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Der US-Präsident hat eine Affäre. Als der Skandal mitten im Wahlkampf öffentlich wird, stehen Präsident Tucker und sein Regierungsstab im Kreuzfeuer. Um wiedergewählt zu werden, braucht der Staatschef die First Lady an seiner Seite. Grace Tucker aber hat nicht vor, weiter die Vorzeigegattin für ihren untreuen Ehemann zu spielen. Zutiefst verletzt verlässt sie Washington – und verschwindet spurlos. Secret-Service-Agentin Sally Grissom soll die First Lady aufspüren und zurückbringen. Doch ist diese freiwillig untergetaucht? Oder befindet sich die Frau des Präsidenten in viel größerer Gefahr als gedacht?
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Seitenzahl: 398
Veröffentlichungsjahr: 2020
Buch
Der US-Präsident hat eine Affäre. Als der Skandal mitten im Wahlkampf öffentlich wird, stehen Präsident Tucker und sein Regierungsstab im Kreuzfeuer. Um wiedergewählt zu werden, braucht der Staatschef die First Lady an seiner Seite. Grace Tucker aber hat nicht vor, weiter die Vorzeigegattin für ihren untreuen Ehemann zu spielen. Zutiefst verletzt verlässt sie Washington – und verschwindet spurlos. Sally Grissom, Topagentin beim Secret Service und verantwortlich für die Sicherheit des Präsidenten, erhält den Auftrag, die First Lady aufzuspüren und zurückzubringen. Doch ist diese freiwillig untergetaucht? Oder befindet sich die Frau des Präsidenten in viel größerer Gefahr als gedacht?
Weitere Informationen zu James Pattersonsowie zu lieferbaren Titeln des Autorsfinden Sie am Ende des Buches.
James Pattersonund
Brendan DuBois
Die Frau des Präsidenten
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Peter Beyer
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The First Lady« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Book Group, Inc., New York.
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Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2020
Copyright © 2019 by JBP Business, LLC
This edition arranged with Kapla/DeFiore Rights through Paul & Peter Fritz AG
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Redaktion: Viola Eigenberz
KS · Herstellung: ik
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-26130-6V001
www.goldmann-verlag.de
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Einundzwanzig Minuten vor der Attacke liegt Harrison Tucker – ehemaliger Senator, ehemaliger Gouverneur von Ohio, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Anführer der freien Welt und nur einen Monat davon entfernt, einen erdrutschartigen Sieg bei seiner Wiederwahl zur zweiten Amtszeit zu erringen – bäuchlings auf einem Kingsize-Bett in einem Hotelzimmer in Atlanta. Die Füße in Richtung Kopfende, das Kinn auf einem Kopfkissen ruhend, sieht er gemeinsam mit der Liebe seines Lebens einen Dokumentarfilm über die Fernsehserie House of Cards an.
Einen Servierwagen mit den Resten von zwei Frühstücksmahlzeiten haben die beiden an eine Seite des kleinen, doch zweckdienlichen Zimmers geschoben. Er seufzt vor Wonne, während ihm seine Gefährtin, Tammy Doyle, eine intensive Rückenmassage verpasst.
»Sieh nur«, sagt er, während auf dem Bildschirm gerade der fiktive Präsident zu sehen ist, »im Film müssen sie die Politik und das Geschacher als Fiktion darstellen, wie in The West Wing oder Madam Secretary. Aber im echten Leben würde Frank Underwood niemals zum Präsidenten gewählt werden. Und weißt du auch, warum?«
Tammy senkt den Kopf und pustet ihm ins Ohr. Bevor sich die Tür des Hotelzimmers hinter ihnen schloss, hatten sie beide schick gekleidet an einer Fund-Raising-Veranstaltung teilgenommen, wo er eine Rede gehalten und sie von einem weiter entfernten Tisch zugeschaut hatte, der ihre Lobbyingfirma zehntausend Dollar kostete. Jetzt hingegen sind sie beide nackt, und das Zimmer ist erfüllt mit dem Geruch von Schweiß, Kaffee und Sex.
»Liegt es daran, dass er ein Toupet trägt?«, flüstert sie. »Oder weil Wie-hieß-er-noch-mal in Ungnade fiel und gefeuert wurde?«
»Teufel auch, nein«, erwidert Harrison. »Es liegt daran, dass er in der ersten Episode diesen Hund erdrosselt hat. Weißt du nicht mehr? Die meisten Wählerinnen und Wähler halten eine Katze oder einen Hund. Sie reagieren ablehnend auf Leute, die keine Tiere mögen. Kein Mensch würde Frank wählen, vertraue mir.«
Sie drückt ihm einen Kuss auf das rechte Ohr. »Habe ich dir jemals nicht vertraut?«
»Falls dem so war, hast du es für dich behalten – was mal eine nette Abwechslung ist.«
Tammy lacht – ein Geräusch, das ihn nach wie vor erregt – und knetet weiter mit ihren warmen Fingern seinen Rücken. »Sag mal … dein Wahlkampfleiter hier in Georgia, der Kongressabgeordnete Vickers.«
Er schließt die Augen. Nur seine Tammy spricht nach dem Sex über Politik. »Jetzt im Moment möchte ich lieber keinen Gedanken an ihn verschwenden«, sagt Harrison.
»Solltest du aber«, versetzt Tammy mit ihrer sanften, tiefen Stimme. »Die Organisation dieser Veranstaltung war die reinste Katastrophe. Einer ganzen Reihe von Leuten wurde der Eintritt verwehrt, weil sie nicht die richtigen Eintrittskarten hatten. Das bedeutet, dass der Auftritt vor Ort hier mehr oder weniger für die Katz war.«
»Ich dachte, meine Rede wäre gut angekommen.«
Tammy beugt sich erneut vor und schnuppert an seinem dichten Haar, wie eine verschmuste Katze, die sich an jemandem reibt, um Aufmerksamkeit zu erheischen. »Harry, die Rede kam gut an, weil die Leute dich lieben. Nach konfliktreichen Jahren mit viel Geschrei hast du die Lage in den Griff bekommen, hast das Land wieder auf Kurs gebracht. Und weil dein Gegner, der ehrenwerte Gouverneur von Kalifornien, ein Spinner ist. Aber es hätten mehr Leute dort sein müssen. Außerdem hat das Fiasko mit den Eintrittskarten einige deiner Unterstützer verärgert, und das war total überflüssig. Das hat alles der Kongressabgeordnete Vickers verbockt. Feuere ihn.«
Harrison verlagert unter ihrem Körper ein wenig seine Position. »Tammy … in vier Wochen sind Wahlen. Würde man das nicht als Zeichen der Schwäche werten? Außerdem haben wir seit den letzten Umfragen in Georgia sechs Prozent dazugewonnen.«
»Fünf Komma sechs«, korrigiert sie ihn. »Und nein, es würde nicht als Zeichen der Schwäche gewertet werden. Es würde mal wieder beweisen, dass du die Eier dazu hast, schwere Entscheidungen zu treffen, wenn es hart auf hart kommt. Vickers ist eine Belastung im Wahlkampf. Schick ihn in die Wüste – das wird deinen Unterstützern und freiwilligen Helfern neuen Auftrieb geben.«
»Da ist was dran«, räumt er ein. »Ich werde darüber nachdenken.«
Tammy lässt ihre Hände zu seinen Schultern gleiten und dreht ihn auf den Rücken. Er schlingt seine kräftigen Arme um sie, als wollte er sie ewig festhalten. Während ihr das dichte braune Haar in Kaskaden um ihr schönes Gesicht herabfällt, sagt sie mit leisem Lachen: »Weißt du, was?«
»Was denn?«
»Ich liebe dich wirklich, obwohl du ein machtgieriger, das Patriarchat unterstützender Präsident der bösen Vereinigten Staaten bist.«
Er verstärkt den Druck um ihre Taille. »Und ich liebe dich wirklich, obwohl du eine korrupte, geldgierige Lobbyistin bist, die das Ansehen des politischen Systems schädigt.«
Es folgt ein weiterer Kuss, zärtlich und genussvoll, gestört einzig und allein durch Harrisons Gedanken daran, was seine Frau, Grace Fuller Tucker, First Lady der Vereinigten Staaten, genau in diesem Moment wohl im District of Columbia, Hunderte Meilen entfernt, tun könnte.
