Die Zukunft der Erdbewohner - Marc Augé - E-Book

Die Zukunft der Erdbewohner E-Book

Marc Augé

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Beschreibung

Wie würde sich uns die Welt mit ihren Problemen und Möglichkeiten präsentieren, wenn wir aus dem Weltall auf sie blickten? Marc Augé zeigt in seinem visionären Manifest, dass die Erdlinge angesichts der ökologischen, demografischen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen nur eine Zukunft haben, wenn sie sich als wirklich globale Gemeinschaft sehen und auch endlich dementsprechend handeln. Während wir mit den unablässigen technologischen Umwälzungen und der vollständigen globalen Vernetzung kaum mehr Schritt halten können, hat sich die Weltbevölkerung in drei Klassen aufgeteilt: wenige Mächtige, eine Masse von satten Konsumenten und das große Heer derer, die von Arbeit und Gütern ausgeschlossen sind. Nur wenn wir uns sowohl auf der kleinsten persönlichen Ebene wie im weltgesellschaftlichen Maßstab gegenseitig als Erdlinge erkennen, kann eine neue übergreifende Solidarität erwachsen – im Zentrum steht dabei eine Ressource, die unendlich oft teilbar ist, ohne weniger zu werden: das weltweite Wissen.

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Marc Augé

Die Zukunft der Erdbewohner

Ein Manifest

Aus dem Französischenvon Daniel Fastner

Inhalt

Vorwort

Vom Utopischen zum Möglichen

Der Fortschritt und die Kultur

Die Veränderung des Maßstabs

Ist eine Ethnoanalyse möglich?

Der Bedarf an Orten

Das Alter und die Zeit

Die Rückkehr zum Universellen

Das Verschwinden der Religion oder das Ende der Vorgeschichte?

Ethnofiktion, Fiktion und Utopie

Schluss

Anmerkungen

Vorwort

Dieses Buch ist aus einem Konferenzvortrag in Turin 2013 hervorgegangen. Schon immer hat mich die große Nachfrage und das Engagement der interessierten Öffentlichkeit in Italien beeindruckt, die sich mit Tatkraft und bemerkenswerter Aufmerksamkeit an den Festivals, Symposien und Konferenzen beteiligt. Als Redner wird man von einem derart aktiven Publikum mitgerissen und bemüht sich, nach dem Vortrag auf die einem gestellten Fragen und Kommentare einzugehen. Doch die Zeit ist beschränkt, die Referenten sind zahlreich, sodass man, selbst wenn man sich ernsthaft bemüht und ein geneigtes und gebildetes Publikum vor sich hat, selten Gelegenheit bekommt, den eigenen Vorschlag in das Gesamtprojekt einzubetten, das ihm erst seine ganze Bedeutung gibt.

Die Einwürfe nun zu veröffentlichen, ist eine wunderbare Idee. Sie aber gar zu einer Langfassung auszuarbeiten, also gewissermaßen die Fortführung der bloß andeutungshaften Diskussionen, skizzenhaften Erklärungen und allzu kurzen Antworten eines Abends zu einem Buch zu machen, stellt eine höchst erfreuliche Gelegenheit dar.

Allerdings geht dabei immer etwas von der Intensität des direkten Austauschs verloren, etwas, das wieder aufleben zu lassen ganz unmöglich ist und das durch etwas anderes ersetzt werden muss. Dieses andere ist all das, was der Autor im Kopf gehabt haben mag, als er seinen Vortrag hielt, aber nicht unterbringen konnte, ohne sein Publikum zu überfordern und es den Faden verlieren zu lassen – selbst wenn einige der nachher aufgeworfenen Fragen diese Lücke füllen halfen, so geschah das zwangsläufig nur unvollständig, übereilt und ungenügend.

Die Abfassung dieses Büchleins bot mir also die Gelegenheit, zu der Freiheit des Austauschs zurückzukehren, wie er im Anschluss an eine Konferenz stattfinden mag, diesen aber durch Einbindung in die Logik eines zusammenhängenden Gedankengangs in eine disziplinierte Form zu bringen.

Das erste Kapitel handelt im Wesentlichen von der Utopie und dem Möglichen – in Anlehnung an das Thema der Konferenz, die den Anlass zu diesen Überlegungen gab. Die späteren Kapitel behandeln Aspekte dieses offen gesagt riesigen wie ambitionierten Themas, indem ich es zu meinen Forschungen und zugleich zu jenen Problemen ins Verhältnis setze, die die beschleunigte Entwicklung unserer Geschichte hervorruft. Die Diskussion der Beziehungen zwischen Utopie und dem Möglichen lädt dazu ein, die Fortschrittsfrage neu aufzugreifen, die sich den Gesellschaften zwangsläufig wieder stellt angesichts des größeren Maßstabs, der ihnen von der technologischen Globalisierung und der Verbreitung makrophysikalischen Wissens aufgezwungen wird.

