Umweg erlauben, einige Vorüberlegungen, die die Begriffe der Debatte, die ich eröffnen möchte, schrittweise verdeutlichen sollen. Ich muss tatsächlich zunächst ohne weitere Erklärung einige Wörter anführen, die weder selten noch ausgesucht sind, jedoch gefährliche Denkfallen darstellen. Damit will ich sagen, dass sie seit Jahrhunderten viele verschiedene Gedanken in die Falle gelockt haben, die, einmal freigesetzt, bei ihrem kunterbunten, lärmenden und wirbelnden Auffliegen die Sinne und den Intellekt ihres unvorsichtigen Befreiers vernebeln.

In Wirklichkeit werden jeden Tag Gedanken freigesetzt. Professoren, Philosophen, Gymnasiasten oder Studenten, die ihre Aufsätze verfassen, Politiker, Journalisten und noch einige andere verbringen ihre Zeit damit, mit Wörtern zu spielen, und oftmals passiert es ihnen, dass sie durch Zufall oder Kühnheit Gedanken die Freiheit geben. Doch die Gedanken verlangen nach häuslicher Geborgenheit, und selbst bei uns, wo sie seit Langem fast alle domestiziert sind, bewahren sie einen kleinen ungezähmten Kern. Kaum haben sie am Tageslicht ihre Flügel gelockert und sich geschüttelt, eilen sie erneut zu Wörtern, die sie beherbergen, beschützen und verstecken. Vielleicht sind sie doch Nachtvögel. Das ist eine weit verbreitete Meinung, also gut möglich. Jedenfalls lernt der professionelle Denker, dieser Gedankenfänger, der zum Gedankenzüchter wird, als erstes, ihnen zu misstrauen – manche von ihnen beißen. Er lernt, sie aufzustöbern, sie aus dem Nest zu nehmen, ohne ihnen wehzutun, sie zu betäuben, zu beobachten, ihnen mit Blicken zu folgen, wenn er sie freilässt, um zu sehen, in welche Richtung sie davonfliegen, zu welchen anderen Gedanken sie sich gesellen und in welchen Worten sie Zuflucht suchen, denn nicht selten flüchtet ein befreiter Gedanke – irrtümlicherweise, vor Schreck oder vielleicht aus Affinität – in ein anderes Wort als das, in dem er ursprünglich quartierte. Heutzutage schließt man nicht mehr aus, dass die Verlagerungen von Gedanken von einem Wort zum anderen ein häufigeres und älteres Phänomen sind, als man meinte – unabhängig also von den experimentellen Bedingungen, die ich soeben ansprach.

Die Ethnologie hätte uns hier weiterhelfen können, denn die fernen Gesellschaften boten dem Beobachter eine Unzahl an neuen Wörtern. Doch lange Zeit ist sie von einem tückischen Übel gelähmt gewesen und bleibt es heute mehr denn je: vom Ethnozentrismus und, mehr noch, von der Furcht vor dem Ethnozentrismus. Furcht vor dem Ethnozentrismus ist durchaus ehrenhaft. Sie verdient den gleichen Respekt, den sie auch den Anderen entgegenbringt, indem sie postuliert, dass man deren Denken, selbst wenn es Wildes Denken ist, weder in Ketten legen noch es in seiner Originalität geringschätzen und dem unseren angleichen dürfe. Doch manchmal ist sie ein schlechter Ratgeber. Nichts sagt uns nämlich, dass in unserem Klima geborene Ideen nicht in exotischen Wörtern Exil gefunden haben könnten, und im Gegenzug sagt uns auch nichts, dass von weither gekommene Gedanken sich nicht in Wörtern verborgen hätten, die uns vertraut sind. (Trotz einiger allgemeiner Hypothesen sind wir weit davon entfernt, alles über die großen Migrationsbewegungen der Gedanken zu wissen.) Außerdem – und eben darin liegt der interessanteste Aspekt – sagt uns nichts, dass die von den Wörtern der Anderen beherbergten Gedanken, so verschieden sie auch sein mögen und so sehr uns ihr Schillern in Schwarz, Gelb oder Rot auch faszinieren oder belustigen mag, nicht jenen vergleichbar sein könnten, die in unserem Klima gedeihen, oder besser noch, ob sie nicht selbst oder gerade in ihrer Andersartigkeit die Macht dazu haben könnten, die unseren hervorzurufen, sie zu erwecken, sie aus ihren Wörtern fahren zu lassen, so wie man manchmal sagt, dass jemand aus der Haut fährt – was alles in allem für denjenigen eine Art so gut wie jede andere ist, sich zu öffnen und sich anderswo umzuschauen. Wir sollten keine Angst vor den Wörtern haben – unsere Gedanken müssen in Rage versetzt werden und die der Anderen können uns dabei helfen.