Nachdem er sich geduscht hat und wieder in seinem grauen Brooks-Brothers-Anzug steckt, den Tammy Doyle ihm vor ein paar Stunden vom Leib gerissen hat, verlässt Harrison Tucker sein Hotelzimmer, genau eine Minute vor dem Zeitplan, Tammy auf seinen Fersen. Vor dem Zimmer steht Jackson Thiel, der leitende Agent seines Personenschutzteams, reglos auf dem orientalisch gemusterten Teppichboden und nickt ihm zu. »Guten Morgen, Mr President.«
»Guten Morgen, Jackson«, sagt er.
Sein Secret-Service-Agent, ein hochgewachsener, wuchtiger Afroamerikaner mit kurzem Haar und dem zu erwartenden gewellten Motorola-Funkdraht im Ohr, sagt dann auch: »Morgen, Ma’am«, und diese Form der Anerkennung für Tammy freut Harrison. Er weiß, dass er den Secret Service mit seiner Beziehung in eine missliche Lage gebracht hat – er liebt diese Frau und weigert sich, es eine Affäre zu nennen. Aber er hat in den letzten vier Jahren ein vertrauensvolles Verhältnis zu seinen Agents aufgebaut, hat auf ihre Sicherheitsempfehlungen gehört, an ihre Geburtstage gedacht und dafür gesorgt, dass ihre Arbeit honoriert wird. Im Gegenzug haben sie ihm Respekt, Zuneigung und … Verständnis entgegengebracht.
Harrison geht hinter dem im Business-Outfit gekleideten Jackson, während er die nahe gelegenen Aufzüge ansteuert. Jackson führt sich seinen Mantelkragen an den Mund und murmelt ins Mikrofon: »CANAL ist unterwegs.« CANAL ist der Codename des Präsidenten beim Secret Service.
Als sie beim Aufzug ankommen, gleitet die Tür auf und gibt den Blick frei auf einen weiteren Secret-Service-Agent sowie einen ziemlich militärisch wirkenden, jedoch Zivilkleidung tragenden Mann, der zwei voluminöse Aktenkoffer trägt. Das einzige Mal während seiner Präsidentschaft, bei dem Harrison sich überfordert fühlte, war der Tag, an dem er über die erschreckende Macht und Verantwortung informiert wurde, die ihm in Form dieser Aktenkoffer zustand, in der die Codes und Kommunikationsgeräte zum Einsatz von Nuklearwaffen aufbewahrt werden.
Harrison tritt in den Aufzug, gefolgt von Jackson und Tammy. Sie lächelt sie alle an und verweilt noch einen Moment neben Harrison, und er weiß, das klingt jetzt, als wäre er wieder in der Highschool, aber dieses strahlende Lächeln haut ihn einfach von den Socken. Sogar der Mann, der die Schlüssel zum nuklearen Armageddon in der Hand hält, wirkt jetzt nicht mehr so Furcht einflößend.
Es ist eng in der kleinen Aufzugkabine, und Tammy steht direkt neben ihm. Er lässt seine rechte Hand in ihre linke gleiten, um sie zu drücken. Tief in seinem Inneren weiß er, dass es ein Fehler ist, dass er diese Beziehung mit Tammy beenden sollte, aber sie macht ihn glücklich. Das ist alles. Sie schenkt ihm Liebe und Zuneigung und macht ihn glücklich, und bei all den späten Abenden, den Kompromissen, den harten Entscheidungen und den bis auf die Knochen ermüdenden Verpflichtungen, um das zu sein, was der Secret Service »The Man« nennt … tja, hat er denn nicht ein wenig Glück verdient?
Der Aufzug hält, und binnen weniger Sekunden bewegt sich die Gruppe geschlossen und zügig durch einen unterirdischen Gang. Atlanta ist durchzogen von Tunneln, Dampfleitungen und alten Schächten, und dieser führt zum Kellergeschoss des Hotels, in dem er die Nacht angeblich alleine verbracht hat.
Wieder ein Aufzug, wieder ein Agent, der vorab Position bezogen hat. Sie betreten die Aufzugkabine, und Tammy beugt sich vor und flüstert: »Also gut. Wenn wir rauskommen, schwenke ich vor dem Eingang ab und nehme mir ein Taxi. Wann sehe ich dich wieder?«
Er wendet sich um, küsst ihr durch ihr dichtes Haar das Ohr und erwidert genauso leise: »Wie wäre es in New Hampshire? In drei Tagen halte ich dort eine Rede in Hart’s Location, einem der Orte, wo landesweit die ersten Stimmen abgegeben werden.«
»Nur, weil du’s bist«, sagt Tammy. »Ich hasse diesen Staat. Die glauben, sie wären von Gott dazu auserwählt, den nächsten Präsidenten zu stellen.«
Er löst seine Lippen von ihr. »Sie haben mich immerhin gewählt.«
Tammy lacht. »Sogar eine kaputte Uhr geht zweimal am Tag richtig.«
Die Aufzugtür öffnet sich, er wird von weiteren Secret-Service-Agents in Empfang genommen und folgt ihnen durch einen Lagerraum, in dem in Kunststofffolie eingeschweißte Waren auf Holzpaletten gestapelt sind, vorbei an hochgerollten Metalltoren und einer Laderampe zu einer breiten Gasse. Es dämmert gerade erst, die morgendliche Luft in Atlanta fühlt sich erfrischend an, und er hat den Arm um Tammys Schultern gelegt.
Als er sich Tammy zuwendet, um sich von ihr zu verabschieden, passiert es.
Das Erste, was er bemerkt, sind die grellen Lichtblitze, und er rechnet schon fast damit, Schüsse fallen zu hören, während nun Menschen angerannt kommen; sie stürmen aus einem Eingang, kommen auf ihn zu, erneut zucken Lichtblitze, und es sind …
Kamerablitze.
Scheinwerfer von Fernsehkameras.
Etwa ein Dutzend davon bewegen sich auf ihn zu, sie gehen auf ihn los wie heulende Bestien, die ihr Futter einfordern, Antworten verlangen; er wird angeschrien, nach vorn geschoben …
»Mr President!«
»Mr President!«
»Mr President!«
Grace Fuller Tucker, First Lady der Vereinigten Staaten, lässt sich Zeit, während sie durch die Büroräume im East Wing geht und ihr junges Team mit »Guten Morgen!« und »Hallo!« begrüßt. Ihr aus zwei Frauen und einem Mann bestehender Personenschutz des Secret Service folgt ihr wie ein Schutzschild, während sie an ihren jungen Mitarbeitern, von den Nachrichtenmedien »die Kinder der First Lady« genannt, vorbeigeht. Diese Formulierung bringt sie jedes Mal zum Lächeln – obwohl sie doch eine fortwährende Erinnerung daran ist, dass sie und Harrison kinderlos geblieben sind.
Sie mag die First Lady sein, Gast in Ellen DeGeneres’ Show, beliebtes Motiv auf dem Cover von People und Good Housekeeping und Schirmherrin einer Reihe von Kinderhilfswerken, aber das Schicksal und der Stress durch die politische Karriere ihres Mannes scheinen sich verschworen zu haben, dass sie nie Mutter werden konnte.