Konkret laden diese Fragen, die uns alle betreffen, dazu ein, sich einerseits über die Voraussetzungen der gegenwärtigen Situation klar zu werden, andererseits über die Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft nachzudenken und sich über die notwendigen Konstituenten des symbolischen Denkens Rechenschaft abzulegen: den Raum, die Zeit und die Fähigkeit der Anthropologie, Antworten auf diesen gesamten Fragenkomplex zu geben. Wir werden uns also fragen, ob die Epoche, in der wir leben, nicht dem Ende der Vorgeschichte der Menschheit als Weltgesellschaft gleichkommt, und den Beziehungen zwischen Ethnofiktion, Fiktion und Utopie nachgehen. Manche Passagen betreffen die besonders problematische politische Situation der Gegenwart und antizipieren Fragen, die mir meine Zuhörer von gestern heute zweifellos stellen würden.

All das hat mich veranlasst, die Perspektive eines Anthropologen der Gegenwart und heutigen Welt einzunehmen. Daher konnte ich auch nicht darauf verzichten, neu über die Natur der anthropologischen Forschung und ihre besondere Bedeutung in der sogenannten globalen Welt nachzudenken.

Vom Utopischen zum Möglichen

Die Utopien des 19. Jahrhunderts zerschellten im 20. Jahrhundert an der harten Realität der Geschichte. Gegenwärtig erleben wir eine ökonomische und technologische Globalisierung. Wir leben in einer Welt der unmittelbaren Bilder und Nachrichten, die uns das Gefühl ständiger Gegenwart vermitteln. Die letzte Utopie, die Utopie vom »Ende der Geschichte« (Fukuyama) und von der liberalen Gesellschaft, steht nun ihrerseits auf dem Prüfstand. Um die Zukunft als möglich zu denken, greifen wir auf das Modell des wissenschaftlichen Denkens zurück, das sich auf die Hypothese als Methode stützt, und auf zwei Prinzipien: das Denken von den Zwecken her; und die Auffassung, dass der Mensch in seinen drei Dimensionen als Individuum, Kultur und Gattung die einzige Priorität darstellt.

Das große Paradox unserer Epoche ist: Wir wagen es nicht mehr, uns die Zukunft vorzustellen, obgleich uns der Fortschritt der Wissenschaft Zugang zum unendlich Großen wie auch zum unendlich Kleinen ermöglicht. Die Wissenschaft schreitet mit solcher Geschwindigkeit voran, dass wir heute unmöglich sagen könnten, wie unser Wissensstand in fünfzig Jahren aussehen wird – was im historischen Maßstab betrachtet doch nur eine winzige Zeitspanne darstellt.

Dieses Paradox ist umso erstaunlicher, als mit dem wissenschaftlichen Fortschritt technologische Erfindungen und Innovationen einhergehen, die Auswirkungen auf das soziale Leben der Menschen haben. Die Kommunikationstechnologien eröffnen theoretisch jedem Einzelnen vielfältige Beziehungsmöglichkeiten. Die Fernverkehrsmittel erlauben theoretisch jedem Einzelnen, um die Welt zu reisen. Und die Vertriebsnetze erweitern die Konsummöglichkeiten. Gleichzeitig wird die weltweite Zusammenarbeit der Wissenschaftler und Forscher für den Fortschritt der Wissenschaft immer mehr zur Notwendigkeit: So teilen sie ihre Ergebnisse mit der Wissenschaftsgemeinde, oder sie arbeiten direkt zusammen, wie beispielsweise am CERN (Conseil européen pour la recherche nucléaire, Europäische Organisation für Kernforschung) in Genf, das sich wie der realutopische moderne Entwurf eines dem Wissen und der Grundlagenforschung gewidmeten internationalen Gemeinschaftslebens ausnimmt.