Das beste Mittel zur Öffnung eines Wortes, um aus ihm den oder die von ihm beherbergten Gedanken hervortreten zu lassen (denn ich vergaß darauf hinzuweisen, dass ein einziges Wort durch Paarungen, von denen wir nicht viel wissen und die sich nicht zwangsläufig ähneln müssen, oftmals einen ganzen Wurf von Gedanken in sich trägt), ist der Versuch, es zu übersetzen. Es ist bekannt, dass die Übersetzung große Ähnlichkeit mit einer Übung in Kartographie aufweist. Jede natürliche Sprache hat die Wörter über die Welt verteilt (die äußere wie die innere, psychische Welt); sie ziehen dort Grenzen, doch diese Grenzen stimmen von einer Sprache zur anderen nicht überein. Wenn Sie kurzerhand ein Wort in der einen durch ein Wort in der anderen Sprache ersetzen, müssen Sie sich auf Überraschungen gefasst machen: Die Gedanken, die in dem einen Wort heimisch waren, werden es nicht im zweiten; ihnen ist es dort zu weit oder zu eng. Schlechte Übersetzungen sind voller Gedanken, die mangels adäquater Wörter überborden, umhertreiben oder sich gegenseitig ersticken, und alle guten Übersetzer wissen, dass es entsprechend den jeweiligen Sprachen absolut notwendig ist, Wörter wegzulassen oder hinzuzufügen, um die Gedanken der Anderen aufzunehmen.

Das Provokationsvermögen der Gedanken der Anderen ist sehr direkt mit der Frage der Grenzen verbunden, mit der Frage der semantischen Aufteilung, die jede Sprache der Realität auferlegt. Ein einfaches, vielleicht zu sehr vereinfachendes Beispiel: »Attendre et espérer« – »Warten und hoffen«, lautet die Maxime von Edmond Dantès, dem Grafen von Monte Christo. Im Französischen haben wir gelernt, zwischen Erwartung und Hoffnung zu unterscheiden (auch wenn es vorkommt, dass man einen lange Erwarteten, wenn man ihn endlich kommen sieht, mit »Je t’espérais!« begrüßt, was soviel heißt wie »Ich habe dich erhofft, dich herbeigesehnt!«, mit einer Spur Zuneigung oder Ironie). Das Spanische beispielsweise trifft diese Unterscheidung nicht: Warten ist Hoffen – optimistische Gleichung, die sich freilich umkehrt oder zumindest nuanciert, wenn ich die beiden Termini umstelle: Hoffen ist Warten. Klar, dass in Frankreich, dem Land der klassischen Tragödie, die Gleichsetzung von Erwartung und Hoffnung Schwierigkeiten bereiten musste. Den einen Don Quijote und seine Mühlen, den anderen Phädra und ihr Stiefsohn!

Bestimmte afrikanische Sprachen, in denen ein und dasselbe Wort eine materielle Substanz wie das Blut und – mir werden die Worte fehlen dafür … – eine »Instanz« oder eine psychische Fähigkeit (die im Übrigen im Kopf genau verortet ist und imstande sein soll, dort ein- und auszugehen) bezeichnet, geben unlösbare Übersetzungsprobleme auf. Zugleich ist uns diese Repräsentation gefühlsmäßig und intellektuell weniger gleichgültig oder fremd, als wir aus Bequemlichkeit möglicherweise gern annehmen würden. Man kann sich denken, welches Interesse Freud am Studium der »Topiken« hätte finden können, mit denen sich mehrere afrikanische Ethnien lange vor ihm den psychischen Apparat vorgestellt haben. Diese übereinandergestapelten substanziierten Mächte, die jede Nacht durch die Hexereien des Traumes in Bewegung versetzt werden, haben die ersten Beobachter erstaunt. Doch der Ethnozentrismus (hier ist es durchaus angebracht, ihn anzuprangern), der reduktionistische Ethnozentrismus der Missionare und psychoanalysegeprägten Ethnologen hat hier verheerende Schäden angerichtet: gar nicht so sehr, weil die einen mit »Schutzengel« übersetzt haben, was die anderen mit »Über-Ich« bezeichneten – Ergebnis einer Annäherung, die grob genug war, um sich leicht zurechtzufinden, ohne dass man sie deshalb für bare Münze nehmen musste –, sondern weil alle bei dieser Gelegenheit den Materialismus verschwiegen (oder als lokale Merkwürdigkeit, als »Aberglaube« abgetan) haben, den die zweifache Assimilierung des Geistes an den Körper und der Psyche an die Bewegung ausdrückten, worin doch gerade der anregendste Aspekt jener Gedanken liegt, die von den zu eilfertigen Wortzertrümmerern, den zu kurzsichtigen oder zu sehr von sich eingenommenen Gedankenfängern zurechtgestutzt werden.