An manchen Tagen, so wie heute, glaubt sie fast, dass es das wert ist.
»Morgen, Ma’am.«
»Guten Morgen, Mrs Tucker.«
»Gut sehen Sie aus, Mrs T.«
Sie lacht, tätschelt den Leuten den Arm oder die Schulter, während sie sich ihren Weg bahnt und dabei denkt: Ja, bis jetzt ist es ein guter Tag. An diesem Morgen hat sie an einem Frühstückstreffen in einer Obdachlosenunterkunft für Kinder in Anacostia teilgenommen. Dort waren jede Menge Vertreter der Presse anwesend, es gab jede Menge Aufmerksamkeit angesichts der Überbelegung und der knappen Finanzausstattung und auch – leider – jede Menge Kinder mit großen Augen, die auf Matten auf dem Fußboden saßen und hochschauten auf das Treiben all dieser Erwachsenen. Kinder, die kein Bett oder irgendeinen Ort hatten, den sie hätten ihr Zuhause nennen können.
Ja, es war ein gutes Meeting, ein guter Fototermin gewesen, obwohl sie den versammelten Medienvertretern zu gern mitgeteilt hätte, es sei eine nationale Schande, dass ein so reiches Land mit so tüchtigen Bewohnern wie die Vereinigten Staaten das Problem der Obdachlosigkeit von Kindern nach wie vor nicht gelöst habe. Aber letzten Endes behielt sie diese Meinung für sich. Früher hätte sie mit Harry darüber sprechen können, aber der hatte ihr gegenüber schon lange dichtgemacht.
Die Büros im ersten Obergeschoss des East Wing waren früher winzig gewesen und von einem einzigen langen schmalen Flur abgegangen, doch die vorherige First Lady hatte sie zu Großraumbüros umbauen lassen. Die einzigen Einzelbüros haben sie und ihre Stabschefin inne.
Eine ihrer Mitarbeiterinnen, Nikki Blue, tritt auf sie zu. In der Hand hält sie einen Kaffeebecher, der mit einer Karikatur der First Lady verziert ist, auf der diese einen Heiligenschein und Engelsflügel trägt – ursprünglich von einer Blog-Site, auf der ihr und ihrem Mann Hass entgegengebracht wurde.
»Danke, Nikki«, sagt sie, nimmt den Becher entgegen und nippt am Kaffee. »Wenn Patty mir dann den Terminplan bringen könnte und …«
Etwas stimmt nicht.
Etwas stimmt ganz und gar nicht.
Gerede und Geschnatter sind verstummt. Erschrockenes Flüstern erfüllt die Luft, ansonsten herrscht in diesem Gehege aus Arbeitsplätzen mit einem Mal Totenstille.
Sie dreht sich um und schaut dorthin, wohin alle schauen.
Auf ein Trio aus Fernsehbildschirmen, die hinter ihr von der Decke hängen und auf verschiedene Nachrichtensender eingestellt sind.
»Oh, was für ein Mistkerl«, flüstert jemand.
Oben auf den Bildschirmen läuft ein Video, auf dem zu sehen ist, wie ihr Mann aus einer Gasse irgendwo in Atlanta hervortritt und so geschockt aussieht wie ein des Nachts von Scheinwerfern aufgeschreckter Hirsch. Er hat den Arm um eine Frau gelegt.
Eine andere Frau.
Grace steht mucksmäuschenstill da und unterdrückt ein Zittern ihrer Beine.
Das Video wird immer und immer wieder abgespielt, wie die verdammten Bilder vom Einschlag der Flugzeuge im World Trade Center. Harry wird vom Secret Service auf den Rücksitz eines SUV gestoßen, die Frau – ziemlich attraktiv, räumt ein kühl und logisch denkender Teil von Grace ein – wird bis in ein Hotel verfolgt, durch eine Küche, hinaus in die Lobby und dann zum Vordereingang, wo es ihr gelingt, in ein Taxi zu springen; die Kameraführung ist holprig, während die Reporter sich bemühen, mit ihr Schritt zu halten.
Das Taxi steckt allerdings im Stau, während der Fahrer versucht, sich in den fließenden Verkehr einzufädeln, und man sieht, wie die Frau – deren Namen in diesem Moment mit Tammy Doyle, Lobbyistin bei einem Unternehmen an der K Street hier in DC, angegeben wird – sich angesichts des ganzen Geschreis von Kameras und Mikrofonen abwendet.
Jetzt läuft wieder das Video, das zeigt, wie der Präsident in das SUV geschoben und weggefahren wird. Dann fangen die TV-Sprecher damit an, ihre Ansichten, Theorien und tiefsinnigen Gedanken daherzuplappern – obwohl die Nachricht erst wenige Minuten alt ist –, und Grace stößt einen Laut des Erschreckens aus, als heißer Kaffee auf ihre zitternde Hand spritzt.
Grace hebt den Kaffeebecher.
Oh, es wäre so verlockend, ihn gegen den nächsten Fernsehbildschirm zu schleudern.
Sie macht kehrt und zwingt sich dazu, ihren »Kindern« ein Lächeln zu schenken.
»Ich bin dann in meinem Büro«, sagt sie. »Und geht bitte jemand an das verdammte Telefon? Machen wir uns wieder an die Arbeit, Leute.«
Grace schließt leise die Tür hinter sich und verriegelt sie. Ihre Hand zittert immer noch, als sie den Kaffeebecher auf ihrem Schreibtisch abstellt.
Sie schaltet alle Lichter aus, schlingt die Arme um ihren Oberkörper und lehnt sich mit dem Rücken gegen die verschlossene Tür.
Sie wird nicht weinen.
Sie wird nicht weinen.
Diesen Gefallen wird sie ihrem Mann nicht tun, auch wenn er Hunderte Meilen von ihr entfernt ist.
Grace schreckt auf, als eines der Telefone auf ihrem Schreibtisch läutet. Der Klingelton verrät ihr, dass es ihr Privatanschluss ist, und sie weiß auch, wer am anderen Ende ist.
Noch nie in ihrem Leben hat ein läutendes Telefon sie so sehr in Angst und Schrecken versetzt.
Als er damals in Ohio für den Senat kandidierte, vor Jahren, erinnerte sich Harrison Tucker daran, eine Geschichte über die Air Force One am 11. September gelesen zu haben. Deren Piloten hatten, verzweifelt bemüht, den Präsidenten von der Startbahn in Sarasota, Florida, vom Boden zu bekommen, so rasend schnell abgehoben, dass die Maschine fast senkrecht in den Himmel hinaufgeschossen war, um Höhe und Sicherheit zu gewinnen.
Jetzt, als Präsident, sitzt Harrison in seinem gut ausgestatteten Büro im Hauptdeck der Air Force One und wünscht sich, dieses große, teure Flugzeug könnte ihn irgendwohin in Sicherheit und Abgeschiedenheit fliegen.
Aber das ist nicht möglich.
Es gibt keine sichere Zuflucht vor den Folgen dessen, was in Atlanta geschehen ist, und die Nachrichten werden von Minute zu Minute schlimmer werden. Seine Verbündeten im Capitol Hill werden sich hüten, zu seinen Gunsten ihren politischen Einfluss geltend zu machen. Die Kolumnisten und Blogger werden ihre Unterstützung überdenken, während der Wahltag schnell näher rückt. Der Gouverneur von Kalifornien wird eine Chance wittern, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Und alle Pläne und Träume Harrisons, diesen Millionen von Menschen dort unten in den Weiten dieses Landes zu helfen … sind nun in Gefahr.