Das ist der entscheidende Punkt, von dem alle unsere Erwartungen, aber auch alle unsere Befürchtungen ausgehen: die enge Verflechtung von wissenschaftlichem und sozialem Leben, von Wissenschaftsgeschichte und allgemeiner Geschichte und schließlich von wissenschaftlichem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert des Endes der Utopien – der »großen Erzählungen« des 19. Jahrhunderts, um den Ausdruck des Philosophen Lyotard1 zu bemühen –, die in sozialen und politischen Abscheulichkeiten mündeten. Und es war auch das Jahrhundert der wissenschaftlichen Experimente mit teilweise tödlichen Folgen, wenn sie direkt in den Lauf der Menschheitsgeschichte eingriffen, wie im Fall der verschiedenen Waffen, die aus der Kernforschung hervorgingen.

Wir wissen, dass Wissenschaft heute Geld erfordert und nur in den reichen Ländern Fortschritte machen kann, dass die Unterscheidung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung relativ ist, da erstere die technischen Instrumente entwickelt, auf die letztere angewiesen ist, kurz, dass Wissenschaftsgeschichte und politische Geschichte noch nie in solchem Maße voneinander abhängig waren.

Die Krise, von der man heute auf ökonomischer und finanzwirtschaftlicher Ebene spricht, hat möglicherweise tiefere Ursachen, die genau an der Verzahnung beider Seiten der Geschichte hängen, diesem relativ neuen Phänomen, das wir erst verstehen müssen, um die Folgen ermessen zu können.

Die liberale Utopie, an die Fukuyama unter dem Stichwort »Ende der Geschichte«2 dachte, hat bereits jetzt einer globalen Oligarchie Platz gemacht, deren innere Ungleichheit immer weiter zunimmt. Die von Derrida3 an Fukuyama gestellte Frage – ob das »Ende der Geschichte«, verstanden als verallgemeinertes Einvernehmen hinsichtlich der optimalen Regierungsform, eine beobachtbare Realität oder eine utopische Projektion darstellt – hat ihre Antwort erhalten. Wir befinden uns inmitten einer Utopie, die im Begriff ist, sich in genau dem Moment aufzulösen, da sie versucht, Realität zu werden: die Utopie des fruchtbaren und unumstößlichen Bündnisses zwischen repräsentativer Demokratie und freiem Markt auf globaler Ebene. Regime, die nichts Demokratisches an sich haben, kommen mit dem freien Markt glänzend zurecht; die Finanzspekulation übertrumpft die Logik von Produktion und sozialem Wohlstand. Im Bereich des Wissens und der ökonomischen Ressourcen geht die Schere zwischen den Vermögendsten und den Bedürftigsten immer weiter auseinander, auch in den Entwicklungsländern. Wir bewegen uns auf eine Drei-Klassen-Welt zu, geteilt in die Mächtigen, die Konsumenten und die Ausgeschlossenen.

Die Mächtigen dieser und der kommenden Welt bilden keine einheitliche Gruppe: Sie gehören teils der wirtschaftlichen, teils der politischen, teils der wissenschaftlichen Sphäre an, doch zusammen konstituieren sie den Bereich, in dem die Zukunft des herrschenden Systems Gestalt annimmt. Die Konsumenten bilden den Motor dieses Systems; sie müssen konsumieren, damit das System funktioniert; der ganze Apparat direkter und indirekter Werbung verlockt sie dazu auf alle erdenklichen Weisen: Die von Schumpeter theoretisierte Idee der Innovation tritt an die Stelle der Zukunft. Technologische Innovation zeichnet uns heute in groben Zügen das Grundmuster einer vernetzten Welt, in der sich die sozialen Netze als Ort des Kontakts und des Austauschs, der Kultur und der Verständigung darstellen. Die Netzwerke selbst sind der bevorzugte Ort und Gegenstand des Konsums, denn die Technologie, auf der ihre stetig gesteigerte Leistungsfähigkeit beruht, materialisiert sich auf dem Markt in Form unablässig erneuerter Produkte, die in einem fort ihr eigenes Bild verbreiten und reproduzieren. Es geht die Vorstellung um, dass diese Produkte ein Element des Wissensfortschritts darstellen, und die Virtuosität einiger ihrer Anwendungen kann diese gefährlich illusorische Vorstellung noch festigen – illusorisch, weil sie Zweck und Mittel, Botschaft und Medium, Übermittlung und Aneignung, Wissen und Anerkennung verwechselt. Die Realität der Globalisierung ist weit entfernt von den Idealen einer weltumspannenden Vergesellschaftung (planétarisation), einer Weltgesellschaft, deren rechtlich und faktisch gleiche und freie Bürger sich den Raum im Interesse des gemeinsamen Nutzens teilen. Der Markt umspannt die gesamte Erde, doch die unterbezahlten Arbeiter stehen auf der einen und die mehr oder weniger begüterten Konsumenten auf der anderen Seite.