Dennoch sind es genau diese oder ähnliche Gedanken, die die unseren stimulieren und in Bewegung versetzen könnten. Ein anderes Beispiel: die indianischen Sprachen und Auffassungen, für die die entscheidenden Wendungen des Traumes jene des Wachseins fortsetzen – wodurch Wachsein und Traum als Kontinuität gedacht werden und dazu prädestiniert sind, den Gegenstand ein und derselben Erzählung zu bilden, die allein derjenige vollständig herausarbeiten kann, der stark und hellsichtig genug ist, sich am Morgen alle Details seines nächtlichen Lebens in Erinnerung zu rufen, was namentlich bei den angesehensten Schamanen der Fall ist. Georges Devereux1 hat am Beispiel der Mohave-Indianer hervorragend gezeigt, wie ein Denkmodell, das sich derart von dem unseren unterscheidet, unsere eigenen Kategorien unter Spannung setzte und ihnen somit die Möglichkeit bot, sich neu zu definieren.

Die Erfahrung der Träume liegt der Theorie des Universums zugrunde, die in den Ritualen, Verhaltensweisen und Äußerungen der Mohave-Indianer Gestalt annimmt. Devereux weist uns nun darauf hin, dass ihre Beobachtung der Träume subtil und systematisch ist; sie gibt ihrer Deutung der von ihnen selbst als von der Norm abweichend angesehenen Leiden und Störungen Kohärenz. Ihre enge Vertrautheit mit dem Traum führt sie dahin, die psychischen Vorgänge der Neurotiker und Psychotiker als extremere Manifestationen von Trieben anzusehen, die sich auch in der »normalen« Traumaktivität ausdrücken. Den Europäern widerstrebt es, sich ihres eigenen »psychotischen Kerns« bewusst zu werden, und der beste Beweis dafür ist, dass sie dazu neigen, ihre Träume zu vergessen – was bei den Mohave-Indianern undenkbar wäre. Gewiss, räumt Devereux ein, halten aus methodischer Sicht die Mohave-Indianer keine Lehren für uns bereit (denn ihre Methode ist »supranaturalistisch« und vertraut auf einen Korpus an Mythen, dessen Existenz der Beobachtung der Träume und Verhaltensabweichungen vorausgeht), doch im Grunde beschreiben sie reale Phänomene ausgehend von einem anderen »Referenzrahmen« als die westliche Psychiatrie. Diese hätte jetzt, da sich unsere Kultur uniformiert, nur zu gewinnen, wenn sie sich aus dem Gewohnten lösen und auf das Fremde einlassen würde – eine Erfahrung, legt Devereux nahe, die ihr dabei helfen sollte, vertraute Probleme in einem unvertrauten Rahmen neu zu überdenken.

Devereux’ Position ist also scheinbar, aber nur scheinbar paradox. Wenn er sich der Kultur der Anderen bedient, dann deshalb, um die Kurzsichtigkeit oder Blindheit zu beheben, die die Routinen und Automatismen unserer eigenen Kultur hervorrufen können. Doch diese Überlegung wäre genauso auf die Mohave-Indianer anwendbar. Das Gefangensein in einer Kultur ist es, was blind macht. Die Kenntnis einer anderen Kultur relativiert also jedwede Fixierung auf eine einzige Kultur. Diese Relativierung hat nichts mit einer Infragestellung von Rationalismus und Wissenschaft zu tun, ganz im Gegenteil, auch wenn es wahr bleibt, dass das, was wir für Wissenschaft halten, nicht immer Wissenschaft ist. Die Relativierung einer Kultur durch eine andere (der Wechsel des »Referenzrahmens«) ist im Grunde genommen eine antikulturalistische Übung, die in jeder Kultur vor allem deren Vermögen respektiert, die anderen Kulturen zu destabilisieren.