Ihm gegenüber, auf der anderen Seite seines breiten, glänzenden Schreibtisches, sitzt Parker Hoyt, sein Stabschef, der Mann, der seit Jahren hinter den Kulissen agiert – Abmachungen trifft, Strippen zieht und Brände löscht, was ihn vom Parlamentsgebäude in Ohio in die Pennsylvania Avenue gebracht hat. Seine dunkelblauen Augen blicken ernst, er hat einen grau melierten Bürstenschnitt und eine Adlernase, über die politische Karikaturisten von einer Küste zur anderen spotten.
Parker wirft ihm einen mitfühlenden Blick zu. »Ich hatte Sie gewarnt, dass man Sie irgendwann ertappen würde.«
»Ich weiß.«
»Ich hatte Ihnen gesagt, dass der meistfotografierte, meistbeobachtete Mann der Welt eine Affäre nicht ewig verheimlichen kann.«
»Ich weiß.«
»Ich hatte Ihnen gesagt …«
Harrison macht eine abwehrende Geste. »Verdammt, Parker, es reicht jetzt mit der Ich-hatte-Sie-gewarnt-Leier, ja? Schmieden Sie mir einen Plan, erarbeiten Sie eine Strategie, irgendwas, das mir diese Geschichte vom Hals schafft und mich aus diesem Schlamassel bringt.«
»Nun, wenn wir gerade davon sprechen: Hinten in diesem Flugzeug warten ungefähr ein Dutzend Vertreter der Presse auf ein Statement.«
»Lassen Sie sie warten.« Harrison rutscht auf seinem Sessel herum, schaut aus der Reihe von fünf Fenstern, die mit einem Vorhang seitlich davon verdunkelt werden können, und sieht, wie die menschenleere, bewaldete Landschaft des südöstlichen Nordamerika unter ihnen dahingleitet. In diesem Land gibt es so viel weite Fläche … ihn überkommt ein kurzer Moment des Neids auf die Männer seines Alters, die dort unten leben – in kleinen Städten, in kleinen Häusern und mit noch kleineren Problemen.
Er schwenkt seinen Drehsessel zurück und sagt: »Parker …«
Sein Stabschef nickt knapp. »In Ordnung. Wir werden reinen Tisch machen müssen, was Ihre Beziehung zu Tammy Doyle angeht.«
Ein heftiges, eisiges Gefühl breitet sich in ihm aus. »Können wir nicht einfach sagen, sie sei … nun ja, eine Freundin? Eine Reisebegleiterin? Jemand, der mir auf diesen langen Reisen Gesellschaft leistet?«
Er erntet ein vehementes Kopfschütteln. »Mr President, bei allem Respekt, schauen Sie den Tatsachen ins Auge. Sie haben der Raubtiermeute von der Presse vier Wochen vor der Wahl ein riesiges Stück rohes Fleisch zugeworfen. Die werden Doyles Vorgeschichte, ihre Reisedaten und ihre Beziehung mit Ihnen unter die Lupe nehmen. Sie werden Ihre Wahlkampfauftritte mit den Reisen abgleichen, die sie unternommen hat, um mit ihren Lobbyistenkunden zu sprechen. Das ist Schritt eins. In Schritt zwei werden sie damit beginnen, mit allen möglichen Menschen zu plaudern, und die Leute lieben es zu plaudern. Man benötigt bloß ein einziges Zimmermädchen, einen einzigen Angestellten des Zimmerservice, eine einzige Person mit lockerer Zunge, die sich ihre fünfzehn Minuten Berühmtheit erhofft, um zu bestätigen, dass Sie beide die Nacht zusammen verbracht haben, irgendwo, in New Orleans, in LA oder in Chicago.«
Harrison seufzt. »In Chicago nie.«
»Sie Glücklicher«, sagt Parker. »Wir müssen also bei dieser Story die Zügel in der Hand behalten, und das bedeutet, einem Drehbuch folgen. Und ich mache Sie darauf aufmerksam: Es wird Ihnen nicht gefallen.«
Das eisige Gefühl in seinem Inneren erfüllt ihn immer noch, aber er weiß aus Erfahrung, dass er sich auf Parker Hoyt verlassen kann. Sein Stabschef weiß nicht nur, wo die Leichen vergraben sind, sondern er hatte auch seine Hand im Spiel, als es darum ging, sie unter die Erde zu bringen. Harrison betrachtet sich gerne als Realisten – etwas, das er den Wählern vor vier Jahren während seiner ersten Kandidatur um das Amt im Weißen Haus erzählt hat – und weiß, dass er ohne Parkers Rat und Empfehlungen jetzt nicht hier säße.
»Na schön«, lenkt Harrison ein. »Was sieht das Drehbuch vor?«
Parker nickt befriedigt. »Es beginnt mit einem Anruf bei Ihrer Frau. Dann folgen ein, zwei Tage an einem stillen Ort, eine Entschuldigung und dann ein Foto von Ihnen beiden, wie Sie Hand in Hand über den Südrasen schreiten, bevor Sie Marine One besteigen, um nach Camp David zu fliegen. Vielleicht können Sie einen geistlichen Berater dazu bewegen, Sie aufzusuchen. Danach ein paar sorgfältig platzierte Indiskretionen gegenüber den Medien – dass die First Lady stinksauer auf Sie ist, Sie auf einer Couch oder im Luftschutzbunker des Weißen Hauses schlafen lässt, dass sie aber offen für Vergebung und letztendlich Versöhnung ist.«
Harrison reibt sich über das Gesicht. »Was ist mit Tammy?«
Parker stößt eine obszöne Bemerkung aus. »Die vergessen Sie. Jetzt sofort, in diesem Moment.«
»Aber sie …«
»Ist mir egal, ob sie nach außen hin Mutter Theresa und im Bett die tollste Liebhaberin der Welt, ein politisches Genie und auch noch eine Sterneköchin ist – sie ist raus aus der Sache. Sie müssen sich Gedanken über Ihre Wiederwahl machen, Gedanken über die First Lady. Abgesehen davon, dass sie wütend und verletzt ist, ist sie jetzt auch noch in der Stimmung, Ihnen das Gemächt abzuschneiden und es in den Potomac zu werfen. Und ein großer Teil der Bevölkerung sind Wählerinnen, Mr President, die ihr dabei zujubeln würden. Das müssen wir vermeiden.«
Harrison schweigt. Die Air Force One ist dermaßen isoliert und gut designt, dass das Geräusch der leistungsstarken Düsentriebwerke im Inneren lediglich als fernes Rauschen wahrzunehmen ist.
»Gibt es noch eine andere Möglichkeit?«, fragt er dann.
»Nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Mr President, wenn Sie Ihre Präsidentschaft retten und dieser Nation weitere vier Jahre dienen wollen … dann müssen Sie diesen Anruf tätigen. Andernfalls … nun, dann ebnen Sie einem Gouverneur von der Westküste den Weg, damit er Sie in vier Wochen aus dem Weißen Haus werfen kann. Derselbe Gouverneur übrigens, wenn ich Sie daran erinnern darf, von dem dreihundert führende Wirtschaftswissenschaftler letzten Monat sagten, dass er im Falle seiner Wahl die Wirtschaft unserer Nation ruinieren würde.«
Parkers Worte berühren ihn in seinem Inneren. Hier im Land und auch weltweit hat es zwar Fortschritte gegeben, aber es bleibt immer noch so viel zu tun.
Und er weiß, dass er der richtige Mann dafür ist.
Parker hat recht.
Er zögert, nimmt dann den Hörer auf und sagt zu dem diensthabenden Communications Officer, der die Fähigkeiten und das technische Know-how besitzt, jeden per Telefon zu erreichen, überall auf der Welt:
»Bitte verbinden Sie mich mit der First Lady.«
Kopf hoch!, denkt die First Lady, und während das Licht in ihrem Büro nach wie vor ausgeschaltet ist, geht sie mit großen Schritten hinüber und nimmt den Hörer ab.
»Ja?«
Knistern und statisches Knacken verraten ihr sofort, dass der Anruf aus der Air Force One kommt. Der Communications Officer, der irgendwo dort oben mitfliegt, sagt: »Bitte bleiben Sie in der Leitung, der Präsident möchte Sie sprechen.«
Grace lehnt sich gegen die Kante ihres Schreibtischs.
Wartet.
Sie ist überrascht, wie ruhig sie sich fühlt.
»Grace?«, erklingt da die Stimme, die sie früher einmal erregt, fasziniert hat, sie in den letzten Jahren aber häufig enttäuschte.
»Ja«, antwortet sie. Mehr will sie nicht sagen.
Erneut sind Rauschen und Knackgeräusche zu vernehmen. Lass ihn erst mal aus der Deckung kommen.
»Grace, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich meine, es tut mir so leid, was …«
»Halt den Mund, Harry!«, faucht sie. »Heb dir das für deine Tussi auf, wer immer sie ist … Wer ist sie eigentlich?«
»Sie ist, äh, also, wir können darüber reden, wenn ich zurück bin …«
»Reden?«, unterbricht sie ihn. »Was gibt es denn da zu reden? Ist sie die Erste? Wirklich? Oder ist sie eine von vielen eifrigen jungen Damen, die Schlange stehen, um dem Präsidenten der Vereinigten Staaten ihre Dienste anzubieten?«
»Ja«, fährt er sie seinerseits an. »Sie ist die Erste. Und die Einzige. Und sie ist nicht bloß …«
»Oh, verschone mich damit, Harry, mir zu erzählen, wie sehr viel mehr sie doch ist als eine Geliebte oder eine Frau, mit der du bloß fremdgegangen bist«, sagt sie. »Erzähle mir nicht, dass diese heimliche, schmutzige Angelegenheit etwas ganz Besonderes, ganz Romantisches gewesen ist. Bist du stolz auf dich? Wirklich? Du hast es fertiggebracht, mich zu demütigen, unsere Ehe zum Gespött der Leute zu machen, und du hast den Wählern eine Seite von dir offenbart, über die sie nachdenken können, wenn sie in vier Wochen ihre Stimme abgeben. Wenn sie in die Wahlkabine treten, wen werden sie dann wohl vor Augen haben? Den ehrenwerten Harrison Tucker, Präsident der Vereinigten Staaten, oder einen betrügerischen Ehemann?«
»Grace, bitte, ich hoffe, wir können …«
»Du hoffst?«, fährt sie ihm mit lauter werdender Stimme über den Mund. »Ich sage dir, worauf du hoffen solltest, du Esel. Du solltest hoffen, dass die amerikanischen Wähler dümmer sind, als du denkst, dass sie diese himmelschreiende … Dummheit ignorieren, einen Monat vor den Wahlen deine Chancen zu versemmeln. Dass sie ihr Kreuzchen nicht bei diesem Joghurt und Müsli liebenden Gouverneur machen und dich mit einem Arschtritt aus dem Oval Office katapultieren. Und mich mit deinem … Fehltritt mit hinunterziehen, Harry, denn das werde ich nicht zulassen. Ich habe mir im Lauf der Jahre genug von dir gefallen lassen, von Columbus bis DC, und du weißt, welche Opfer ich gebracht und was ich alles aufgegeben habe.«
Schließlich versagt ihr die Stimme, und sie beißt sich auf die Lippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie konfrontiert ihn auch nicht damit, was ihr sonst noch durch den Kopf geht, nämlich dass all die soziale Arbeit, die sie in den vergangenen vier Jahren als First Lady geleistet hat – den Hilfsbedürftigsten und Verletzlichsten in diesem Land zu helfen, für diese auch dann zu kämpfen, wenn er und sein Fiesling von Stabschef es nicht für nötig hielten –, jetzt angesichts der anstehenden Klatschgeschichten ignoriert werden wird.
Nun strömen ihr die Tränen über die Wangen. Harrison hat sie verletzt, aber sie bezweifelt, dass er weiß, wie tief.
Durch die statischen Störungen im Telefon – die von dem umfangreichen Verschlüsselungssystem der Air Force One herrühren – dringt die Stimme ihres Mannes durch, besänftigend und entschuldigend.
»Grace, bitte … Ich habe einen Fehler gemacht. Einen schwerwiegenden Fehler. Ich will mich gar nicht herausreden, es ist alles meine Schuld … aber bitte … können wir das alles besprechen, es aufarbeiten …«
Seine Stimme klingt nicht wie die eines liebevollen und zerknirschten Ehemannes, sondern wie die eines geübten Politikers, der versucht, einen Handel abzuschließen.
Das ist zu viel.
Sie unterbricht ihn ein letztes Mal. »Wann kommst du in Andrews an?«
»In … weniger als zwei Stunden.«
»Und du willst darüber sprechen, wenn du gelandet bist?«
»Grace, bitte. Können wir das tun?«
Die First Lady holt tief Luft. »Ich will nicht mit dir reden, weder jetzt noch nachher noch irgendwann sonst.«
Nach diesen Worten knallt sie den Hörer auf die Gabel.
An Bord der Air Force One legt Präsident Harrison Tucker den Hörer behutsam wieder auf die Gabel. Auch Parker Hoyt lässt seinen Hörer sinken, nachdem er die wütende Unterhaltung zwischen dem Präsidenten und seiner tief verletzten First Lady mitgehört hat.
Parker fixiert seinen Freund und Präsidenten, den Mann, den er aus dem Parlamentsgebäude in Columbus ins Weiße Haus im District of Columbia zu bugsieren mitgeholfen hat. Abgesehen von ein paar Jahren, in denen er für ein internationales Rüstungs- und Nachrichtendienstunternehmen tätig war – um ein paar ernsthafte Veränderungen anzuschieben und hier wie im Ausland bedeutende militärische Beziehungen zu knüpfen –, ist Parker schon immer an Harrison Tuckers Seite gewesen. Der Präsident ist ein kluger Mann, ein knallharter Mann in einem mehr als knallharten Job, und Parkers Rolle besteht darin, ihm die zusätzlichen Ressourcen und die Härte zu verleihen, damit er seinen Job durchhalten kann. Der Präsident trägt einen hellgrauen Anzug und ein weißes Hemd ohne Krawatte, und selbst angesichts der Probleme an diesem Morgen ist er ein gut aussehender Mann mit einem offenen Lächeln; er hat pechschwarzes Haar mit den obligatorischen weißen Strähnchen an den Schläfen, und abgesehen von seiner etwas schiefen Nase – die er sich als Quarterback in der Highschool gebrochen hat – sieht er fast aus wie ein jüngerer Bruder von George Clooney.
Er ist intelligent, sympathisch und hat Charisma. So etwas hatten zu Parkers Lebzeiten nur einige wenige Präsidenten. Lyndon Johnson hatte sie, Reagan ebenfalls, und Gott noch mal, Bill Clinton hatte sie erst recht – die Fähigkeit, einen Raum einzunehmen, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, zu lächeln, zu plaudern und, vor allem, Dinge auf die Reihe zu bekommen.
Aber nur, wenn er weiterhin clever und fokussiert handelt.
Was heute Morgen eine Herausforderung ist, denkt Parker.
Harrison schaut ihn müde an. »Was zur Hölle hat sie Ihrer Meinung nach damit gemeint? Dass sie weder jetzt noch irgendwann mit mir reden will? Das hört sich so … endgültig an.«
Er schenkt seinem Präsidenten ein beruhigendes Lächeln. »Das wird schon alles wieder. Vertrauen Sie mir. Überlegen Sie mal, was beim letzten Mal passiert ist, als eine First Lady ihren Göttergatten beim Fremdgehen erwischt hat. Da gab es ein paar schwierige Monate, aber hinterher war er stärker, hat die Wiederwahl erdrutschartig gewonnen, hat sogar im Kongress Sitze dazubekommen. Es gibt vieles, das für Sie spricht, zum Beispiel, dass Sie nicht mit einer Praktikantin herumgemacht haben.«
»Uns bleiben aber keine Monate mehr«, stellt Harrison fest.
Beruhigend legt Parker dem Präsidenten seine Hand auf das Handgelenk. »Sie müssen mir einfach vertrauen.«
Der Präsident schüttelt den Kopf. Parker fährt fort: »Das ist mein Job«, sagt er. »Sie zu schützen. Ihre Vision und diese Regierung zu schützen. Und ich werde nicht zulassen, dass dieses Miststück – entschuldigen Sie die Ausdrucksweise – etwas unternimmt, was Ihnen schadet.«
Falls Harrison die ordinäre Ausdrucksweise beleidigt hat, lässt er es sich nicht anmerken.
»Haben Sie mal einen Drahtseilakt gesehen?«, fragt der Präsident leise. »Sie wissen schon, wo ein Kerl mit einer Stange in der Hand über ein Seil läuft und sich so ausbalanciert, dass er nicht abstürzt?«
Parker weiß nicht, worauf der Präsident hinauswill, beschließt jedoch mitzuspielen. »Klar, wer nicht?«
Schweigen. Sie befinden sich im exklusivsten fliegenden Kokon der ganzen Welt, aber in diesem Moment will Parker sich endlich an die Arbeit machen, um den Mann, der da vor ihm sitzt, zu retten.
Harrison fährt fort. »Sie sehen also diesen Kerl da oben, wie er vor sich hingeht, wie er langsam und gleichmäßig voranschreitet. Genau, wie es diese Regierung tut: langsame, gleichmäßige Schritte. Nichts Schrilles oder Ausgefallenes.« Er lächelt. Es ist sein Lächeln mit den strahlend weißen Zähnen, das so viele Millionen von Wählern für ihn eingenommen hat. »So wie wir in den letzten vier Jahren, nicht wahr?«
»Ja, Sir, absolut. Und die Wähler werden Sie im November belohnen.«
Der Präsident behält seinen leisen Tonfall bei. »Aber es bedarf nur eines einzigen Fehltritts, einer Fehleinschätzung, eines Fehlers. Dann fängt das Seil an zu schwanken. Erst rutscht der eine Fuß ab, dann der andere. Und weg ist man. Dieser ganze Fortschritt … weg … während man in die Tiefe stürzt.«
Mein Gott, denkt Parker, dieser Mann muss endlich wieder zurück auf die Spur. »Das stimmt, Sir, aber eines haben Sie vergessen.
»Was denn?«
Erneut eine beruhigende Berührung. »Unten ist ein Sicherheitsnetz aufgespannt. Um den Drahtseilakrobaten zu schützen. Damit er hochfedern und sich gleich wieder zurück auf das Seil schwingen kann.«
Der Präsident schweigt.
»Mr President«, sagt Parker. »Ich bin Ihr Sicherheitsnetz. Und ich werde Sie beschützen. Das verspreche ich.«
Der Präsident bekommt feuchte Augen; er nickt und gibt dann vor, sich für die bewaldete Landschaft zu interessieren, die unter ihnen dahingleitet.
Parker schaut erneut auf seine Uhr. Nach ihrer Landung wird er die notwendigen Telefonate führen, eines nach dem anderen, um ein sehr großes Netz aufzuspannen – was die Sicherheit und anderes angeht –, damit die Dinge unter Kontrolle bleiben.
Die Air Force One ist ein großartiges Flugzeug mit genügend Kommunikationsmöglichkeiten, um den Präsidenten in die Lage zu versetzen, in fünfundvierzigtausend Fuß Höhe einen Krieg zu befehligen, doch in diesen schwierigen Zeiten traut Parker der Integrität dieser Kommunikationsmöglichkeiten nicht.
Insgeheim schmiedet er schon die ersten Pläne, Pläne, die er vor seinem Freund und Chef verbergen will und vor allem vor WikiLeaks und den russischen Geheimdiensten.
Er wird tun, was getan werden muss, egal was, egal welches Risiko er dabei eingeht.
Um den Präsidenten zu schützen.
Und zur Hölle mit der First Lady und jedem anderen, der ihm in die Quere kommt.
Grace Fuller Tucker tritt aus ihrem Büro und hält dann verblüfft inne, da ihr gesamter Stab vor ihr steht und zu applaudieren beginnt. Freude und Verlegenheit lassen sie erröten – Freude über die Unterstützung und Liebe, die ihre »Kinder« ihr zeigen, und Verlegenheit, weil alle hier zweifellos ihre laute Stimme gehört haben, die diese alten, dünnen Wände durchdrungen hat, als sie den Präsidenten anschrie.
Sie macht eine abwehrende Geste, blinzelt die Tränen weg und murmelt lediglich: »Danke, danke.«
Schließlich hören sie auf zu applaudieren, und einige wischen sich die Augen. Grace holt lange und tief Luft, während sie überlegt, was sie sagen könnte, das für ihre Mitarbeiter von Bedeutung wäre. Unwillkürlich schaut sie zu den drei Fernsehbildschirmen hoch, auf denen nach wie vor über das berichtet wird, was »die Attacke in Atlanta« genannt wird.
Zur Hölle damit.
Grace wendet sich erneut ihrem Stab zu und verschränkt die Finger. »Es … es wird für uns alle in den nächsten Stunden und Tagen schwer werden. All die tolle Arbeit, die Sie mit mir geleistet haben – Kindern in Not zu helfen, Kindern, die verletzt und von ihren Familien oder der Gesellschaft im Stich gelassen wurden –, leider wird all diese hervorragende Arbeit jetzt überschattet werden. Für die von uns, die im East Wing arbeiten, wird es auf absehbare Zeit bloß ein einziges Thema geben. Das … bedauere ich sehr.«
Grace muss jetzt durchhalten und schlägt rasch die Augen nieder, um ihre Fassung zurückzugewinnen. »Aber so schwer es Ihnen auch fallen wird, ignorieren Sie dieses Thema. Konzentrieren Sie sich auf das Positive, das Sie mit mir geschaffen haben. Konzentrieren Sie sich auf die Kinder, deren Leben Sie verbessert oder gerettet haben. Und irgendwann, eines Tages, wird dieser Quatsch, dieser Skandal in Vergessenheit geraten sein.«
Erneut brandet Applaus auf, und sie lächelt und klatscht nun ebenfalls. Dann fängt sie den Blick ihrer Stabschefin Donna Allen ein und signalisiert ihr, sie möge ihr in Donnas Büro folgen. Grace macht sich nicht die Mühe, hinter ihnen die Tür zu schließen, da sie ihre Stabschefin nur einen kurzen Moment benötigt.
»Wie sieht mein Terminplan für den Rest des Tages aus?«, fragt Grace. »Bringen Sie mich auf Stand, bitte.«
Donna ist eine schlanke, hübsche Frau mit Brille und kurzem schwarzen Haar, die offenkundig imstande ist, trotz nur vier Stunden Schlaf effizient zu arbeiten. Sie tritt an ihren Schreibtisch und nimmt ein Blatt Papier in die Hand. »Ma’am … dann schauen wir mal. Sie haben ein Mittagessen mit den Senatorengattinnen aus der Partei, ein Gruppeninterview mit prominenten politischen Bloggern um 14 Uhr, einen frühabendlichen Empfang um 17 Uhr mit der Gattin des japanischen Botschafters. Dann … äh, Abendessen mit … hmm, dem Präsidenten und um 20 Uhr einen Besuch im Kennedy Center, bei dem …«
Grace nickt. »Sagen Sie alles ab.«
Schockiert schaut Donna auf. »Ma’am?«
»Sie haben richtig verstanden, Donna«, sagt sie, dreht sich um und geht hinaus in den Bürotrakt des East Wing. »Sagen Sie alles ab. Ich verreise.«
Donna folgt ihr. »Aber … aber … wohin fahren Sie denn?«
Grace erblickt ihre leitende Secret-Service-Agentin, Pamela Smithson, eine zierliche Blondine, die aussieht, als wiege sie vierzig Kilogramm, die jedoch Nahkampf-Expertin sein soll. Pamela spricht gerade in den Ärmelaufschlag ihrer Bluse, und Grace weiß, was sie jetzt sagt, nämlich: »CANARY setzt sich in Bewegung.«
Mann, und ob ich das tue, denkt Grace.
Anfangs hasste sie ihren Codenamen, den ihr der Secret Service verpasst hat, doch mittlerweile hat sie ihn sich zu eigen gemacht. Kanarienvögel haben eine lange und vortreffliche Geschichte, zum Beispiel wenn es darum ging, Bergarbeiter vor bevorstehenden Gefahren zu warnen, und sie denkt gerne, dass dies eine ihrer Rollen ist – die amerikanische Gesellschaft zu warnen, dass sie die Kinder nicht ignorieren darf, die in den tiefen, dunklen Fallen der Armut gefangen sind.
Sie möchte noch einmal etwas zu ihrem Stab sagen, deren Mitglieder sie nun alle voller Liebe und Besorgnis anschauen.
Doch was gibt es noch zu sagen?
Grace Fuller Tucker, First Lady der Vereinigten Staaten, dreht sich um und verlässt den Bürotrakt im East Wing zum letzten Mal.
Präsident Harrison Tucker hatte es nicht für möglich gehalten, doch tatsächlich hebt sich seine Stimmung, als die Air Force One langsam zu der ihr vorbehaltenen Position auf dem Luftwaffenstützpunkt Andrews rollt. Er weiß, dass die Piloten von Air Force One stolz darauf sind, immer pünktlich anzukommen, doch er kennt auch ihr Geheimnis – sie müssen nur genau zur richtigen Zeit an den Bremsklötzen zum Stillstand kommen, und um das sicherzustellen, reduzieren oder erhöhen sie ihre Rollgeschwindigkeit.
Geheimnisse.
Mein Gott, wäre doch nur sein einziges Geheimnis ein solches geblieben, wenigstens noch einen weiteren Monat.
Parker Hoyt war in den vergangenen Stunden ständig an seiner Seite, hatte darauf bestanden, dass sie eine Partie Cribbage nach der anderen spielen, und auch wenn Harrison jede einzelne Partie gegen seinen gewieften Stabschef verloren hat, haben ihm diese letzten Stunden der Zerstreuung gutgetan.
Er schaut aus dem Fenster. Gott sei Dank ist das hier eine Militärbasis, und der Zutritt für die Öffentlichkeit und die Pressevertreter lässt sich kontrollieren.
»Was nun?«, fragt er.
»Sie sollten es noch einmal bei der First Lady versuchen«, rät Parker. »Es ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber vielleicht können wir sie dazu bringen, sich einen Moment neben Sie zu stellen, für eine Art Fototermin auf dem Südrasen, wenn Marine One gelandet ist …«
»Oh, jetzt hören Sie aber auf, Parker!«, sagt Harrison, »dazu wird sie auf keinen Fall bereit sein.«
»Seien Sie sich da nicht so sicher«, entgegnet sein Stabschef. »Was ist sie denn ohne Sie? Eine von vielen Hausfrauen mit Träumen und großen Ambitionen. Wenn sie mit ihrer Weltverbesserei weitermachen will, muss sie mit Ihnen zusammenbleiben. Früher oder später wird sie das einsehen, wird für die Kameras lächeln und gute Miene zum bösen Spiel machen.«
Harrison denkt über das nach, was Parker gerade gesagt hat. Es klingt … logisch. Harsch, aber logisch. »Was noch?«
»Wir müssen ein Treffen mit den leitenden Mitarbeitern Ihrer Wahlkampfkampagne und mit Republikanern einberufen, sowohl aus dem Repräsentantenhaus als auch aus dem Senat. Nicht die Kongressabgeordneten oder Senatoren … Mein Gott noch mal, das brauchen wir nicht, dass diese Wichtigtuer danach draußen auf dem Südrasen ein Statement abgeben. Wir wollen Stabsmitglieder vom Capitol Hill, die wir ohne großes Trara zu uns holen und briefen können.«
»Um ihnen was zu sagen?«
»Dass wir es mit ein, zwei holprigen Wochen zu tun bekommen, danach aber wieder in ruhigere Fahrwasser gelangen werden. Diese Nachricht bringen sie zurück zum Hill, und das wird den Großteil der Belegschaft dort oben beruhigen. Die werden womöglich wütend auf Sie sein, haben aber auch eine Heidenangst davor, mit ansehen zu müssen, wie der Gouverneur von Kalifornien im nächsten Januar vereidigt wird.«
»Wer übernimmt das Briefing?«
»Das müssen Sie tun«, sagt Parker. »Bei jedem anderen würden die Mitglieder des Stabs wie die Haie Blut im Wasser riechen, auf schnellstem Weg zur Pennsylvania Avenue rennen und ihrem Senator oder Repräsentanten verklickern, er solle auf Abstand gehen. Die sind zuallererst Politiker und wollen nur ihre eigene Haut retten, und wenn die irgendein Zeichen von Verwirrung oder Schwäche erkennen, das aus dem Weißen Haus kommt, dann werden die Sie im Regen stehen lassen, Sir. Sie müssen denen gegenüber Reue zeigen, aber vor allem müssen Sie ihnen Stärke beweisen.«
Nach wie vor verabscheut Harrison das, was sein Stabschef sagt, weiß jedoch, dass der Mann recht hat. »Das klingt vernünftig.«
»Gut«, erwidert Parker. »Aber eins nach dem anderen, Sir. Machen Sie erst einmal den Anruf.«
Er nimmt sein Telefon in die Hand. »Verbinden Sie mich mit der First Lady, bitte.«
Dann wendet er sich wieder seinem Stabschef zu: »Was ist mit der Presse hier an Bord?«
Parker schenkt ihm ein dünnes Lächeln. »Lassen Sie Jeremy« – der Pressesekretär des Präsidenten – »sich dieses eine Mal sein Gehalt verdienen. Er wird sie so lange in die Schranken verweisen, bis Sie sicher an Bord von Marine One sind.«
»Aber was wird er ihnen über das erzählen, was … was in Atlanta passiert ist?«
»Keine Sorge, ich werde mich um Jeremy kümmern, und er wird sich dann um die Presse kümmern. Kümmern Sie sich einfach um die First Lady, versuchen Sie, sie zu beruhigen. Das ist Ihre Aufgabe für heute. Ach, und eines noch.«
»Was denn?«
»Wenn Sie hier auf dem Stützpunkt die Treppen hinuntergehen«, sagt Parker, »dann begrüßen Sie das Militär wie üblich. Die einzige Kamera wird eine Pool-Kamera sein, die es festhält, falls Sie beim Verlassen der Maschine auf den Arsch fallen. Traben Sie nicht die Stufen hinunter, als hätten Sie es eilig, und vermasseln Sie es nicht bei den Jungs von der Air Force auf dem Rollfeld. Nehmen Sie sich Zeit. Sie sind jemand, der Mist gebaut hat, aber zuversichtlich ist, die Sache wieder hinbiegen zu können.«
Harrison nickt. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Gleiches gilt für Ihre Ankunft im Weißen Haus. Wenn Sie die First Lady dazu überreden können, dort anzutanzen, perfekt. Das bedeutet dann, ihr Meinungsumschwung erfolgt schneller, als ich gehofft hatte. Aber wenn sie immer noch angepisst ist und nicht auftauchen will, kein Problem. Sie steigen aus der Marine One, winken und schlendern zurück ins Weiße Haus, als wäre nichts passiert, als hätten Sie das Ruder ganz fest in der Hand.«
»Schön und gut«, sagt Harrison und erinnert sich an etwas, das heute Morgen Tammy geäußert hat. »Aber Sie müssen da noch etwas für mich tun.«
»Meine To-do-Liste ist ziemlich lang, aber fahren Sie fort«, sagt Parker.
»Der Kongressabgeordnete Vickers. Der gestrige Abend war eine Beinahekatastrophe, weil viele meiner Unterstützer, die meine Rede hören wollten, abgewimmelt wurden. Ich will, dass er rausfliegt.«
»Aber das könnte …«
»Mir egal«, sagt Harrison. »Er ist bis heute Abend raus, okay?«
»Wir liegen in Georgia mit sechs Prozent vorn.«
»Fünf Komma sechs«, korrigiert Harrison, der sich daran erinnert, was seine Tammy ihm erzählt hat. »Und ohne ihn wäre es wahrscheinlich noch ein halber Prozentpunkt mehr. Er ist raus.«
Parker nickt, und Harrison sieht, dass Erleichterung in seinem Blick liegt. Sein Stabschef merkt, dass der Präsident der Vereinigten Staaten seine Arbeit wiederaufgenommen hat.
Jemand klopft leise an die Tür. »Ja, kommen Sie rein«, sagt Harrison.
Der Chef seines Personenschutzteams, Jackson Thiel, tritt ein. Der große Mann wirkt beunruhigt.
Plötzlich bekommt Harrison es mit der Angst zu tun.
»Ja, Jackson, was gibt es?«
»Sir … der Communications Officer … er hat mich kontaktiert, nachdem Sie darum gebeten hatten, mit der First Lady verbunden zu werden.«
»Okay«, sagt Harrison. »Aber warum sind Sie hier?«
»Sir …«
»Ja?«
Einen kurzen, höchst alarmierenden Moment zögert Jackson, um dann mit ruhiger, kühler Stimme zu sagen:
»Sir … die First Lady … kann nicht lokalisiert werden.«
Dort, wo ich arbeite, ist es kühl und spärlich beleuchtet, damit ich die Überwachungsmonitore und die Fernsehbildschirme, auf denen die neuesten Nachrichten, der Klatsch und die reißerischen Schlagzeilen übertragen werden, besser sehen kann. Ich schaue hoch, überfliege die Bildschirme und bemühe mich, meinen Kollegen vom Secret Service zuliebe heute Morgen professionellen Anstand zu bewahren und nicht in Gelächter auszubrechen. Der Mann, den ich, wie ich geschworen habe, mit meinem Leben schützen würde, ist gerade dabei ertappt worden, wie er seine präsidiale Schreibfeder in ein nicht autorisiertes Tintenfass getaucht hat. Er ist nicht der Erste, und er wird nicht der Letzte sein, und es interessiert mich nicht besonders. Der Secret Service ist ein Schutzorgan. Wir sind nicht Amerikas Moralapostel. Leises Stimmengemurmel ist zu vernehmen, das Klappern von Tastaturen sowie Funkgeschnatter von Polizei-Scannern, die den Großraum von DC und sämtliche örtliche Polizeireviere abdecken, damit wir immer wissen, was bei unseren einigermaßen freundlichen Nachbarn von der Strafverfolgung los ist.
Mein direkter Stellvertreter – Assistant Special Agent in Charge Scott Thompson – stellt sich neben mich und sagt: »Was hältst du davon, Sally?«
»Jetzt im Moment möchte ich, dass du die aktuelle Nachricht verbreitest, vor allem an die uniformierte Abteilung«, sage ich. »Wir werden es mit gesteigerter Aufmerksamkeit seitens der Nachrichtenmedien und der üblichen publicitygeilen Typen zu tun bekommen. Ich will keine Zaunspringer, die dem Präsidenten Ratschläge in Sachen Liebesleben erteilen oder ihm eine Bibel überreichen wollen, kapiert? Verdoppelt die Patrouillen auf den Bürgersteigen; wir müssen jeden, der sich den Zäunen nähert und den Anschein erweckt, als wolle er darüberklettern, auf der öffentlich zugänglichen Seite aufhalten. Verstanden?«
»Verstanden, Boss«, sagt Scott und kehrt zurück an seinen Schreibtisch. Scott ist ein ehemaliger Army-Ranger, massig und taff, respektvoll mir und allen anderen in der Befehlskette gegenüber, und das macht ihn zu einer Vertrauensperson.
Ich wende meinen Blick von den Bildschirmen ab – ATTACKE IN ATLANTA ist heute Morgen offenkundig die Schlagzeile des Tages – und schaue auf die elektronische Statustafel.
Wir und andere Mitglieder der Presidential Protective Division haben insofern Glück mit dieser Regierung, da keine verwöhnten Kinder durch die Gegend laufen, die versuchen, ihre Agents in Bars oder Discos abzuschütteln, oder leicht hirnrissige Schwiegermütter, die behaupten, Spanner würden sie in ihren Gästequartieren beim Ausziehen beobachten. Es gibt nur den Präsidenten und die First Lady, was meinen Job verdammt viel weniger kompliziert macht als den meiner Vorgänger.
Der Statustafel zufolge befindet sich CANAL an Bord von Marine One, wenige Sekunden vor der Landung auf dem Südrasen, und CANARY ist …
»Hey, Scotty!«, rufe ich laut, als er gerade das Telefon in die Hand nimmt. »Verrätst du mir mal, warum CANARY auf einer Pferdefarm in Virginia ist? Auf ihrem Tagesplan heute Morgen stand davon nichts.«
»Planänderung im letzten Moment, Boss«, antwortet er. »Nach den Nachrichten von heute Morgen … tja, wer kann es ihr da verübeln? Ich nicht, das steht mal fest.«
»Ja, das verstehe ich«, sage ich, während ich mich wieder zu meinem Schreibtisch herumdrehe. Ich mag keine Planänderungen in letzter Minute. Man hat dann keine Zeit mehr, den Besuchsbereich vorzubereiten, die Nachbarschaft abzuchecken und diese Spinner auf der Klasse-3-Liste aufzustöbern, die in der Vergangenheit Drohungen gegen die First Family ausgesprochen haben. Der einzige Vorteil besteht darin, dass von etwas, das so schnell auf den Plan kommt wie dieser Besuch der Pferdefarm, auch Bösewichte überrascht werden, die sich dort draußen herumtreiben.
Der Nachteil besteht natürlich darin, dass irgendwelche Bösewichte – vor allem die geduldigen und hartnäckigen – womöglich schnell reagieren und deine Schutzperson umlegen könnten.
Nicht gut, um sich eine Beförderung zu sichern.
»Hey, Scotty«, rufe ich zu meinem Assistenten hinüber. »Wenn du damit fertig bist, nimm Kontakt mit dem Personenschutz von CANARY auf.«
»Klar, Boss. Was soll ich denen sagen?«
Ich verspüre einen Hauch von Besorgnis. »Frag nach, ob alles in Butter ist.«
»Wäre es das nicht, wärst du die Erste, die es erfährt.«
»Scotty«, sage ich. »Mach das verdammte Telefonat.«